Christine Bernard. Die Legende vom bösen Wolf - Michael E. Vieten - E-Book

Christine Bernard. Die Legende vom bösen Wolf E-Book

Michael E. Vieten

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Beschreibung

Von der Angst und der Gier. Eine junge Kommissarin ermittelt unter Lämmern und Wölfen. Ein feuchtkalter Morgen im Nebel. Menschliche Überreste in einem Wolfsgehege. Sind die Wölfe blutrünstige Killer oder ist alles nur Mythos und diese brillanten Jäger und nächsten Verwandten unserer liebsten Haustiere sind harmlos? Eine zweite Leiche mit Fraßspuren wird im Hunsrücker Hochwald gefunden. Ist der über Jahrhunderte gefürchtete Angstgegner des Menschen wieder da und streift bereits auf der Suche nach Beute durch unsere Wälder? Ist er eine Gefahr oder ist der Mensch selbst des Menschen Wolf? Die Trierer Kommissarin Christine Bernard ermittelt und stößt auf ihrer Suche nach dem Mörder auf ein Umfeld voller Vorbehalte, Mythen und Legenden.

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Michael E. Vieten

Christine Bernard

Die Legende vom bösen Wolf

Vieten, Michael E.: Christine Bernard. Die Legende vom bösen Wolf, Hamburg, acabus Verlag 2018

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-568-4

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-567-7

Print: ISBN 978-3-86282-566-0

Lektorat: Kristin Hinz, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Umschlagmotiv: Wolf: https://pixabay.com/de/wolf-wald-dunkel-hintergrund-2227541/

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Die Handlung in diesem Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Vielen Dank an die Mitarbeiter der Pressestelle der Kriminalpolizei Trier für ihre zahlreichen Auskünfte.

Besonderen Dank an Birgit D. für ihre wertvolle Unterstützung und ihre Zuversicht.

Canis lupus

Der Wolf. Raubtier aus der Familie der Hunde (Canidae). Lebt in Familienverbänden (Rudel). Hauptbeute Huftiere (Rehe, Hirsche, Schafe, Ziegen, Rinder, Rentiere, Elche).

Canis lupus war in Europa, Nordamerika, Japan, Asien und auf der arabischen Halbinsel verbreitet.

Wölfe wurden in Mitteleuropa ab Ende des 14. Jahrhunderts organisiert bejagt. Ab Ende des 18. Jahrhunderts waren sie bereits in allen Regionen ihres Verbreitungsgebiets stark dezimiert, teilweise nahezu ausgerottet. Seit Ende der 1980er Jahre steht der Wolf in einigen Ländern unter Schutz. Die Bestände erholen sich trotz illegaler Abschüsse und Kollisionen im Straßenverkehr.

In Deutschland wurden im Jahr 2000 erstmals wieder Welpen geboren. Die Anzahl der Wölfe und Wolfsrudel steigt seither kontinuierlich an.

Die betroffenen Landesregierungen stellen Entschädigungen für gerissene Nutztiere bereit und unterstützen und beraten Tierhalter bei der Planung und Durchführung von Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Herden. Doch bereits in dieser frühen Phase der Wiederansiedlung des Wolfs bildet sich vielerorts Widerstand in der Bevölkerung.

Wolfstreiben

Der letzte Wolf in Rheinland-Pfalz wurde 1879 im Hochwald nahe der Hunsrück-Gemeinde Deuselbach von einem Förster erschossen. Der Walddistrikt trägt seither den Namen „Wolfstreiben“ und gehört heute zum Nationalpark Hunsrück-Hochwald. Die Gemeinde Thalfang hat dort eine Hinweistafel aufstellen lassen.

Ich kann diesen wunderbaren Teil des Hochwalds von meinem Schreibtisch aus sehen und durchstreife ihn gerne auf ausgedehnten Wanderungen.

Die Fachleute, mit denen ich gesprochen habe, sind sich einig: Die Rückkehr des Wolfs in die Hunsrückwälder ist nur noch eine Frage der Zeit.

Das Schicksal jenes letzten Wolfs in den Wäldern des Hunsrücks inspirierte mich 2010 zu der Erzählung „Der letzte Wolf des Hochwalds“, die ich mit weiteren Erzählungen in meiner Mystery-Sammlung Unheimliche Begegnungen –  Aus der Zwischenwelt veröffentlicht habe.

(Anm. d. Autors)

Die Legende lebt

Der klagende Ruf der einsamen Krähe wäre nicht nötig gewesen. Die Szenerie an diesem frühen Vormittag war gespenstisch genug.

Gestalten in abgestuftem Grau stapften schweigend durch den wabernden Dunst. Hier ein Murmeln. Dort ein Flüstern. Hin und wieder ein verhaltener Fluch. Jemand hustete leise.

Die Kälte der eisigen Nacht hatte sich nicht vertreiben lassen. Von wem auch? Die Sonne mühte sich seit Stunden durch den zähen Bodennebel. Der hatte das Land am Morgen mit Reif überzogen und gleichmäßig in ein grelles Weiß getaucht.

Dort wo die Sonne eine Schlacht gewann, tropfte es aus den Kronen der alten Buchen herab, von denen man nur ein kurzes Stück ihrer mächtigen Stämme sehen konnte. Der Rest des Waldes verschwand nach ein paar Metern im zähen Nebeldunst, der die von der Sonne gerissenen Lücken in seinen Reihen eilig schloss.

Ein dunkler Wagen tastete sich heran. Seine unteren Scheinwerfer glitten dicht über den Boden hinweg. Feinste Wassertröpfchen tanzten in den Lichtstrahlen. Vor dem Absperrband hielt er an. Der Motor wurde abgestellt. Die Scheinwerfer erloschen.

Eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren und ein etwas größerer, grimmig dreinblickender Mann stiegen aus und warfen die Türen zu. Sofort legte sich die Morgenkühle wie ein Netz auf ihre Gesichtshaut. Dann schoben sie sich unter dem Flatterband hindurch und ließen zwei frierende Besucher des Tierparks dahinter zurück.

Eine der helleren Gestalten löste sich von einer Gruppe Dunkelgrauer und ging den Neuankömmlingen entgegen.

„Scheiße, ist das kalt heute“, beschwerte sich der mit einer kurzen Lederjacke bekleidete Hauptkommissar und rieb seine Hände aneinander.

„Das fühlt sich kälter an, als es ist. Kommt durch die Feuchtigkeit in der Luft“, belehrte der Polizeihauptmeister der Spurensicherung seinen Kollegen und zog sich die Kapuze vom Kopf. Nass fiel ihm das zerzauste Haar in dunklen Strähnen ins Gesicht. Die feinen Wassertröpfchen im Nebel benetzten eben nicht nur den Wald und die Landschaft.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich die junge Kollegin und schaute Günther Hagemann erwartungsvoll an.

„Haben euch die Kollegen vom Kriminaldauerdienst nicht informiert?“

„Nur über einen Leichenfund im Tierpark.“

„Ha! Der war gut“, platzte es aus Polizeihauptmeister Hagemann in ungewohnter Weise heraus. „Ich wäre froh, wenn wir so etwas wie eine Leiche hätten.“

„Also keine Leiche?“, runzelte Kommissarin Bernard ihre Stirn und zog den Reißverschluss ihrer Jacke komplett zu.

„Nur Stücke davon. Die Reste eines Arms und Teile des Schädels haben wir sichern können. Alles andere ist weg.“

„Vergraben?“

„Nee, gefressen! Und die abgenagten und zerbissenen Knochen liegen über das gesamte Gehege verstreut.“

Ein Schauer lief Christine Bernard über den Rücken, und ihr Blick suchte im Gesicht von Jörg Rottmann nach dessen Reaktion. Doch der erfahrene Hauptkommissar verzog keine Miene. Zu viel hatte er im Laufe seiner Dienstjahre bei der Trierer Kriminalpolizei erleben müssen, als dass ihn noch irgendetwas hätte überraschen können.

„Was ist das denn für ein Gehege?“, fragte er und versuchte gleichzeitig mit einem prüfenden Blick den dichten Nebel zu durchbohren, um dahinter eine Antwort auf seine Frage zu erhalten.

„Wölfe“, knurrte Günther Hagemann und blickte in die gleiche Richtung. „Ein ganzes Rudel.“

„Wo sind die jetzt?“, erkundigte sich Kommissarin Bernard argwöhnisch.

„Im Nachbargehege. Ab und zu schleicht einer am Zaun vorbei. Die anderen sieht man nicht. Aber sie beobachten uns. Ich kann ihre Blicke förmlich spüren.“

Jörg Rottmann hob beschwichtigend seine Hand und sah auf den um einen Kopf kleineren Leiter der Spurensicherung herunter.

„Nun übertreib mal nicht.“

Christine fand nicht, dass der Polizeihauptmeister übertrieb. Ihr gruselte es auch schon bei dem Gedanken daran, gleich ihre Ermittlungen in dem Gehege aufnehmen zu müssen, während hinter einem dünnen Maschendrahtzaun ein großes Rudel Wölfe herumschlich.

Wenigstens setzte sich langsam die Sonne durch und bohrte große Löcher in den Nebel, der sich stellenweise geschlagen gab und zurückzog.

„Ich muss weiter machen“, verabschiedete sich Günther Hagemann und zog sich wieder seine Kapuze über den Kopf. Dann wandte er sich ab und stapfte davon.

„Wo ist denn der Kollege Kluge heute Morgen?“, rief er in den Wald hinein, als erwartete er von dort eine Antwort.

Christine fiel eine durchnässte Haarsträhne ins Gesicht.

„Torsten ist bei einer Vernehmung“, rief sie und schaute ihm nach.

„Wer übernimmt was?“, hörte sie ihren Kollegen hinter sich fragen.

Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich um.

„Ich Zeugen, du Tatort?“, schlug sie vor und schaute dem Hauptkommissar ins nebelfeuchte Gesicht.

Der nickte stumm und ging davon.

Der Mann und die Frau hinter dem Absperrband trampelten mit den Füßen auf der Stelle. Sie froren durchnässt seit zwei Stunden. So lange hatte es gedauert, bis die Polizei vor Ort war, das Gelände in dem abgelegenen Tierpark abgesperrt hatte und ihre Ermittlungen aufnahm. Es folgte eine knappe Befragung, und man befahl ihnen, auf die Kollegen von der Kripo zu warten. Viel lieber hätten sie sich in das kleine Bistro vorn in dem Gebäude am Eingang zurückgezogen. Dort war es warm, und es gab heißen Kaffee und belegte Brötchen zu kaufen. Noch lieber wären sie gleich nach Hause gefahren und hätten sich dort von dem Schrecken erholt, der ihnen bis ins Mark geschossen war, als sie diesen großen Wolf mit dem Unterarm im Maul durch den Nebel hatten laufen sehen.

Die sympathische Kommissarin konnte offenbar Gedanken lesen, denn sie bat das Paar, ihr in eben dieses Bistro zu folgen.

Sie war jung und dazu noch ausgesprochen attraktiv. Aus lebhaften braunen Augen sah sie sie forschend an.

‚Seltsam‘, dachten sie. ‚Dass diese Frau einen so schrecklichen Beruf ergriffen hatte.‘

Die Befragung der beiden brachte Christine kaum neue Erkenntnisse. Aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse am frühen Morgen hatte das Paar den Wolf nur kurz sehen können. Doch dieser grausige Augenblick reichte aus, um den Unterarm und die Hand daran mit fünf abgespreizten Fingern als eindeutig menschlich zu identifizieren.

Sie liefen zum Eingang zurück und informierten die Parkleitung. Die Pflegerin des Wolfsrudels eilte in einem verrosteten Pickup mit kaputtem Auspuff herbei und kontrollierte das Gehege. Eine Fähe hatte den Arm offenbar vor dem Rudel versteckt und nun gefressen. Unterarmknochen und Handgelenk waren noch da. Der Rest war weg.

Sie lockte die Wölfe in ein Nachbargehege, welches üblicherweise dazu genutzt wurde, Jungtiere, Neuzugänge, kranke oder trächtige Tiere vom Rudel zu trennen. Zur gleichen Zeit informierte die Parkleitung die Polizei.

Kommissarin Bernard notierte sich Namen und Adresse des Paares und klappte ihren kleinen Block zu. Ihren Vorschlag, den Parkbesuch fortzusetzen, lehnten die beiden sofort ab.

„Okay, dann vielen Dank. Sie dürfen jetzt nach Hause fahren. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.“

Christine verabschiedete sich, schob ihre Hände tief in die Taschen ihrer Jacke und trat den Rückweg an. Vorbei an einer Wiese mit Damwild und einer Wildschweinsuhle, deren säuerlicher Gestank ihr stechend in die Nase stieg.

Als sie ihren Dienstwagen in der Sonne stehen sah, widerstand sie der Versuchung, sich im Wageninneren einen Moment aufzuwärmen, und passierte den schwarzen BMW mit einem tiefen Seufzer.

Der Leiter der Spurensicherung hockte unter den tropfenden Bäumen im nassen Buchenlaub. Er pickte Knochensplitter und vereinzelt umherliegende Fleischstückchen mit einer Pinzette vom Waldboden auf und ließ sie in einen Druckverschlussbeutel fallen. Ein Kollege fotografierte alle Fundstücke. Ein weiterer nahm die Beutel entgegen, nummerierte sie und legte sie zu den anderen auf einen bereitgestellten Klapptisch.

„Günther?“, rief Christine im Vorbeigehen. „Weißt du, wo Jörg ist?“

„Da runter“, bekam sie zur Antwort und einen Hinweis auf die Richtung mit der Pinzette, mit der der Polizeihauptmeister soeben ein dunkelbraunes glibberiges Stück Fleisch aufgenommen hatte.

Angewidert wandte sich Christine ab und lief in den Wald hinein.

Das Wolfsgehege bestand überwiegend aus Mischwald. Zusätzlich gab es ein Dickicht aus jungen Fichten. Zum Nachbargehege hin wandelte sich der Laubbaumbestand in eine Ansammlung älterer Douglasien.

Der Boden unter Christines Sportschuhen war von Laub bedeckt. Die umstehenden Buchen und Eichen erkannte sie, doch die Bezeichnungen der anderen Bäume waren ihr unbekannt.

Es duftete modrig nach nasser Erde, morschem Holz und welkem Laub. Auch den Duft von Pilzen nahm sie wahr.

Sie blieb stehen und lauschte.

„Jörg?“, rief sie.

Doch sie bekam keine Antwort.

Sie änderte ihre Laufrichtung und stolperte durch das Unterholz voran.

Ein Windstoß rauschte durch die Kronen der Douglasien. Wassertropfen prasselten auf den Stoff ihrer Jacke und klatschten auf ihr Haar. Bedauerlicherweise besaß ihre Jacke keine Kapuze.

Nach wenigen Minuten hatte sie den Maschendrahtzaun des Geheges erreicht. Auch das Nachbargehege schien leer zu sein. Sie sah jedenfalls keine Tiere.

Bei ihrer ziellosen Suche nach ihrem Kollegen hatte sie ein wenig die Orientierung verloren. Sie schnaufte, drehte sich um und angelte in ihrer Jackentasche nach ihrem Mobiltelefon. Sie wollte Jörg anrufen, doch das Gerät fand kein Netz. Demütig ließ sie es wieder in ihre Tasche gleiten und beobachtete den Wald vor sich. Sie hoffte auf eine Bewegung zwischen den Baumstämmen oder im Unterholz, die ihr einen Hinweis auf ihren Kollegen gab. Doch sie blieb allein.

Einem plötzlichen Impuls folgend drehte sie sich um und erschrak!

Vor ihr stand ein großer grauer Wolf.

‚Wie ist dieses Tier von mir unbemerkt so schnell dorthin gekommen?‘, schoss es ihr heiß durch den Kopf. Das Nachbargehege erschien ihr verlassen, und sie hatte nicht das leiseste Geräusch gehört.

Hektisch suchte ihr Blick nach weiteren Tieren. Doch sie blieben zu zweit. Bewegungslos stand ihr der Wolf gegenüber und starrte sie aufmerksam an. Plötzlich drehte er seinen Kopf in den Wind und schien das Interesse an ihr verloren zu haben. So standen sie da. Er schaute in eine nur ihm bekannte Ferne, und sie schaffte es nicht, ihre Augen von ihm abzuwenden. Doch ihre Furcht wich langsam. Nicht zuletzt dank des vier Meter hohen Zauns, der sie, wenn auch nur zwei Meter, von dem kräftigen Tier trennte.

‚Ohne diesen Zaun …‘

Sie wollte ihren Gedanken nicht zu Ende führen.

„Sie sind wunderschön, nicht wahr?“

Christine fuhr zusammen und drehte sich um.

Vor ihr stand eine nachlässig aber zweckmäßig gekleidete Frau mittleren Alters. Ihr langes graues Haar fiel ihr strähnig und nass auf die Schultern, es erinnerte die Kommissarin an das Fell dieses Wolfs. Sich lautlos anzuschleichen wie ein Wolf, beherrschte sie offenbar auch.

„Äh, ja“, stammelte sie. „Und Sie sind wer?“

Die Frau in schweren Stiefeln streckte Christine eine schmutzige Hand mit kurzen brüchigen Fingernägeln zum Gruß entgegen und trat zwei Schritte vor. An den Knien ihrer grünen Cargohose klebte Erde, und ihr Parka roch streng nach nassem Fell.

Christine ergriff die von trockener, rissiger Haut umspannte Hand. Sie war warm und griff kräftig zu.

„Roswita Bauer oder einfach Rosi. Ich bin die Pflegerin des Rudels.“

Christine nickte und folgte Rosi mit ihrem Blick bis dicht an den Zaun. Entgegen des Verbots auf den Warnschildern, die alle paar Meter daran angebracht waren, streckte sie ihre Hand durch die Maschen und griff kräftig in das Fell des Tieres, das diese ruppige Art der Liebkosung offenbar genoss.

„Das ist Rocco. Der Rudelführer und mein ganzer Stolz. Manchmal etwas verspielt und übermütig, dann passt er nicht auf und vergisst, wie schwach und zerbrechlich Menschen sind. Beinahe hätte er mir beim Herumtollen mal die Hand abgebissen. Aber sie haben im Krankenhaus alles wieder angenäht. Nicht wahr? Du Raufbold.“

Und wieder griff sie kräftig in Roccos Fell und schien gar nicht von ihm lassen zu können.

Rocco riss plötzlich sein Maul auf, gähnte und zeigte dabei sein beeindruckendes Gebiss mit Zentimeter langen Reißzähnen, bevor er es mit einem schnappenden Geräusch wieder zuklappte.

Christine stockte der Atem bei dem Anblick und sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, was ein einzelner Wolf oder gar ein ganzes Rudel mit dem warmen, weichen Fleisch eines Menschen anstellen konnte.

Rosi zog ihre Hand zurück, und Christine war so erleichtert darüber, dass sie die Frage vergessen hatte, die sie als nächstes stellen wollte.

„Diese Tiere sind alles, was ich habe“, begann Rosi gedankenverloren. „Kommen Sie, wir suchen Ihren Kollegen.“

Dankbar nahm Christine Rosis Vorschlag an und folgte ihr.

Einige Sonnenstrahlen fanden ihren Weg hinunter auf den Waldboden. Rosi blieb stehen, schloss ihre Augen und genoss für einen Moment das warme Licht.

Christine blickte zurück. Rocco war verschwunden.

Sie gingen weiter. Rosi voran.

„Ich hatte mal einen Freund“, erklärte sie. „Ist lange her. Damals nahm ich Rocco mit nach Hause. Ein wenige Wochen alter Findel-Welpe. Ich zog ihn von Hand auf, und mein Freund zog aus. Er mochte keine Hunde. Hab ihn nie wieder gesehen.“

„Wölfe sind keine Hunde“, gab Christine zu bedenken.

„Das stimmt. Neben dem Bären, den wir ja in Europa erfolgreich ausgerottet haben, sind sie die einzigen Lebewesen, die einem Menschen ernsthaft gefährlich werden können. Aber sie tun es nicht. Sie respektieren uns. Wieso, verdammt noch mal, können wir sie nicht respektieren und ihnen endlich den Lebensraum zugestehen, den wir ihnen weggenommen haben?“

„Sie sind also für die Wiederansiedlung der Wölfe in unseren Wäldern?“

„Natürlich!“

Rosi blieb entrüstet stehen. So, als könne sie nicht verstehen, wie man überhaupt solch eine Frage stellen konnte.

Eisblaue Augen musterten die junge Kommissarin.

„Vergessen Sie alles, was Sie über Wölfe zu wissen glauben. Dass sie böse sind und grausam und hinterlistig. Alles Legende. Sie sind sozial, loyal und aufrichtig. Kann man nicht von vielen Menschen behaupten. Aber wem erzähle ich das. Sie sind ja bei der Polizei.“

„Und was glauben Sie, ist heute Nacht in diesem Gehege passiert? Vermissen Sie jemanden vom Personal?“

Rosi blieb stehen und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ein Mitglied der Spezies Mensch hat ein anderes Mitglied seiner Spezies entsorgt. Es ging um Geld. Geht es den Menschen ja immer.“

„Scheint Sie ja nicht sonderlich zu berühren.“

„Meine Wölfe sind mir lieber als die Menschen. Die würden so etwas niemals tun.“

„Und doch haben sie einen Menschen getötet.“

„Nein, das haben sie nicht.“

Rosi ging wieder voraus.

„Was macht Sie da so sicher?“

„Prädatoren wie der Wolf suchen bei ihrer Jagd nach Beute immer den Weg des geringsten Widerstands. Ein Mensch ist groß und wehrhaft. Der Wolf könnte schwer verletzt werden. In freier Wildbahn bedeutet das seinen Tod.“

„Angriffe auf Menschen kamen aber schon vor.“

„Nur wenn die Tiere zu verhungern drohen, bilden sie ein Rudel und wagen sich gemeinsam an größere Beute heran. Bis das geschieht, fressen sie lieber Aas von überfahrenen oder verendeten Tieren. Sie stehlen einen fremden Riss oder fressen wenig schmackhafte, kleine pelzige Nager, wenn sie sie erwischen. Hier aber werden sie täglich gefüttert.“

„Hmm“, brummte Christine und wich einem zurückschnellenden Fichtenzweig aus. „Und? Sind heute Morgen nun alle Ihre Kollegen zum Dienst erschienen?“

„Aber ja.“

„Vielleicht ist ja jemand über den Zaun geklettert. Angeberei als Balzverhalten vor der Freundin oder eine Mutprobe vor Kumpanen.“

„Wäre nicht das erste Mal.“

„So etwas passiert öfter?“

„Nicht bei den Wölfen. Bisher jedenfalls nicht.“

„Auf jeden Fall haben Ihre Wölfe ganze Arbeit geleistet.“

Rosi blieb erneut stehen.

„Das sind wilde Tiere. Was wirfst du ihnen denn vor? Dass sie das Futter, das nachts einer über den Zaun geworfen hat, gefressen haben? Wenn dir ein Pizzabote einen Karton mit einer Quattro Stagioni überreicht und behauptet, sie wäre bezahlt, was machst du denn dann?“

Christine überlegte, ob sie das vertrauliche „du“ von Rosi reklamieren sollte. Entschied sich aber dagegen.

„Ich greife zu?“

„Na, was denn sonst? Nichts anderes hat das Rudel getan. Außer Rocco. Er hat anscheinend versucht, das Rudel von der Leiche fernzuhalten und einen jungen Rüden weggebissen. Eine Folge der Handaufzucht.“

„Wo kommen die anderen Wölfe her?“

Rosi marschierte wieder voraus.

„Risko, Rufus und Bella kommen aus Polen. Der Rest aus Rumänien. Sie schlichen im Winter nachts um die Häuser und wurden, Gott sei Dank, nicht gleich erschossen, sondern gefangen und uns angeboten. Offenbar scheint ein kleiner Teil der Menschheit zu begreifen, dass diese Tiere ein Teil der Natur sind, wie der Mensch auch. Koexistenz ist also das Gebot der Stunde, nicht Ausrottung.“

„Wie viele Eingänge gibt es zu diesem Gehege?“

„Zwei. Die Futterschleuse und eine breite Durchfahrtmöglichkeit für Fahrzeuge. Dieses Tor wird aber nur selten benutzt.“

„Gibt es eine Überwachungskamera?“

„Nein. Wir sind kein Zoo, der finanzielle Unterstützung aus der Stadtkasse erhält“, entschuldigte sich Rosi. „Bei uns ist Geld immer knapp. Wir sind auf das Eintrittsgeld und Spenden angewiesen. Außerdem sind unsere Gehege für eine Videoüberwachung zu groß und zu unübersichtlich.“

Sie hatten das Gehege beinahe durchquert. Von nun an fiel es bis zum Zaun steil ab. Von dort kam ihnen Jörg Rottmann entgegen. Schwer atmend erklomm der sportliche Mann den Hügel. Sie blieben oben stehen und sahen ihm dabei zu. Dann hatte er sie fast erreicht und unterbrach seinen Aufstieg wenige Schritte unterhalb von ihnen.

„Da unten …“, schnaufte er, „… gibt es ein Tor. Ewig nicht benutzt. Keine Reifenspuren.“

Hauptkommissar Rottmann blieb noch einen Moment stehen und sah zum Zaun hinunter, bis sich sein Puls etwas beruhigt hatte. Dann schleppte er sich die letzten Schritte hinauf bis auf den Hügel.

Rosi verabschiedete sich.

„Ich muss mich um das verletzte Tier kümmern. Ihr findet selbst hier raus?“

Jörg Rottmann nickte. Er schwitzte. Sein Gesicht glänzte rosig.

„Das war die Pflegerin der Wölfe“, erklärte Christine und schaute Rosi nach.

„Ich weiß. Bin ihr vorhin schon begegnet. Wir müssen da lang.“

Jörg deutete mit einer Hand in den Wald hinein und ging voraus. Christine bemühte sich, Schritt zu halten.

„Hast du etwas ermitteln können, was uns weiterhilft?“

„Nee“, bekam sie von ihrem Kollegen knapp zur Antwort.

„Bist du wegen irgendwas sauer?“

„Nee.“

„Aber du hast doch was.“

„Mir geht es gut. Schuhe versaut, Haare und Klamotten nass und einen kalten Arsch habe ich auch. Und dazu diese Viecher auf der anderen Seite des Zauns. Aber sonst is’ nix.“

„Ich bin einem begegnet. Sie sind viel größer, als ich dachte.“

„Stell dir vor, es gibt Leute, die diese Viecher wieder bei uns ansiedeln wollen. Waldspaziergänge kannst’e dann vergessen. Es sei denn, du willst dir den Weg freischießen.“

„Jetzt übertreibst du. Weil du schlechte Laune hast.“

Hauptkommissar Rottmann hörte seine Kollegin hinter sich kichern. Sie hatte recht. Er hatte schlechte Laune.

Fast zwei Stunden war er durch das Gehege gelaufen und hatte den Zaun kontrolliert. Nach seiner Theorie wurde der Körper darüber hinweg in das Gehege geworfen. Tot oder noch lebendig. Wie dem auch sei, es musste dann Spuren geben. Fußabdrücke im weichen Boden. Abgestreifter Schmutz von den Schuhsohlen am Zaun oder verformte oder beschädigte Maschen.

Oben auf dem Zaun war Stacheldraht gespannt. Er neigte sich in das Gehege. Es war unmöglich etwas Schweres, wie einen menschlichen Körper, darüber hinweg zu heben, ohne dass etwas am Draht hängen blieb. Ein Stück Stoff, Haare oder abgeschürfte Haut. Soweit Rottmanns Logik. Doch er hatte nichts gefunden. Was noch nicht hieß, dass es sich nicht doch so verhielt, nur sah es eben im Moment nicht danach aus. Vielleicht war ja doch jemand einfach über den Zaun geklettert. Ein Besoffener oder ein Spinner oder ein besoffener Spinner. Wie dem auch sei. Er musste auf das Ergebnis der Spurensicherung warten. Wodurch seine Geduld strapaziert wurde. Und davon hatte Hauptkommissar Rottmann nicht sehr viel.

„Jörg?“, hörte er Christine hinter sich flöten. „Müssen wir nicht da lang?“

Er blieb stehen und schaute sich um. Und schon wieder hatte seine Kollegin recht. Er war in die falsche Richtung gelaufen, weil er sich darüber ärgerte, dass die letzten beiden Stunden ergebnislos geblieben waren und er genau darüber ständig nachdenken musste. Und kalt und nass war es auch, Hunger und Durst kamen noch hinzu.

Christines Orientierungssinn war keineswegs besser als seiner. Nur hatte sie in einiger Entfernung zwischen den Stämmen der Bäume Männer in weißen Spusi-Anzügen herumlaufen sehen. Und wenn sie ihre Marschrichtung nicht änderten, würden sie an ihnen vorbei laufen.

Missmutig korrigierte Jörg seine Laufrichtung, und Christine trottete hinter ihm her.

Günther Hagemann sammelte immer noch Gegenstände vom Boden auf und füllte damit seine Kunststoffbeutel. Nur waren es mittlerweile keine Leichenteile mehr, sondern Kot.

„Ist ja ekelhaft“, kommentierte Jörg Rottmann die wenig attraktive Arbeit des Polizeihauptmeisters.

„Willst du uns nicht helfen?“, provozierte der Chef der Spurensicherung.

„Was denn? Hier überall die Kötel einsammeln? Nee, du. Das kannst du selber machen.“

„Ist halb so schlimm. Die meisten sind gefroren.“

Jörg Rottmann verzog angewidert sein Gesicht.

„Aus dir wird wohl kein Tierfreund mehr.“

„Was soll das denn bringen?“

„Der Kot der Wölfe wird eingesammelt, um eventuell mit dem Fleisch verschlungene Fremdkörper sicherstellen zu können. Wir haben sonst kaum etwas. Ob uns eine DNA-Analyse der gefundenen Knochen und Fleischreste und ein Abgleich mit der Datenbank weiterbringen wird, müssen wir abwarten. Die Ermittlung einer Todesursache ist unter den bisherigen Bedingungen jedenfalls illusorisch. Wo ist eigentlich diese Pflegerin? Die könnte Auskunft über die Verdauungszeiten geben.“

Jörg Rottmann zuckte mit den Schultern.

„Ist trotzdem ekelhaft“, murmelte er.

Christine grinste amüsiert.

„Frau Bauer ist im Nachbargehege. Sie versorgt ein verletztes Tier.“

Ihr Kollege gab ihr zu verstehen, jetzt endlich fahren zu wollen, und richtete eine letzte Frage an den Chef der Spurensicherung.

„Das heißt also, ihr wartet jetzt hier, bis diese Viecher ausgekackt haben?“

„Genau“, presste Günther Hagemann angestrengt hervor, während er sich nach einem weiteren Kothaufen bückte.

Christine folgte Jörg zum Wagen. Sie stiegen ein, und er ließ den Motor an.

„Wir brauchen noch eine Liste aller Mitarbeiter dieses Tierparks“, stellte er fest und setzte den BMW zurück. Dann wechselte er in den Vorwärtsgang und fuhr los. Kleine Steine wurden vom Profil der Reifen aufgesammelt und wieder weggeschleudert. Sie knisterten in den Radkästen, während der Wagen auf das Gebäude am Eingang des Parks zurollte.

„Während Günther den Kötern beim Kacken zusieht, gibt’s für uns Frühstück“, freute er sich und hielt den Dienstwagen vor dem Eingang des Bistros an.

Der Gastraum wirkte verlassen. Zu dieser Tageszeit hielten sich nur wenige Besucher im Tierpark auf.

„Das ist zu dieser Jahreszeit normal“, erklärte eine schlanke, ältere Dame, die dennoch beneidenswert jugendlich wirkte. Während der Wintersaison kassierte sie an der Kasse die Eintrittsgelder und war zugleich für die Bedienung im Bistro zuständig. „Marianne“ stand auf einem in Brusthöhe an ihren Pullover gesteckten Namenschild aus Holz, das die Form einer Wildkatze hatte.

Marianne strich sich eine dunkelbraune Locke ihres halblangen Haares aus dem Gesicht und wartete, bis ihre Gäste an einem Tisch in der Nähe eines Heizkörpers Platz genommen hatten. Dann nahm sie deren Bestellung auf. Dabei schmunzelte sie über Jörg Rottmanns Verlangen nach gleich vier halben Brötchen.

„Frische Luft macht hungrig“, bemerkte sie amüsiert und verschwand in einem Nebenraum.

Christine zog ihre Jacke aus und hängte sie über die Lehne ihres Stuhls, mit dem sie dicht an den Heizkörper heranrückte.

Mit zwei Bechern Kaffee und zwei Tellern auf einem Tablett kam Marianne kurz darauf wieder und stellte sie vor den durchnässten und verfroren Beamten ab. Dann zog sie sich zurück. Christine biss in ein halbes Brötchen belegt mit gekochtem Schinken und legte es wieder auf ihren Teller. Während sie kaute, umfasste sie mit den Händen den heißen Becher und wärmte sich daran ihre schlanken Finger.

Der Kaffee war stark und schwarz, die Brötchen frisch und knusprig. Ihre Kleidung trocknete und die Wärme kehrte langsam in ihren Körper zurück. Christine genoss ihr kleines Glück und schielte zu ihrem Kollegen hinüber, der seine Brötchen verschlang. Auch er genoss diesen Augenblick offensichtlich, wenn auch auf eine andere Art.

„Es sind die kleinen Dinge im Leben, auf die es ankommt“, hatte ihr Papa oft betont.

Marianne ordnete Prospekte, goss Blumen und kontrollierte Unterlagen hinter ihrem Kassentresen.

„Gehören Sie zur Geschäftsleitung?“, rief Jörg Rottmann ihr zu und ließ seine Serviette auf den leeren Teller fallen.

„Ja und nein“, antwortete Marianne und unterbrach ihre Arbeit. „Der Wildpark wird von einem gemeinnützigen Verein betrieben. Ich bin Mitglied des Vorstands, helfe gerne aus und verdiene mir etwas dazu. Ich bin längst in Rente.“

„Wir brauchen eine Liste aller Mitarbeiter.“

„Das kann ich gerne für Sie erledigen. Ich führe hier auch die Bücher.“

Kommissarin Bernard angelte eine Visitenkarte aus ihrer Jackentasche.

„Senden Sie uns die Liste bitte an meine E-Mail-Adresse?“

Marianne nickte und las von der Visitenkarte ab.

„Bernard. Sind Sie verwandt mit dem Bürgermeister von …“

„Nein“, unterbrach Christine sie. „Es wird ‚Bernar’‘ ausgesprochen. Ich heiße Christin’ Bernar’. Mein Vater war Luxemburger.“

„Ach so. Sie sprechen aber sehr gut Deutsch.“

„Ich bin hier aufgewachsen.“

Marianne verstand und nickte erneut.

„Vermissen Sie jemanden vom Personal oder jemanden, der sonst um diese Zeit hier ist?“

„Nein. Das war auch mein erster Gedanke, als ich von dem schrecklichen Fund heute Morgen gehört habe. Aber Rosi, Kurt und Justin sind ja da. Alle anderen haben heute keinen Dienst. Ach, diese Wölfe. Mir war von Anfang an nicht wohl bei dem Gedanken an dieses neue Gehege. Was sollen nur die anderen Tiere im Park denken? Ich meine, wer will schon solche Nachbarn haben?“

Jörg Rottmann grinste und griff nach seinem Becher.

„Sie mögen diese Viecher wohl nicht.“

Marianne winkte ab. „Mir soll es recht sein. So lange sie in ihrem Gehege bleiben.“

„Laufen die etwa auch frei herum?“

„Oh, nein. Da passt Rosi schon auf. Obwohl sie mir ein wenig zu vernarrt in ihre Wölfe ist. Aber für den Park ist es gut. Die Menschen wollen sie sehen. 18 Prozent mehr Besucher haben wir, seit sie hier sind. Früher hatten die Menschen große Angst vor dem Wolf, aber heute … Sie fühlen sich sicher, hinter ihrem Zaun.“

„Sollen diese Tiere irgendwann ausgewildert werden? Man liest im Moment so viel darüber.“

„Um Gottes willen, nein. Sie haben sie doch gesehen. Möchten sie so einem großen gefährlichen Tier auf ihrem Spaziergang begegnen? Ich nicht. Nein, danke.“

„Rosi scheint darüber anders zu denken“, erinnerte Christine sich an ihr Gespräch mit der Tierpflegerin.

Marianne machte eine wegwerfende Handbewegung und verzog ihr Gesicht. „Ja, die Rosi. Ein vernünftiger Mann hätte ihr gut getan. Stattdessen treibt sie sich den ganzen Tag im Gehege herum.“

Christine schmunzelte.

„Glauben Sie, dass es bald wieder Wölfe im Hunsrück geben wird? Vielleicht finden sie im Hochwald-Nationalpark einen geeigneten Lebensraum.“

„Ich hoffe, ich erlebe das nicht mehr. Ich verstehe auch nicht, wie sich manche Leute darüber freuen können. Reicht es nicht, dass sie hier im Park herumlaufen. Obwohl, damit ist es ja auch bald vorbei.“

Christine reagierte sofort.

„Wieso?“

„Ein Immobilienmakler hat zusammen mit einer Investorengruppe das Gelände gekauft, auf dem sich der Park befindet. Nächstes Jahr läuft der für 60 Jahre abgeschlossene Pachtvertrag mit dem bisherigen Besitzer ab. Es muss neu verhandelt werden. Aber die neuen Eigentümer zeigen kein Interesse an einer Fortführung des Vertrages. Eine irrwitzig hohe Pacht verlangen sie. Unser Vorstand glaubte zunächst, dass man nur die Pachtsumme in die Höhe treiben wollte, aber dann sickerte durch, dass etwas ganz anderes dahinter steckte. Der Park soll geschlossen und das Gelände mit Einfamilienhäusern bebaut werden.“

„Noch ein Hypothekenviertel, na toll“, spottete Jörg Rottmann. „Es ist doch immer das gleiche.“

Marianne nickte traurig.

„Mir könnte es egal sein. Ich habe ja meine kleine Rente und finde sicher einen anderen Aushilfsjob. Aber die Pfleger und die Arbeiter finden hier in dieser strukturschwachen Gegend sicher nicht wieder so schnell eine neue Anstellung. Außerdem ist der Park seit Jahrzehnten eine Institution. Aber es formiert sich ja schon Widerstand. Sogar eine Bürgerinitiative hat sich gegründet, unterstützt von Umweltorganisationen. Sie suchen verzweifelt nach einem seltenen Tier, dessen Lebensraum bedroht ist und erhalten bleiben muss und dessen Fund das Bauvorhaben stoppen könnte. Diese Bürgerinitiative wird sogar von denen unterstützt, die eine Wiederansiedlung der Wölfe im Nationalpark befürworten. Aber da sind noch die Gegner, die eine Rückkehr des Wolfs unbedingt verhindern wollen. Überwiegend Jäger, Schäfer, Landwirte und Waldbesitzer. Die stehen auf der Seite der Investoren. Einige von denen besitzen Grundstücke, die an das Pachtland grenzen, und sie hoffen, dass sie einen guten Preis dafür bekommen, wenn künftig Häuser darauf gebaut werden sollen.“

„Und wieder geht es nur ums Geld“, warf Christine ein und schüttelte ihren Kopf.

Marianne sprach weiter.

„Ach, ich selbst bin immer wieder hin und her gerissen und kann mich nicht entschließen, was die richtige Entscheidung ist. Mir machen diese Wölfe Angst. Einwandernde Wölfe galten bei unseren Vorfahren als Boten des Krieges. Sie schienen den massenhaften Tod vorauszuahnen und fraßen die Kadaver der gefallenen Soldaten und der toten Pferde auf den Schlachtfeldern. Meine Großmutter hat mir davon erzählt. Große Wolfsrudel folgten nach der Schlacht bei Borodino den sich zurückziehenden Truppen von Napoleon bis in den Hunsrück. In Paris nannte man den Hunsrück während der französischen Besatzungszeit ‚pay de loup‘, was so viel bedeutet wie …“ Marianne suchte in Gedanken nach einer treffenden Übersetzung.

„Wolfsland“, half Christine ihr. „Das ist ja schrecklich.“

„Ja, das ist es, aber die Menschen suchen ja heute alle ihren Kick.“

Christine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Marianne lachte herzhaft, erzählte eifrig weiter und unterhielt ihre einzigen Gäste an diesem Vormittag offensichtlich gern.

„Ich wohne in Deuselbach. Das ist ein kleiner Ort hier ganz in der Nähe. Meine Nachbarin Ruth wollte letztes Jahr an einem Novemberabend unbedingt auf eine Lesung oben im Hunsrückhaus. Das Gebäude liegt tief im Wald. Es war dunkel und neblig. Der Autor las aus seiner Erzählung ‚Der letzte Wolf des Hochwalds‘. Na, jedenfalls war der Ruth nach der Lesung ganz unheimlich zu Mute und sie war heilfroh, dass sie nicht alleine bis zu ihrem Wagen laufen musste. So ist das, die Lust am Wolf und das wohlige Gruseln ist spätestens dann vorbei, wenn er einem in den Allerwertesten zwickt.“

Mariannes helles Lachen wirkte ansteckend, und Kommissarin Bernard hätte ihr gerne weiter zugehört, aber ihr Kollege drängte zum Aufbruch.

Jörg Rottmann erhob sich.

„Sie denken an die Liste …“, erinnerte er Marianne noch einmal und zog sein Portemonnaie heraus. Sie winkte ab.

„Geht auf’s Haus.“

„Das ist sehr freundlich, aber das dürfen wir nicht.“

Hauptkommissar Rottmann bezahlte mit einem 20 Euro Schein.

Seine Kollegin zwang sich in ihre feuchtwarme Jacke.

„Wo finden wir diesen Justin?“

„Um diese Zeit?“

Marianne dachte kurz nach.

„Beim Federvieh. Wenn Sie raus kommen, gleich rechts. Da müsste er sein.“

Die Sonne hatte den Nebel vertrieben und versuchte, so etwas wie Mittagswärme herzustellen. Doch es blieb kühl. Christine fröstelte und zog den Kopf tief zwischen ihre Schultern.

Sie liefen an großen Volieren vorbei, deren Türen offen standen. Das dazugehörige Federvieh trieb sich nicht weit davon entfernt auf dem Gelände herum. Ein Perlhuhn lief meckernd umher und forderte aufdringlich Futter ein. Es hielt die Beamten natürlich für gewöhnliche Besucher, die üblicherweise üppig mit Futter um sich warfen. Doch bei diesen beiden war offenbar nichts zu holen. Jörg Rottmann verscheuchte das aufdringliche Tier.

Christine hörte ein wiederkehrendes Klacken und folgte dem Geräusch. Sie fand den Verursacher in einem Marderverschlag. Justin besserte die Umzäunung aus und befestigte mit einem Elektrotacker feinen Maschendraht an den Holzpfosten.

„Sie sind Justin?“, stellte sie mehr fest, als dass sie fragte.

„Wer will das wissen?“, erklang es herausfordernd aus dem Halbdunkel des Verschlages.

Sie warf Jörg einen genervten Blick zu. Der verdrehte seine Augen. Justin schaute offenbar gerne Filme.

„Die Kriminalpolizei will das wissen“, rief Jörg ganz im Stil eines TV-Serien-Hauptkommissars in den Stall hinein. „Und jetzt komm da raus, sonst komme ich rein und hole dich.“

Christine grinste. Jörg schaute offenbar auch gerne Filme.

Polternd ließ Justin den Tacker fallen, schob die Hände tief in die Taschen seiner Latzhose und schlurfte aus dem Verschlag heraus.

„Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?“

Christine fürchtete, Jörg verlöre gleich die Geduld mit diesem Bürschchen, und zog ihren Dienstausweis aus der Tasche.

Justin tat so, als lese er und grunzte.

„Und der da?“, forderte er mit einem Kopfnicken in Richtung von Jörg Rottmann.

„Jetzt reicht’s aber“, warnte der.

Justin gab sich zufrieden und beantwortete die an ihn gestellten Fragen, wenn auch lustlos. Dabei behielt er seine Hände tief in den Hosentaschen.

Der Junge war an allen sichtbaren Hautflächen tätowiert, wirkte ungepflegt und schien auch nicht der Klügste zu sein. Seine Wortwahl war bescheiden und häufig mit Fäkalsprache und Kraftausdrücken angereichert. Aber er bestätigte im Wesentlichen die Aussagen von Rosi, Marianne und den beiden Parkbesuchern. Christine bedankte sich bei ihm.

„Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen.“

„Ich weiß, ich bin ja nicht blöd“, gab Justin schnoddrig zum Besten und spuckte in den Sand.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, entgegnete Jörg Rottmann. Justin streckte ihm seinen schmutzigen Mittelfinger entgegen.

„Wieso hast du dir deinen Namen auf den Unterarm stechen lassen?“, provozierte der Hauptkommissar weiter und wandte sich ab. „Damit du nicht vergisst, wie du heißt?“, spottete er, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sie kehrten zu ihrem Dienstwagen zurück und ließen sich in die Sitze fallen. Jörg Rottmann startete den Motor.