Chronik der Unsterblichen - Dunkle Tage - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Chronik der Unsterblichen - Dunkle Tage E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Nachdem sie in Rom beinah ihr Leben verloren haben, treffen Andrej und Abu Dun in der Peststadt Hamblen ein. Dort wütet der schwarze Tod unerbittlich, doch er scheint sich nur die Armen zu holen, während er die Reichen verschont. In all dem Elend fällt niemandem auf, dass Kinder einfach verschwinden. Und erst als die Hellseherin Miseria Andrej in einer schrecklichen Vision mit dem Tod seines eigenen Sohnes konfrontiert, begreift er, dass er gegen die Männer in den Totenkopfmasken antreten muss, will er nicht tatenlos mit ansehen, wie unschuldige Kinder entführt und grausam ermordet werden.


"Eine der besten Buchreihen, die Wolfgang Hohlbein je geschrieben hat." Media-Mania

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Seitenzahl: 707

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Inhalt

TitelZu diesem BuchPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Der AutorDie Romane von Wolfgang Hohlbein bei LYXImpressum

Wolfgang Hohlbein

Dunkle Tage

Der 16. Roman der Chronikder Unsterblichen

Zu diesem Buch

Getrieben, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen, tragen Andrej Delãny und Abu Dun die Bürde der Unsterblichkeit, ohne dafür ihre Menschlichkeit zu opfern. Der Versuchung, sich der dunklen Seite hinzugeben, haben sie stets widerstanden …

In Rom werden Andrej und Abu Dun von maskierten Attentätern überfallen, die zu wissen scheinen, was sie sind und wie man sie töten kann. Nur das Eingreifen der Elitetruppe von Kardinal Altieri verhindert das Undenkbare. Altieri rettet sie und schickt die beiden Unsterblichen mit einem Geheimauftrag in die Peststadt Hamblen: Als Leichensammler getarnt versuchen Andrej und Abu Dun herauszubekommen, was mit den Kindern passiert, die dort unter mysteriösen Umständen verschwinden. Ihre Nachforschungen lassen sie schnell auf allerlei Ungereimtheiten in dem Städtchen stoßen, und sie machen sich Feinde in hohen Positionen. Nur Baron Rechtler schlägt sich auf ihre Seite. Dass er das nicht uneigennützig tut, begreifen Andrej und Abu Dun erst, als es fast zu spät ist und sie mit einer ungeheuren Kreatur konfrontiert werden, der selbst sie nicht gewachsen zu sein scheinen.

Prolog

Pünktlich mit dem Beginn des Konklaves hatte es zu regnen begonnen, als hätte der Himmel entschieden, im gleichen Moment seine Schleusen zu öffnen, in dem sich die Tore der Sixtinischen Kapelle hinter den mächtigsten Männern der Christenheit geschlossen hatten. Und es sah ganz so aus, als sollte das auch so bleiben, bis der neue Heilige Vater gewählt war.

Es regnete seit drei Tagen, und wenn man die schwarzen Wolkenberge als Hinweis nahm, die der Wind über das Meer herantrieb, würde sich daran so schnell nichts ändern. Vielleicht weinte der Gott der Christen ja bittere Tränen, weil sein treuester Diener nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Andrej versuchte noch einmal vergebens, die schwarzen Regenwolken aufs Meer zurückzustarren, und schlug schaudernd den Kragen seines neuen Mantels hoch, als sich der Wind mit einer eisigen Attacke für diesen unverschämten Versuch revanchierte. Es war zu kalt für diese Jahreszeit.

»Wo bleibt dieser verdammte Kerl?«, grollte Abu Dun hinter ihm. »Wenn er nicht kommt und uns für nichts und wieder nichts hierherbestellt hat, dann …«

Andrej drehte sich fröstelnd um, als der Nubier nicht weitersprach. Der ihnen von Altieri zur Verfügung gestellte Ersatz für ihre zerschlissene Kleidung war von hervorragender Qualität, und der Mantel wäre wohl auch für einen eiskalten Wintertag geeignet gewesen. Trotzdem musste er sich beherrschen, um nicht mit den Zähnen zu klappern, denn einmal unter seine Kleider gekrochen, weigerte sich die Kälte beharrlich, wieder zu gehen. Eisiges Regenwasser lief ihm in den Nacken und machte ihm zusätzlich das Leben schwer. Seine Fingerspitzen kribbelten, und auch sein Sehvermögen war noch lange nicht wieder so scharf, wie es eigentlich sein sollte. Seine letzte Begegnung mit dem Tod steckte ihm wortwörtlich noch in den Knochen.

»Was dann?«, fragte er, als Abu Dun auch nach einigen weiteren Augenblicken nicht von sich aus weitersprach.

»Dann ärgere ich mich«, schloss der Nubier. Seine Zähne blitzten unnatürlich weiß in der nachtfarbenen Fläche seines Gesichts auf, die sich kaum vor dem Hintergrund des bleigrauen Himmels abhob, als er grinste.

»Es war deine Idee«, erinnerte Andrej.

Abu Dun machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Tatsächlich war er es gewesen, der den Kontakt zu einem eher zwielichtigen Kapitän hergestellt hatte, der ihnen eine diskrete Passage auf dem nächsten Schiff in Aussicht stellte, das Rom verließ. Weg von hier wollten sie beide. Schnell.

Als wolle er ihn in seiner Überzeugung bestärken, frischte der Wind noch einmal auf und überzog sein Gesicht mit einem prickelnden Gefühl wie kaltes Glas. Rom hatte es ihnen von Anfang an nicht leicht gemacht. Sie hatten die Stadt in einem heruntergekommenen Viertel des Hafens erreicht, aber das Kai, das Abu Duns Bekannter als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, war noch einmal um etliches schlimmer. Die zum größten Teil leerstehenden Lagerhäuser und Schuppen zur Linken waren wenig mehr als Ruinen, und vom Wasser auf der anderen Seite stieg ein leiser Geruch nach faulendem Tang und Schlimmerem auf. Wenn die Passage auf einem der Seelenverkäufer stattfand, die ihre Rümpfe schweigend und schwarz wie skelettierte Urzeittiere am Kai scheuerten, dann war er nicht sicher, ob sie das Angebot des unbekannten Kapitäns annehmen sollten.

»Wir warten, bis es hell wird«, bestimmte Andrej. »Wenn bis dahin niemand kommt, verschwinden wir.«

»Ganz wie Ihr es befehlt, Sahib«, antwortete Abu Dun spöttisch, als aus der Dunkelheit hinter Andrej ein Dolch geflogen kam, so dicht an seinem Ohr vorbeizischte, dass er den Luftzug spüren konnte, und sich mit einem dumpfen Schlag bis zum Heft in die Brust des Nubiers grub. Abu Dun fiel stocksteif und ohne einen Laut nach hinten. Irgendetwas zerbrach mit gewaltigem Getöse unter seinem Aufprall, und Andrej wirbelte auf dem Absatz herum, die Arme schützend vors Gesicht gerissen. Gleichzeitig drehte er den Oberkörper halb zur Seite, um ein schmaleres Ziel zu bieten.

Der Hieb traf ihn trotzdem seitlich am Hals. Zwar war er nicht einmal besonders hart, aber so schnell und so präzise gezielt, dass er ihn nicht kommen sah. Und er war immer noch kraftvoll genug, dass er zurücktaumelte und über Abu Duns ausgestreckte Beine stolperte. Wuchtig schlug er auf dem harten Pflaster auf, trat gleichzeitig blindlings aus und legte genug Schwung in seinen Tritt, um den Angreifer zurückzuschleudern.

Mühsam öffnete er die Augen einen schmalen Spalt weit und sah eine schattenhafte Gestalt über sich aufragen. Sie war zwar deutlich kleiner und sehr viel schmaler als Abu Dun, erinnerte ihn aber trotzdem an den Nubier, da sie auf ganz ähnliche Weise gekleidet war: ganz in Schwarz samt schwarzer Kopfbedeckung. Nur dass es sich hierbei nicht um einen Turban handelte, sondern um einen runden Lederhelm, dessen Visier einem menschlichen Totenschädel nachempfunden war. Andrej konnte nur die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen erkennen. Der Mantel des Angreifers stand offen, sodass er auch den ebenfalls schwarzen Lederharnisch darunter erspähte und bemerkte, dass sein Gegner keine Waffen zu tragen schien.

Das musste er auch nicht, denn aus seinen Handflächen wuchsen spitze, bösartig gekrümmte Dornen.

Andrej blinzelte, aber das unheimliche Bild blieb, und es dauerte noch einen weiteren Moment, bis er begriff, was er sah. Die Dornen wuchsen nicht aus den Handflächen des vermeintlichen Dämons. Und er war auch kein Dämon. Der Mann trug schlicht und einfach Handschuhe, deren Handflächen mit eisernen Stacheln gespickt waren, eine unorthodoxe, aber durchaus gefährliche Waffe, wie Andrej am eigenen Leib gespürt hatte. Wäre er ein sterblicher Mensch gewesen, dann hätte der Kerl ihn mit seinem ersten Hieb getötet.

Der Angreifer war gerade außerhalb seiner Reichweite stehen geblieben und sah mit schräg gehaltenem Kopf auf ihn herab. Andrej konnte seine Gedanken regelrecht lesen: zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte, oder sich noch eine Weile mit ihm zu amüsieren.

Aber Hochmut war schon immer vor dem Fall gekommen.

Andrej registrierte aus den Augenwinkeln mindestens zwei weitere Gestalten mit schwarzen Totenkopfgesichtern und mörderischen Krallenhänden, die in etwas größerem Abstand dastanden und ihn beobachteten, überschlug seine Chancen und wusste, was zu tun war. Vor allem musste er nach Abu Dun sehen. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er hätte längst wieder zu sich kommen müssen.

Der Angreifer beugte sich vor und griff nun doch unter seinen Mantel, um ein Messer oder eine andere Waffe zu ziehen, und Andrej wartete gerade so lange, bis er sich die entscheidende Winzigkeit zu weit vorgebeugt hatte, dann trat er ihm mit solcher Gewalt vor das Knie, dass er das Geräusch des brechenden Knochens hören konnte. Statt die Waffe zu ziehen und ihm die Kehle durchzuschneiden, stieß die vermummte Gestalt einen schrillen Schrei aus und kippte zur Seite. Andrej sprang auf die Füße, wandte sich dem nächststehenden Burschen zu und fegte ihn mit einem Tritt von den Beinen.

Der dritte Angreifer sprang mit erstaunlicher Behändigkeit heran. Doch diesmal war Andrej gewarnt, sodass er dem Hieb der heimtückischen Krallenhand auswich und den Arm des Burschen zugleich packen und so hart verdrehen konnte, dass er aus dem Schultergelenk gekugelt wurde und sein Besitzer einen komplizierten Salto in der Luft schlug.

Wenigstens sollte er das.

Umso erstaunter war Andrej, als sein Gegner gar nicht daran dachte, den Gesetzen der Physik und Jahrhunderte eingeübter Kampftechnik zu folgen und hart auf dem Rücken zu landen, sondern sich seinem Griff mit einer ganz und gar unmöglichen Bewegung entwand, mit katzenhafter Eleganz auf den Füßen landete und sich mit einem aufwärts geführten Tritt revanchierte, der Andrej an seiner empfindlichsten Stelle traf und ihm nicht nur die Luft nahm, sondern ihn auch mit einem japsenden Schrei zurücktorkeln ließ. Er hatte den Tritt nicht einmal gesehen.

Sein kleineres Gegenüber gab ihm keine Zeit, sich zu erholen, sondern steppte blitzschnell zur Seite und deckte ihn mit einem Hagel von Schlägen und Tritten ein, die zwar allesamt weder besonders hart noch gefährlich waren, ihn aber weiter zurücktrieben und seine Verwirrung ins Unermessliche steigerten. Der Kerl bewegte sich so schnell, dass er zu einem Schatten zu werden schien, und traf ihn scheinbar nach Belieben, während er selbst Andrejs wenigen wuchtigen Hieben mit schon fast beleidigender Leichtigkeit auswich.

Eine zweite, ganz in Schwarz gehüllte Gestalt mit wehendem Mantel und bösartigen Dornenhänden tauchte ein kleines Stück hinter ihm auf, und diesmal war er nicht schnell genug. Ein reißender Schmerz explodierte in seiner Seite, und sein Gesichtsfeld färbte sich rot. Zornig genug, um sich durch seine eigene Kraft aus dem Gleichgewicht zu bringen, schlug er nach dem frechen Angreifer und traf zwar nicht, entging durch sein unbeholfenes Stolpern aber einem weiteren Krallenhieb, der dieses Mal seine Augen als Ziel hatte. Instinktiv griff er zu, bekam das Handgelenk des Burschen zu fassen und hielt es fest, während sich seine andere Hand in den schwarzen Mantel krallte. Wütend riss er den Kerl in die Höhe, um ihn gegen die nächste Wand zu werfen und zu zerschmettern, und registrierte die Bewegung aus den Augenwinkeln zu spät. Nicht rasiermesserscharfe Dornen, wohl aber ein eisenharter Handballen rammte direkt über dem Herzen in seine Brust und brach ihm nicht nur mindestens eine Rippe, sondern raubte ihm auch jedes bisschen Atem und ließ ihn auf die Knie fallen.

Andrej keuchte vor Schmerz, spuckte dem Angreifer einen Mund voll Blut ins Gesicht und brachte ihn damit immerhin weit genug aus dem Konzept, um mit dem einzigen nach ihm zu werfen, was er in den Händen hatte: seinem Kameraden. Die beiden purzelten in einem Knäuel ineinander verstrickter Gliedmaßen über den Boden und versuchten sich unverzüglich aufzurappeln, wozu Andrej ihnen aber keine Gelegenheit lassen wollte, sondern ihnen nachsetzte, um es zu Ende zu bringen.

Oder es getan hätte, wäre da nicht etwas am Rande seines Gesichtsfeldes aufgetaucht, das ihn alarmiert nach hinten sehen ließ.

Der Anblick ließ ihn die beiden Angreifer vergessen.

Abu Dun war noch immer bewusstlos, aber nicht mehr allein. Auch hinter ihm war eine Gestalt in schwarzem Leder und mit Totenkopfmaske aufgetaucht, die sich auf ein Knie hatte sinken lassen. Gegen den anderen Unterschenkel hatte sie Abu Duns Kopf und Schultern gelehnt, und die mörderischen Dornenhände hatten sich hinter seinem Nacken verschränkt. Andrej konnte sehen, dass die Arme des Vermummten vor Anstrengung zitterten. Dann erblickte er das Blut, das in Strömen an Abu Duns Hals herablief und in seinem Gewand versickerte, und begriff, was er da wirklich sah.

Hinter ihm waren Geräusche, die der Krieger in ihm erneut als bedrohlich einstufte, aber das spielte keine Rolle. Mit einem einzigen Satz war er bei Abu Dun, versetzte dem Kerl hinter ihm einen Tritt gegen die Totenkopfmaske, der ihm wahrscheinlich das Genick brach, und fiel neben dem nubischen Riesen auf die Knie, als er zur Seite kippte. Seine eigene Fantasie musste etwas gegen ihn haben, denn sie marterte ihn mit der Erwartung, Abu Duns abgeschnittenen Kopf wie einen schwarzen Ball davonrollen zu sehen. Aber das passierte nicht. Nachdem es ihm endlich gelungen war, die Garotte von seinem Hals zu lösen, wurde aus dem Blutstrom ein wahrer Sturzbach, der seine Hände binnen eines Herzschlags in rotglänzende nasse Handschuhe hüllte. Abu Dun atmete nicht. Seine Augen blieben leer, und sie …

Der Schlag war so hart, dass er ihm fast den Schädel gespalten hätte. Zu dem nassen Rot auf seinen Händen gesellte sich sein eigenes Blut, das ihm aus Mund, Nase und Ohren schoss, und sosehr er sich auch anstrengte, vermochten seine Arme ihn nicht mehr zu tragen. Er fiel halb über Abu Duns leblosen Körper, tastete blind um sich und bekam etwas Hartes zu fassen, um das sich seine Finger schlossen.

Hände mit löwenkrallenlangen Dornen gruben sich in seine Arme und rissen ihn brutal in die Höhe. Er wurde herumgedreht, und ein Dolch stocherte nach seinem Gesicht, verfehlte ihn um Haaresbreite und zog eine brennende Spur über sein Schlüsselbein. Andrejs Finger öffneten sich, und der Dolch, den er aus Abu Duns Brust gezogen hatte, klirrte zu Boden. Etwas schrammte über seine Flanke, das sich nach einem Messer anfühlte. Andrej schlug den Arm zur Seite, stieß seinen Besitzer weg und wusste schon vorher, dass er dem Fußtritt des zweiten Angreifers nicht mehr ausweichen konnte.

Er nahm ihn ebenso hin wie die gespaltene Oberlippe, die er zur Folge hatte, packte den Fuß des Maskierten und drehte ihn mit einem brutalen Ruck gegen den Uhrzeigersinn, um ihm den Knöchel zu brechen.

Er war nicht einmal mehr wirklich überrascht, als der Kerl stattdessen eine komplette waagerechte Pirouette in der Luft vollführte und ihm den anderen Fuß mit solcher Gewalt ins Gesicht rammte, dass er zurückstolperte und sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Selbstverständlich nutzte der Mann seine vermeintliche Schwäche zu einem weiteren Angriff, indem er mit seiner Dornenhand jetzt nach seinen Augen schlug, um ihn zu blenden und auf diese Weise endgültig kampfunfähig zu machen.

Andrej versuchte nicht einmal, dem Hieb auszuweichen, sondern riss die Hand vor das Gesicht und fing die heimtückische Waffe ab. Es war, als hätte er in geschmolzenes Eisen gegriffen. Die Dornen drangen tief genug in sein Fleisch, um rot triefend aus dem Handrücken wieder hervorzubrechen. Er ließ trotzdem nicht los, sondern schloss im Gegenteil die Faust um die Hand und drückte mit aller Gewalt zu. Er konnte nicht sagen, ob der gequälte Schrei in seinen Ohren über die Lippen des Angreifers kam oder über seine eigenen, aber in das gepeinigte Kreischen mischte sich auch das Geräusch splitternder Knochen, und Andrej drückte noch fester zu, bevor er mit einem Ruck losließ. Der Bursche kreischte, fiel auf die Seite und presste die zerquetschte Hand an den Leib, und Andrej hob den Fuß, um ihm den Schädel zu zermalmen.

Offenbar hatte er dem vierten Angreifer doch nicht das Genick gebrochen, denn etwas traf ihn mit solcher Gewalt zwischen die Schulterblätter, dass er schon wieder strauchelte und auf ein Knie fiel. Sein Fuß verfehlte das Ziel, und nadelspitze, eiserne Krallen rissen seine Schulter auf. Erneut explodierte Schmerz wie rotglühende Lava in seinen Adern.

Zum ersten Mal fragte sich Andrej ernsthaft, ob er den Kampf verlieren würde. Die Kerle waren schneller als alle anderen Sterblichen, denen er jemals begegnet war, und er war immer noch angeschlagen von den zurückliegenden Kämpfen.

Was ihn am meisten erschreckte, war ihre Art zu kämpfen. Andrej hatte sich schon vor sehr langer Zeit von der naiven Vorstellung verabschiedet, dass es in einem wirklich ernst gemeinten Kampf so etwas wie Fairness geben könnte. Wer fair kämpfte, der war am Ende meistens tot. Aber es gab Dinge, die waren einfach … unanständig, und sie empörten ihn. Und die Art dieser maskierten Mörder gehörte ganz eindeutig dazu. Es ging ihnen nicht nur darum, zu siegen, sondern Schmerz zuzufügen, zu verletzen und zu verstümmeln. Hätte er nicht gewusst, dass es nicht der Fall war, er hätte geschworen, es mit Vertretern ihrer Art zu tun zu haben, die ihre Kraft aus dem Schmerz und der Todesangst ihrer Opfer zogen.

Aber so war es nicht. Die Maskierten waren ganz eindeutig Sterbliche.

Die mit der Kraft und Schnelligkeit Unsterblicher kämpften.

Andrej versuchte sich hochzustemmen, aber er konnte es nicht mehr. Gift und Blutverlust lähmten ihn in zunehmendem Maße, und etwas wurde ihm von hinten um den Hals geschlungen, das sich wie ein rotglühender Draht anfühlte und in seine Kehle schnitt.

Etwas knallte. Der Druck auf seine Kehle war verschwunden, und die Garotte rutschte an seiner Brust hinab, gefolgt von einem Schwall hellroten Blutes, das diesmal sein eigenes war. Andrej kippte nach vorne, fing seinen Sturz mit durchgedrückten Armen ab und verbrauchte damit wohl auch noch sein allerletztes bisschen Kraft, denn er registrierte zwar noch, wie die beiden überlebenden Angreifer gleichzeitig auf ihn zusprangen, konnte aber nicht mehr darauf reagieren. Metall hackte nach seinen Augen.

Der Knall wiederholte sich, und die Totenkopfmaske, das Gesicht darunter und ein Gutteil des dazugehörigen Kopfes explodierten in einer Wolke aus Blut und Knochensplittern. Die Gestalt brach wie vom Blitz getroffen zusammen, und Andrej sah sogar noch, wie der letzte verbliebene Angreifer zurückprallte und sich in einen Schatten zu verwandeln schien. Dann versagten seine Kräfte endgültig, und er fiel schwer auf die Seite.

Er verlor nicht wirklich das Bewusstsein, aber er war nahe daran. Für eine nicht näher zu bestimmende Zeitspanne war er gar nicht sicher, was von dem, was er zu hören und zu spüren meinte, real war und was nicht. Er glaubte weitere Schüsse zu hören, Schreie und trampelnde Schritte und Geräusche wie von einem Kampf. Aber das alles mochte auch eine vollkommen andere Bedeutung haben, oder auch gar keine. Er hatte immer größere Mühe zu atmen.

Es gelang ihm, aber seine Lider schienen immer noch Zentner zu wiegen, und als er sie endlich hob, glaubte er in einem Albtraum gefangen zu sein oder – schlimmer noch – den Kampf vielleicht doch verloren zu haben, denn er blickte in ein ausgemergeltes Totenkopfgesicht, das ihn unter einer schwarzen Kapuze hervor angrinste. Eine Mischung aus Pfefferminz- und Schießpulvergeruch schlug ihm entgegen, und irgendwo waren Stimmen zu hören, die aufgeregt und im Flüsterton durcheinanderredeten.

»Was für ein Kampf, bei der Heiligen Jungfrau Maria«, knarzte der Totenschädel. »Wahrlich, Signore Delãny, Euch möchte man nicht zum Feind haben.«

Andrej blinzelte. Für einen Moment wurde alles, was er sah, rot, als hätte die Hölle ihre Tore nun endgültig aufgestoßen, dann klärte sich sein Blick, und aus dem Totenschädel wurde ein schmales, in Würde gealtertes Gesicht, dessen Lippen zwar zu einem spöttischen Lächeln verzogen waren, dessen Augen aber voller Sorge auf ihn herabsahen. Als klar war, dass er ihren Blick erwiderte, wurde der Anteil von Spott darin größer, und die Sorge zog sich zurück. Aber nicht ganz.

»Obwohl mir scheint, dass wir gerade noch rechtzeitig gekommen sind, bevor der Mythos von Eurer Unbesiegbarkeit ein jähes Ende findet.«

Andrejs Gedanken bewegten sich noch immer so träge, dass er in seinen Erinnerungen kramen musste, um dem Gesicht einen Namen zuzuordnen. »Altieri?«, murmelte er dann erstaunt.

»Ihr erinnert Euch an meinen Namen. In Anbetracht der Umstände sollte ich mich wohl geehrt fühlen.« Altieri zögerte kurz und legte den Kopf schräg, wie ein alter Raubvogel, der Beute erspäht hatte, bevor er fortfuhr: »Ich weiß, dass es Euch wahrscheinlich wie eine dumme Frage vorkommen muss, aber: Wie fühlt Ihr Euch?«

»Ich nehme an, ungefähr so, wie ich aussehe.« Das Sprechen fiel Andrej immer noch schwer, was aber nicht an seinem schmerzenden Hals lag. Er musste nach jedem einzelnen Wort suchen, denn seine Gedanken bewegten sich nach wie vor träge. Und darunter … war etwas. Etwas, das lauerte, hinauswollte.

»So schlimm?«, scherzte Altieri.

Seine Augen blieben ernst. Er streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen, und um ein Haar hätte Andrej sogar danach gegriffen, bevor ihm wieder einfiel, wie alt und gebrechlich der Kardinal war. Er würde ihn eher von den Füßen reißen, als dass es Altieri gelang, ihn hochzuziehen. Andrej stemmte sich aus eigener Kraft nach oben und hatte das Gefühl, dass das auch schon alles war, wozu er im Augenblick in der Lage war.

»Waren das Freunde von Euch?«, erkundigte sich Altieri, in vollkommen unangemessen amüsiertem Ton, wie Andrej fand. Er reagierte nur mit einem angemessen verärgerten Blick, lauschte in sich hinein und gab es auf, jede Stelle zählen zu wollen, die ihm wehtat.

Andrej fuhr so hastig herum, dass Altieri erschrocken zurückprallte, und drohte für einen halben Herzschlag endgültig in Panik zu geraten, als er Abu Dun nicht mehr da fand, wo er ihn zuletzt gesehen hatte, sondern lediglich eine erschreckend große Lache aus noch nicht ganz eingetrocknetem Blut. Eine rote Schleifspur führte über die schmale Uferstraße und endete unter Abu Duns Gestalt, die vornübergebeugt und mit angezogenen Beinen an einer Mauer lehnte und den Kopf auf die Knie gelegt hatte. Sein Turban hatte sich halb aufgelöst und hing schwer von seinem eigenen Blut über seiner Schulter und dem Arm, und der süßliche Geruch war so durchdringend, dass ihm fast übel wurde.

»Abu Dun?«, fragte er bang.

Eine weitere Sekunde verging, die sich zu einer Ewigkeit dehnte und ihn mit tausend schrecklichen Vorstellungen quälte, doch dann und unendlich mühsam hob Abu Dun den Kopf und sah ihn an. Seine Augen waren fast schwarz vor Furcht, und Andrej war nicht sicher, ob man den blassen Funken darin wirklich noch Leben nennen konnte. Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er Abu Dun die Hand unters Kinn und musste gehörig Kraft aufbringen, um seinen Kopf anzuheben. In der Kehle des Nubiers klaffte ein tiefer Schnitt, der immer noch leicht blutete. Hätte er nur einen Augenblick später eingegriffen, der maskierte Angreifer hätte ihm wohl den Kopf abgeschnitten.

»Verstehst du mich?«, fragte er auf Arabisch, Abu Duns Muttersprache.

Wieder verging viel zu viel Zeit, aber schließlich erschien doch so etwas wie Erkennen in Abu Duns Blick, und ein wenn auch nur mit den Augen angedeutetes Nicken. Er versuchte sogar etwas zu sagen, brachte aber nur ein schreckliches Krächzen zustande.

»Nicht sprechen«, sagte Andrej rasch. »Das wird wieder. Gönn dir noch einen Augenblick Ruhe.«

Er stand auf und wandte sich zu Altieri um. »Ich danke Euch, Kardinal«, sagte er, wieder ins Italienische wechselnd und mit noch immer leicht kratziger Stimme. »Wenn Ihr nicht gekommen wärt, hätte es übel enden können, sowohl für Abu Dun als auch für mich.«

»Ihr meint, ihr wärt jetzt beide tot«, sagte Altieri.

»Möglicherweise«, räumte Andrej ein. Erst als er das Wort ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass es die Wahrheit war.

Altieri starrte weitere geschlagene zehn Sekunden lang auf Abu Dun hinab, bevor er sich mit unübersehbarer Anstrengung vom Anblick seiner durchschnittenen Kehle losriss und mit einem furchtbar verunglückten Räuspern zu Andrej umdrehte. »Obwohl ich gar nicht so sicher bin, ob das überhaupt möglich ist.«

Andrej zog es vor, ihm eine Antwort schuldig zu bleiben. Altieri hatte schon viel zu viel gesehen, sowohl in der Nekropole als auch hier. Ganz besonders hier. »Wenn Ihr nicht gekommen wärt …« Er ließ den Satz mit einem Schulterzucken enden und fuhr nach einer hörbaren Pause und in verändertem Ton fort: »Aber verratet Ihr mir, warum?«

»Warum?«

»Das hier ist nicht unbedingt eine Gegend, in der man einen Mann wie Euch erwartet«, antwortete Andrej mit einer deutenden Geste in die Runde. »Nicht, dass ich mich beschweren will.«

»Das stünde Euch auch nicht gut zu Gesicht«, sagte Altieri säuerlich. »Und wenn Ihr Euch bedanken wollt, dann bei Rocco und seinen Männern.«

Er machte eine Kopfbewegung auf einen Punkt hinter Andrej. Der drehte sich nicht um, und es war auch nicht nötig. Seine Sinne arbeiteten schon wieder scharf genug, um ihn das erstaunlich ruhige Schlagen dreier unterschiedlicher Herzen hören zu lassen. Mindestens zwei weitere Männer verbargen sich noch in der Dunkelheit irgendwo hinter ihnen. Altieri reiste offenbar mit großer Entourage.

»Eure Leibwache?«

»Vielleicht nicht die schlechteste Idee, in einer Gegend wie dieser«, erwiderte der Kardinal. »Ich weiß, dass Euer Freund und Ihr Feuerwaffen verachtet, aber wenn Rocco und seine Männer nicht so ausgezeichnete Schützen wären, dann würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen.«

Andrej gab ihm widerwillig recht, auch wenn er den Teufel tun würde, das laut einzugestehen. Stattdessen überzeugte er sich mit einem raschen Blick davon, dass sich Abu Dun weiter erholte, und drehte sich dann doch zu Altieris Wache um. Die drei Männer trugen einfache Kleider von eher minderer Qualität, aber dass sie Soldaten waren, hätte ebenso gut auch auf ihrer Stirn tätowiert sein können. Schweizer Garde, nahm er an. Die besten Soldaten, die man im Umkreis von tausend Meilen finden konnte. Mit nichts Geringerem würde sich ein Mann wie Altieri zufriedengeben.

Zu Abu Duns und seinem Glück.

Er bedankte sich mit einem – verspäteten – Nicken bei seinen Rettern, bekam dasselbe zur Antwort und machte eine fragende Geste.

»Wo sind sie?«

»Eure rauflustigen Freunde?«, fragte Altieri. »Geflohen. Den Toten und die Verletzten haben sie mitgenommen. Rocco wollte sie verfolgen, aber ich habe ihn zurückgehalten und dachte mir, wir kümmern uns besser erst einmal um Euch und Euren Freund. Und um Eure Frage zu beantworten, Andrej: Nein, es ist kein Zufall, dass ich hier bin. Ich habe Euch und Euren Freund gesucht.«

»Das ist aber nett von Euch«, krächzte Abu Dun. Er schob sich mühsam mit einem scharrenden Laut mit dem Rücken an der groben Ziegelsteinmauer nach oben, hustete qualvoll und tastete mit der unversehrten Hand über seine Kehle. Mit der eisernen Rechten versuchte er seinen Turban zu richten, wenn auch mit mäßigem Erfolg; was möglicherweise daran lag, dass es eigentlich ebenfalls eine linke Hand war. Seine Stimme klang furchtbar, als bereite ihm jedes einzelne Wort Höllenqualen, und wahrscheinlich tat es das auch. Er drehte sich trotzdem schwerfällig zu Altieri um und fuhr fort: »Solltet Ihr nicht in der Sixtinischen Kapelle sein und Euch zum Papst wählen lassen?«

Altieri überging die Frage. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Rom den Rücken kehren wollt. Nach allem, was Euch widerfahren ist, kann ich das sogar verstehen. Aber ich kann Euch nicht einfach so gehen lassen.«

»Wieso?«, krächzte Abu Dun misstrauisch. Seine Eisenhand erstarrte mitten in der Bewegung, und die Ketten unter seinem Gewand klimperten leise.

»Weil ich ein Mann bin, der seine Schulden bezahlt«, antwortete Altieri. »Ihr habt mein Leben gerettet, und nicht nur meines, sondern das sehr vieler anderer. Vielleicht das jedes einzelnen Menschen in dieser Stadt. Rom ist Euch zu großem Dank verpflichtet.«

»Es gibt mindestens vier Leute, die anderer Meinung waren«, krächzte Abu Dun.

»Fünf«, sagte Rocco hinter ihnen. »Da war noch ein Fünfter, der alles beobachtet hat. Er sah … anders aus.«

Andrej sah fragend über die Schulter zurück. »Anders?«

»Etwas an ihm war anders«, bestätigte der Soldat. Er klang ein bisschen unwillig, dachte Andrej, wie ein Erwachsener, der einem begriffsstutzigen Kind zum wiederholten Mal dieselbe Frage beantwortet. »Er war nicht so dunkel gekleidet wie die anderen. Kaum mehr als ein heller Schemen. Mehr habe ich auf die Entfernung hin nicht erkennen können.«

Abu Dun zupfte und riss mit wenig Erfolg weiter an seinem Turban herum. Das Ergebnis sah einigermaßen komisch aus, fand Andrej, aber ihm war nicht nach Lachen zumute. Normalerweise war Abu Dun selbst mit seiner eisernen Hand geschickter als so mancher mit einer aus Fleisch und Blut. Jetzt schien er jedoch Mühe zu haben, sich nicht selbst den Kopf abzureißen.

»Möchtet Ihr, dass wir Euch zu einem Medicus fahren?«, fragte Altieri, dem dieser Umstand ebenfalls nicht entgangen war. Abu Dun bedachte ihn nur mit einem verächtlichen Blick und krächzte etwas, das nicht einmal Andrej verstand. Altieri war wohl der Meinung, seiner Sorgfaltspflicht damit Genüge getan zu haben, denn er wandte sich nun endgültig zu Andrej um und machte zugleich eine deutende Geste nach links, in die Richtung, wo weitere Männer auf sie warteten. Andrej spürte ihre aufmerksamen Blicke.

»Dann kommt«, sagte er. »Wir können im Wagen weiterreden. Euer Freund hat recht, Andrej. Ich sollte eigentlich … an einem anderen Ort sein.«

Andrej hatte sich geirrt, wie er feststellte, als sie dem Kardinal die holprige Uferstraße hinabfolgten. Nicht zwei, sondern gleich vier weitere Soldaten warteten neben einer großen, vierspännigen Kutsche, die zu breit war, um auf den schmalen Kai zu passen. Drei von ihnen hielten langläufige Musketen in den Händen. Ein weiterer Mann saß auf dem Kutschbock und hatte eine schussbereite Waffe quer über den Knien liegen. Andrej fragte sich instinktiv, ob der Kardinal einfach nur ein sehr vorsichtiger Mann war oder vielleicht gewusst hatte, was sie erwartete.

Einer der Soldaten öffnete den Wagenschlag und war dem gebrechlichen Kardinal beim Einsteigen behilflich. Andrej erlebte eine Überraschung, als sie ihm folgten. Das Innere des Wagens erweckte geschickt den Eindruck, deutlich größer zu sein, als sein Äußeres erwarten ließ, und es zerstörte auch endgültig die Illusion, die Altieri mit seinem schlichten Mantel und der schäbigen Kleidung seiner Wachen zu erwecken versuchte. Es war eindeutig ein fahrender Palast, ganz Gold, weiches Leder und Samt sowie kostbare Stoffe. Andrej sah sich unverhohlen staunend um, während sich Abu Dun so schwer auf eine der gepolsterten Bänke fallen ließ, dass sich der Wagen ein spürbares Stück zur Seite neigte. Eines der Pferde wieherte unwillig. Die Tür wurde hinter ihnen geschlossen, und kurz darauf klapperten Hufe auf Stein, und der Wagen begann umständlich in mehreren Zügen zu wenden.

»Und Ihr seid ganz sicher, dass wir nicht zu einem Medicus fahren sollen?«, vergewisserte sich Altieri an Abu Dun gewandt. »Ich kenne einen sehr guten Arzt, auf dessen Verschwiegenheit Verlass ist.«

Abu Dun nahm endlich die blutige Hand vom Hals. Nachdem er sie sekundenlang stirnrunzelnd gemustert hatte, wischte er sie am Polster der Bank ab.

»Gut, das werte ich dann einmal als Nein«, sagte Altieri, während er den hässlichen Schmierer auf dem Leder vorwurfsvoll musterte, sich darüber hinaus aber jeglichen Kommentars enthielt. Stattdessen wandte er sich direkt an Andrej und schlug die Kapuze zurück.

»Ihr wisst wirklich nicht, wer diese Männer waren und warum sie euch angegriffen haben?«

»Ich habe sie nie zuvor gesehen«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß, »und ich wüsste auch nicht, dass wir Feinde in Rom hätten.«

»Wenigstens keine, die noch leben«, krächzte Abu Dun.

»Nach dem, was wir zusammen erlebt haben, vermag mich das nicht unbedingt zu beruhigen«, bekannte Altieri mit einem neuerlichen schmerzlichen Verziehen der Lippen, hob aber zugleich auch eine schmale Hand mit zahlreichen goldenen Ringen. »Ich werde herausfinden, wer diese Männer waren und wer sie geschickt hat, das verspreche ich.«

Er öffnete die Hand, und Andrej sah etwas Kleines und Glitzerndes. Es hätte eine kostbare Halskette sein können, und in einem bösartigen Sinne war es das auch. Andrej musste sich beherrschen, um nicht nach seiner Kehle zu greifen. Altieri zog das vermeintliche Schmuckstück mit spitzen Fingern in die Höhe, um es zu mustern.

»Immerhin scheinen Eure Feinde zu wissen, was sie Euch schuldig sind«, sagte er mit sanftem Spott. »Das sind Diamantsplitter. Ich kenne mich mit so etwas aus. Hier, als kleines Andenken an unsere letzte Begegnung.«

Er hielt Andrej die Kette hin, und der ergriff sie mit ebenso spitzen Fingern, als hätte er Angst, sich zu verletzen oder sich daran zu besudeln.

Es war die Garotte, mit der der Maskierte Abu Dun und ihn um ein Haar erwürgt hätte, eine kunstvoll geflochtene Schnur zwischen zwei Lederschlaufen, in die zahllose winzige Edelsteinsplitter eingearbeitet waren – wie um daraus zugleich eine Säge zu machen und die Bösartigkeit dieser Waffe noch einmal zu verstärken.

Altieri wartete, bis Andrej die Schnur eingesteckt hatte, und fuhr fort: »Doch so großes Vergnügen es mir auch bereitet, mit Euch zu plaudern, haben wir leider keine Zeit dafür. Wie Ihr ganz richtig bemerkt habt, sollte ich jetzt eigentlich an einem anderen Ort sein, um etwas sehr Wichtiges zu erledigen. Deshalb gestattet mir die direkte Frage: Ihr wollt Rom wirklich verlassen? Ihr wisst, dass wir alle Euch zu großem Dank verpflichtet sind. Ihr könnt bleiben, solange Ihr wollt, sobald gewisse … Formalitäten erledigt sind.«

»Euch zum neuen Papst zu krönen?«, krächzte Abu Dun.

»Es heißt wählen, mein Freund«, verbesserte ihn Altieri, zog es darüber hinaus aber vor, nicht weiter auf das Thema einzugehen. »Nachdem man mir berichtet hat, dass Ihr nach einem Weg sucht, um Rom zu verlassen, habe ich gewisse … Vorkehrungen getroffen. Ein Schiff wartet auf Euch. Der Kapitän ist verschwiegen und wird keine Fragen stellen.« Er lächelte flüchtig. »Und er wird auch nicht versuchen, Euch umzubringen.«

Abu Dun funkelte ihn an, und Andrej fragte hastig: »Wohin fährt es?«

»Nach Genua.«

»Das ist nicht unsere Richtung«, sagte Abu Dun.

Altieri nickte wissend, beugte sich ächzend vor und zog ein in dunkelblauen Samt eingeschlagenes Bündel unter der Bank hervor, bevor er antwortete. »Ich weiß. Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten.«

»Einen Gefallen?«, krächzte Abu Dun. »Du?«

»Dann einen Auftrag, wenn Euch dieses Wort lieber ist«, erwiderte Altieri ungerührt. »Ich bin bereit, dafür zu bezahlen, auch wenn ich weiß, dass Euch weltliche Reichtümer nicht interessieren.«

»Und was bietet Ihr dann?«

»Meine ewige Dankbarkeit und die der Kirche?«, schlug Altieri vor. »Eure Interessen und meine sind sich vielleicht ähnlicher, als Ihr glaubt, mein Freund.«

»Und ähnlicher, als Ihr jemals zugeben würdet?«

Altieri ignorierte das. »Ich habe Euch nie gefragt, was Ihr wirklich seid«, fuhr er fort. »So mancher würde Euch für Dämonen halten, manch andere vielleicht auch für Engel des Herrn.«

»Vielleicht sind wir ja beides«, grollte Abu Dun.

»Vielleicht seid Ihr ja beides«, bestätigte Altieri unerwartet ernst und auch ein bisschen nachdenklich. »Oder etwas gänzlich anderes. Ich habe von …«, er suchte nach Worten, »… Männern wie Euch gehört. Und mich immer gefragt, wie ich wohl reagieren würde, sollte ich herausfinden, dass die Gerüchte wahr sind und es Euch wirklich gibt, oder dass ich gar einem von Euch begegne.«

»Und jetzt sind es sogar gleich zwei«, spöttelte Abu Dun. Ohne dass sein Blick Altieris Gesicht losgelassen hätte, aber an Andrej gewandt und nun wieder auf Arabisch fügte er hinzu: »Was meinst du – sollen wir ihm verraten, wie viele es von uns gibt und dass nicht alle so herzensgut und sanftmütig sind wie ich?«

»Und dass nicht alle Männer sind, und nicht einmal alle Menschen«, fügte Altieri akzentfrei und in derselben Sprache hinzu. »Ja, auch das habe ich gehört. Und ich weiß immer noch nicht, was ich von Euch halten soll. Vielleicht tue ich gerade das einzig Richtige, vielleicht verdamme ich auch gerade meine eigene Seele zu ewigen Höllenqualen. Aber ich muss mich entscheiden. Und das tue ich.«

Er griff unter seinen Mantel und zog ein zusammengefaltetes Pergament hervor, das er Andrej reichte. Es enthielt nur einige wenige Worte, eine Adresse, wie er vermutete. Sie sagte ihm nichts. »Und was sollen wir dort?«

»Das müsst Ihr selbst vor Ort herausfinden«, gestand Altieri unumwunden. »Aber ich hoffe, dass Ihr dort jemanden trefft, der Euch dabei hilft, das Rätsel Eurer Existenz zu lösen … Ihr sucht doch schon sehr lange danach, nicht wahr?«

Andrej nickte verblüfft. »Warum tut Ihr das?« Und vor allem: Woher wusste er das?

»Weil ich glaube, dass nichts auf dieser Welt ohne Grund geschieht«, antwortete Altieri, nun wieder auf Italienisch, was ihm bei diesem Thema vielleicht doch ein wenig leichter von der Zunge ging. »Und weil ich davon überzeugt bin, dass Ihr das Richtige tun werdet, wenn der Moment gekommen ist.«

Andrej fragte nicht, welcher Moment. Altieri wusste deutlich mehr, als er zugab, das spürte er, aber er spürte auch genauso sicher, dass das alles war, was er zurzeit von ihm erfahren würde.

Das Schaukeln des Wagens nahm ein wenig ab, und auch das Geräusch der Räder veränderte sich, als sie nun über eine offensichtlich ordentlicher gepflasterte Straße fuhren und zugleich Tempo aufnahmen. Altieri legte den Kopf auf die Seite, als würde er lauschen, und zwang sich dann zu einem Lächeln, das jedem gewieften Politiker ausgezeichnet zu Gesicht gestanden hätte. »Wir sind fast da. Wenn Ihr Euch entscheidet, mein Angebot anzunehmen, legt das Schiff in einer Stunde ab. Es wartet nur auf Euch.«

»Und wenn wir ablehnen?«, erkundigte sich Abu Dun misstrauisch.

»Lasse ich den Kutscher anhalten, und Ihr geht zu Fuß«, antwortete Altieri. »Aber dann müsstet Ihr auch auf meine überaus großzügigen, geschmackvollen, erlesenen und prachtvollen Abschiedsgeschenke verzichten.« Seine Hand strich über den blauen Samt auf seinem Schoß. »Und bei aller gebotenen Bescheidenheit kann ich dennoch sagen, dass ich mir große Mühe gegeben habe.«

Endlich schlug er das blaue Tuch zurück, und Abu Dun legte fragend die Stirn in Falten, als er sah, was darunter zum Vorschein kam: eine eiserne Hand, die große Ähnlichkeit mit seiner eigenen hatte, auch wenn sie deutlich kunstfertiger gearbeitet zu sein schien. »Eine Ersatzhand?«, fragte er.

»Für dich, mein Freund«, sagte Altieri stolz. »Ich habe den besten Goldschmied des Landes beauftragt, und ich glaube, er hat sich selbst übertroffen.«

»Ich habe schon eine«, sagte Abu Dun, nahm die eiserne Prothese aber trotzdem mit der gesunden Hand entgegen.

»Aber nicht so eine«, strahlte Altieri. »Ich dachte mir, dass Ihr damit mehr anfangen könnt als mit Eurem jetzigen Behelf. Nichts gegen den unbekannten Schmied, der sie angefertigt hat. Aber wollt Ihr nicht doch lieber eine rechte und eine linke Hand haben statt zweier linker?«

Abu Dun riss die Augen auf, und Altieri erfreute sich noch eine Weile unübersehbar an seiner Verblüffung, bevor er sich an Andrej wandte und ihm etwas reichte. Im ersten Moment wusste Andrej nicht einmal, ob er es annehmen sollte, denn es hatte große Ähnlichkeit mit der Garotte, die Abu Dun fast das Leben gekostet hätte: eine dünne, silberfarbene Kette, an der ein zu hundert Facetten geschliffener Kristall das Licht in ebenso viele Farbschattierungen zerschnitt. Andrej nahm sie schließlich doch entgegen und musterte den daumennagelgroßen Anhänger verwirrt. Unter all den zahllosen blitzenden Flächen schien ein winziges, blutfarbenes Herz zu pulsieren.

»Ihr schenkt mir ein … Schmuckstück?«, fragte er zweifelnd.

»Ein ganz besonderes Schmuckstück«, bestätigte der Kardinal. »Es stammt von der Insel Murano. Man sagt, es wäre das letzte Überbleibsel einer Katastrophe, der eine der berühmtesten Glasmanufakturen dort zum Opfer gefallen sein soll.« Wurde sein Blick lauernd, als er fortfuhr? »Man sagt auch, zwei sonderbare Fremde wären dort gewesen, als das Unglück geschah.«

Andrej starrte ihn an. Sein Herz begann zu klopfen. Was wusste dieser alte Mann noch alles über sie?

Erst dann begriff er, was er da – möglicherweise und nur vielleicht – in der Hand hielt, und jetzt war es, als bliebe sein Herz stehen. Das war unmöglich. Er konnte es nicht wissen. »Das ist …«, brachte er lediglich hervor.

»Und man hat mir auch gesagt, dass dieses Schmuckstück von großem Wert für Euch sei«, schloss Altieri. »Ich hoffe, man hat mir die Wahrheit berichtet. Es war nicht leicht, dieses Kleinod zu besorgen. Es gibt nur noch sehr wenige davon.«

Andrej hatte Mühe, seinen Worten zu folgen. Er starrte den Anhänger an und das in ihm eingeschlossene winzige Herz. Das war unmöglich. Es konnte nicht sein. Und doch …

Er lauschte mit anderen als nur seinen menschlichen Sinnen in den Kristall hinein, und dort, unendlich tief und fast erloschen … war etwas. Andrej schloss die Faust um den Stein, und er meinte eine Wärme zu fühlen, die unter dem kalten Kristall schlummerte und sein Herz berührte.

»Wir … nehmen an«, sagte er, fast ohne es selbst zu hören. Und ohne etwas anderes sagen zu können.

»Ach, tun wir das?«, fragte Abu Dun. Als Andrej darauf nicht reagierte, sondern nur weiter den blitzenden Stein auf seiner Handfläche anstarrte, setzte er nach: »Und wohin reisen wir?«

Es war Andrej immer noch nicht möglich, sich vom Anblick des blutroten Herzens im Inneren des Anhängers loszureißen. Wortlos reichte er Abu Dun das Blatt, das er gerade von Altieri bekommen hatte.

Abu Dun riss die Augen auf und ächzte: »Wo zum Teufel ist das denn?«

Kapitel 1

Das mit dem Sterben ist im Grunde gar nicht so schwer«, meinte der große Mann im schwarzen Gewand, während er den viel kleineren Mann im schwarzen Gewand, der ebenso verzweifelt wie vergebens um sich schlug und mit den Beinen strampelte, zum wiederholten Mal mit dem Gesicht in eine Pfütze drückte. Das hysterische Kreischen, das durch die spärlich erhellte Nacht schallte, hörte abrupt auf. Die Pfütze musste ungefähr knöcheltief sein und sah beinahe noch unangenehmer aus, als sie roch, auch wenn das auf den ersten Blick (oder den ersten Atemzug) kaum möglich schien. Zu einem Gutteil bestand sie wohl aus schmutzigem Regenwasser, das von den Dächern und an den verdreckten Fassaden herunterlief. Zu einem anderen stammte sie aus den Hinterlassenschaften der Straßenköter, Pferde und Katzen, die die schmalen Straßen tagsüber bevölkerten, sowie dem Inhalt diverser Nachttöpfe, die von ihren Besitzern kurzerhand aus den Fenstern entleert worden waren; und zu einem nicht einmal allzu kleinen Teil auch aus schleimigem Leichenwasser, das zähe Schlieren auf ihrer Oberfläche bildete.

Der große Mann wartete, bis der Strom der Luftblasen stoppte, dann hob er den kleineren Mann, den er wie ein junges Kätzchen im Nacken gepackt hatte, mit nur einer Hand so weit hoch, bis sich dessen strampelnde Füße fast auf gleicher Höhe mit seinen Knien befanden. »Also ich selbst habe es schon ein paarmal getan. Sterben, meine ich. Es ist wirklich kein Kunststück. Das Kunststück ist das Zurückkommen, weißt du?«

Er bekam keine Antwort – was allerdings daran liegen mochte, dass der weißhaarige Alte voll und ganz damit beschäftigt war, sich ausgiebig in besagte Pfütze zu übergeben. »Das Problem ist«, fuhr der Große fort, »dass ich dabei weder dem Scheijtan begegnet bin noch den Seelen unschuldiger Kinder, die auf dem Weg in die ewige Verdammnis waren.«

Der Alte gurgelte etwas Unverständliches, während der nubische Riese abwechselnd den hilflos strampelnden Greis am Ende seines ausgestreckten Armes und die stinkende Pfütze betrachtete: »Wenn ich es mir recht überlege, dann bin ich dabei nicht einmal deinem Gott begegnet.«

Andrej schüttelte mit einem lautlosen Seufzen den Kopf. Es war ja keineswegs so, als könnte er Abu Dun nicht verstehen, und im Grunde gab er ihm sogar recht … aber trotzdem wünschte er sich, er würde damit aufhören; oder hätte noch besser gar nicht erst damit angefangen.

»Lass den Unsinn, Pirat«, seufzte Andrej. »Du bringst uns in Schwierigkeiten.«

Immerhin verzichtete Abu Dun darauf, das arme Priesterchen noch weiter zu quälen, und ließ sein unglückseliges Opfer los. Der Alte fiel so hart auf Hände und Knie, dass Andrej das trockene Brechen zu hören meinte, mit dem seine Kniescheiben und Handgelenke zersprangen.

Der Priester begann vor Schmerz und Wut zu weinen. »Du verdammter … gottloser … Heide!«, keuchte er. »Dafür wirst du … in der Hölle brennen! Deine Seele wird schmoren!«

Abu Dun seufzte, ließ sich mit knackenden Kniegelenken in die Hocke sinken und brachte sein nachtschwarzes Gesicht so nahe an das des Alten heran, wie es der Gestank des Geistlichen gerade noch zuließ. Dabei fletschte er die Zähne und hob seine neue künstliche Hand, deren perfekte Funktion vorzuzeigen er nicht müde wurde. So auch in diesem Fall, denn er ließ ihre Eisenfinger in der Art einer fünfbeinigen Riesenspinne aufschnappen, die sich zum Angriff aufrichtet. Der Priester sprang mit einem quiekenden Schrei hoch und rannte in einem Tempo in die Nacht hinein, das Andrej nicht einmal einem Mann von halb so vielen Jahren zugetraut hätte.

Andrej schüttelte zwar verärgert den Kopf, dass sich Abu Dun so wenig in der Gewalt hatte, konnte zugleich aber auch kaum ein Grinsen unterdrücken. Ihre beiden Begleiter, die im Gegensatz zu ihnen die knöchellangen Büßergewänder der Seuchenbüttel trugen, zeigten da deutlich weniger Hemmungen. Der eine begann schallend zu lachen, und auch sein Kamerad blickte dem fliehenden Gottesmann mit einem breiten Grinsen nach. Seine rote Pestnase und der grotesk große Hut verwandelten seine Belustigung in etwas Boshaftes.

Andrejs Lächeln erlosch jedoch sofort wieder, als er sich umdrehte und dem Blick der Frau begegnete, die in der Tür erschienen war. Sie trug ein schäbiges Kleid und war barfuß. Andrej hätte auch ohne seine übermenschlich scharfen Sinne erkannt, dass ihr Leben allerhöchstens noch nach Monaten zählte, wenn nicht nur Wochen. Sie konnte niemals eine sehr schöne Frau gewesen sein, wenn auch auf ihre eigene herbe Art ansehnlich, doch das Leben hatte sie vor der Zeit altern lassen.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht, dass du das mit ansiehst.«

»Leid?« Die Frau stieß ein abfälliges Schnauben aus, und Andrej wich instinktiv einen halben Schritt zurück. Ihr Atem roch schlecht, nicht nur nach faulenden Zähnen, schlechtem Essen und billigem Wein, sondern auch nach etwas Verwesendem.

»Leid?«, wiederholte sie, und nun klang ihre Stimme scharf und herausfordernd und angriffslustig. »Wenn dir etwas leidtun sollte, dann allerhöchstens, dass er ihn nicht umgebracht hat! Dieser verdammte gottlose Pfaffe! In der Hölle soll er brennen, gleich neben seinem verfluchten Gott!«

»Versündige dich nicht«, sagte Andrej sanft und wohl wissend, wie das in ihren Ohren klingen musste.

»Versündigen?« Plötzlich schrie sie. »Versündigen? Aber warum denn nicht? Was kann er mir denn noch antun, was er mir nicht schon längst angetan hat, dein verdammter Gott? Wir haben ein gottgefälliges Leben geführt, mein Mann und ich! Keine Messe haben wir ausgelassen! Kein Gebet haben wir versäumt! Gegen kein einziges Gebot haben wir verstoßen, und wir haben gespendet, obwohl wir selbst oft genug nichts hatten! Und was haben wir zurückbekommen von deinem Gott? Mein Mann ist gestorben und meine drei Kinder auch. Und jetzt hat er mir auch noch meine letzte Tochter genommen, und dieser … dieser Hundsfott sagt mir, dass es recht so ist? Dass ihre Seele in der Hölle brennen wird, weil wir gesündigt und uns Gottes Unmut zugezogen haben? Sie war gerade einmal fünf Tage alt!«

Und plötzlich warf sie sich gegen ihn und begann mit ihren schmalen Fäusten auf seine Brust einzuschlagen, wenn auch nur für einen ganz kurzen Moment, bevor ihre Kräfte versagten und sie mit einem Wimmern in seinen Armen erschlaffte. »Warum hat er ihn nicht getötet?«, wimmerte sie. »Er hätte ihn umbringen sollen! Sag ihm, dass er ihn totschlagen soll!«

»Du solltest keinem Menschen den Tod wünschen«, entgegnete Andrej sanft, obwohl er sie verstand. Oh, und wie er sie verstand und wie sehr er selbst gegen den Wunsch ankämpfen musste, diesem Pfaffen einfach nachzulaufen und ihm den Hals umzudrehen.

»Meine Tochter hat nichts getan«, schluchzte sie. Tränen liefen über ihr Gesicht und hinterließen komplizierte Spuren in der dicken Schicht aus Schmutz und Grind. »Sie war gerade einmal eine Woche alt! Ihre Seele wird nicht in der Hölle brennen! Sie hatte doch noch gar keine Zeit zu sündigen!«

Den letzten Satz hatte sie so laut geschrien, dass ihre Stimme zu brechen drohte, und die Worte wurden von den dunkel daliegenden Häusern zurückgeworfen und zu etwas gemacht, das ihn wie ein unangenehm kalter Windhauch erschaudern ließ.

»Ich weiß«, sagte er. »Hab keine Angst. Dieser alte Mann ist dumm, sehr dumm und sehr böse. Hör nicht auf den Unsinn, den er redet. Gott wird keinem unschuldigen Kind etwas zuleide tun. Täte er es, dann wäre er nicht Gott.« Und plötzlich musste er an sich halten, um sie nicht tröstend in die Arme zu schließen. Die Frau tat ihm unendlich leid.

Nach kurzem Zögern löste er den schmalen Geldbeutel vom Gürtel und drückte ihn ihr in die Hand. »Iss dich einmal richtig satt. Und mach deinen Frieden mit Gott. Oder wenigstens mit dir selbst.«

Abu Dun hatte schon wieder seinen Platz an der Deichsel des zweirädrigen Karrens eingenommen und maß ihn mit einem sonderbaren Blick. Er wirkte gleichermaßen erstaunt wie verstimmt.

»Was?«, fauchte Andrej, bevor er etwas sagen konnte.

»Kann es sein, dass du gerade unseren Lohn für die vergangene Nacht verschenkt hast?«

»Und?«, antwortete Andrej mit einer Mischung aus einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem angedeuteten Blick in die Richtung, in der der Priester verschwunden war. »Jeder hat seine schlechten Angewohnheiten. Und außerdem war es nur mein Anteil.«

»Sie wird sich nichts zu essen davon kaufen, sondern sich betrinken«, stellte Abu Dun fest. »Und sie wird es wahrscheinlich nicht überleben.«

»Ich weiß«, antwortete Andrej. »Aber dann ist es doch auch gut, oder?«

Abu Dun kratzte sich mit der künstlichen Hand am Kinn, ohne mit ihr blutige Striemen zu hinterlassen, wie es mit dem viel plumperen Vorgängermodell zweifellos passiert wäre.

»Und du wirst morgen nichts zu essen haben«, meinte er, während er die Eisenhand nun benutzte, um ohne die geringste Mühe den Wagen in die Waagerechte zu kippen. Einer der in Lumpen gehüllten Leichname kam ins Rutschen und wäre beinahe heruntergefallen, hätte einer ihrer Begleiter nicht rasch zugegriffen und ihn an der Flucht gehindert.

»Aber ich habe doch einen guten Freund, der mich gewiss auf einen Laib Brot und ein gutes Stück Fleisch einladen wird«, erwiderte Andrej.

»Mit Brot kann ich nicht dienen.« Die mit Eisen verstärkten Räder des Leichenkarrens begannen zu knirschen und verursachten neue und langanhaltende Echos in der Dunkelheit. Etwas quietschte erbärmlich, und Abu Dun machte eine Kopfbewegung hinter sich. »Aber wenn du ein Stück Fleisch möchtest, dann sei mein Gast.«

Andrej verzichtete auf eine Antwort und schloss sich dem Wagen an. Die schwache Mondsichel verschwand hinter einer dichten Wolkenschicht, und der Nubier schien von der Nacht verschluckt zu werden. Zum ersten Mal wurde Andrej bewusst, wie still und dunkel es war. Nirgends brannte Licht. Nirgendwo bewegte sich etwas, und die einzigen von Menschen verursachten Laute waren die, die von ihnen selbst stammten.

Ein sonderbares Quäken erscholl, und einer ihrer Begleiter hob den Kopf und lauschte. Ganz am Ende der Gasse war ein Schatten erschienen, der Andrej irgendwie … missgestaltet vorkam, als wäre er bucklig. Als sie sich näherten, schlug ihnen eine Schnapsfahne entgegen, die ihm schier den Atem nahm, und aus dem vermeintlichen Buckel wurde ein struppiger Sack, aus dem eine Anzahl hölzerner Pfeifen ragte.

»Was ist denn das?«, murmelte Abu Dun, beantwortete seine eigene Frage sogleich mit einem Achselzucken und ließ seinen Blick tastend über die verschlossenen Türen zur Rechten schweifen, bevor er vermutlich vollkommen willkürlich an eine herantrat. Er machte sich nicht die Mühe zu klopfen, sondern hieb die Tür kurzerhand mit der Faust ein, und ihnen schlug eine Wolke aus klebrigem Verwesungsgestank entgegen, die ihre beiden Begleiter ächzend zurückweichen und Abu Dun eine Grimasse schneiden ließ.

»Bei Allah!«, keuchte er. »Haben diese Leute keine Nachbarn, denen irgendwann auffällt, dass sie tot sind?« Er warf ihm einen schon fast flehenden Blick zu (den Andrej ignorierte), zog eine Grimasse und verschwand im Haus. Hinter ihnen erscholl erneut dieser unangenehme quiekende Laut. Betont langsam drehte sich Andrej um und maß den Betrunkenen mit einem sehr langen Blick. Der Bursche war fast so groß wie er, aber spindeldürr. Sein Haar, das in verklebten Strähnen bis weit über die Schultern fiel, starrte ebenso vor Dreck wie seine Kleider und das Gesicht. Sein Alter war unmöglich zu schätzen, der Grad seiner Betrunkenheit dafür umso leichter.

Als er dazu ansetzte, dem haarigen Sack unter seinem Arm einen weiteren wimmernden Schmerzenslaut zu entlocken, zwang Andrej so etwas wie ein Lächeln auf sein Gesicht und sagte rasch: »Das letzte Mal, dass ich ein solches Instrument gesehen habe, ist schon eine ganze Weile her.« Und sein Besitzer hatte spielen können. Aber das behielt er lieber für sich … schon, um nicht Gefahr zu laufen, dass der Bursche ihm demonstrierte, wie sehr er es nicht konnte.

»Dann bist du weit herumgekommen«, grummelte der Betrunkene.

»Du aber auch«, antwortete er mit einer Geste auf den Dudelsack.

»Ah geh!«, kicherte der Betrunkene. »Den hab ich einem englischen Soldaten beim Würfeln abgenommen. Hat mich betrogen, der Haderlump.«

»Weil er dich hat gewinnen lassen?«, fragte einer der Männer.

»Er hat behauptet, es brächte Glück bei den Frauen. Hat gesagt, dass sie willig werden, wenn man drauf spielt. Aber in Wahrheit gehen sie stiften, wenn man ein Lied darauf anstimmt!«

»Vielleicht hättest du noch eine Runde gegen ihn gewinnen sollen, damit er dir auch noch das Spielen beibringt«, spottete der andere Bursche.

Andrej wappnete sich gegen eine neue Attacke auf seine Trommelfelle, aber der Bursche bleckte nur ein erstaunlich schlechtes Gebiss zu etwas, das er wahrscheinlich für ein Grinsen hielt. »Du bist ein weit gereister Mann, wie?«, wandte er sich an Andrej. »Ein Mann von Welt. Und jetzt verdienst du dein Geld hier als Leichenbüttel?«

»Von irgendwas muss man leben«, beschied ihm Andrej knapp. »Es wird gut bezahlt, und die Kunden beschweren sich nicht.«

Um jedes weitere Gespräch im Keim zu ersticken, wandte er sich ab und starrte die Tür an, hinter der Abu Dun verschwunden war. Aus dem Haus drang ein anhaltendes Krachen und Poltern. Anscheinend öffnete Abu Dun die Türen dort drinnen auf seine ganz eigene Art.

So leicht gab der Betrunkene jedoch nicht auf. »Ich hab gesehen, was dein Freund da mit dem Pfaffenstrick gemacht hat. War lustig. Würd gern ein Lied dazu schreiben. Die Leute würden bestimmt drüber lachen.«

»Ich hätte nichts dagegen«, antwortete Andrej. »Doch ich fürchte, meinem Freund würde es nicht gefallen. Er ist sehr bescheiden und mag es nicht, wenn so viel Aufhebens um seine Person gemacht wird.«

Bevor sein wankendes Gegenüber antworten konnte, kam Abu Dun zurück. Er trug gleich zwei Leichen auf den Armen und einen dritten und erschreckend kleinen Körper über der Schulter. Mit einem schrägen Blick auf ihren schwatzhaften Begleiter brachte er seine schreckliche Last zum Wagen, legte sie auf den Leichenstapel und maß den Dudelsackspieler mit einem weiteren, jetzt bewusst grimmigen Blick – was diesen aber nicht daran hinderte, noch breiter zu grinsen und zu sagen: »Na, da bekommt der Begriff ›Der Schwarze Tod‹ doch gleich eine ganz andere Bedeutung, wie? Is ja der Waaaahnsinn!«

Er unterstrich seine Begeisterung mit einer ruckhaften Armbewegung, die dem Dudelsack ein weiteres misstönendes Quäken und Abu Dun eine Grimasse entrang, als würde ihm ein Zahn gezogen.

»Was ist das?«, fragte der Nubier.

»Na, jetzt sollte ich von Rechts wegen aber beleidigt sein«, feixte der Bursche. »Ich bin ganz und gar nicht so bescheiden wie du, schwarzer Mann.« Er deutete eine spöttische Verbeugung an und war betrunken genug, dabei um ein Haar auf die Nase zu fallen. »Meine Eltern, Gott hab sie selig, haben mich auf den schönen Namen August getauft. Aber in meinem Viertel kennt man mich nur als den lieben Augustin. Und dich, du rabenschwarzer Hüne?«

»Mich nicht«, sagte Abu Dun.

Augustin blinzelte, sah einen Moment lang ehrlich verblüfft aus und warf dann den Kopf in den Nacken, um schallend zu lachen. Und diese Bewegung war dann doch zu viel. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den Hosenboden, wobei sein Dudelsack einen lang gezogenen Klagelaut ausstieß, der in der nachtstillen Gasse widerhallte wie der Schrei eines sterbenden Drachen. Etwas huschte hinter ihm in den Schatten entlang und verschwand, bevor Andrej es wirklich erkennen konnte. Wahrscheinlich nur eine Ratte.

Augustin und sein Dudelsack lachten und quietschten weiter um die Wette, und wahrscheinlich wäre es noch eine ganze Weile so weitergegangen, hätte Abu Dun dem grausamen Spiel nicht ein Ende bereitet, indem er den Musikus mit seiner künstlichen Hand auf die Füße zerrte und ihm mit der anderen den Dudelsack wegnahm.

»Heda!«, protestierte Augustin.

»Bitte verzeih meinem Freund«, sagte Andrej rasch. »Wie du ja siehst, ist er nicht von hier und mit den hiesigen Sitten und Gebräuchen noch nicht hinlänglich vertraut.«

»Und es ist in seiner Heimat üblich, Freundlichkeit mit brutaler Gewalt zu vergelten?«, nörgelte Augustin und riss Abu Dun den Dudelsack aus der Hand.

»Mitnichten«, antwortete Andrej. »Ich fürchte nur, dass mein Freund kein großer Bewunderer Eurer Art von Musik ist.«

»Meiner Art von Musik?«, ereiferte sich Augustin. »Was soll das heißen, meiner Art von Musik? Habt Ihr schon einmal den Katzenjammer gehört, den diese Mohren in ihrer Heimat spielen und allen Ernstes behaupten, es wäre Musik? Da hört sich doch wohl …«

Er unterbrach sich, starrte erst ihn und dann aus großen Augen Abu Dun an, machte »Oh!« und drehte sich dann erneut zu Andrej um. »Das tut mir leid.«

»Was?«

»Dass ich nicht gleich von selbst draufgekommen bin.« Augustin drückte seinen Dudelsack an sich, begann ihn fast zärtlich zu tätscheln und wurde mit einem erbärmlichen Wimmern belohnt. »Ich meine: Für einen, der mit Musik aufgewachsen ist, die sich anhört, als würde eine trächtige Katze am Schwanz übers Feuer geschwenkt und ihr dabei langsam das Fell über die Ohren gezogen, muss sich meine Musik ja genauso anhören.«

»Nicht nur für so jemanden«, murmelte Andrej.

Augustin sah schon wieder ein bisschen verletzt aus, begann dann aber glucksend zu lachen und versetzte ihm einem Klaps auf die Schulter. »Ihr seid schon recht, mein Freund. Da hätt ich doch beinahe was ziemlich Dummes getan, wie? Stellt Euch nur vor, ich hätt Euren großen Freund da verprügelt, nur aus falsch verstandener künstlerischer Eitelkeit!«

Abu Dun riss die Augen auf und starrte auf ihn hinab, und auch Andrej hätte um ein Haar eine entsprechende Bemerkung gemacht, aber dann fiel ihm das spöttische Funkeln in Augustins Augen auf.

»Wie dem auch sei«, sagte er lahm. »Wir müssen jetzt weiter. Unsere Kunden beschweren sich zwar nicht, wenn wir zu spät kommen, aber sie fangen an zu riechen, wenn wir sie zu lange warten lassen.«

Augustin kicherte, rülpste und entrang seinem Dudelsack ein weiteres gequältes Wimmern. Erneut hatte Andrej das Gefühl, etwas durch die Schatten davonhuschen zu sehen; und auch jetzt wieder, ohne es wirklich zu erkennen.

»Ihr seid nicht nur ein Mann von erlesenem Geschmack, sondern auch einer von großer Gewissenhaftigkeit«, fuhr Augustin fort. »So etwas ist selten geworden in der heutigen Zeit. Warum kommt Ihr nicht in den Grünen Eber? Da spiel ich manchmal auf, und so könnt ich mich wenigstens revanchieren.«

»Das ist nett gemeint«, sagte Andrej hastig. »Aber ich fürchte, unsere Arbeit lässt uns nicht viel Zeit für Vergnügungen. Und Leute wie wir sind in Gasthäusern nicht gerne gesehen.«

»Wie wahr«, seufzte Augustin. Dann hellte sich sein Gesicht auf, als hätte er eine Eingebung. »Aber dann begleite ich euch einfach jetzt noch eine Weile und spiel euch das eine oder andere lustige Lied. So wird euch die Zeit nicht lang.«

Abu Dun wurde ein bisschen blass, und der größere ihrer beiden Begleiter sagte sehr hastig: »Unsere Runde ist gleich zu Ende.«

»Und wir müssen die Toten noch nach draußen auf den Pestfriedhof bringen«, fügte sein Kamerad nicht minder hastig hinzu. »Das ist ein weiter Weg.«

»Gut eine Stunde, mit dem schweren Wagen«, sagte Abu Dun.

»Und noch einmal so lange zurück«, ergänzte Andrej.

»Nicht zu vergessen die Zeit, die wir brauchen, um die Toten zu begraben«, schloss Abu Dun.

»Aber das macht doch nichts«, sagte Augustin leutselig. »Ich hab nichts weiter vor. Der Grüne Eber läuft mir nicht davon, und ich bin sowieso eine rechte Nachteule. Das hat meine Mutter, Gott hab sie selig, auch schon immer gesagt, und ich glaube, damit hat sie recht gehabt, wie mit so manchem. Wisst Ihr was? Ich begleite Euch hinaus zum Friedhof und wieder zurück, und auf dem Weg spiele ich Euch die eine oder andere lustige Weise auf, damit Euch die Zeit nicht lang wird.«

Andrej seufzte. Sehr tief.

Kapitel 2

Wie es in den meisten Städten üblich war, befand sich der Armenfriedhof außerhalb der Mauer. Die Stadtwache hatte sie schon aus der Ferne kommen hören und hastig das Tor geöffnet, um sie mit ihrer traurigen Last passieren zu lassen. Niemand kam den Toten gerne nahe.

Das galt auch für den Friedhof. Der abgetrennte Bereich, auf dem sie die Pesttoten begruben, lag einen gehörigen Steinwurf hinter ihm, schon fast an der Grenze des dichten Waldes, der Hamblen an drei Seiten wie eine lebendige grüne Mauer umgab. Abu Dun und er hatten kräftig übertrieben, was die Zeit anging, die sie brauchen würden, um die Toten hier herauszubringen und in das anonyme Massengrab zu legen – der schrecklichste Teil ihrer allnächtlichen Tätigkeit, an den er sich wohl nie gewöhnen würde.

Trotz allem war die Arbeit schnell getan, auch wenn ihnen die Zeit zugleich endlos vorkam, denn Augustin hatte seine Drohung wahrgemacht und seinen Dudelsack nicht nur den ganzen Weg hier heraus malträtiert, sondern auch ununterbrochen weitergespielt, während sie die Toten begruben. Bis Sonnenaufgang war vielleicht noch eine halbe Stunde, als sie endlich fertig waren und ihre Werkzeuge auf den nunmehr leeren Karren warfen. Ihre beiden Begleiter nahmen mit erschöpftem Seufzen endlich ihre Pestnasen und die großen Hüte ab und fuhren sich müde mit den Händen durch die Gesichter. Und auch Abu Dun sah jetzt auf eine Art erschöpft aus, die wenig mit körperlicher Müdigkeit zu tun hatte, schloss zugleich aber auch halb die Augen und schien zu lauschen.