Claus und Claudia - Erik Neutsch - E-Book

Claus und Claudia E-Book

Erik Neutsch

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Beschreibung

Zeitlebens hat sich Neutsch, dieser streitbare Autor, der die Dinge oft derb, aber klar und deutlich benannte, mit Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Fehlentwicklung beschäftigt. Das trifft auch für dieses, erstmals 1989 veröffentlichte Buch zu. Nebenbei bemerkt: Was mögen wohl Claus und Claudia gesagt haben, hätte man sie einige Jahre nach den Ereignissen, von denen hier die Rede ist, über die Wende und die Zeit danach befragt. Aber zurück zur Geschichte von „Claus und Claudia“, für deren höhere Glaubwürdigkeit sich Autor Neutsch eines literarischen Tricks bedient: Er selbst war nach allem nicht mehr bereit, Auskunft zu geben, doch ein Bündel von zahlreichen Dokumenten, Aktennotizen und Protokollen gewährt genügend Einblick, um die Geschichte zu rekonstruieren. Er – das ist Claus, Claus Salzbach mit Namen, der seit Jahren im Ausland, im diplomatischen Dienst stand und zuletzt im Auftrage der Regierung am Sitz der Unesco in Paris tätig war. Alle Leute, sowohl seine Vorgesetzten als auch jene, die sonst mit ihm zu tun hatten, kannten ihn als einen bescheidenen, verlässlichen, jederzeit seine Aufgaben gewissenhaft erfüllenden Menschen. So hatte er international die Republik stets würdig vertreten und ihr Ansehen durch sein entschlossenes und aufrichtiges Verhalten in aller Augen gestärkt. Doch dann geschah etwas, das diesen Mann völlig veränderte, seinen Heiligen Zorn weckte und ihn zum Selbsthelfer im Sinne eines Kleistschen Michael Kohlhaas werden ließ: Claus hatte eine Tochter, Claudia, zweiundzwanzig Jahre jung, hübsch, lebenslustig, zielstrebig. Sie absolvierte eine Hebammenausbildung an der Medizinischen Fachschule, die der Universität in W. angeschlossen ist. Plötzlich erreichte ihren Vater in Paris die Nachricht, seine Tochter habe einen Nervenzusammenbruch und er solle sofort kommen. Claudia hatte einen Suizidversuch unternommen. „Sie wollen mich fertigmachen ...“, fasst Claudia ihre Situation während eines Spaziergangs im Park zusammen. Mit dieser Behauptung verband sie zugleich unglaubliche Geschichten, Erlebnisse jedenfalls, die Claus nicht für möglich hielt, zumindest für übertrieben ihrerseits. Er beginnt Fragen zu stellen, grundsätzliche Fragen: „Sie hat das Vertrauen verloren“, sagte er. „Das Vertrauen zu den Menschen, mit denen sie zu tun hat, selbst zur Partei, deren Mitglied sie gerade wurde, und vielleicht schlimmer noch: zu unserer Gesellschaft insgesamt.“ Taugte der Sozialismus nichts, nichts mehr?

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Impressum

Erik Neutsch

Claus und Claudia

Nach neueren Dokumenten

ISBN 978-3-86394-408-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1989 bei Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Der Mann, um dessen Schicksal es hier geht, um seines und das seiner Tochter, Claus Salzbach mit Namen, lebte seit Jahren im Ausland. Er stand im diplomatischen Dienst und war zuletzt im Auftrage der Regierung am Sitz der Unesco in Paris tätig.

Alle Leute, sowohl seine Vorgesetzten als auch jene, die sonst mit ihm zu tun hatten, kannten ihn als einen bescheidenen, verläßlichen, jederzeit seine Aufgaben gewissenhaft erfüllenden Menschen. So hatte er international die Republik stets würdig vertreten und ihr Ansehen durch sein entschlossenes und aufrichtiges Verhalten in aller Augen gestärkt. Dafür war ihm auch schon öffentliche Anerkennung zuteil geworden, verbunden mit Auszeichnungen und Orden.

Eines Tages aber, im vorletzten Herbst erst, ging ein heiliger Zorn mit ihm durch, und zwar von solcher Gewalt, daß er mit einem Schlag alle ihm auferlegten Konventionen mißachtete und zum Selbsthelfer wurde. Unerklärlich blieb lange, warum es ausgerechnet ihn, die Bedächtigkeit in Person, zu einem solchen Ausbruch der Gefühle hatte treiben können, und so soll auch hier nach den Gründen gefragt werden, wie es dazu kam.

Er selbst war nach allem nicht mehr bereit, Auskunft zu geben, doch ein Bündel von zahlreichen Dokumenten, Aktennotizen und Protokollen gewährt genügend Einblick, um die Geschichte zu rekonstruieren.

2. Kapitel

Er ging mit Claudia durch den Park. Der Altweibersommer spann seine Fäden, und hier und dort färbte sich das Laub der hohen Birken und Buchen bereits gelb, rot und samtig braun. Auf dem See schwammen schwarze Schwäne.

Claudia aber, merkte er, wandelte im Augenblick neben ihm her wie geistesabwesend. Sie gewahrte das alles nicht, das Feuer im Blattwerk von Bäumen und Büschen, die Schwäne, auch den strahlend blauen Himmel nicht. Sie klammerte sich an seinen Arm und wiederholte des öfteren, mit zittriger und doch tonloser Stimme, die Sätze: »Ach, Vati, Vati, weißt du... Wie gut, daß du gekommen bist. Sie wollen mich fertigmachen ...«

So hatte er sie nicht in Erinnerung, sie, wie er stets geglaubt hatte, mit der fröhlichen, unbefangenen Art, sich dem Leben zu stellen, vergleichbar in dieser Hinsicht, diesem Charakterzug nur noch mit ihrer Mutter. Martina, dachte er mit einem Mal, das Bild seiner Frau vor Augen, als er seine Tochter prüfend von der Seite betrachtete, warum mußtest du von mir gehen, mich allein lassen, jetzt, wo ich deine Hilfe vielleicht am meisten gebrauchen könnte.

Sie war hübsch. Das hatte er jedesmal mit einem gewissen väterlichen Stolz konstatiert, wenn er Claudia ins Gesicht sah. Ihr dichtes und dunkles Haar fiel bis auf die Schultern. Ihre schön geschnittenen Züge in dem Oval, die Lippen, die Stirn, die klaren Augen - auch das erinnerte ihn an Martina. Doch sobald sie ihn jetzt anschaute, sprach aus ihrem Blick, ihren graugrün umrahmten Pupillen längst nicht mehr jene unschuldsvolle, fast schon naive Offenheit von einst, sondern eher eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit.

Was bloß konnte er dagegen tun? Nein, sie war es nicht mehr. Claudia, das Ebenbild ihrer Mutter. Blaß wirkte sie jetzt, ihre Schlankheit zerbrechlich. Es überkam ihn, sie fest in die Arme zu nehmen, an seine Brust zu pressen und sie seine Wärme spüren zu lassen - wie früher als Kind. Am schwersten wohl fiel ihm, sich damit abfinden zu müssen, daß sie nun selbst eine Frau war mit ihren zweiundzwanzig Jahren und einem bitteren Leben schon hinter sich.

Nervenzusammenbruch - so lautete die Diagnose. Deshalb war sie in die Klinik für Neurologie der Universität in W. eingeliefert worden.

Claus Salzbach hatte vor einer Stunde erst mit dem Arzt gesprochen, der sie behandelte.

»Wie gut, daß Sie sich haben frei machen können ...« Worte, wie er sie ähnlich nun auch von Claudia hörte. »Ihre Tochter ist ein sehr bewußt lebender Mensch. Um so rätselhafter erscheint es mir, warum sie zu den Tabletten griff. Nein, nein, nur ein angedrohter Suizid war es nicht, eher freilich ein Versuch im Affekt. Als künftige Hebamme aber wußte sie um die Folgen. Danken Sie daher Gott oder wem sonst, daß ihre Großeltern sofort die Schnelle medizinische Hilfe alarmierten. Wir pumpten ihr den Magen aus. Aber damit ist ja nicht ihr Konflikt, den sie unbestreitbar mit sich herumschleppt, aus dem Blut. Herr Salzbach ... Wenn ich Sie bitten darf ... Nach Ihrem Spaziergang im Park. Melden Sie sich noch einmal bei mir. Vielleicht erhalten wir dadurch tiefere Aufschlüsse. Prüfungsangst? Die Enttäuschung, in zwei Fächern letztens nur mit einer Vier bestanden zu haben? Das allein kann es doch wohl nicht sein. Nicht bei einer solch intelligenten jungen Frau ...«

Fast auf den Tag genau zwölf Monate hatte er sie nicht mehr gesehen. Denn nur einmal im Jahr wurde ihm Urlaub gewährt, den er dann stets dazu nutzte, nach Haus zu reisen, in die Republik. In Vietnam und Ägypten hatten sie Claudia noch ständig bei sich gehabt. Sobald jedoch die Kinder von Diplomaten das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatten, so wollten es die unerbittlichen Vorschriften, war es ihnen für gewisse Länder nicht mehr gestattet, ihre Eltern dorthin zu begleiten. Claudia hatte eine Internatsschule besucht, in der sie aber unter der Trennung von Mutter und Vater so sehr litt, daß sie in ihr nicht leben konnte. Martinas Eltern nahmen sich ihrer an. Sie zog zu ihnen, und auch jetzt, nach ihrer Scheidung und trotz eigener Wohnung, quartierte sie sich oft bei ihnen ein, zumal sie fortan ihren Sohn betreuten, um ihr das Praktikum mit dem unregelmäßigen Schichtdienst zu erleichtern. Vor fünf Jahren zum letzten Mal hatten er und seine Frau wenigstens noch mit ihr, da sie erst siebzehn war, somit nicht volljährig, den Urlaub gemeinsam in Frankreich verbringen dürfen. Er entsann sich deutlich. In Honfleur am Kanal, in dem kleinen Restaurant in der unmittelbaren Nähe der uralten Holzkirche, beim Essen der Fruits de la mer und beim Wein, da hatte sie ihnen gestanden, daß sie verliebt sei und bald heiraten möchte.

»Sie wollen mich fertigmachen ...«, sagte sie jetzt. Mit dieser Behauptung verband sie zugleich unglaubliche Geschichten, Erlebnisse jedenfalls, die Claus nicht für möglich hielt, zumindest für übertrieben ihrerseits. Frau Baumholder, erzählte sie, die Leiterin der Abteilung Hebammenausbildung an der Medizinischen Fachschule, die der Universität in W. angeschlossen ist, Parteimitglied obendrein wie sie, habe es besonders auf sie abgesehen, betrachte jede Regung, jede Äußerung von ihr wie unter der Lupe und scheine nur auf einen Fehler von ihr zu warten.

»Vati, ich hab Angst vor ihr. Nachts schrecke ich aus dem Schlaf, weil sie mich bis in meine Träume verfolgt.«

Von Anfang an, schon bei der Nachricht, daß sie einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, hatte er gedacht: Sie ist zu weich, zu sensibel. Die normalsten Dinge des Lebens, wie sie überall und zu jeder Zeit auftauchen können, für andere Lappalien, ihr jedoch machen sie zu schaffen. Wir haben sie verwöhnt, besonders Martina, haben sie nicht genug darauf vorbereitet. Sie war unsere Einzige, und für mich ist sie es noch. Trotzdem, hatte er gedacht, jagt sie doch in den Kreißsaal, so lange und so gründlich, bis sie endlich hart geworden ist, vor Härten nicht mehr kapituliert. Der Beruf einer Hebamme verträgt sich nun einmal nicht mit Zimperlichkeit ...

Wieder spürte er, daß sie sich fester an ihn hängte und mit beiden Händen seinen Arm umkrampfte. Tränen traten ihr ins Gesicht, sie schluchzte. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und er blickte, ein wenig ratlos jetzt und betroffen, auf ihren streng gezogenen Scheitel.

Auf dem Kiesweg flog taumelnd ein Falter vor ihnen her, braunrot, mit blauen Flecken auf den Flügeln, ein Pfauenauge. Schließlich setzte er sich auf eine Blüte und schien daran zu saugen. Sie blieb stehen und betrachtete ihn. »Weißt du«, fragte sie, »daß Schmetterlinge in der Lage sind, über Kilometer weit am Duft ihre Partner aufzuspüren?«

Nein, er hörte davon zum erstenmal.

»Wie selbstverständlich doch alles ist. In der Welt dieser kleinen Tiere. Rein vom Instinkt programmiert und völlig problemlos. Dagegen bei uns, bei den Menschen. Soviel Neid, soviel Mißgunst, Verachtung gegenseitig bis zum Zynismus oft... Und so wenig Liebe.«

Doch sie lächelte wieder, lachte plötzlich sogar auf.

Warum, verstand er nicht, und vielleicht hätte er ihr antworten sollen, daß sie sich da in etwas verrenne. Er sehe es täglich, werde dauernd damit konfrontiert, während seiner Arbeit in der Unesco. Es gibt einen Unterschied, und zwar einen gewaltigen, im Zusammenleben der Menschen hier und anderswo. Der hänge ab von der jeweiligen Gesellschaftsordnung, in der sich die einen und die anderen befinden. In Afrika geht es noch immer um die nackte Existenz, ums Sattessen oder Verhungern. In Nikaragua darum, ob die Revolution siegt, ob es gelingt oder nicht, das Volk von den Fesseln der sozialen und nationalen Unterdrückung zu befreien.

Aber er unterließ es, angesichts ihres Zustandes. Er war schon froh, daß sie diesmal wieder lächelte.

Manches von dem, worüber sie klagte, kannte er bereits aus ihren Briefen, jedenfalls andeutungsweise.

»Hatte ich dir eigentlich schon geschrieben, wie Evi, eine meiner Kommilitoninnen, im Kreißsaal Prügel bezog?«

»Eine Ohrfeige«, wiegelte er ab, »das ja.«

»Immerhin ... Von einer Hebamme, die nicht viel älter ist als sie. Evi ist zwanzig. Und lediglich deshalb, weil sie beim Aufziehen einer Spritze, aus Versehen oder vor Erregung, die Kanüle fallen ließ. Ich habe es zur Sprache gebracht. In unserer Seminargruppe, in der Parteiversammlung. Das ist doch wie in einer Nazischule, sagte ich, die Prügelstrafe, und weit entfernt von sozialistischen Verhaltensweisen. Nichts geschah, nichts. Eine Lappalie sei es ... Und weißt du, daß ich mich auch für Marion einsetzte, als gewiß war, daß sie schwanger ist? Damit sie, wozu das Gesetz jede Studieneinrichtung verpflichtet, einen Fördervertrag erhält. Ich tat es, obwohl ich bis heute selber keinen besitze. Obwohl auch ich alleinstehend bin und Mutter... Die Baumholder erklärte, der Abschluß von Förderverträgen mit Studentinnen sei eine Kann-Bestimmung, liege allein im Ermessen der jeweiligen Leitung. Doch das ist eine Lüge. Und was überhaupt gibt es denn für Gründe, einer Mutter beim Studium nicht zu helfen!«

Er schwieg auch dazu. Er kannte sich in diesen Angelegenheiten nicht aus. Nach einer Weile jedoch, nachdem er sich noch mehrere ähnliche Vorfälle hatte schildern lassen müssen, kam er darauf zurück und sagte: »Menschenskind, Claudia. Irgend jemand aber muß doch vorhanden sein, der dir zuhört. Die Parteileitung der Universität zum Beispiel.«

Sie lachte erneut. Doch es klang anders als zuvor. Für Claus hatte ihr Lachen diesmal einen hysterischen Unterton.

»Du glaubst mir nicht. Ich fühle es. Ach, Vati, Vati ... Ich war damit beim Parteisekretär des Medizinischen Bereichs. Er nahm es zur Kenntnis, mit gelangweilter Miene. Das ist alles. Und hintenherum, von einer Dozentin, ebenfalls Genossin, die inzwischen kündigte, erfuhr ich, wie er anschließend über mich urteilte. Er hält mich für spitzfindig, aufsässig, gar hysterisch. Die Kinder von Prominenten - womit offensichtlich auch du gemeint bist -, diese verwöhnten Dinger, müßten während des Studiums besonders hart angepackt werden.«

Claus Salzbach erschrak. Wenn das stimmte, waren es dann nicht dieselben Worte, die soeben auch er in seinen Gedanken benutzt hatte? Hart machen und Lappalien, verwöhnt, hysterisch ...

»Ja, und seitdem«, fuhr sie fort, »seit ich nicht mucksmäuschenstill bin, sondern kritisch meine Meinung sage, den Mund nicht halte, wenn mir etwas nicht paßt, nicht den Duckmäuser spiele, den Heuchler, wozu ihr beide mich, du und Mutti, stets ermutigt habt - seitdem, spätestens seitdem behandeln sie mich wie einen Feind. Ich muß Spießruten laufen.«

Mehrmals versuchte er, sie von ihrem Thema abzulenken. Doch es gelang ihm nicht. Claudia war darin so sehr verstrickt, daß sie offenbar nichts anderes mehr denken konnte, es alles andere in ihr überwucherte.

Darüber berichtete er auch dem Arzt.

»Sie hat das Vertrauen verloren«, sagte er. »Das Vertrauen zu den Menschen, mit denen sie zu tun hat, selbst zur Partei, deren Mitglied sie gerade wurde, und vielleicht schlimmer noch: zu unserer Gesellschaft insgesamt.«

Noch schwebte ihm das Bild vor Augen, das sich ihm geboten hatte, als sie voneinander Abschied nahmen. Sie umklammerte seinen Hals. Ihr Körper bebte. Und sie weinte und bettelte: »Komm bald wieder, Vati, komm bald wieder. Laß mich nicht allein.«

Obwohl es nur hingehaucht war, in ihm hallte es nach wie ein Schrei.

3. Kapitel

Alle Post, die er privat von daheim erhielt, lief über das Außenministerium an ihn nach Paris, und so war ihm von dort auch die Nachricht von Claudias plötzlicher Erkrankung mitgeteilt worden. Das Telefonat erreichte ihn im Hauptquartier der Unesco, jener Organisation der Vereinten Nationen, die sich um die Zusammenarbeit der Völker auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur bemüht.

Er war soeben aus dem Japanischen Garten im Hof des ypsilonförmigen Gebäudes, wo er sich nach einem hastigen Mittagessen noch ein wenig die Füße vertreten hatte, in sein Büro gekommen, als schon der Apparat schrillte. Die Zentrale in Berlin meldete sich. Er wurde weiterverbunden.

Nein, obwohl man ihm nicht hatte sagen können, wie es um Claudia beschaffen und von welch genauer Ursache ihre Krankheit war, klang die Nachricht nicht gut. Seine Tochter, hieß es, sei mit den Nerven zusammengerutscht, und er solle auf schnellstem Wege einen Flug buchen und in die Heimat zurückkehren.

Danach holte er sich sofort die Erlaubnis ein, seinen Jahresurlaub, der ohnehin bevorstand, um eine Woche vorverlegen zu dürfen, ließ sich von der Place de Fontenoy nach Boulogne fahren, wo er, wie viele hier ansässige Bürger der Republik, in einem Hochhaus nahe dem Park eine Dreiraumwohnung zur Miete besaß, und begann eilends seine Koffer zu packen.

Die Ungewißheit plagte ihn am meisten, und seine Erregung steigerte sich von Stunde zu Stunde, so daß er vorerst sogar vergaß, was er noch unbedingt vor dem ursprünglich geplanten Antritt seines Urlaubs, in der letzten Woche seines hiesigen Aufenthalts, hatte erledigen wollen. Claus Salzbach, Doktor sowohl der Philosophie als auch der Pädagogik, galt, da er zugleich mehrere Sprachen beherrschte, fließend französisch, englisch und spanisch sprach, als Experte in der Bekämpfung des Analphabetentums in den unterentwickelten Ländern, besonders Afrikas und Lateinamerikas. Hierin vor allem hatte er sich seine Verdienste erworben. Sozusagen in zweiter Mission war er aber auch dazu befugt, die Interessen der Republik in der Informationspolitik zu wahren, und gerade was sie betraf, schien sich mal wieder der Streit zwischen den reichen und den armen Nationen zuzuspitzen. Obwohl es seit Jahren eine für alle Mitglieder der Unesco verbindliche Regelung gab, in Form einer von ihnen feierlich unterzeichneten Deklaration, versuchten die Vertreter der kapitalistischen Staatengruppe, sie erneut zu hintergehen und sich des Nachrichtenmonopols für ihre Agenturen und Massenmedien zu bemächtigen. Er hatte darüber genügend Beweise gesammelt, hatte das Material in seinem Schreibtisch zu liegen und brauchte es nur noch zu ordnen, bevor er es dem zuständigen Sekretär für Kommunikation, zur Zeit einem Senegalesen, überreichte. Doch nun mußte er darauf verzichten, konnte er seinen Bericht erst nach seiner Rückkehr verfassen. Er bedauerte es, als er sich dessen besann. Aber Claudia, seine Sorge um Claudia gestattete ihm nichts anderes.

Nach dem tragischen Tod seiner Frau bedeutete Claudia ihm alles. Nicht nur einmal hatte er ihretwegen bereits überlegt, ob er nicht seinen Dienst im Ausland quittieren, um seine Abberufung bitten sollte. Das Kind braucht mich jetzt, dachte er, dringender als je zuvor. Und seit dem Mittag: Was ist geschehen, mein Liebes, mein alles?

Er gönnte sich keine Pause, räumte auf und suchte immer wieder die Wohnung ab, öffnete zum wiederholten Male Schränke und Schubfächer, um zu überprüfen, ob er auch nichts übersehen habe, was er einpacken wollte. Ein paar Geschenke für Claudia hatte er schon in den Tagen zuvor gekauft, in Supermärkten, wo die Preise weit erschwinglicher waren als in den glanzvollen Geschäftsstraßen der Stadt zwischen dem Palais-Royal und der Oper. Zwischendurch erhielt er von der Botschaft die Bestätigung, daß sein Flug gesichert sei, er in aller Frühe mit einer Maschine starten könne, und der Fahrer, der ihn nach Orly bringen werde, das Ticket bei sich habe. Über Amsterdam, wie üblich, wußte er, würde er fliegen und in Berlin-Schönefeld landen. Von dort könnte er mit dem nächsten Zug bereits am Nachmittag in W. sein. Oh, wie lang, wie unheimlich lang wurde ihm jetzt das Warten. Zäh, als würde in jedem Moment ihr Mechanismus versagen, bewegten sich die Zeiger der Uhren, und blickte er von einer zur anderen, schien es noch immer nicht später geworden zu sein.

In letzter Zeit hatten ihn zunehmend bereits Claudias Briefe in Unruhe versetzt. Doch da hatte er nicht im entferntesten schon ahnen können, daß sie sogar zu Tabletten greifen würde, um aus dem Leben zu scheiden.

Aus dem Leben ... Seine Claudia! Der Gedanke daran ließ ihn später erstarren.

Aber hatte er selber denn, er als ihr Vater, ihre Klagen und mehr, ihre Verbitterung, ihre Verzweiflung, wie zwischen den Zeilen zu lesen, ernst genommen? Hatte er nicht statt dessen gedacht: Du bist zu sensibel, mein Mädchen, eine Portion Härte täte dir not, Stehvermögen, Widerstandskraft ...

Claus Salzbach vertrat die Republik seit zwanzig Jahren im Ausland. Seine erste Station hieß Ägypten, sein Einsatz dort war unmittelbar nach dem Überfall der Israelis, dem unseligen Sechs-Tage-Krieg, erfolgt. In Vietnam hatte er als Kulturattaché gearbeitet, zur selben Zeit, in der die Offensive begann, die beiden Armeen, aus dem Norden und dem Süden, sich vereinigten und in einer großangelegten militärischen Operation die Entscheidung erzwangen, indem sie in nur wenigen Wochen bis Saigon vorstießen und das Land von der amerikanischen Fremdherrschaft befreiten. Seither aber auch, seit zwanzig Jahren, hatte er die Republik nur noch im Urlaub erlebt, zumeist sogar an gedeckten Tischen in Ferienheimen. Er fragte sich, ob er die Verhältnisse in ihr noch kannte, so gründlich jedenfalls, wie es nur jene vermochten, die täglich davon betroffen waren, sie am eigenen Leibe zu spüren bekamen, mitten in ihnen steckten. Welche Veränderungen hatten sich da vollzogen und welche nicht? Wohin trieb sie, die Republik ... Aus den Zeitungen allein konnte er sich wohl kaum ein Bild von ihr machen, am wenigsten davon, wie die Menschen in ihr miteinander umgingen. Also: War seine Sicht auf sie denn noch realistisch, aus der Ferne, von Kairo, Hanoi und jetzt von Paris aus?

Claudia, hatte er soeben erfahren, litt unter einem Nervenschock. Warum, weshalb? Waren wirklich die Umstände daran schuld, die sie ihm in ihren Briefen geschildert hatte? Oder lag es nicht doch an ihrer labilen Konstitution, die, wie er bisher geglaubt, immer dann versagte, wenn sie die Wirklichkeit nicht mit ihren Idealen in Übereinklang zu bringen vermochte?

Bei diesen bohrenden Fragen neigte der Abend sich seinem Ende zu. Die Nacht überfiel ihn mit tausend häßlichen, gespenstischen Gesichtern, Dämonen, die ihn das Ärgste befürchten ließen. Er versuchte zu schlafen, wenigstens auszuspannen von seinen Vorstellungen, die ihn unentwegt quälten. Doch er blieb wach, tat kein Auge zu.

Nein, es hatte keinen Sinn. Zu sehr weilte er mit seinen Gedanken bereits in W. , bei ihr, beklemmte ihn die Angst um sie. Er kleidete sich an, reisefertig, nachdem er noch einmal geduscht und sich rasiert hatte, und trat auf den Balkon hinaus.

Paris breitete sich noch lichterhell vor ihm aus. Sein Blick schweifte über das 16. Arrondissement, hinter dem sich, von Scheinwerfern angestrahlt, bronzefarben und steil den Himmel teilend, der Eiffelturm erhob, in dessen Umfeld sich auch, was jedoch nur zu ahnen war, das Unesco-Gebäude befand. Sonst genoß er stets diese Aussicht, empfand die Lage seiner Wohnung in solch luftiger Höhe als Glücksfall, doch diesmal wollte ihm auch das nicht gelingen. Es war eher ein Starren in die Dunkelheit, ins Leere, dem er sich hingab. Paris, das unvergleichliche, mit seinem Lärm auf den Plätzen und Boulevards, den Champs-Elysees etwa von der Place de la Concorde bis zum Arc de Triomph, aber auch mit seiner plötzlichen Stille seitab vom dichtesten Trubel, in den engen, gassenähnlichen Straßen voller Cafés, Brasseries und von Marquisen beschatteten Restaurants, am Montmartre wie in St.-Germain-des-Prés, im Quartier latin - in diesem Moment jedoch wurde die Stadt ihm zur Last, zur Fessel. Sie band ihn fest, und er wollte doch zu Claudia fliegen.

Er entsann sich ihres letzten Briefes und eilte zurück ins Zimmer. Dort bewahrte er ihn noch, auf seinem Schreibtisch, zur Hälfte beschwert von dem metallenen Ständer, der unter Glas ihr Foto trug, aufgenommen vor Sacré-Coeur, sie und Martina Arm in Arm.

Der Brief war vom elften September datiert.

»... doch bitte, laß Dich nicht davon beunruhigen. Zeitweilig, wohl in Auswirkung der Prüfungen, hatte ich zwar einen zu hohen Blutdruck (ich konnte ihn ja selbst an mir kontrollieren), aber auch der Arzt hat ihn nun wieder als völlig normal bezeichnet, 120:75. Frau Baumholder jedoch, wegen der paar Tage, die ich krank gemeldet war, machte nachträglich eine Staatsaktion daraus. Moralpredigt, schlimmer, Drohungen. Mein angeblich krankhafter Blutdruck sei ein Zeichen dafür, daß ich den Pflichten einer Hebamme körperlich kaum gewachsen sei. Und überhaupt, von meinen Eltern sei es unverantwortlich (und daß Mutti gestorben ist, darüber kein Wort), mich allein hier im Lande zu lassen. Sie wolle Euch (Dir natürlich) umgehend schreiben und Dich auffordern, entweder in die Republik zurückzukehren und Dich um mich zu kümmern, oder ich müßte mein Studium abbrechen. Keine weitere Begründung, Vati, bitte, glaub mir, keine einzige. Ich könnte die Tante vergiften ...«

Das kann doch nicht wahr sein! hatte er beim ersten Lesen gedacht, und er dachte es jetzt erneut. Ich muß mit dieser Leiterin sprechen, sobald ich in W. bin. Es muß doch möglich sein, eine Verständigung zu erreichen, von Mensch zu Mensch, zwischen Kommunisten erst recht. Denn war sie nicht auch Genossin? Wenn Claudia nicht übertrieb, was aber sollte dann vor allem die Anmaßung, über ihn und seine außenpolitische Tätigkeit befinden zu wollen?

Endlich vernahm er die Glocke. Durch die Sprechanlage bat er den Fahrer, heraufzukommen und ihm beim Tragen seines Gepäcks zu helfen.

Jetzt wirkte Paris wie ausgestorben. Die Straßen waren leergefegt. Nur ein paar Taxis begegneten ihnen, Müllautos und Kehrmaschinen, die von Männern dunkler Hautfarbe bedient wurden.

Um diese Zeit, dachte er, fünf Uhr morgens, zeigt die Stadt sich ohne Schminke.

4. Kapitel

Martinas Eltern wohnen in der Nähe von W., in einem Dorf namens Wellaune, vor einer nur dünnbesiedelten, waldreichen Heidelandschaft und schon tief in den Niederungen des Muldeflusses. Hier waren einst, an einem ebensolchen sonnenüberfluteten Herbsttag, dem Kaufmann Hans Kohlhase aus Cölln an der Spree, als er zur Leipziger Messe reisen wollte, auf Befehl des Junkers von Zaschwitz zwei Pferde aus seiner Koppel gestohlen worden, woraus sich ein langwieriger Rechtsstreit entwickelte, der schließlich damit endete, daß Kohlhase, nach Berlin gelockt, dort zum Tode verurteilt, aufs Rad geflochten und hingerichtet wurde.

Obgleich bereits vor rund vierhundertundfünfzig Jahren geschehen, erinnerte sich noch mancher in der Gegend dieser Historie, zumal sie ja auch ihren literarischen Niederschlag gefunden, und besonders Martina hatte ihm, Claus Salzbach, oft davon erzählt, ohne allen Ernst freilich, vielmehr stets in ihren aufgeräumtesten Stunden und mit den Worten: Ich will dich nur warnen, damit du siehst, was du dir mit mir an den Hals gebunden hast. Ich bin nämlich ein illegitimer Nachkomme von Kohlhases Räuberbrut, die hier gewütet, die Frauen vergewaltigt und einmal sogar W. an den Ecken aller vier Himmelsrichtungen in Brand gesteckt hat.

Die beiden Alten hatten den Tod ihrer so lebensfrohen Tochter längst noch nicht verwunden, und um so mehr hingen sie jetzt, vorgezogen all ihren anderen Enkelkindern, an Claudia.

Nun fragten sie ihn sofort nach ihrem Befinden, als Claus Salzbach, ihr Schwiegersohn, von der Klinik zurückkehrte. Er sah ihnen das ungeduldige, überaus bange Warten an und versuchte sie zu trösten: »Ach, es wird schon wieder werden. Es braucht nur ein wenig Zeit noch, damit sie sich festigt ...«