4,99 €
Die Reise der Kinder der Engel geht weiter… Flo, Miriam und Daniel haben es getan – sie haben einen der verlorenen Splitter in das Herz der Engel eingesetzt, wie die Prophezeiungen es besagten. Aber dies hat ungeahnte Konsequenzen, und zwar vor allem für Daniel, der damit als erster Mensch der ungebremsten Kraft der Wandler ausgesetzt war. Was wird aus einem Menschen, der auf einmal Energie manipulieren kann? Wie reagiert der Rat der Jäger auf die Rebellion seiner Verheißenen? Und was wollen die Dämonen? Oder sollte man sie besser Schattenwandler nennen? Flo, Miriam und Daniel fangen zunehmend an, alte Legenden herauszufordern … Dämonenspung ist der zweite Teil der abgeschlossenen Fantasy-Trilogy Die Kinder der Engel.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 526
Veröffentlichungsjahr: 2025
Warnung
Prolog
Kapitel 1: Florian – Inselleben
Kapitel 2: Miriam – Gedankensprünge
Kapitel 3: Florian – Ein Heim, ein Zuhause
Kapitel 4: Daniel – Familienbande
Kapitel 5: Miriam – Kein Heim, kein Zuhause
Kapitel 6: Florian – Der Rat der Jäger
Kapitel 7: Daniel – Versuchungen
Kapitel 8: Miriam – Rituale
Kapitel 9: Florian – Vater und Sohn
Kapitel 10: Daniel – Höllenwelt
Kapitel 11: Miriam – Verständnis
Kapitel 12: Florian – Liliths Garten
Kapitel 13: Daniel – Opfer
Kapitel 14: Miriam – Nummer Zwei
Kapitel 15: Florian – Herr der Gezeiten
Kapitel 16: Daniel – Veränderte Welt
Kapitel 17: Miriam – Wächter
Kapitel 18: Florian – Der Rat mischt sich ein
Kapitel 19: Daniel – Von Kindern und Eltern
Kapitel 20: Florian – Verluste
Kapitel 21: Miriam – Außer Kontrolle
Anhang
Personen
Quellen und Zitate
Diese Geschichte beinhaltet Dämonen und Götter der verschiedensten Ursprünge, völlig unabhängig davon, zu welcher Religion sie gerechnet werden. Wenn jemand einen Kurs in Dämonologie oder Theologie absolvieren möchte, soll er sich bitte eine andere Lektüre suchen ;-)
Und noch eine...
Ja, dieses Buch (oder besser: diese Bücher) ist/sind aus verschiedenen Perspektiven geschrieben. Ja, am Anfang sind es zwei, und dann kommen noch zwei dazu. Aber dabei bleibt es auch – versprochen!
Dies ist der zweite Teil der Trilogie der Kinder der Engel und knüpft nahtlos an den ersten an …
Es geschah an einem ganz normalen Morgen, dass der Himmel über der Wüste strahlendhell wurde, so hell, dass sogar der sonnenverwöhnte rote Sand flirrte und die Tiere der Wüste hektisch in ihre Verstecke flohen.
Natürlich sahen es auch die Menschen der nahen Stadt, und die, welche auf den Straßen unterwegs waren, welche die Wüste erkunden wollten. Sie sahen es, und wandten sich schnell ab. Gut ein Jahr war es her, dass Dämonen begonnen hatten, ihre Welt heimzusuchen. Man war klug geworden. Wenn der Himmel voll Licht erstrahlte, suchte man lieber das Weite.
Es hörte irgendwann auf. Das tat es immer.
Flo hätte fast das Gleichgewicht verloren und wäre neben Daniel auf dem Boden gelandet, als sie plötzlich und unvermutet die Lokalität wechselten. Er konnte sich gerade noch abfangen. Miriam taumelte überrascht gegen ihn. Daniel hingegen rappelte sich hoch, stolperte ein paar Schritte vorwärts in den Urwald – den Urwald! – brach dort wieder zusammen und übergab sich heftig.
Flos Augen trafen Miriam, genauso erschrocken und riesengroß wie seine eigenen.
Wo eben noch rote Wüste und Legionen von Feinden gewesen waren, wo sie gerade noch den Splitter in das Herz der Engel eingesetzt hatten, umgab sie jetzt ein dichtes, in den Himmel ragendes Grün. Es war dämmerig, meterhohe Pflanzen fingen jegliche Sonnenstrahlen ab. Sie standen tatsächlich mitten in einem feuchten, tropenhaft warmen Urwald.
Wie war das möglich?
Wie war überhaupt möglich, was geschehen war?
Miriam, sonst doch immer so kühl und beherrscht, wirkte erschüttert. Himmel, wenn sie schon so ausschaute, wie musste er erst dann wirken! Und Daniel – Daniel ...! Er kauerte vor ihnen, nur wenige Schritte entfernt, ein Häufchen Elend.
„Flo!“, flüsterte Miriam.
Ja, er konnte es ebenfalls sehen. Er konnte es sehen, aber nicht glauben – genauso wenig, wie er glauben konnte, dass sie sich in einem Urwald befanden, wo sie doch Minuten, Sekunden zuvor noch in der Wüste gestanden hatten.
„Flo!“, wiederholte Miriam, diesmal drängend.
Ja. Das Wichtigste zuerst. Gemeinsam mit Miriam überwand er die kurze Distanz, sank neben Daniel in die Knie, legte seine Hand auf dessen Schulter. Daniel zuckte zurück, aber Flo ließ nicht los. Miriam begann, in ihrem Rucksack zu kramen.
„Hey, Mann“, sagte Flo, weil ihm nichts Besseres einfiel, „ist ja gut. Wir sind sicher, vorerst ... denke ich ...“
„Sicher?“, würgte Daniel hervor.
„Hier“, meinte Miriam, „nimm dies. Trink einen Schluck.“
Miriams Allheilmittel, eine Flasche Wasser. Irgendwie war es ein Hauch Normalität inmitten all dieses Unnormalen, so dass Flo plötzlich wieder leichter atmen konnte.
„Nimm schon“, drängte er sanft, und war froh zu sehen, wie Daniel mit zitternder Hand danach tastete, einen Schluck nahm, und dann die Flasche hastig zu Miriam zurückstieß und die Hände wieder zu Fäusten ballte.
Also hatte er sich doch nicht getäuscht. Er legte seine Hand über Daniels.
„Es ist okay“, sagte er, „nichts wird passieren. Beruhige dich.“
„Okay?“, sagte Daniel hektisch, „okay? Wie kann das okay sein? Ich bin ... ich habe ... was ist denn ... was ist nur mit mir geschehen?“
Flo wechselte wieder einen Blick mit Miriam. Der süßsaure Geruch des Erbrochenen stieg in seine Nase und ließ ihn beinahe selber würgen.
„Komm erst einmal weg hier“, sagte er, „na los, Mann. Komm schon. Oder bist du jetzt doch die Jungfrau ...?“
Daniel stieß ein kurzes Lachen aus, das in einem abgehackten Schluchzer endete, aber er ließ sich hochziehen. Miriam packte seinen anderen Arm, und gemeinsam suchten sie sich den Weg durch das grüne Dickicht. Sie hatten Glück. Nach nur ein paar Metern erreichten sie so etwas wie eine Lichtung. Hier ließen sie Daniel los, der gleich wieder in sich zusammensackte.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Miriam ihn mit gerunzelter Stirn.
„Wie soll ich mich schon fühlen?“, begehrte Daniel mit mehr als nur einem Hauch Hysterie auf. Flo packte wieder seine Schulter und schüttelte ihn leicht.
„Antworte richtig“, forderte er mit Nachdruck.
Das schien zu Daniel durchzudringen. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, und bewegte Arme und Beine, Nacken, Finger, ohne seine Fäuste richtig zu lösen. Er hob den Kopf.
„Anders“, sagte er schließlich, „irgendwie anders. Aber nicht verletzt, oder etwas in der Art. Einfach nur ... anders.“
„Tja“, meinte Flo und ließ sich neben ihm zu Boden plumpsen, „das wird wohl so sein, weil du jetzt anders bist.“
Daniel sah auf, und Flo erschrak insgeheim vor der Pein in seinen Augen.
„Wie anders?“, flüsterte Daniel.
Miriam setzte sich auf seine andere Seite und nahm seine Faust in ihre Hände, untypisch für sie, aber wohl genau das Richtige.
„Ich weiß nicht wie, und ich weiß nicht wieso“, sagte sie mit dieser ruhigen, vernünftigen Stimme, „aber du bist jetzt ein Jäger.“
Daniel holte zischend Luft. Sie hielt seine Hand fest und begann, seine Finger einzeln zu lösen.
„So ganz korrekt ist das nicht“, gab sie zu, „im Grunde bist du immer noch ein Mensch, aber einer mit den Fähigkeiten der Jäger. Du hast es ja selbst gesehen. In deiner Aura kann man es sehen.“
„Vielleicht hat Koro das Jägerblut in dir aktiviert“, mutmaßte Flo und fasste mit an, um Miriam zu helfen.
„Eine Möglichkeit“, meinte sie, „na los. Zeig es uns.“
„Hab keine Angst“, sagte Flo beruhigend.
Daniel gab zögernd nach, öffnete seine Faust, und durch seine nach oben gewandte Handfläche stieg ein grauer Glanz auf, löste sich und schoss wie eine Klinge hinauf.
„Hey, ganz ruhig“, sagte Flo und legte seinen Arm um Daniels Schulter, „beruhige dich und vertrau uns. Weißt du noch, wie es im Sinai war?“
Abgelenkt sah Daniel ihn an. Im Sinai hatte Flo fast die Kontrolle über seine Kraft verloren, und Miriam ebenso, weil sie ihn aufzuhalten versuchte. Daniels Hand wollte wieder zur Faust werden. Sie hinderten ihn gemeinsam dran.
„Aber genauso hast du das damals auch gestoppt“, wisperte Daniel. Seine Stimme zitterte.
„Weil ich überrascht war, und erschrocken“, sagte Flo, „so wie du jetzt. Das Geheimnis liegt jedoch nicht darin. Das Geheimnis liegt in dir. Du kannst es kontrollieren.“
„Stell es einfach ab“, forderte Miriam.
„Wie?“, flüsterte Daniel.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ich stelle mir immer vor, ich verschließe es in mir“, sagte sie, „wie eine Tür, die ich zumache. Versuch es.“
„Pack es in einen Korb, schubs es in einen Brunnen, sperre es in eine Kiste, was auch immer“, schlug Flo vor.
Miriam schnaubte.
„Zu viele Bilder“, sagte sie, „sind wenig hilfreich, Flo!“
Aber eines davon schien zu funktionieren, irgendwie. Der graue Glanz wurde geringer, dünner, und verschwand schließlich ganz.
„Na, geht doch“, murmelte Flo.
Sie ließen Daniels Hand behutsam los, und er begann automatisch, sie mit der anderen zu massieren. Flo fragte sich, ob ihm bewusst war, dass er damit seine zweite Faust geöffnet hatte. Vermutlich nicht. Aber er würde den Teufel tun, Daniel darauf hinzuweisen und vermutlich wieder in Panik zu versetzen.
„Du bist ein echter Musterschüler“, sagte er anerkennend, „meditieren, Auren erkennen, Energie kontrollieren – nichts, was du nicht schaffst, was? To... Wir können stolz auf dich sein!“
Miriam warf ihm einen Blick zu. Natürlich war ihr seine Entgleisung nicht entgangen, wenn sie auch zu seiner Erleichterung nicht darauf einging.
„Ich fühle mich momentan gar nicht so, als ob ich irgendetwas unter Kontrolle hätte“, sagte Daniel unglücklich, „wo sind wir? Wie sind wir hier hingekommen?“
Erneut sah Flo Miriam an.
„Teleportation“, murmelte sie.
Er seufzte.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir sind“, gab er zu, „die Namib ist dies sicherlich nicht. Und wie wir hergekommen sind ... nichts für ungut, mein Bester, aber zu Miriams und meinen Gaben gehört dies nicht.“
Daniel wurde wieder so geisterhaft bleich, und Flo verstärkte unwillkürlich seinen Griff um seine Schultern. Miriam nahm erneut seine Hand.
„Aber ... aber ...“, flüsterte Daniel, „das ist doch nicht möglich! Das kann doch nicht sein!“
„Es sieht ganz so aus, als wäre es möglich“, sagte Miriam ruhig.
Flo hätte sie für ihre Gelassenheit küssen können. Ah, wem machte er was vor. Er wollte sie so oder so küssen, vor allem nach Zach. Aber er riss sich zusammen.
„Da wir offenbar irgendwo am anderen Ende der Welt sind“, meinte er, „und vermutlich niemand kapiert hat, was geschehen ist, oder zumindest nicht sofort ...“
„ ... und keiner weiß, wo wir sind ...“, steuerte sie bei.
„ ... haben wir genügend Zeit, um all dies herauszufinden“, schloss Flo, „na los, mein Freund. Suchen wir einen Platz, wo wir uns ein Lager bauen können. Eines sollte dir natürlich klar sein.“ Er sprang auf und war mehr als nur dankbar, als Daniel zitternd auf die Füße kam und ihn verwirrt anschaute.
„Was?“, meinte er.
Flo grinste ihn an, so unverschämt, wie er nur konnte.
„Die Jungfrau in Nöten bist du jetzt mit Sicherheit nicht mehr“, spottete er, und wurde nicht nur von einem wackligen Lachen Daniels belohnt, sondern auch von einem prustenden von Seiten Miriams.
Sie fanden schließlich einen Bach, dem sie folgten, bis er sich über einen Felsen zu einem kleinen Teich ergoss. Hier, am Ufer im Schutz der Steine, war genügend Platz für ein Lager. Da sie keine Ahnung hatten, wo sie waren, und keiner von ihnen Daniel allein lassen wollten, wechselten Flo und Miriam sich damit ab, für so alltägliche Sachen wie einen sicheren Schlafplatz, ein Dach über den Kopf, eine Feuerstelle und Essen zu sorgen. Letzteres hatte Miriam erledigt, die ihre Kraft wie eine Schlinge benutzt und ein Tier darin gefangen hatte. Zudem brachte sie Beeren und Früchte mit, die man ihr zufolge gefahrlos essen konnte.
Flo würde ihre Einschätzung nicht hinterfragen.
In ihrem Rucksack fand sich ein Messer für die Zubereitung. Es war ein kleines Wunder, dass sie ihre Rucksäcke aufgehabt hatten, eigentlich als Schutz gegen unerwartete Treffer, und nun als Schutz in einer fremden Welt. Die Schlafsäcke hatten sie leider nicht, aber es war warm genug, und mit den krabbelnden Insekten und sonstigem Viehzeug musste man sich einfach anfreunden. Sie aßen schweigend heißes Fleisch und süße Früchte, und tranken das klare Wasser des Sees dazu.
Die Dämmerung kam rasch und endete schnell in tiefer Nacht. Flo war dankbar, dass sie einiges an brennbarem Material in diesem feuchten Wald zusammengetragen hatten. Vielleicht mochten sie selbst die gefährlichsten Wesen in diesem Urwald sein – die Frage blieb, ob die anderen Raubtiere das auch wussten. So lag der warme, sichere Schein des Feuers auf Daniels Gesicht, während er erschöpft daneben schlief. Miriam säuberte ihre wenigen Utensilien im See. Hier schien wenigstens ein bisschen Mond durch die sonst so dichten Blätter.
Flo trat zu ihr, sobald sie sich aufrichtete, und legte seinen Arm um ihre Schultern. Nach einem kurzen Moment gab sie nach und lehnte sich gegen ihn.
„Viel geschehen heute“, murmelte er.
Sie nickte, seufzte und warf einen Blick nach hinten, wo Daniel wie ein Toter lag.
„Ja“, sagte sie, „wir sollten ihn die nächsten Tage auf keinen Fall allein lassen.“
„Auf keinen Fall“, stimmte Flo ihr zu, behielt jedoch seinen Arm dort, wo er war.
Mit keinem Wort ging er darauf ein, was nach den nächsten Tagen geschehen sollte – was überhaupt geschehen sollte, jetzt, unter diesen veränderten Voraussetzungen.
Er war einfach nur froh, dass sie für den Moment dort blieb, wo sie war, in seinen Armen.
*
Später sollte Flo die folgende Zeit als die vermutlich friedlichste und freieste seines Lebens in Erinnerung behalten.
Es war alles so schnell gegangen bis hierher – die Suche nach Zach, die zu einer Suche nach dem Herzen wurde, und dann diese Aufgabe, die sie entgegengenommen und mit derart unerwartetem Resultat ausgeführt hatten. Es schien ihm, als kämen sie erst jetzt zum Luftholen, zum Nachdenken, zum Sich-Setzen-Lassen der Ereignisse, jetzt, wo Daniel sie praktisch dazu zwang.
Am ersten Tag weigerte er sich schlicht, überhaupt etwas zu tun, sich überhaupt mit der Situation auseinanderzusetzen, und so ließen sie ihn in Ruhe, ließen ihn im Lager, wenn auch nie allein, und versuchten, sich ein wenig zu orientieren und ihre Unterkunft wohnlicher zu gestalten. Es war schon an diesem ersten Tag, dass Flo etwas auffiel, etwas, was bereits seit dem Vortag nachdrücklich in seinem Hinterkopf rumort hatte.
Er schob es erst einmal zurück.
Was er sich jedoch am zweiten Tag nicht nehmen ließ, war, auf den höchsten Baum zu klettern, den er fand – und das war wahrhaftig nicht einfach, denn in diesem Wald hatte kein Baumriese niedrighängende Zweige.
Flo hatte ein Seil, einen selbstgebauten Anker und eine Menge Entschlossenheit.
Dennoch dauerte es eine Weile, bis er den Stamm erklommen, sich in den hohen Ästen weiter vorgearbeitet und schließlich die Baumkrone erreicht hatte. Er wickelte seine Beine gut um einen kräftigen Ast und sah sich um. Sie befanden sich auf einer Insel. Sie befanden sich auf einer ziemlich kleinen Insel, und diese schien auch ziemlich allein mitten im Nirgendwo zu liegen. Das bedeutete, wenn sie von hier wieder weg und zurück in die Zivilisation wollten, musste Daniel lernen, mit seinen neuen Fähigkeiten umzugehen.
Vorausgesetzt, diese waren keine Eintagsfliege gewesen, dachte Flo bei sich.
Er hatte seine Beine noch verhakt, als Miriams Stimme auf einmal in seinem Kopf erklang, und das war gut so, denn wäre er bereits beim Abstieg gewesen, wäre er vermutlich gestürzt.
Flo! Wo bist du?
Wusste sie, was sie da tat? Bei Miriam rechnete Flo mit allem. Er hingegen hatte nicht mit Telepathie gerechnet. So klammerte er sich lieber am Baum fest und schluckte einmal, bevor er sich an einer Antwort versuchte.
Über den Wolken, antwortete er, wie machst du das?
Einen Moment war Stille. Dann hörte er sie wieder.
Komm einfach her.
Nun gut. Das konnte alles bedeuten und gar nichts. Das konnte bedeuten, dass Daniel in Panik geraten und ohne sie verschwunden war, sie damit für immer auf einer einsamen Insel inmitten eines Ozeans aussetzend. Es konnte natürlich auch bedeuten, dass Daniel schlief und Miriam ihn nackt und allein im Wasser erwartete – ja, man würde ja wohl noch träumen dürfen. Er wäre fast abgerutscht bei dieser Vorstellung. Also konzentrierte er sich lieber auf die direkt vor ihm liegende Aufgabe und machte sich rasch und präzise an den Abstieg. Der mühsame Weg den glatten Stamm hinauf, nur mithilfe eines Seiles, war zurück so einfach, dass er fast gelacht hätte. Wieder auf dem Boden holte er sich sein Seil zurück und begab sich zügig zu ihr.
Das Lager war friedlich, soweit er dies sehen konnte. Sie hatten sich in einer Ausbuchtung der Felswand einen Schlafplatz gebaut, erweitert durch ein kleines Vordach als Schutz gegen die immer mal wieder aufkommenden Regenfälle. In dieser Aushöhlung lag ein Bündel, das durchaus der zusammengerollte Daniel sein konnte. Das Feuer brannte, und Miriam hatte einen weiteren Vogel an grünen Ästen darüber gehängt. Sie stand am Wasser.
Flo stibitzte sich eine dieser seltsamen Früchte und biss hinein, während er zu ihr trat.
„Was gibt es denn?“, fragte er, „und ehrlich, so cool dein neuer Trick auch sein mag, ich würde es vorziehen, wenn du mir auf traditionelle Art und Weise antwortest.“
Sie drehte sich zu ihm um, die Brauen hochgezogen.
„Ich?“, erwiderte sie, „ich habe damit nicht angefangen!“
Er ließ die Hand mit der Frucht sinken.
„Du hast mich gerufen“, beharrte er.
Sie rollte mit den Augen.
„Ja“, sagte sie, „mehrfach. Weil du eine Ewigkeit weg warst, das Essen gleich fertig ist und ich vorher baden wollte! Und wir waren uns doch einig, dass er“, eine Kopfbewegung wies auf das Bündel unter dem Vordach, „zurzeit nicht allein bleiben soll!“
Flo starrte sie an.
„Du wusstest es nicht?“, hakte er nach.
„Wusstest du es?“
„Bis ich deine Stimme in meinem Kopf hörte, nein.“
„Nun, sei versichert, ich habe ganz normal gerufen“, sagte sie bissig, „es kann allerdings sein, dass ich irgendwann ein wenig ungeduldig wurde!“
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Was hast du gehört?“, fragte er vorsichtshalber.
„Deine Stimme in meinem Kopf, ohne Vorwarnung“, erwiderte sie vorwurfsvoll.
„Was genau?“
„Ich ... Warte. Über den Wolken, hast du gesagt. Wieso warst du über den Wolken?“
„Du hast mich wirklich gehört?“
„Du scheinst mich ja auch gehört zu haben!“, schoss sie zurück.
Daniel wälzte sich herum und setzte sich auf.
„Schreit nicht so“, murrte er, „ist das wirklich neu? Ich habe eure Stimmen doch auch gehört, als ... na, als es geschah.“
Jetzt starrte Flo ihn an. Daniel sah schrecklich aus – Schatten unter den Augen, die Haare unschön zerwühlt, und die Flecken auf dem T-Shirt waren ebenfalls schon älter.
„Du hast uns gehört“, sagte er.
Daniel, der zu merken schien, dass dies nicht normal war, stand auf und trat ein paar Schritte näher. Himmel, er stank auch.
„Ja“, sagte er vorsichtig, „ihr habt mich doch um Hilfe gebeten!“
Flo sah ihn an, sah Miriam an, und wieder Daniel.
„Ja!“, meinte er, „weil ich ... weil ich nicht loslassen konnte! Ich habe doch nicht gewusst, dass du mich – uns – hören kannst!“
„Ich habe euch aber gehört, alle beide“, murmelte Daniel, kam noch näher und ließ sich neben dem Feuer nieder, „allerdings habe ich euch dabei auch berührt und versucht, mit euch in Kontakt zu treten. Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“
So erfuhren sie, dass sie nun offenbar über die Gabe der Gedankenkommunikation verfügten.
Immerhin half es, Daniel aus seiner Isolation zu holen. Sie saßen um das Lagerfeuer herum, verzehrten den Vogel und redeten.
„Koro hat nicht nur dich verändert“, sagte Flo, „sondern auch uns. Oder, Miriam? Hast du es nicht gemerkt?“
„Doch“ gestand sie, „ich habe es gemerkt.“
„Was gemerkt?“, hakte Daniel nach.
„Wir sind stärker“, sagte sie nach einem Moment, „wir waren es schon im Kampf gegen die Wandler. Unsere Reichweite ist größer.“
„Und ich konnte den Schutz viel länger aufrechterhalten“, fügte Flo hinzu, „mein Durchhaltevermögen ist besser. Und nicht nur das. Ich bin gerade eben auf einen dieser Bäume geklettert. Ich meine ja nur. Ich bin noch nie zuvor auf einen Baum geklettert, nicht einmal, als ich bestens trainiert war. Nun ja – zumindest nicht auf so einen Baum.“
„Das also meintest du mit ‚über den Wolken‘“, murmelte sie. Er zuckte mit den Achseln.
Daniel sah sie beide genau an, in ihm arbeitete es.
„Ihr seid also stärker“, sagte er langsam, „alle eure Fähigkeiten?“
Flo holte tief Luft.
„Nun“, sagte er ein wenig bissig, weil es schmerzte, „ich habe derzeit ja leider nur euch, um meine andere Gabe auszuprobieren. Und so leid es mir tut – es geht nicht mehr. Ich kann es nicht mehr sehen.“
Miriam hob den Kopf.
„Du siehst unsere Emotionen nicht mehr?“, fragte sie erstaunt.
Klang da Erleichterung in ihrer Stimme mit? Flo biss sich auf die Lippen.
„Ja“, gestand er, „es ist weg. Also, zumindest bei euch ist es weg. Ist ja sonst kein anderer da.“
Sie machte eine weit ausholende Bewegung.
„Hier sind Tiere“, sagte sie.
„Als ob das jemals gut funktioniert hätte ...“
„Versuche es!“, beharrte sie.
„Fein!“, gab er nach, „später! Was ist mir dir, Cognitio?“
Sie runzelte die Stirn.
„Ich habe nichts probiert, seitdem wir hier sind“, gab sie zu, „ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht ist deine Gabe aber auch nicht weg, sondern funktioniert nur bei uns nicht mehr, Flo, weil wir jetzt miteinander verbunden sind.“
„Möglich“, murmelte er, „immerhin kann ich deine Stimme in meinem Kopf hören, selbst wenn ich eine ganze Ecke weiter weg bin.“
„Kannst du meine hören?“, fragte Daniel.
Flo sah mit heimlicher Freude, dass das Licht in Daniels Augen wieder da war, und ganz ohne Panik.
„Keine Ahnung“, offerierte er, „versuche es!“
Daniel biss sich auf die Lippen.
„Ich weiß nicht wie“, meinte er.
„Ich wusste auch nicht wie, und offenbar habe ich es trotzdem getan“, mischte sich Miriam ein, „denk einfach an ihn, ärgere dich vielleicht ein wenig über ihn, und versuch‘s. So hat es bei mir geklappt.“
Flo blies ihr spöttisch eine Kusshand zu und sah Daniel an, die Augenbrauen wartend hochgezogen.
So ...? erklang es in seinem Kopf.
„Wenn du wirklich nur diese eine Silbe sagen wolltest, dann funktioniert es“, sagte er trocken.
Daniel errötete heftig.
„Wirklich?“, rief er, und wie ein Echo erklang Wirklich? in Flos Kopf noch einmal nach.
„Aua!“, wehrte er ab, „das wird auf Dauer Kopfschmerzen verursachen! Von jetzt ab wird nur mit einer Stimme zur selben Zeit gesprochen, nicht mit beiden gleichzeitig!“
„Es funktioniert!“, freute sich Daniel.
Miriam gab ihnen ein seltenes, wahres Lächeln.
„Koro hat ganz schön etwas bei uns verändert“, meinte sie, „wir sollten uns Zeit nehmen, alles zu erforschen und neu zu lernen.“
„Wir haben auch Zeit“, seufzte Flo, „wir sind nämlich auf einer Insel gestrandet. Und sofern nicht einer von uns lernt, telepathisch ein Schiff zu rufen oder uns per Teleportation von hier weg zu bringen, bleibt uns wohl gar nichts anderes übrig.“
„Oh“, machte Daniel, „seid ihr sicher, dass ich das war?“
„Was hast du gedacht, als es geschah?“, fragte Flo, „ich weiß nämlich, dass ich nur dachte – verdammt, Daniel! Wie machst du das?“
„Ich dachte etwas ähnliches“, gab Miriam zu.
Daniel verzog das Gesicht.
„Und ich wollte einfach weg“, bekannte er, „nun gut. Lerne ich das eben. Lernen wir. Wie lernen wir?“
Flo warf einen abgenagten Knochen auf ihren Blätter-Resteteller und sprang auf.
„Erst einmal lernen wir es so, dass Miriam endlich wieder Zeit zu meditieren bekommt und du und ich, mein Bester, schwimmen gehen“, sagte er charmant, „denn mit Verlaub, du stinkst. Und hier ist ein wunderbarer See direkt vor der Haustür.“
„Vorher“, beharrte Miriam und grinste sogar, „vorher wird aber noch die Küche aufgeräumt. Dann dürft ihr schwimmen.“
So taten sie es letztendlich auch.
Vielleicht war es die Erkenntnis, dass Koro nicht nur bei ihm gravierende Auswirkungen gehabt hatte, die Daniel half, Entsetzen und Erstarren abzuschütteln. Vielleicht war er einfach nur wieder zur Vernunft gekommen. Aber immerhin räumten sie gemeinsam die Reste ihres Essens weg, dann verschwand Miriam aus dem Lager und Flo und Daniel warfen sich in die Fluten. Da ihre Kleidung nur noch aus dem bestand, was sich in den Rucksäcken befunden hatte, und Nachschub nicht in Reichweite war, wuschen sie nicht nur sich, sondern fast alles, was sie besaßen. Und sie gaben sich einer netten, kleinen Wasserschlacht hin, denn Flo, auch wenn er Daniels Trübsinn nicht mehr so sehen konnte wie früher, hatte nicht vor, ein Risiko einzugehen, und spritzte so lange, bis dieser einstieg.
Als Miriam zurückkehrte, waren sie wieder bekleidet und breiteten ihre Habseligkeiten zum Trocknen aus.
„Ich war am Strand“, sagte sie und lieferte gleich wieder ein paar Früchte ab, „vielleicht sollten wir umziehen. Und Flo hat Recht – soweit ich sehen konnte, gab es nur Wasser und keine Menschenseele.“
„Wolltest du nicht meditieren?“, mahnte er sie.
„Bei dem Lärm?“
„So nahe warst du? Hast du etwa gespannt?“
„Euch konnte man über die ganze Insel hören“, erwiderte sie, „und wovor fürchtest du dich? Bei dir gibt es nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hätte.“
Worauf Flo zugebenermaßen nichts einfiel und Daniel zu lachen anfing.
„Mund zu“, sagte er grinsend, „sonst fängst du Fliegen!“
Flo schloss den Mund mit einem hörbaren Laut, aber konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.
Noch nie zuvor hatte Miriam solche Anspielungen in Bezug auf ihn gemacht. Und sie wurde dabei gar nicht rot.
War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Daniel war bereit, seine neuen Fähigkeiten kontrollieren zu lernen. Sie waren es alle, und in den nächsten Tagen waren sie mit nichts anderem beschäftigt. Zum Glück schien es auf der Insel keine ernstzunehmenden Räuber zu geben, und zum Glück war reichhaltig Essen und Trinkwasser vorhanden. So konnten sie sich ganz darauf konzentrieren, ihre Gaben zu meistern.
Wie sie herausfanden, hatte die Telepathie ihre Grenzen. Je weiter weg sie voneinander waren, umso schwächer wurden die Stimmen. Befand sich Flo an einem Ende der Insel und Daniel am anderen, klappte es gar nicht mehr. Die verbesserte körperliche Kraft und Ausdauer der Jäger besaß Daniel jetzt ebenfalls, und zudem die wandlertypische Eigenschaft, schnell zu heilen. Das erwies sich als äußerst hilfreich, denn es gab keinen Arzt in der Nähe, und Miriam trieben sie gelegentlich zur Weißglut, wenn sie an Bäumen oder Felsen Kletterwettbewerbe anstellten, oder Rennen durch den wenig gangbaren Urwald.
„Training ist gut und schön“, schnauzte sie die beiden an, als sie wieder einmal Blessuren versorgen musste, „aber nur so weit, wie es ungefährlich ist! Muss ich euch das wirklich sagen? Hallo? Ist da noch Hirn in euren Testosteron-vernebelten Schädeln?“
Sie klopfte schmerzhaft gegen besagte Schädel, und beide gelobten reumütig Besserung.
Miriam hatte ihre Fähigkeit der Erkenntnis im Gegensatz zu Flo nicht verloren, was ein Segen war, denn nur so wussten sie, was sie von der fremdartigen Flora und Fauna gefahrlos verzehren konnten, und was nicht. Sie versuchte zwar, einen von ihnen in ihren Meditationen zu sehen und scheiterte damit, aber sie war mit der gezielten Suche auch früher nur dann erfolgreich gewesen, wenn sich alle drei verbunden hatten. So konnte es etwas bedeuten oder eben nicht.
Was das Training der Energiemanipulation anbelangte, waren sie am Anfang vorsichtig, da Daniel damit weitaus mehr Probleme hatte als mit den verbesserten körperlichen Fähigkeiten. Aber wenn er Herr über seine neue Gabe werden sollte, kamen sie natürlich nicht darum herum. Um ihm ein wenig die Sorge zu nehmen, trainierten zunächst Flo und Miriam miteinander, am Strand, wo man wenig Schaden anrichten konnte. Es war das erste Mal, dass sie überhaupt gegeneinander antraten, und von daher war Vorsicht gut angeraten.
Doch wie Flo erhofft hatte, harmonierten sie nahezu perfekt. So trainierten sie nicht nur weiter, sondern begannen wechselseitig damit, Daniel anzulernen. Wie einst bei Jacob auf der Fähre war Daniels größte Herausforderung die Kontrolle, rief er einmal die Energie herbei. Miriam war dabei die bessere Lehrerin. Sie leitete ebenso seine Meditationen an, um die Energie besser im Griff zu haben.
Und sie sorgten alle gemeinsam für ihr Lager, ihr leibliches Wohl und die alltäglichen Bedürfnisse.
Es war eine aufregende Zeit, in der sie ausprobierten, entdeckten, scheiterten und neue Wege suchten. Es war auch eine Zeit, in der sie frei waren – ohne Aufgaben, Bestimmungen oder Prophezeiungen. Sie waren auf der Insel gefangen, bis Daniel die Teleportation beherrschte – was er mit ihrer beider Hilfe immer wieder versuchte – und da Flo sich strikt weigerte zu gehen, bis er sicher sein konnte, nicht irgendwo im Marianengraben zu versinken, war ein schnelles Ende vorerst nicht in Sicht.
Es war eine schöne Zeit, in der sie, der Welt entrückt, miteinander lachten und lernten, sich aufzogen und stritten, ihre Eigenarten kennenlernten und sich gegenseitig richtig zu schätzen. Sogar Miriam legte hin und wieder ihre Ernsthaftigkeit ab und alberte mit ihnen herum. Aber was sie sonst noch so bewegte, konnte Flo nicht mehr erkennen. Und diese Tatsache traf ihn weitaus tiefer als erwartet.
Es war die Schlange in seinem Paradies. Es war, als ob er blind geworden wäre.
Zu Anfang hatte er sich bemüht, dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Konnte er eben keine Emotionen mehr sehen, na und? Er war mit Daniel und Miriam hier, den beiden wohl ehrlichsten Personen, denen er je begegnet war, und denen er vertraute.
Aber konnte er ihnen blind vertrauen?
Konnte er ihnen vertrauen, jetzt, wo sie wussten, dass er blind war?
Die Gabe, Gefühle zu erkennen, hatte ihn nie verlassen. Sie war das, was ihn in seinen finstersten Zeiten am Leben gehalten hatte, in den Zeiten, in denen er alles für ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und zu vergessen gegeben hatte. Nur weil er so genau sah, was andere fühlten, konnte er tun, was sie erwarteten, konnte er sie dazu bringen, die Dinge zu machen, die er brauchte. Flo konnte per se keine Emotionen verändern. Aber weil er sie erkannte, klarer erkannte als jeder andere, hatte er über die Jahre bis zur Perfektion gelernt, sie zu manipulieren, so wie er auch erkennen konnte, ob jemand ihn anlog oder nicht – zumindest bis jetzt.
Er war der Meister der kleinen Lügen und Tricks.
Er war, im Gegensatz zu Daniel und Miriam, alles andere als ehrlich.
Sie wussten dies. Sie tolerierten ihn trotzdem. Sie mochten ihn trotzdem, das wusste er, weil er es zuvor hatte sehen können. Daniel war so klar und eindeutig wie ein Leuchtfeuer für ihn gewesen, und Miriam, wenn auch nicht einfach zu lesen, war sein.
Sie hatte sich nie für einen anderen interessiert.
Sie hatte sich nie für einen anderen interessiert, solange er es hatte sehen können.
Natürlich hatte er Daniels Schwärmerei für sie erkannt, damals, ganz zu Anfang. Und es war einfach gewesen, ihm Andie in den Weg zu stellen, ihn abzulenken, als er leicht abzulenken gewesen war. Flo hatte diese Schwärmerei nie ganz ernst genommen, nie wirklich als Bedrohung gesehen – Cognitio und ein Mensch!
Aber da hatte er auch noch sehen können, was sie fühlten.
Und zudem war Daniel kein simpler Mensch mehr. Er lernte jeden Tag besser, mit seiner neuen Energie umzugehen, und er würde, da war Flo sich sicher, über kurz oder lang die Sache mit der Teleportation meistern. Zwischen ihm und Miriam lagen keine Gräben mehr.
Zwischen ihm und Miriam stand nur er, Flo.
Falls er da noch stand.
Beispielhaft dafür, wie schlecht er mit dem Verlust seiner Fähigkeit umgehen konnte, war eine Szene am Strand. Sie hatten alle drei nach einem erfolgreichen Tag ein Bad in den Wellen genossen und sich anschließend in der Sonne ausgestreckt, um zu trocknen. Miriam lag zwischen ihnen, auf dem Bauch, den Kopf auf den Armen und die Augen geschlossen. Flo, der erst still auf dem Rücken gelegen hatte, konnte wie so oft nicht lange ruhig bleiben, sondern setzte sich auf und starrte über das Wasser. Daniel schien zu schlafen. War das da vielleicht ein Segel am Horizont? Oder eine Rauchwolke?
„Hör auf, herumzuzappeln, Flo“, murmelte Miriam schläfrig.
Er wandte sich ihr zu. Schleierwolken zogen an diesem Tag über den Himmel und warfen ihr Muster auf die Erde unter ihnen. Spontan streckte er die Hand aus und fuhr mit den Fingern über ihre Haut, die feinen Linien entlang.
„Die Sonne malt Kringel auf deinen Rücken“, meinte er.
Sie öffnete ein Auge.
„Ich sollte raus in den Schatten“, seufzte sie, „ich verbrenne sonst noch.“
„Ja“, meinte er, aber ließ seine flache Hand auf ihrer warmen Haut liegen, ohne sich zu rühren. Von ihnen allen war Daniel als dunkler Typ am ehesten für diese heiße Sonne geeignet. Die blasse Miriam hingegen sowie er, mit seinen hellen Haaren, mussten viel mehr aufpassen.
Sie seufzte noch einmal, erhob sich und ging, wie es die Vernunft gebot. Seine Hand fiel in den Sand. Er schaute ihr verloren nach.
„Oh Mann“, erklang Daniels Stimme neben ihm, „es macht dich echt verrückt, dass du nicht mehr sehen kannst, was sie fühlt, oder?“
Ertappt wandte Flo sich ihm zu. Seine Wangen glühten, so ungewohnt für ihn. Daniel blinzelte träge.
„Aber ihr gefällt es“, rieb er weiter Salz in die Wunden.
Flo schluckte.
„Gefällt es dir auch?“, fragte er bissig.
„Was?“, meinte Daniel, „dass du sie nicht mehr so leicht manipulieren kannst, und mich ebenfalls nicht, Herr der Gefühle? Ja, das gefällt mir in der Tat.“
Es war das einzige Mal in der ganzen Zeit auf der Insel, dass Flo kurz davor war, Daniel zu schlagen. Stattdessen biss er sich auf die Lippen, ballte die Hand zur Faust und starrte so lange über das Wasser, bis er blinzeln musste. Daniel setzte sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare.
„Und außerdem bin ich ganz froh, dass ihr mir nicht die Blaue Lagune vorspielt“, fügte er hinzu.
„Die was?“, schreckte Flo auf.
„Die Blaue Lagune, du Banause“, sagte Daniel augenrollend, „ein kitschiger Robinsonfilm aus den Achtzigern. Mädchen und Junge stranden auf einer einsamen Insel, wachsen zusammen auf und haben irgendwann nur noch Sex. So was in der Art. Bitte spielt mir das nicht vor. Ich kann hier schließlich nicht weg, zumindest noch nicht.“
„Ah, ach so“, sagte Flo gepresst, „dann spielt mir dies bitte aber auch nicht vor.“
Das hatte er nicht sagen wollen – und dennoch, irgendwie war er froh, dass er es gesagt hatte, dass seine Angst endlich raus war.
Daniel warf ihm einen neugierigen Blick zu.
„Himmel, so schlimm ist es also?“, meinte er nicht unfreundlich.
Flo antwortete nicht, sondern starrte stur geradeaus. Daniels Hand fiel wie eine Pranke auf seine Schulter.
„Ich habe keine Ahnung, was dieses Mädchen will“, sagte er offen, „und trotzdem komme ich gut mit ihr zurecht – weil ich ihr zuhöre, wenn sie mit mir spricht. Vielleicht hilft dir das. So, und jetzt komm, wir sollten wirklich zurück.“
Flo wandte irritiert den Kopf. Daniel zuckte mit den Achseln, stand auf und sah ihn abwartend an.
„Kommst du?“, wiederholte er.
Gemeinsam traten sie in das Dunkel des Waldes und suchten sich ihren Weg zum Lager, wo Miriam gerade noch einmal in den See gesprungen war, um das Salz des Meeres abzuspülen.
„Euch würde das auch gut tun“, meinte sie mit einem kritischen Blick, als sie auftauchten, „vor allem dir, Flo. Du bist ganz rot. Wirst du krank?“
„Ich werde nicht krank“, wehrte Flo hastig ab, „aber du hattest Recht – es war an der Zeit, aus der Sonne herauszukommen.“
Sie gab ihm einen ihrer rätselhaften Blicke, wandte sich dem Essen zu, und wenn Daniel ihn nicht angeschubst hätte, wäre Flo vermutlich wie ein Idiot einfach da stehen geblieben.
Daniel hörte ihr zu. Daniel kam gut mit ihr zurecht.
Hatte er am Ende schon verloren, und sie waren nur zu nett, es ihm zu sagen?
Aber konnte Miriam ihm das wirklich antun? Kannte sie denn die Sehnsucht nicht, die ihn mit ihr verband? Konnte sie wirklich ...?
Nein, er kam überhaupt nicht damit klar, nicht mehr zu wissen, woran er bei ihr war.
Vor diesem Hintergrund war es vielleicht zu verstehen, wie er wenige Tage darauf reagierte, als er zufällig ihre Worte hörte.
Er hatte nicht die Absicht gehabt, Daniel und Miriam zu belauschen. Er wusste, sie suchten immer diesen einen Platz am Strand auf, im Schatten der Bäume, um ihren ausgedehnten Meditationen nachzugehen. Miriam brauchte sie, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Daniel erhoffte sich daraus Einblicke, wie er die Teleportation bewältigen konnte. Flo wusste das, und er respektierte es. Er war nicht einmal besonders leise, als er kam. Und er kam auch nur vorbei, weil er in der Nähe ihr Abendessen gefangen hatte und es ohnehin auf dem Weg lag. Wenn er ehrlich war, wollte er alles andere als lauschen. Er wollte nicht wissen, was sie sprachen, wenn er nicht dabei war.
Er erfuhr es dennoch.
„Ich verstehe dich ja, Miry“, sagte Daniel, „nur langsam wird es gut, meinst du nicht? Der arme Junge leidet wirklich.“
Miry? Flo blieb unwillkürlich stehen.
Miry!
„Hm“, machte Miriam unbestimmt, „es ist ungünstig, hier, auf der Insel, wo wir alle voneinander abhängen.“
„Als ob ich das nicht wüsste“, Daniel seufzte, „aber ehrlich. Er hält bereits ziemlich lange durch. Irgendwann brennt noch eine Sicherung bei ihm durch, und dann geht er einem von uns an die Kehle. Willst du das?“
Daniel klang ziemlich überzeugt. Miriam klang, als ob sie lachen würde.
„Weiß der Himmel nicht“, sagte sie, „wir wissen alle, was geschehen kann, wenn Flo ausflippt. Ja, du hast Recht. Ich muss mit ihm reden.“
Flo wurde kalt.
„Du weißt, du kannst dich auf mich verlassen“, sagte Daniel leise, „ich glaube, du solltest ihn aus seinem Elend erlösen. Er ahnt es längst.“
Ahnen? Was ahnen?
„Er hat es immer viel zu leicht gehabt, diesbezüglich“, sagte sie ungerührt, „es tut ihm mal gut. Es tut uns gut.“
Und Miriam sprach von sich und Daniel als uns!
„Er kommt schon auf dumme Gedanken“, warnte Daniel.
„Wann kommt Flo mal nicht auf dumme Gedanken?“, gab sie mit einem Lachen in der Stimme zurück.
Dumme Gedanken – dumme Gedanken waren das für sie!
„Miriam“, Daniel seufzte, „bitte. Er fängt wirklich an, mir leid zu tun.“
Er tat Daniel leid? Er, Flo, tat Daniel leid?
Das war genug! Er sprang aus dem Wald auf den Sand.
„Blaue Lagune, was?“, zischte er, und dann, weil ihm plötzliche Tränen in die Augen sprangen – ihm! – wandte er sich abrupt ab und eilte, der Einfachheit halber, den Strand hinunter. Das ging schneller als durch das Dickicht des Waldes.
„Was?“, hörte er Miriam noch, und „Flo!“, rief Daniel.
Er blieb nicht stehen, sondern rannte am Wasser entlang, bis er zum felsigen Teil des Strandes kam, kletterte dort hinüber und immer weiter hinaus, bis zur Spitze der Bucht. Dort war sein Weg irgendwann zu Ende, denn ja, eine Insel war endlich. Er blieb stehen und blinzelte gegen die albernen Tränen.
Blaue Lagune, also wirklich! Warum hatte Daniel solche Dinge gesagt? Warum waren sie nicht wenigstens ehrlich zu ihm? Hatte er dies nicht verdient?
Hatte er es verdient ...? War er denn immer ehrlich gewesen, mit beiden von ihnen? Mit auch nur einem von ihnen?
Nein, war er nicht. Er war nicht ehrlich, noch nie gewesen, nicht er. Es war seine eigene Schuld – seine Schuld, Dinge für selbstverständlich zu nehmen, Gaben, Personen als selbstverständlich anzusehen, anstatt darum zu kämpfen. Er war ein Idiot. Selber schuld.
Flo verlor sich in seinen Gedanken der Selbstzerfleischung, des eigenen Vorwurfes, und erst, als hinter ihm Miriams Stimme erklang, schreckte er auf. Sie suchte sich ihren Weg über die Felsen.
„Verflucht“, murmelte sie, mehr zu sich selbst, „ich hätte doch die Schuhe holen sollen.“
Also kam sie, um mit ihm dieses Gespräch zu führen, worum Daniel sie gebeten hatte. Er konnte sich schon denken, worum es hier ging! Flo wischte sich rasch über das Gesicht und schluckte seine Tränen hinunter.
Miriam sah von ihrem Weg auf zu ihm, und ihre Augen verfinsterten sich.
„Flo“, sagte sie, „ich glaube, du hast da gerade echt was falsch verstanden.“
Er antwortete nicht, rührte sich nicht, auch, als sie auf den letzten Metern mit ihren bloßen Füßen wirkliche Schwierigkeiten hatte. Am liebsten wollte er, sie wäre gar nicht hier.
Am liebsten wäre er selber gar nicht da gewesen.
„Au“, sagte sie und stolperte. Sie packte seinen Arm, um sich festzuhalten, und jetzt drehte er sich ihr doch zu.
„Mist“, sagte sie, „ich glaube, ich habe mir den Fuß aufgeschnitten!“
Diese Felsen wurden immer mal wieder von Wasser überspült, und demzufolge hingen Muscheln und versteinerte Algen daran, machten sie rau und ungeeignet für bloße Füße. Sie hüpfte auf einem Bein herum und verzog das Gesicht.
„Wir müssen reden“, sagte sie, „au, au, au. Aber wir tun dies am Strand. Und du wirst mich hinbringen!“
„Wo hast du dich verletzt?“, fragte er, gegen seinen Willen besorgt.
Sie schnitt eine Grimasse.
„Nicht hier“, sagte sie, „na los. Du bist doch stark, oder?“
Miriam war keine zarte Prinzessin, sondern eine durchtrainierte Jägerin, aber sie hatte Recht – Flo war schon lange nicht mehr der ausgemergelte Junkie, den Serena aus dem besetzten Haus geholt hatte. Sie sah ihn mit ihren großen, grünen Augen so herausfordernd an, dass er spüren konnte, wie er einknickte. Für einen Moment war er versucht, sie auf seinen Rücken klettern zu lassen, aber dann entschied er sich doch für die charmantere Variante und hob sie auf seine Arme.
Er konnte den Boden kaum sehen, während er sie zurück an den Strand trug.
„Wenn wir jetzt fallen ...“, begann er halbherzig.
„Du fällst nicht“, sagte sie überzeugt, „nicht mit mir.“
Ihre Aussage entbehrte jeder Logik, ganz untypisch für Miriam. Aber sie tat auf seltsame Art und Weise gut. Er erreichte unfallfrei den Strand, trug sie, bis der felsige Teil in den sandigen überging, und blieb stehen.
„Wo bist du verletzt?“, fragte er.
„Stell mich hin“, forderte sie, „warte. Ich glaube, es ist schon wieder verheilt. Verrückt, was?“
Sie glitt von seinen Armen auf einen Fuß, hob den anderen und zeigte ihm die Sohle. Er sah eine zartrote Stelle, so groß wie ein Daumennagel, an der das Fleisch noch empfindlich schien. Unwillkürlich fuhr er mit den Fingern darüber.
„Verrückt“, murmelte er.
Miriam lachte leise, hängte sich fest an seinen Arm und zog, bis sie beide im Sand landeten, nebeneinander. Flo richtete den Blick auf die Wellen und versuchte zu ignorieren, dass sie seinen Arm nicht losgelassen hatte, sondern mit ihren gefangen hielt, dass sie ihm so nahe war und den Kopf an seine Schulter legte.
Er schluckte und beschloss, es ihr einfach zu machen. Er hatte es ihr ja schon oft genug schwer gemacht.
„Es ist in Ordnung ...“, begann er.
„Nein, unterbrach sie ihn, „wäre es nicht. Das wäre es ganz und gar nicht, du Lügner.“
Flo wurde zornig.
„Ich kann nichts für meine Gefühle!“, wehrte er sich.
Sie seufzte und strich ihm eine Strähne aus der Stirn.
„Ich auch nicht“, gestand sie, „und Daniel ist wie ein Bruder für mich. Ich übrigens ebenso für ihn. Nun ja, natürlich eine Schwester, wenn man genau ist, aber ...“
Er wandte sich ihr überrascht zu, so heftig, dass ihr Kopf seinen Halt verlor und sein Arm ihr entglitt. Sie fing zumindest seine Hand wieder ein und umklammerte sie.
„Daniel hat von Anfang an für dich geschwärmt!“, sagte er scharf, „um das zu sehen, brauchte ich nicht einmal meine Gabe! Er war fasziniert von dir, von deinen traurigen Augen, von deinen Haaren, von ... von ...“
„Flo“, unterbrach sie ihn erneut, „er war. Es hat aufgehört, als Zachs und meine Geschichte ins Spiel kam. Als du wirklich ins Spiel kamst. Da ist Daniel in der Realität gelandet, und das weißt du auch. Bitte. Du weißt vermutlich mehr über ihn und Andie als ich, und mit mir redet er.“
Einen Moment lang starrte Flo sie nur an. Ja, das stimmte. Miriams Bekenntnis, dass Daniels Bruder sie entjungfert hatte – und ein Halbdämon war, wie sie damals dachten – hatte Daniels Gefühle ziemlich heftig erkalten lassen. Hieß das am Ende ...?
Er wandte sich ihr ganz zu, streckte seine Hand aus und umfasste vorsichtig eine Seite ihres Gesichtes. Sie sah ihn an, furchtlos wie immer. Miriam hatte sich nur vor Koro gefürchtet, sonst nie. Er beugte sich vor. Ihre Augen wurden dunkler.
„Manchmal“, flüsterte er, „wünschte ich mir, du hättest die Gabe von Compassio und könntest einfach sehen, was ich fühle. Dann müsste ich mich nicht mit Worten herumquälen.“
Ihre Lippen öffneten sich leicht, wie überrascht, bevor sie ihm antwortete.
„War ich denn immer ein offenes Buch für dich?“, gab sie zurück.
Er lächelte schwach.
„Oh nein“, gestand er, „nie. Du bist so kontrolliert, so kühl ... es mussten schon wirklich starke Emotionen sein – fast so, als würde ich nur das erkennen, was du mir gestattest.“
Etwas ihn ihm regte sich plötzlich, und er verschluckte sich fast.
„Ich dachte, du könntest alles sehen, dass ich durchschaubar für dich wäre“, sagte sie, „und ich gebe zu, dass mir das nie gefiel.“
„Du bist alles andere als durchschaubar, Miriam.“
„Na dann. Warum hast du mit mir geschlafen?“
Ihre Frage ließ ihn zurückzucken. Er beschloss, ehrlich zu sein.
„Weil ich dich wollte“, sagte er, und korrigierte sich sofort, „weil ich dich will.“
Sie lächelte, dann beugte sie sich vor und küsste ihn.
„Ich schätze“, sagte sie, als sie sich löste, „wir sind diesbezüglich beide nicht besonders gut mit Worten. Taten sind eher unser Ding. Flo – wie konntest du jemals daran zweifeln?“ Sie klang ungläubig.
Flo lächelte zittrig, überwältigt von mehr als nur einem Ereignis. Miriam hatte ihn geküsst. Miriam wollte ihn. Er brauchte keine Worte, er brauchte gar keine mehr ... Starke Emotionen konnte er offenbar immer noch erkennen – bloß dass er sie jetzt nicht mehr sah, sondern spürte – als ob sie wirklich ein Teil von ihm geworden war. Er hatte nur einfach nicht gewusst, was dies war.
„Miry“, sagte er, unwillkürlich den gehörten Kosenamen verwendend, „wenn ich dir jetzt sagen würde ... wärst du sehr zornig, wenn ich dir jetzt sagen würde ...“
„Was?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Er nahm auch die zweite Hand und hielt ihr Gesicht zwischen seinen Händen.
„Dass ich es spüren kann, jetzt“, flüsterte er, „in diesem Moment. Und ich ...“
Seine Stimme brach. Sie starrte ihn an, und besorgt begann er, seine Finger über ihre Wangen, ihre Haare, ihre Augen gleiten zu lassen, streichelnd und beruhigend.
„Was spürst du?“, wisperte sie.
„Dich?“, gab er halb fragend, halb antwortend zurück.
Einen Moment lang war es ganz still. Dann, zu seiner unfassbaren, immensen Erleichterung, holte sie tief Luft und flüsterte: „Ja. Ich verstehe.“
Dann lachte sie plötzlich auf und warf sich auf ihn, so dass er rückwärts in den Sand umfiel, mit ihr auf seiner Brust.
„Du bist echt einzigartig, Flo“, sagte sie liebevoll.
Er stimmte befreit in ihr Lachen ein.
„Du aber auch“, sagte er und strich weiter durch ihre Haare, „nun ja. Erinnerst du dich? So bist du auf mir eingeschlafen, damals, in Jerusalem. Einfach so auf mir eingeschlafen ...“
„Ich war erschöpft.“
„Ich weiß.“
„Du warst genauso erschöpft.“
„Ich weiß auch das“, grinste er und küsste sie erneut. Diesmal zog er sie dichter an sich, hielt ihren Kopf, teilte ihre Lippen und spürte, wie sein Körper erwachte.
Sie richtete sich plötzlich ein wenig auf.
„Daniel ist genauso einzigartig wie wir, wenn nicht mehr“, sagte sie mit gerunzelter Stirn, „und ich bin zwar nicht ganz sicher, ob ich das mit der Blauen Lagune richtig verstanden habe, aber eines stimmt – wir sind alle drei vorerst hier eingesperrt, auf dieser Insel. Wir müssen Rücksicht auf ihn nehmen.“
Er richtete sich ebenfalls auf und schob sie von sich herunter.
„Dazu kommt noch etwas“, meinte er ernst, „wir wissen bis heute nicht, warum wir nach unserer gemeinsamen Nacht unsere Kraft zurückbekommen haben. Was, wenn wir ein zweites Mal Sex haben, und sie ist wieder weg? Es wäre wirklich ungünstig zurzeit. Ich meine, Dämonen und Jäger sind momentan nicht gerade gut auf uns zu sprechen.“
„Und wir haben vermutlich noch weitere Aufgaben zu erfüllen“, spann sie seinen Gedanken fort, „wenn wir die anderen Splitter ebenfalls zurückbringen sollen.“
„Du willst Koro noch einmal anfassen?“
„So sagt es die Prophezeiung der Saga.“
„Die aber nichts davon gesagt haben, was mit uns geschieht, wenn wir dies Ding berühren“, gab er zu bedenken, „wer weiß, was das nächste Mal passiert? Was aus uns wird?“
„Vielleicht sind wir jetzt immun dagegen?“
„Weißt du das mit Sicherheit?“
„Nein“, gestand sie, „ich habe nur eine Theorie, was unsere Nacht anbetrifft.“
Er lehnte sich auf seine Ellbogen zurück und sah sie an.
„Welche?“, fragte er.
Sie lächelte schwach.
„Diese Nacht“, begann sie vorsichtig, „war etwas Besonderes, nicht wahr? Für mich war sie es, definitiv.“
„Für mich auch“, sagte er, „unvergleichlich.“
Sie nahm einen Stock auf und begann, ihn zwischen ihren Fingern tanzen zu lassen.
„Ich habe dir vertraut“, sagte sie, ohne aufzusehen, „ich habe dir so ... ultimativ vertraut, wie ich nie zuvor jemandem vertraut habe. Nicht einmal mir selbst.“
Der Mund wurde ihm trocken. Trau mir, hatten sie geflüstert, in dieser Nacht, und wie ein Mantra war es ihm erschienen.
„Ja“, sagte er, erschrocken von der Rauheit seiner Stimme.
Jetzt hob sie doch den Kopf.
„Was“, flüsterte sie, „wenn dies die wahre Reinheit ist? Vertrauen? Echtes, einfaches Vertrauen, in den anderen, in sich selbst ...?“
Flo hielt Miriams Hand fest in seiner, während sie zurück ins Lager gingen, und sie war sicher, nichts auf der Welt würde ihn dazu bringen, loszulassen. Aber, das musste sie ihm anrechnen, es war das Einzige, was er tat. Wenn sie sich nicht ganz stark irrte, war er sogar besorgt, vorsichtig, ja fast ängstlich, was Daniels Reaktion anbetraf. Sie selbst war diesbezüglich entspannt. Sie hatte mehrfach mit ihm gesprochen, seitdem sie erfahren hatten, dass Flo seine Gabe verloren hatte und sie sich zum ersten Mal erlaubt hatte, darüber nachzudenken.
Nein, besser ausgedrückt – Flos Gabe hatte sich verändert, zumindest in Bezug auf sie, Miriam. Wie das mit dem Rest der Welt war, würde sich noch zeigen.
Zunächst einmal krampfte sich seine Hand unwillkürlich fester um ihre, als sie zum Lager kamen. Daniel hatte das Feuer entzündet, ihr üblicher Abendbraten hing über den Flammen. Er hatte offenbar Flos Errungenschaften aufgesammelt und verarbeitet, während dieser seinen kleinen Wutanfall bekommen hatte. Sie musste lächeln.
Daniel sah auf, sah ihre Hände und grinste, um gleich darauf mit den Augen zu rollen und zu seufzen.
„Na endlich“, murmelte er, „und wisst ihr, was noch gut ist?“
„Was?“, fragte Flo, der sich behutsam neben dem Feuer niederließ, Miriam mit sich ziehend – an seine Seite, wohlgemerkt, nicht auf seinen Schoß. Flo konnte, wenn er wollte, rücksichtsvoll sein.
„Jetzt, wo ihr euch eure für alle anderen vollkommen offensichtlichen Gefühle gestanden habt und ich jeden Tag mehr in Gefahr gerate, Dinge zu sehen, die ich nicht sehen will“, sagte Daniel, „habe ich die richtige Motivation, um das mit der Teleportation wirklich hinzubekommen. Was sagt ihr? Ab morgen konzentrieren wir uns nur noch darauf. Alles andere haben wir doch ganz gut im Griff, oder?“
Flo gab ein halbes Lachen von sich. Miriam drückte seine Finger, ließ los und beugte sich vor, um Daniel zu umarmen.
„Ich finde, du machst das alles großartig“, sagte sie spontan, „für keinen waren die Änderungen so einschneidend wie für dich. Du ruhst so in dir. Ich finde es bewundernswert.“
„Wo sie Recht hat, hat sie Recht“, stimmte Flo mit ein, „Miriam, unsere weise Frau. Sie hat im Übrigen auch gleich noch das Geheimnis der Jäger entschlüsselt!“
„Ist das so?“ Daniel wandte sich ihr interessiert zu, „was ist es denn?“
Dies überraschte sie. Sie hätte gedacht, dass Flo ihre Idee vorerst nicht würde teilen wollen, zudem es auch nur eine Idee war.
„Wusstest du, dass Flo meine Gefühle jetzt spüren kann, als ob es seine eigenen wären?“, sagte sie stattdessen, „nun, starke Gefühle nur, aber immerhin. Und ich spüre ihn.“
Daniels Augenbrauen schossen hoch.
„Das ist das Geheimnis der Jäger?“, fragte er.
„Nein“, sagte Flo und säbelte an dem Vogel, um zu sehen, ob er gar war, „aber sie hat Recht. Du solltest dies zuerst wissen. Es war total anders als sonst – wie eine Verlängerung von mir. Aber es war wieder da.“
„Hm“, machte Daniel, „meinst du, das ist bei allen so? Auch bei mir?“
Miriam sah sehr deutlich, dass Flo Daniels Blick auswich, fast, als sei er verlegen, ausgerechnet er.
„Vielleicht“, murmelte er, „wäre es schlimm? Ich meine, ihr denkt ja immer, dass ich alle nur damit manipuliere ...“
„Du manipulierst auch“, unterbrach sie ihn, „aber es ist okay. Koro hat uns verbunden, mehr als zuvor. Und wenn du meine Emotionen richtig spürst und nicht nur siehst, hast du bestimmt mehr Verständnis.“
Und gehst nicht leichtfertig damit um, setzte sie in Gedanken hinzu. Sie war sicher, so sicher, dass Flo nicht unbedacht mit ihr spielen würde. Sie war zudem sicher, dass er dies bei Daniel ebenfalls nicht mehr machen würde.
„Woher willst du das wissen?“ fragte Flo, verblüfft klingend.
Sie hielt kurz inne. Hatte er gar nicht verstanden, was sie gemeint hatte?
„Ich spüre es“, erwiderte sie, „das ist keine Einbahnstraße, Flo. Ich spüre, was du empfindest – vielleicht nicht ganz so intensiv, jedoch genug, um es zu verstehen.“
„Oh, wow“, sagte Flo alarmiert, „dann hoffe ich sehr, dass das nicht für alle gilt. Dir vertraue ich mich an, Miriam, aber der gesamten Welt ...?“
„Die ganze Welt ist ja genauso dir ausgeliefert“, meinte sie trocken.
„Trotzdem“, er schien alles andere als glücklich, „das wäre nicht gut. Wir haben noch so viel vor, da will ich nicht durchschaubar sein – nicht für alle, deren Emotionen ich auffange! Ich wäre ein offenes Buch – eine Gefahr für uns!“
„Vielleicht bist du es gar nicht für alle, sondern nur für mich, weil wir Koro berührt haben“, entgegnete sie beruhigend.
„Dann müsste es aber wirklich auch für mich gelten, oder?“ ließ sich Daniels Stimme vernehmen.
Sie hielten diesmal beide inne. Ja, sie hatten Koro zu dritt berührt. Flo und Miriam verband vielleicht mehr als das, doch bislang war sie keine Ausnahme in seinen Gaben gewesen.
„Hast du denn starke Gefühle für mich, Kumpel?“, versuchte Flo schwach zu witzeln.
Und Daniel sah ihn an, sah ihn einfach nur an.
Flo verstummte. Miriam schaute von einem zum anderen. Daniel grinste.
„Na? Spürst du es?“, fragte er locker.
Das Lächeln, das sich daraufhin auf Flos Gesicht ausbreitete, war einfach nur überirdisch schön.
„Danke“, wisperte er, kaum hörbar.
„Gern geschehen“, meinte Daniel, „übrigens auch danke für deine Zuneigung, mein Bester. Ich habe das aber längst gewusst, ganz ohne verrückte Gaben. So. Und was ist jetzt das Geheimnis der Jäger?“
Flo sah zu Miriam, sie sah zurück. Sein Lächeln blieb und blendete sie. Sie musste es erwidern.
„Vertrauen“, sagte sie.
„Vertrauen?“, wiederholte Daniel, ungläubig klingend, „das ist das Geheimnis der Jäger? Nichts für ungut, aber wenn ihr in einer Sache echt schlecht seid, dann ist es das. Ehrlich, ich meine das gar nicht böse, aber ...“
„Es ist“, berichtigte sie sich rasch, „vermutlich eher das Geheimnis der Wandler als das der Jäger.“
„Das Geheimnis der Engel, sozusagen“, ergänzte Flo, „fairerweise, es ist eine Theorie. Aber Vertrauen schafft Kraft. Und wenn man einem Jäger das Vertrauen in seine Kraft nimmt, verliert er sie vielleicht wirklich? Seit Jahrtausenden gilt die Regel der Reinheit. Wir kennen es gar nicht anders. Wir haben bedingungslos daran geglaubt.“
„Dabei ergibt es keinen Sinn“, setzte Miriam energisch hinzu, „wenn wir wie die Dämonen von den Engeln abstammen, wenn wir alle Wandler sind, dann sollten wir uns nicht so sehr unterscheiden. Asmodeus hat seine Kraft nicht verloren, obwohl er einen Sohn gezeugt hat. Und Flo und ich ...“ Sie verstummte, errötete prompt.
Flo ergriff wieder ihre Hand.
„In der Nacht, in der Miriam und ich unsere Kraft wiederbekamen“, sagte er sachlich, „vertrauten wir einander. Und hier – wir vertrauen einander und sind so stark wie nie zuvor.“
„Also wäre es ... die Reinheit der Gedanken?“, meinte Daniel, die Stirn zerfurcht, „ohne dass Sex da überhaupt eine Rolle spielt?“
„Außer vielleicht als Katalysator“, meinte sie, „es ist bislang nur eine Theorie. Sie fühlt sich richtig an. Dieses Band fühlt sich richtig an.“
„Und wenn Cognitio das sagt, ist auch etwas dran“, behauptete Flo weise.
„Nun“, meinte Daniel, schwenkte den Vogel vom Feuer und begann, ihn zu zerteilen, „es ist definitiv besser als dieser Quatsch mit der Jungfräulichkeit. Den können wir ja nun wirklich ausschließen, nicht wahr? Was nicht heißen soll, dass ihr jetzt wie die Karnickel übereinander herfallen dürft. Ehrlich. Hatte ich schon die Blaue Lagune erwähnt?“
„Ja, mehrfach“, sagte Flo grinsend und nahm ein Stück des heißen Federviehs entgegen, „keine Bange. Wir werden dich nicht quälen. Aber vielleicht sollten wir wirklich ab morgen alles daran stecken, deine Fähigkeit auszubilden.“
Er blies auf das Fleisch, hob den Kopf und lächelte schwach.
„Irgendwann muss man ja ohnehin zurück, oder?“, sagte er leise.
Sie begannen Daniels verschärftes Training am nächsten Morgen an seinem Lieblingsplatz, und der war, zu Miriams geheimen Leidwesen, auf dem einzigen Berg der gesamten Insel. Es war kein besonders hoher Berg, jedoch steil und felsig, und die Kuppe fast kahl und wenig geräumig. Daniel mochte ihn der Aussicht wegen, und Flo meinte, eine gute Aussicht würde dabei helfen, sich an einen anderen Ort zu wünschen.
Eine kleine Runde Meditation schickten sie voraus, aufgewärmt waren sie durch den Aufstieg genug. Wenn mehr Platz da gewesen wäre, hätte Miriam gar nichts gegen die Kuppe einzuwenden gehabt. Es war ganz angenehm, so weit schauen zu können.
Es war aber nicht besonders viel Raum für Fehler.
„Eine weitere Motivation“, sagte Flo und zog Miriam in seine Arme – ebenfalls zur Motivation, wie er schamlos behauptete. Daniel bestand darauf, die ersten wirklich ernsthaften Versuche allein zu unternehmen.
„Wenn etwas schiefgeht“, sagte er, „gerate ich vielleicht in Panik. Und ich habe eher eine Chance, eine Person zu retten als mehrere.“
„Vielleicht geht es nur zu dritt“, hielt Miriam dagegen.
Daniel schüttelte den Kopf.
„Eure Gaben gelten ebenfalls bloß für euch, mögen sie auch anders sein, wenn es uns drei anbetrifft“, erwiderte er, „nein. Bleibt da stehen. Ich versuche, es mir vorzustellen ...“
Eine ganze Weile geschah gar nichts, während sie geduldig warteten. Miriam lehnte ihren Rücken gegen Flos Brust, spürte seine Arme um sich und sein Kinn auf ihrer Schulter. Sie spürte auch Flos zunehmende Unruhe, als wirklich gar nichts geschah, außer, dass Daniel mit geschlossenen Augen da stand.
„Ich wette, du kannst es dir einfach immer noch nicht vorstellen“, sagte Flo schließlich, „das ist es doch, oder? Du denkst – ich bin ein Mensch, ich kann das nicht! – und deshalb funktioniert es nicht. Vertraue in deine Fähigkeit, Daniel. Stell es dir vor. Stell dir vor, als sei es längst passiert, als hättest du es schon getan und würdest jetzt da drüben auf dieser Wolke sitzen und mit den Füßen wackeln. Es ist eine schöne kleine Wolke, direkt über dem Wald, und gar nicht weit weg von hier. Vielleicht ist es auch eher Nebel, der aufsteigt ... vielleicht – verflucht!“
Miriam stieß einen erschrockenen Schrei aus, als Daniel tatsächlich verschwand – und nur wenige Meter weiter weg wieder auftauchte, eben genau da, wo Flos kleine Wolke über dem feuchten Wald hing – über dem Nichts aus grünen Zweigen und Blättern, in das er unweigerlich abstürzen würde.
„Daniel!“, fauchte Flo und ließ sie los, als ob er zur Kante stürzen und den Freund retten konnte, was selbstverständlich völlig utopisch war. Und zum Glück war es auch unnötig. Denn in dem Moment, in dem Daniel angefangen hatte zu fallen, landete er bereits wieder auf dem Felsen zu ihren Füßen, blass, erschrocken, zitternd.
„Du Riesenidiot!“, schnauzte Flo ihn an und zerrte ihn hoch, „dir ist schon klar, dass niemand auf einer Wolke sitzen und mit den Füßen wackeln kann, mag er auch Engelskind sein, so viel er will? Ich meine – wie konntest du nur?“
„Gib nicht mir die Schuld!“, fauchte Daniel zurück, sichtlich mitgenommen, „du bist doch der mit der hypnotischen Stimme und den Schnapsideen! Warum erzählst du mir denn auch so etwas, wenn ich Teleportation übe? Hast du schon mal von Suggestion gehört?“
„Beruhigt euch!“, Miriam trat zwischen die beiden und schob sie energisch auseinander, „Himmel noch mal, beruhigt euch und denkt nach. Na?“
Beide starrten sie an, aus dem Konzept gebracht.
Sie lächelte.
„Es hat geklappt, oder?“, sagte sie.
„Es hat geklappt“, flüsterte Daniel, erschüttert.
„Es hat geklappt!“, sagte Flo, grinste über beide Backen und umarmte Daniel spontan, „na also! Aber ...!“ Er wackelte mit seinem Finger warnend vor Daniels Gesicht herum, „das muss eindeutig besser werden, bevor du einen von uns mitnehmen darfst, verstanden?“
Jetzt begann auch Daniel zu lächeln, ein kleines, hoffnungsvolles, wenn auch immer noch irgendwie verängstigtes Lächeln.
„Verstanden“, sagte er.
Sie lernten in den nächsten Tagen so einiges über Daniels neue Fähigkeiten. Das Wichtigste war, dass er wissen musste, wohin er ging – er benötigte ein Bild in seinem Kopf. Das hieß natürlich, dass er nur an Orte gehen konnte, an denen er schon einmal gewesen war, oder an welche, die ihm wirklich gut beschrieben wurden. Das vermutlich Zweitwichtigste war, dass diese Fähigkeit Kraft kostete – und zwar anders als bei Flo und Miriam nicht wenig kontinuierliche Kraft, sondern kurze und intensive. Je weiter weg er ging, umso mehr Kraft brauchte er. Und wenn er jemanden mit sich nahm, was sie ab dem zweiten Tag testeten, brauchte er noch mehr.