Christine Bernard. Tödliche Intelligenz - Michael E. Vieten - E-Book

Christine Bernard. Tödliche Intelligenz E-Book

Michael E. Vieten

0,0

Beschreibung

Ein Industrieroboter verletzt einen Arbeiter tödlich. Zeugen berichten von einem gezielten Angriff. Was steckt dahinter? Künstliche Intelligenz oder der entfesselte Mensch? Dann geschieht ein zweiter Mord. Perfekt geplant und grausam ausgeführt. Töten diese Maschinen autonom? Handeln sie nach einem Motiv? Schwierige Ermittlungen in Kommissarin Bernards neuem Fall führen ihr Team in die Hochtechnologie der modernen Automatisierung und in die Untiefen menschlicher Gefühle.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael E. Vieten

Christine Bernard

Tödliche Intelligenz

Vieten, Michael E.: Christine Bernard. Tödliche Intelligenz. Hamburg, acabus Verlag 2021

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-802-9

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-801-2

ISBN: 978-3-86282-800-5

Lektorat: Lucia von Heusinger

Satz: Isabelle Oldenburg, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Umschlagmotiv: Struktur: pixabay.com /Maschine: © sittinan/stock.adobe.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Inhalt

Tote laufen nicht davon

Martin Vigeland

Die Fabrik

Der Roboter

Künstliche Intelligenz

Die Maschine

Das Ermittlerteam

Die Menschen

Kein Unfall

Die Auslese

Super Mario

Von der Moral

Ein Mörder zu viel

Höllenfeuer

Ein Mörder zu wenig

Alles auf Anfang

Von der Liebe und der Treue

Eine neue Spur

Der Abgrund

Die Verzweiflung

Die Handlung in diesem Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Vielen Dank an die Mitarbeiter der Pressestelle des Polizeipräsidiums und der JVA Trier für ihre zahlreichen Auskünfte.

Besonderen Dank an Birgit D. für ihre wertvolle Unterstützung und ihre Zuversicht.

Tote laufen nicht davon

Die Sonne ging auf und es begann einer dieser angenehmen Herbsttage, dessen Hochglanzbilder es bis in die verheißenden Reisemagazine schafften. Die leuchtenden Farben der Fotos und die ungefähre Erinnerung an den Duft des welken Laubs der Bäume weckten Sehnsüchte. Wonach genau wusste der Betrachter meist nicht. Eine diffuse Lust auf Freiheit und Reisen überkam Kommissarin Bernard nach einem langen Blick auf das verlockende Bunt unten auf dem Parkplatz der Kriminaldirektion Trier. Herabgefallene Blätter schimmerten matt in Erdfarben auf dem grellen Weiß des Autolacks ihres Renaults. Die frühe Morgensonne hatte bereits den zarten Reif auf der Windschutzscheibe des Mégane tauen lassen. Die Scheibenwischer würden die verbliebenen Wassertropfen mühelos entfernen. Sie frohlockte, das verhasste Eiskratzen sollte ihr an diesem Morgen erspart bleiben. Sie schaute kurz auf ihre neue Armbanduhr. Ein Geschenk von Torben. Einfach so, ohne besonderen Anlass. Er wollte sie überraschen. Sie hatte sich riesig darüber gefreut. Nun betrachtete sie das schmale Edelstahlgehäuse, ein Schmuckstück, rechteckig, mit klassischem Ziffernblatt. Der herbe Duft des Lederarmbands stieg ihr in die Nase. Sie umfasste das Gehäuse mit Daumen und Mittelfinger und schob es an ihrem Handgelenk in die korrekte Position.

Etwas mehr als eine Stunde noch, dann endete ihre Schicht. Kriminaldauerdienst mit Polizeimeisterin Tanja Rieger. Jeder war halt mal dran. Schade nur um das freie Wochenende. Christine und Torben liebten den Herbst gleichermaßen. Die kühle, klare Luft zu Tagesbeginn, die sanft wärmenden Sonnenstrahlen am Mittag und das wohlige Frösteln am Abend auf der Terrasse, bevor sie sich eine Strickjacke um die Schultern legte und Torben sie fragte, ob er von dem milden Schwarzriesling nachgießen durfte. Sie schliefen gern bei offenem Fenster und die Heizung blieb aus. Erst Ende November wurde es ihnen dafür zu kalt.

Eine ruhige Nacht lag hinter den beiden Beamtinnen. Zweimal mussten sie ausrücken. Die Kollegen von der Streife hatten sie gleich nach Dienstbeginn zu einer Leiche mit ungeklärter Todesursache angefordert. Verdacht auf Vergiftung. In der Gerichtsmedizin stellte sich jedoch schnell heraus, es war ein Herzinfarkt, der verdächtige Schaum vorm Mund heraufgewürgte Magensäfte. Also kein Gift. Fall abgeschlossen. Etwas länger dauerte ihr Einsatz bei einem Ausbruch von häuslicher Gewalt. Immer wieder das Gleiche. Desillusionierter, betrunkener Mann schlägt auf Frau und Kinder ein. Es fließen Blut und Tränen. Geschrei, Gepolter. Bis die Nachbarn die Polizei rufen. Der Schläger wurde festgenommen und unter Protest und gegrölten Beschimpfungen in Gewahrsam gebracht. Ausnüchterungszelle. Die Kollegen der nächsten Schicht würden sich um ihn kümmern. Meistens mussten sie ihn wieder gehen lassen, weil die Geschädigten keine Anzeige erstatteten. Mehr als eine Strafe wegen nächtlicher Ruhestörung und Beamtenbeleidigung war nicht drin. Ein lächerlich geringer Bußgeldbetrag wurde verhängt. Das war’s. Und dafür schlugen sich die Beamten des KDD die Nächte um die Ohren und kämpften gegen die Müdigkeit an.

Christine gähnte. Sie fühlte sich in diesem Jahr besonders erschöpft. Warum, wusste sie nicht. Lag es an dem zurückliegenden langen und heißen Sommer oder war es das Alter, wie Kollege Kluge sogleich glaubte zu wissen?

Die Sehnsucht nach der Ferne schlich sich wieder an. Reisen. Aber wohin? Vielleicht nach Skandinavien? Torben liebte den europäischen Norden. Dänemark wäre schnell zu erreichen. Ein Strandhaus. Sie spürte schon den Sand unter den Fußsohlen und das kalte Wasser auf der Haut. Jahresurlaub stand ihr noch ausreichend zu. Sie sollte ihn nehmen.

Kommissarin Bernard erhob sich und verließ ihr Büro. Sie lief über den Flur und betrat einen Dienstraum zwei Türen weiter. Tanja Rieger rekelte sich auf ihrem Bürostuhl. War sie eingenickt? Egal. Ihr Dienst war ohnehin gleich zu Ende.

»Lust auf Frühstück?«

Die Polizeimeisterin gähnte ungeniert, nickte stumm und stand auf. Sie schleppten sich die Stufen im Treppenhaus hinauf in die Kantine. Die Motoren der Automaten summten und erwärmten die ohnehin schon stickige Luft in der obersten Etage zusätzlich. Eine Mitarbeiterin vom Catering füllte die Kühlgeräte mit frischen Brötchen auf. Tanja bediente den Kaffeeautomaten. Christine erwarb zwei Sesamstangen mit Mozzarella und Tomatenscheiben. Sogar die Basilikumblätter schmeckten knackig und aromatisch. So musste ein Frühstücksbrötchen sein. Tanja setzte zwei Becher auf dem Tisch ab und schob Christine einen davon entgegen. Die griff danach, nippte aber nur daran und stellte ihn zurück, der Kaffee war noch zu heiß zum Trinken.

Sie kauten mit vollen Backen. Die Kommissarin sah ihrer Kollegin ins Gesicht. Dunkle Ringe hatten sich unter den Augen gebildet. Sie selbst sah bestimmt auch nicht frischer aus. Sie freute sich auf ihr Bett.

Zwanzig Minuten später kehrten sie wieder zu ihren Schreibtischen zurück. Bereits auf dem Flur hörte Kommissarin Bernard das Klingeln des Telefons. Sie beschleunigte ihren Schritt und schaute vorahnungsvoll auf den Becher, den sie in der Hand hielt. Der Kaffee schwappte natürlich über. Warm lief er über ihre Finger und tropfte auf die Fliesen. Eine Angestellte des Reinigungsdienstes bemerkte es, unterbrach ihre Arbeit auf dem Gang und strafte die Schuldige mit einem vorwurfsvollen Blick, bevor sie sich mit dem Wischmopp voran auf die Tropfenspur zubewegte.

Christine betrat ihr Büro, stellte den Becher ab und riss den Telefonhörer vom Gerät.

»KDD. KK Bernard.«

»Polizeihauptmeister Weber. Die Kollegen von der Streife haben einen Todesfall mit Verdacht auf Fremdeinwirkung gemeldet. Ein Roboter soll einen Arbeiter angegriffen und getötet haben.«

Die Kriminalkommissarin runzelte zweifelnd ihre Stirn, hörte aufmerksam zu und notierte sich die Adresse.

»So ein Mist«, dachte sie und legte auf. Ihr Blick streifte die kleine Uhr am Bildschirmrand. Keine dreißig Minuten später hätten sie Dienstschluss gehabt.

Sie trank einen Schluck und trat auf den Gang hinaus. Es roch feucht und nach Putzmittel.

»Tanja! Einsatz!«, rief sie und band sich ihr langes Haar zu einem Zopf zusammen.

»Och, nö«, hörte sie ihre Kollegin maulen und schmunzelte.

Wie ein aufsässiges Kind stampfte Tanja mit den Füßen über den Gang.

»Ich bin müde«, jammerte sie und fügte sich letztlich doch. So war der Job nun mal und sie erinnerte sich an die oft zitierten Worte ihres Kollegen Hauptkommissar Jörg Rottmann.

»Augen auf bei der Berufswahl.«

Sie nahmen die Treppe. Mit flinken Schritten liefen sie hinab, stießen unten angekommen die Glastür vor der Pforte auf und überquerten den Parkplatz. Ein Druck auf die Fernbedienung ließ die Rückleuchten an Kommissarin Bernards Wagen diensteifrig blinken. Sie stiegen ein. Christine startete den Motor und parkte aus. Die Blätter auf der Motorhaube rutschten herunter. Sondersignal und Blaulicht blieben aus. Sie hatten es nicht eilig. Tote liefen schließlich nicht davon.

Vor der ersten roten Ampel ließ sie ihre Seitenscheibe herunterfahren und entfernte ein kunstvoll gesponnenes Netz vom Außenspiegel. Mühsam schüttelte sie sich die anhaftenden Fäden von den Fingern. Tanja schauderte es bei dem Anblick.

»Ich ekele mich vor Spinnen.«

Die Ampel sprang auf Grün. Christine legte den Gang ein und fuhr los.

»Wir leben nun mal auf dem gleichen Planeten. Für irgendwas werden sie gut sein. Sie gehören zum System.«

»Trotzdem ekelig«, erwiderte die Polizeimeisterin trotzig und fügte hinzu: »Wo fahren wir hin?«

»Trier-Euren. Ein Industriebetrieb. Ein Arbeiter soll von einem Roboter tödlich verletzt worden sein.«

»Ein Arbeitsunfall. Wieso fahren wir da hin?«

»Die Kollegen vor Ort glauben, Hinweise auf Fremdverschulden gefunden zu haben.«

»Morden die jetzt auch schon?«

»Wer?«

»Die Roboter.«

Kommissarin Bernard lachte und warf einen Seitenblick auf ihre Kollegin.

»Ganz bestimmt nicht. Du weißt doch, was sich da oft zusammengesponnen wird. Wir fahren dahin, schauen uns das an und das war’s. In zwei Stunden sind wir zuhause.«

Tanja Riegers Gesicht blieb ausdruckslos. Sie schaute aus dem Fenster. Der nächste Mord, der nächste Totschlag. So ging es immer weiter.

»Manchmal vermisse ich das Schöne am Leben«, entfuhr es ihr plötzlich.

Christine wartete darauf, dass die Polizeimeisterin sich erklärte. Aber sie schwieg.

»Du brauchst mal Urlaub. Und einen vernünftigen Mann.«

Ihre Kollegin grinste.

»Du hast echt Glück mit deinem Torben.«

Die Kommissarin lächelte.

»Ich weiß.«

Das Firmengelände war frei zugänglich. Schlichte Produktionshallen und ein mehrstöckiges Verwaltungsgebäude aus aneinandergereihten Büro-Containern erhoben sich weiß in den azurnen Morgenhimmel. »Winkler Automotive« leuchtete ihnen von einem einfachen Schild auf einem kurz gemähten Rasenstück in roten und blauen Buchstaben entgegen.

Die Parkplätze waren alle belegt. Kommissarin Bernard entdeckte den Streifenwagen der Kollegen, einen Rettungswagen und die silberschwarze Kombi-Limousine eines Bestattungsinstituts. Sie stellte den Renault vor dem Haupteingang ab.

Hinter einer Glastür empfing sie gekühlte Luft. Eine Klimaanlage rauschte. Die Dame an der Anmeldung lächelte professionell und pflichtgemäß freundlich. Sie hielten ihr die Dienstausweise entgegen. Das Lächeln erstarb und wich einem Gesichtsausdruck gemischt aus Anteilnahme und Betroffenheit.

»Kripo Trier. Kommissarin Bernard, meine Kollegin Polizeimeisterin Rieger. Es hat einen Unfall gegeben?«

»Ja, schrecklich.«

Die Frau griff zum Telefon und tippte eine Kurzwahltaste.

»Zwei Beamtinnen der Kriminalpolizei sind hier. Holen Sie sie ab?«

Dann legte sie auf.

»Kommt gleich jemand«, versicherte sie und lächelte wieder.

Die Kommissarin wurde ungeduldig.

»Können wir nicht selbst …?«

Bedauerndes Kopfschütteln schnitt ihr das Wort ab.

»Sie brauchen jemanden mit Betriebsausweis, der Sie begleitet, zum Öffnen der Türen und der Tore.«

Christine Bernard nickte ergeben, wandte sich gelangweilt ab und schaute sich um. Sie sah Glasvitrinen mit technischen Bauteilen darin. Produktpräsentationen in Postergröße an den Wänden. Eine Luftaufnahme vom Betriebsgelände. Stühle mit blauem Polster standen darunter in einer Reihe für Besucher bereit, dazwischen Tischchen mit Hochglanzprospekten und Branchenmagazinen. Ein deutlich hörbares Klacken der Entriegelung an einer der Türen hinter ihr unterbrach ihre Beobachtungen. Christine wandte sich um. Kraftvoll wurde die massive Brandschutztür aus Metall aufgezogen und ein Mann in schweren Arbeitsschuhen, Jeanshose, Hemd und Weste steuerte auf sie zu. Grauer Vollbart, auf dem ernsten Gesicht erschien ein gewinnendes Lächeln und entblößte eine Zahnreihe mit schmaler Lücke. Er streckte ihnen seine Hand entgegen.

»Martin Vigeland. Teamassistent.«

Die Kommissarin griff als Erste zu.

»Christin‘ Bernar‘. Das ist meine Kollegin Polizeimeisterin Rieger.«

Der freundliche Mann lächelte höflich.

»Freut mich, sind Sie Französin?«

Christine schüttelte ihren Kopf.

»Meine Eltern stammen aus Luxemburg.«

Sie stellte ihre erste Frage: »Assistent von wem oder was?«

»Montage. In meiner Abteilung werden Komponenten endmontiert. Qualitätssicherung gehört auch zu unseren Aufgaben. Außerdem steht bei uns die …«

Martin Vigeland zögerte, bevor er weitersprach.

»… Beflammungsanlage, in der ein Kollege …, am besten sehen Sie sich das selbst an. Ich nehme an, deswegen sind Sie hier.«

Der Teamassistent ging voraus und zog seine Magnetkarte durch ein Lesegerät. Das Schloss wurde deutlich hörbar freigegeben. Er drückte die Tür auf. Mit langen Schritten lief er los. Christine und Tanja bemühten sich, ihm zu folgen. Vorbei an Büros hinter Glas, darin Menschen vor Computerbildschirmen. Überall Bauteile auf Schreibtischen und in Regalen. Ein Besprechungsraum mit Leinwand, ein Projektor an der Decke. Ein riesiger Kopierer auf dem Gang. Schilder an den Türen. »Qualitätsmanagement«. »Produktionsleitung«. »Bemusterung«.

»Was genau wird hier hergestellt?«, fragte Christine.

Martin Vigeland antwortete.

»Kunststoffteile für die Automobilindustrie.«

»Und das muss man derart absichern?«, fragte Tanja zweifelnd.

Er zuckte mit den Schultern.

»Offenbar.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich bin nur Leiharbeiter.«

»Trotz Ihrer Position?«

»Drei Viertel des Ladens läuft mit Leiharbeitern. Die meisten aus Osteuropa. Ist billiger. Belegschaft globalisieren, Verantwortung sozialisieren, Gewinne privatisieren. So macht man das heute.«

Kommissarin Bernard verfügte über ein feines Gespür für Zwischentöne. Die kritische Stimme des Mitarbeiters hörte sie sofort heraus. Martin Vigeland konnte in diesem Fall noch ein wertvoller Verbündeter werden, wenn es um Auskünfte ging, die von einem ergebenen Angestellten nicht zu erwarten wären. Wenn es überhaupt einen Fall geben sollte.

Ein fernes Rauschen und Zischen ließ Betriebsamkeit hinter der nächsten Tür des Verwaltungstraktes vermuten. Martin Vigeland öffnete sie und lief zügig voraus. Christine Bernard und Tanja Rieger beeilten sich, ihm zu folgen, bevor die Tür nach ihnen wieder schwer ins Schloss fiel.

Ein Schwall warme, stickige Luft schlug den beiden Beamtinnen entgegen. Es war laut und heiß in der Werkshalle. Kunststoffdämpfe stiegen beißend in ihre Nasen und empfahlen, nicht zu atmen. Doch dieser Empfehlung war kaum Folge zu leisten. Die Halle war riesig. Automatische Produktionsanlagen fauchten und stampften und piepsten und rauschten. Greifarme rückten vor und zurück und folgten den vorprogrammierten Bahnen. Zielsicher griffen sie nach einem soeben produzierten Bauteil und legten es an einer vorbestimmten Stelle ab. Auf ein Laufband oder fein sortiert in Kisten oder Stiegen. Mächtige Anlagen zogen tonnenschwere Metallblöcke zischend und dampfend auseinander. Roboter entnahmen ihnen Gussformteile. Danach schoben diese Maschinen ihr Werkzeug für den nächsten Produktionsschritt wieder zusammen. Zweckmäßig angezogene Arbeiterinnen und Arbeiter standen in langen Arbeitshosen schwitzend an Laufbändern. Schwere Sicherheitsschuhe an den Füßen. Ihr Oberkörper hingegen nur mit einem T-Shirt oder einem leichten Top bekleidet. Anders war die Hitze an ihren Arbeitsplätzen wohl auch nicht auszuhalten. Christine spürte, wie ihr bereits der Schweiß aus den Poren drang.

Martin Vigeland bemerkte das Interesse der beiden Kriminalbeamtinnen.

»Wir befinden uns in der Spritzerei«, rief er gegen den Lärm an und zeigte auf ein Rohrsystem an der Decke. »Spritzgusstechnik. Kunststoffgranulat aus den Silos draußen vor der Halle fließt rund 40 Produktionsanlagen zu. Bei 200 bis 300 Grad wird es geschmolzen und gegossen. Alles computergesteuert. Vollautomatisch.«

»Wozu dann noch Arbeiter?«

»Händische Entnahme der Bauteile aus den Werkzeugen, wenn an der Maschine keine automatischen Greifer installiert sind. Sichtkontrolle auf Gussfehler. Gegebenenfalls manuelle Nachbearbeitung. Für die Lackierereien müssen die Teile absolut fehlerfrei sein.«

Der Teamassistent zeigte sich hilfsbereit und geduldig. Er beantwortete jede Frage, ohne zu zögern. Er kannte die Abläufe in der Fabrik genau und Christines Vermutung, dass dieser Mann über ermittlungsrelevante Kenntnisse verfügen könnte, bekräftigte sich.

Sie wechselten in eine angrenzende Halle. Ein Schnelllauftor öffnete sich nach einem beherzten Zug an einer Leine, die von der Decke herabbaumelte. Dann schloss es sich hinter ihnen wieder wie von Geisterhand. Augenblicklich dämpfte sich die Geräuschkulisse. Auch die Luft in dieser Produktionshalle wirkte frischer. Martin Vigeland senkte seine Stimme.

»Halle II, Montage«, erklärte er und deutete auf einen Bereich, in dem Arbeiter mit Handschuhen sich an Tischen gegenüber saßen und Kleinteile mit Schleifpapier bearbeiteten. Im Gegensatz zur ersten Halle befanden sich hier nur drei Produktionslinien. Eine davon stand still. Monteure arbeiteten daran.

Sie hielten auf einen großen Käfig aus Maschendraht zu, zumindest wirkte der eingezäunte Bereich auf Kommissarin Bernard wie ein Käfig. Eine Polizistin in Uniform löste sich aus einer Gruppe Männer und lief ihnen entgegen.

»Sie brauchen mich nicht mehr«, stellte Martin Vigeland fest und blieb stehen.

Christine bedankte sich und ging mit Tanja weiter.

Die junge Polizeimeisteranwärterin grüßte. Ihre Gesichtshaut schimmerte blass.

»Guten Morgen. PMA Sass. Mein Kollege und ich waren als Erste vor Ort.«

Kommissarin Bernard sah sich um.

»Wo ist Ihr Kollege?«

»Draußen. Dem geht es nicht so gut.«

Christine hob die Augenbrauen.

PMA Sass vollführte eine etwas hilflose Geste. Es sollte wohl eine Einladung sein, ihr zu folgen. Sie lief auf zwei Sanitäter zu. Das war offenbar die Besatzung des Rettungswagens, der vor dem Bürogebäude geparkt stand. Zwei Herren in dunklen Anzügen erkannte die Kommissarin als Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts. Respektvoll wichen die Männer aus, hielten das Absperrband in die Höhe und gaben den Blick auf den Eingangsbereich des Käfigs frei. Die Tür stand offen. Ein Roboterarm verharrte in der anderen Ecke des Gitterverschlags.

Der Anblick war grausam. So etwas hatte Kommissarin Bernard in all den Jahren bei der Polizei noch nie gesehen. In einer unnatürlichen Haltung lag der Körper eines Mannes am Boden. Das Fleisch an den Händen und Unterarmen war verkohlt. Auf dem kahlen Kopf befanden sich nur noch die Aschereste seines Haares. Die Haut war geschmolzen und verdampft. Ein Gesicht gab es nicht mehr. Im ersten Moment war es Christine Bernard gar nicht möglich festzustellen, welche Seite vorn und welche hinten war. Nase, Lippen, Augenbrauen, alles weg. Sie entdeckte Zähne in blutig nassem Gewebe. Dort musste sich also das Gesicht befunden haben. Die Kleidung am Oberkörper des Mannes war versengt, das billige T-Shirt aus Kunstfasern mit dem Körper verschmolzen. Es stank nach verbranntem Fleisch und Plastik. Sie hörte ihre Kollegin hinter sich würgen. Die Polizeimeisterin wandte sich ab und übergab sich auf den Hallenboden. Der Anblick und der Geruch der Leiche waren ihr unerträglich.

Mitfühlend führte PMA Sass Tanja Rieger aus der Halle. Die frische Morgenluft draußen würde der Kollegin bestimmt guttun.

Kommissarin Bernard schluckte trocken und unterdrückte einen Würgereiz. Dann entfernte sie sich einige Schritte und zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Sie forderte ein Team der Spurensicherung und der Kriminaltechnik an. Ohne diese Spezialisten würde sich kaum feststellen lassen, ob sich in der Werkshalle ein Unglück oder ein Verbrechen zugetragen hatte. Und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte, ergab sich daraus ein Ermittlungsbedarf. Wenn ein Mensch an seinem Arbeitsplatz getötet und derart zugerichtet wurde, stimmte etwas mit den Sicherheitsvorkehrungen nicht. Und dafür gab es einen Verantwortlichen und der musste ermittelt werden.

Martin Vigeland

Eines der Rolltore fuhr nach oben. PMA Sass trat hindurch und durchquerte erstaunlich gefasst die Halle. Hinter ihr schloss sich das Tor automatisch. Dienstbeflissen lief sie mit schnellen Schritten auf die Kommissarin zu. Christine bewunderte diese junge Beamtin für ihre Haltung.

»Ihrer Kollegin geht es etwas besser. Sie raucht mit meinem Kollegen noch eine Zigarette, dann kommen die beiden nach.«

»Tanja raucht nicht«, erinnerte Christine sich.

PMA Sass zuckte mit den Schultern.

»Heute offenbar doch.«

»Spusi und KT sind unterwegs.«

PMA Sass nickte, zog einen kleinen Notizblock hervor und schien darauf zu warten, die Kriminalkommissarin über das Geschehen in Kenntnis setzen zu dürfen.

Christine ließ ihr Handy in die Jackentasche gleiten.

»Dann legen Sie mal los.«

Sie traten an den Käfig heran. Kommissarin Bernard vermied es, sich die Leiche noch einmal anzusehen, und konzentrierte sich stattdessen auf den Bericht der Polizistin. Über deren Schulter hinweg sah sie Martin Vigeland die Halle durchqueren. Ihre Blicke trafen sich, dann verschwand er durch eines der Schnelllauftore in der Nachbarhalle.

»Der Werker …, die sagen hier Werker, nicht Arbeiter«, erklärte PMA Sass. »… betrat gegen 4:20 Uhr nach einer Störung dieses Roboters den Gefahrenbereich, um nach der Fehlerursache zu suchen. Die Werkerin, die diese Anlage bis dahin bedient hatte, hat den Vorfall beobachtet und berichtete, dass die Beflammungsanlage sich selbständig eingeschaltet hätte, nachdem der Kollege die Tür hinter sich geschlossen hatte. Der Roboterarm richtete den Gasbrenner auf den Mann und zündete eine ungewöhnlich große Flamme. Der Mann versuchte auszuweichen, aber der Roboter führte den Arm immer wieder nach und schaltete die Flamme nicht ab. Selbst nachdem der Mann zusammengebrochen war, blieb die Flamme weiter auf ihn gerichtet. Die Werkerin war vor Entsetzen zunächst wie erstarrt, aber dann gelang es ihr, sich zu lösen und sie schlug auf den Knopf der Notabschaltung ein. Dadurch wurden die Strom- und die Gaszufuhr unterbrochen. Die Anlage fährt dann in diese Ruheposition.«

PMA Sass deutete kurz mit ihrer Hand in den Käfig. Christines Blick fiel auf den Roboterarm, an dessen Ende ein 40 Zentimeter breiter Gasbrenner montiert war. Sie benötigte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, welch ein grausames Drama sich dort abgespielt haben musste.

»Der stellvertretende Abteilungsleiter wurde zu Hilfe gerufen, das ist dieser Teamassistent. Der verletzte Werker war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar. Herr Vigeland setzte daraufhin den Notruf ab und versuchte, dem Mann zu helfen. Er stieß aber schnell an die Grenzen seiner medizinischen Kenntnisse. Der für diese Nachtschicht zuständige ausgebildete Ersthelfer hat sich gestern krank gemeldet. Der Notarzt begann nach seinem Eintreffen sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen, stellte aber schließlich den Tod durch Herzstillstand aufgrund der erheblichen Verbrennungen fest. Der getötete Mitarbeiter heißt Peter Buschmann. Er ist bei Winkler fest angestellt und arbeitete hier als Betriebselektriker.«

»Wo befindet sich diese Werkerin jetzt?«

»Im Sanitätsraum. Schocklage. Die war fix und fertig. Der Notarzt müsste jetzt bei ihr sein.«

»Wer trägt hier die Verantwortung?«

»Werks- und Produktionsleitung sind während der Nachtschicht nicht besetzt. Ich habe die Herren bereits informieren lassen. Die sind auf dem Weg hierher und müssten jeden Moment eintreffen.«

Das Rolltor am Ende des Gebäudes fuhr erneut hoch. Tanja Rieger trat hindurch und durchquerte die Halle. Christine bedankte sich bei der Polizistin und lief ihrer Kollegin entgegen.

»Bist du okay?«

Die Polizeimeisterin nickte.

»Fragst du dich bitte zum Sanitätsraum durch und befragst dort die Werkerin, die bis zum Unfall die Anlage bedient hat. Und falls der Notarzt noch bei ihr ist, der den Tod des Werkers festgestellt hat, nimm bitte auch seine Aussage auf. Ich will wissen, ob der Mann noch einmal das Bewusstsein erlangt hat, nachdem der Arzt ihn behandelt hat, und wenn ja, ob er ihm noch irgendetwas mitteilen konnte.«

Tanja atmete auf, wirkte sichtbar erleichtert, vorerst nicht in die Nähe dieses Käfigs zu müssen, und führte die Anweisungen sofort aus. Christine Bernard schaute ihrer Kollegin kurz nach und begab sich auf die Suche nach Martin Vigeland. Auf halber Strecke zur benachbarten Halle begegnete ihr der Teamassistent. Sie hielt auf ihn zu.

Er telefonierte, beendete sein Gespräch aber sofort, als er die Kommissarin auf sich zulaufen sah.

»Mit wem haben Sie gesprochen?«, rief sie misstrauisch gegen den Lärm in der Halle an, obwohl sie insgeheim davon ausging, dass ihr diese Frage üblicherweise nicht wahrheitsgetreu beantwortet wird oder die Antwort gleich ganz verweigert wurde. Doch Vigeland überraschte sie und ließ sie einen Blick auf das Display werfen.

»Mit meiner Vorgesetzten. Die Abteilungsleiterin ist im Urlaub, aber ich denke, sie sollte wissen, was hier geschehen ist.«

»Mich wundert es, dass sich offenbar kaum jemand für den Vorfall interessiert. Alle arbeiten weiter, niemand steht uns im Weg. Das kenne ich so nicht.«

»Bevor Sie eintrafen, war das schon anders. Die Leute waren schockiert. Aber die Produktionsstraßen laufen ja weiter. Die Werker müssen zurück an ihre Arbeitsplätze. Und die, die an den Tischen sitzen, trauen sich kaum selbständig aufs Klo. Denn dann stimmt der Schnitt bearbeiteter Teile pro Stunde nicht und der Personaldienstleister schickt die Leute wieder in ihre Heimat zurück. Schöne neue Arbeitswelt.«

»Sie scheinen kein Freund dieser Arbeitswelt zu sein.«

»Aha«, schmunzelte Vigeland. »Das ist Ihnen also aufgefallen. Gehen wir in meinen Verschlag, da ist es etwas ruhiger.«

Der »Verschlag« entpuppte sich als das Büro des Teamassistenten. Drei Stellwände an die Hallenwand geschoben, die obere Hälfte aus Glas. Darüber offen, ohne Decke, keine Tür. Tatsächlich also doch mehr ein Verschlag als ein Büro. Vigeland bot Kommissarin Bernard einen der beiden Stühle mit verschlissenem Polster an. Während sie Platz nahm, begrüßte PMA Sass vor dem Käfig der Beflammungsanlage den soeben eingetroffenen Doktor Vogler von der Rechtsmedizin und die Beamten von der Spurensicherung und der Kriminaltechnik. Auf deren Anweisung hin erweiterte sie zusammen mit ihrem Kollegen den mit Flatterband gesperrten Bereich.

Christine konzentrierte sich auf ihre Befragung.

»Schildern Sie doch bitte mit Ihren Worten, was hier heute passiert ist.«

Martin Vigeland bestätigte im Wesentlichen den Bericht der Polizeimeisteranwärterin und fügte lediglich eine Entschuldigung hinzu, dass er dem verletzten Werker nicht wirklich helfen konnte.

»Die Belegschaft hier wird regelrecht zusammengeflickt. So wenig Personal wie möglich, billig und nicht fest angestellt. Wenn die Auftragslage sich ändert, fordert man vom Dienstleister Arbeiter an und meldet sie wieder ab, wenn man sie nicht mehr braucht. Moderner Sklavenhandel. Viele von den Werkern sprechen kein Deutsch und können nicht einmal die Sicherheitseinweisung lesen.«

»Sie glauben an einen Unfall?«

Vigeland vollführte mit den Händen eine hilflose Geste und drückte mit dazu passendem Gesichtsausdruck sein Bedauern aus.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Einzige, der dem Kollegen hätte helfen können, krank ist und dass es keinen Ersatz gibt.«

»Sie haben nur einen ausgebildeten Ersthelfer für das gesamte Werk?«

»Eigentlich drei. Aber wenn ausschließlich am Profit orientierte Personalplanung auf die Wirklichkeit trifft, dann ist einer arbeitsunfähig, der andere befindet sich im Urlaub und der dritte hat Frühschicht.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Christine zwei Männer. Sie hatten die Halle betreten und steuerten auf die Kollegin von der Streife zu.

»Horten und Schneider«, hörte sie Martin Vigeland erklären. »Werksleitung und Produktionsleiter. Diese Herren entscheiden, was gemacht wird, und dann suchen sie sich jemanden, der für das Ergebnis verantwortlich sein soll. Für die ist der gemeine Arbeiter das unbekannte Wesen.«

Eine Frau im langen Mantel mit toupiertem blondem Haar folgte den beiden.

»Patrizia Denger. Denger-Personal. Da haben Sie die drei Gewinner des Werker-Karussells auf einen Haufen. Die Herren profitieren von der Lohndrückerei und die Dame kassiert eine Provision von der Kohle, die der Werker weniger bekommt.«

Ein Mann im weißen Schutzanzug tauchte in Christines Blickfeld auf. Polizeihauptmeister Günther Hagemann von der Spurensicherung. Zielstrebig steuerte er auf das Büro zu und zog sich die Kapuze vom Kopf.

»Guten Morgen, Christine. Wir müssen die Beflammungsanlage für unbestimmte Zeit stilllegen. Dort wimmelt es von Spuren. Fingerabdrücke von Technikern und Programmierern und den Werkern, die diese Anlage bedient haben.«

»Geht klar. Ich muss ohnehin noch mit der Werksleitung sprechen.«

»Jan von der IT-Forensik muss einen Programmierer des Herstellers hinzuziehen.«

»Kann Jan schon sagen, ob der Roboter manipuliert wurde?«

»Weiß ich nicht, sprich selbst mit ihm.«

Der Polizeihauptmeister ging davon. Die beiden Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens trugen einen Transportsarg durch die Halle. Günther Hagemann hatte die Leiche offenbar freigegeben und die Einlieferung in die Gerichtsmedizin veranlasst.

PMA Sass diskutierte mit dem Produktionsleiter und blickte sich hilfesuchend um. Dann entdeckte sie die Kommissarin und deutete mit der Hand in Christines Richtung. Der Mann setzte sich in Bewegung.

»Thomas Schneider, Produktionsleitung«, stellte er sich vor. »Wie lange werden die Untersuchungen Ihrer Leute noch dauern?«

Kommissarin Bernard erhob sich.

»Das kann ich noch nicht sagen. Heute voraussichtlich den ganzen Tag. Morgen entscheiden dann unsere Techniker.«

»Das geht auf gar keinen Fall. An dem reibungslosen Betrieb des Beflammungsroboters hängen Aufträge. Wir haben Lieferverpflichtungen gegenüber der Autoindustrie. Wir müssen weiterarbeiten.«

»Ich verstehe Ihre Situation, aber an der Anlage arbeitet vorerst niemand. Tut mir leid.«

»Das muss ich dem Werksleiter melden.«

»Tun Sie das.«

Thomas Schneider ging davon.

Christine wandte sich wieder dem Teamassistenten zu.

»Wissen Sie, wie man diese Beflammungsanlage bedient?«

»Ja.«

»Können Sie den Roboter auch programmieren?«

»Ich könnte es, nach einer gewissen Einarbeitung. Ich habe eine andere Programmiersprache gelernt.«

Christine ordnete Martin Vigeland im Geiste zunächst dem Kreis der möglicherweise an der Tat Beteiligten zu. Er sprach zwar offen und vermutlich ehrlich, aber er verfügte auch über die notwendigen Kenntnisse oder hätte sie sich aneignen können, um einen Roboter zu steuern. Das ließ ihn verdächtig erscheinen, vorausgesetzt, Jans Ermittlungen würden eine Manipulation der Steuersoftware bestätigen. Sie beschloss dennoch, Vigelands kooperatives Verhalten vorerst zu dessen Gunsten zu werten.

Vor dem Büro baute sich der Werksleiter auf, dahinter postierte sich Thomas Schneider.

Dieter Horten reichte Christine lächelnd die Hand und trug sein Anliegen zunächst freundlich vor.

»Wir brauchen den Flammroboter dringend. Das werden Sie sicher verstehen. Wenn wir die Lieferkette zu den Lackierereien unterbrechen, sind wir zur Zahlung einer nicht unerheblichen Konventionalstrafe vertraglich verpflichtet.«

Kommissarin Bernard schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.

»Einer Ihrer Mitarbeiter ist zu Tode gekommen und wir müssen feststellen, ob Fremdeinwirkung vorliegt. Bis dahin bleibt die Beflammungsanlage außer Betrieb.«

Dieter Hortens Lächeln erstarb. Er war es offenbar nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach und doch geschah es in diesem Augenblick. Die Erkenntnis minderte sogleich seine Bemühungen um Freundlichkeit.

»Das war ein schrecklicher Unfall und wir bedauern den Tod unseres Technikers sehr. Wir alle sind im Moment emotional sehr aufgeladen. Ich verstehe auch, dass die Polizei ihre Arbeit tun muss, aber denken Sie dabei doch mal an die Kosten für den Produktionsausfall. Wer soll den Verlust bezahlen? Ich meine, bleiben wir doch mal sachlich.«

»Herr Horten. Winkler Automotive ist ein milliardenschwerer Konzern. Ich bin sicher, die Kosten für den Produktionsausfall werden nicht gleich eine Gewinnwarnung für Ihre Aktionäre auslösen. Außerdem wird Ihre Buchhaltung sicher einen Weg finden, die entstandenen Kosten in der Jahresbilanz steuermindernd geltend zu machen. War das sachlich genug?«

Dieter Horten zog drohend Luft.

»Frau Kommissarin. Ich glaube, Sie überschreiten hier Ihre Kompetenzen und Sie verkennen ganz eindeutig die Prioritäten.«

Christine spürte Zorn in sich aufsteigen. Sie trat einen Schritt vor.

»Ihr Profit interessiert mich nicht. Hier ist ein Mensch gestorben und das hat für mich Priorität.«

Der Werksleiter wich zurück und trat dabei seinem Produktionsleiter mit dem Absatz auf die Zehenspitzen. Der verzog schmerzvoll das Gesicht.

»Ich werde mich an Ihren Vorgesetzten wenden.«

Kommissarin Bernard ließ diese häufig ausgesprochene Drohung unkommentiert. Thomas Schneider wischte sich am Hosenbein den Schmutz von den schwarz glänzenden Schuhspitzen und folgte seinem Chef.

»Die Werkshalle bitte immer mit Sicherheitsschuhen nicht unter Schutzwirkung S3 betreten! Wegen der Stahlkappe!«, rief Martin Vigeland ihm hinterher. Neben der kühnen Kommissarin fühlte er sich offenbar ermutigt, noch einen oben drauf zu setzen.

»Wenn Sie so weitermachen, sind Sie sicher nicht mehr lange Teamassistent.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich zitiere lediglich seine eigenen Sicherheitsvorschriften. In spätestens zwei Monaten ist für mich hier ohnehin Schluss.«

»Scheint Ihnen ja nichts auszumachen.«

»Zeitarbeit ist Job-Hopping. Wenn ich nicht mehr gebraucht werde, meldet mein Arbeitgeber mich einfach ab. Meine Loyalität entspricht also exakt der, die mir selbst entgegengebracht wird.«

Christine betrachtete den Computerbildschirm auf dem Schreibtisch des Teamassistenten.

»Woran arbeiten Sie gerade?«

Vigeland winkte ab.

»Gender-Quatsch. Texte umschreiben. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Kollegen und Kolleginnen. Werker und Werkerinnen. Nichts Wichtiges.«

»Führen Sie mich herum? Ich möchte verstehen, was und wie hier gearbeitet wird.«

Martin Vigelands Gesichtsausdruck erhellte sich. Er sprang auf.

»Gern.«

Die Fabrik

Der Teamassistent schob eine Hand in die Hosentasche und ging voraus.

»Die Produktionsanlagen in der ersten Halle haben Sie ja bereits gesehen. Die Bauteile werden nach dem Guss auf Fehler geprüft und falls nötig hierher zur manuellen Nachbearbeitung gebracht.«

Martin Vigeland trat an einen Tisch und zeigte auf ein Kunststoffbauteil. Ein Türgriff.

»Dieser Werker trägt mit einem Schleifpapier einen feinen Grat ab. Schon geringste Unebenheiten führen in der Lackiererei zu einem Lackfehler.«

Er entnahm einer Kiste einen Türgriff, hielt ihn Christine entgegen und deutete auf eine Stelle am Kopf des Griffes.

Die Kommissarin versuchte, den Fehler zu erkennen. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie sah nichts, was es zu beanstanden gäbe. Ihre Augen begannen bereits zu tränen. Martin Vigeland lachte.

»Dafür brauchen Sie einen geschulten Blick.«

Er legte den Griff zurück.

»Es gibt Fehler, die kann man mit einer heißen Flamme beseitigen. Überstehende Fasern oder feinste Gussrückstände. Die neuen Produktionsanlagen beflammen bestimmte Bauteile automatisch, direkt nach dem Gießen. Die älteren Maschinen können das nicht. Damit gefertigte Bauteile werden dann zu uns in die Halle gebracht und von unseren Werkern nachträglich beflammt.«

Nun ging er wieder voraus und blieb vor dem Käfig des Beflammungsroboters stehen.

»Unser Werker entnimmt den Kisten die zu beflammenden Bauteile, hängt sie an ein Gitter und drückt einen Knopf, damit das Gitter von der Maschine eingezogen wird.«

Martin Vigeland deutete nach jedem Schritt seiner Erklärungen auf den betreffenden Teil der Anlage. Christine folgte mit ihrem Blick den Ausführungen und hörte aufmerksam zu.

»Der Roboter erkennt durch zwei Video-Kameras das Bauteil in drei Dimensionen und arbeitet das dafür hinterlegte Programm ab. Zunächst zündet er den Gasbrenner, dann führt er die Flamme an den Bauteilen vorbei. Die Größe der Flamme, der Abstand des Brenners, die Geschwindigkeit und die Bahn, die der Roboterarm nimmt, sind durch das Programm für jedes zu beflammende Bauteil genau festgelegt. Wenn der Roboter fertig ist, schiebt er das Gitter wieder heraus. Der Werker entnimmt die Bauteile und legt sie in einer anderen Kiste ab. Der Werker arbeitet nun den Inhalt der Kisten ab, bis alle Teile beflammt wurden. Dann fährt er die gestapelten Kisten auf einer Euro-Palette an die Wickelmaschine, umhüllt die Palette mit einer Kunststofffolie und stellt sie dem Versand für den Transport zur Lackiererei bereit.«

Martin Vigelands Rundgang war damit beendet. Christine deutete auf ein Rolltor.

»Was befindet sich dahinter?«

»Ein Sperrlager. Reklamierte Bauteile. Bei manchen Bauteilen schafft es nur jedes zehnte ans Auto.«

»Was machen Sie mit den anderen neun?«

»Zu Granulat schreddern und erneut einschmelzen oder vernichten, wenn es sich um Verbundmaterialien handelt.«

»Ist das nicht Verschwendung? Was kostet so ein Bauteil?«

»Der Türgriff für Ihr Fahrzeug kostet fünfzig Cent. Lackiert ein Euro.«

»Woher wissen Sie, was ich für ein Auto fahre?«

Martin Vigeland grinste.

»Das muss ich nicht. Die Bauteile sind größtenteils aus dem gleichen Granulat gegossen und kosten annähernd dasselbe.«

»Aber wenn ich einen Türgriff als Ersatzteil brauche, kostet die Reparatur hundert Euro, wenn nicht mehr.«

Erneut grinste der Teamassistent und dann zählte er auf.

»Der Handel, die Lackiererei, die Werkstatt. Das ist die Wertschöpfungskette. Sie sagten es gerade selbst. Milliardenschwere Konzerne.«

Die Kommissarin wandte sich noch einmal dem Flammroboter zu.

»Okay. Ich habe verstanden, wie diese Anlage funktioniert. Sie arbeitet ein zuvor eingegebenes Programm ab. Aber wie konnte es dann zu diesem schrecklichen Vorfall kommen?«