Der Geist in Brand - Anna K. Thomas - E-Book

Der Geist in Brand E-Book

Anna K. Thomas

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Beschreibung

1787 – Heinrich Berlingen, Baron von Satten, braucht einen Erben für seinen Titel und sein Lebenswerk, aber will sich nicht binden. So kommt Niklas von Altenmark, ein siebenjähriger preußischer Krautjunker zu dem ruhelosen älteren Herrn, und das, obwohl er doch niemals von daheim fort wollte. Unter den Fittichen des Barons reist Niklas über Berlin ins vorrevolutionäre Paris, erlebt die letzte Blüte des Rokokos, bevor der Ausbruch der Französischen Revolution sie nach London treibt, und von dort über den halben Kontinent. Er lernt Personen seiner Zeit kennen, von Marie Antoinette zu Danton, von Beau Brummell zur Duchess of Devonshire, vom späteren Zar Alexander I. zu Königin Luise, von Josef Haydn bis zu Ludwig van Beethoven. Die ganze Zeit hängt eine Frage über ihnen: Was treibt den Baron an, und was ist in seiner Jugend wirklich geschehen, so dass er nie sesshaft geworden ist? Die Antwort darauf werden Niklas und Colette, die leibliche Tochter des Barons, erst am Ende ihrer eigenen Reise finden.

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Seitenzahl: 929

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Kurze Anmerkung der Autorin

Prolog

Kapitel 1: Krautjunker

Kapitel 2: Die Pläne des Herrn Baron

Kapitel 3: Erste Schritte

Kapitel 4: Ein anderes Leben

Kapitel 5: Weltstadt

Kapitel 6: Versailles

Kapitel 7: Der neue Lehrer

Kapitel 8: Zeit des Lernens

Kapitel 9: Es grummelt im Gebälk

Kapitel 10: Das Volk steht auf

Kapitel 11: Revolution

Kapitel 12: Nach Paris!

Kapitel 13: Die andere Seite des Kanals

Kapitel 14: Die Schule in Eton

Kapitel 15: Sommerfreuden

Kapitel 16: Rückkehr nach London

Kapitel 17: Diverse Ausflüge

Kapitel 18: Das fremde Kind

Kapitel 19: Verlorene Träume

Kapitel 20: Aufklärung

Kapitel 21: Nach Osten

Kapitel 22: Russische Träume

Kapitel 23: Östliche Ostern und westliche Briefe

Kapitel 24: Das Reich der Zarin

Kapitel 25: Russische Welt

Kapitel 26: Prinzessin, Gräfin, Kaiserin

Kapitel 27: Andere Zeiten

Kapitel 28: Preußen und seine Damen

Kapitel 29: Liebessorgen

Kapitel 30: Abreise nach Süden

Kapitel 31: Italienische Nöte

Kapitel 32: Das Ende einer Ära

Kapitel 33: Der junge Herr Baron

Kapitel 34: Was auf der Suttburg geschah

Kapitel 35: Eheversprechen

Kapitel 36: Beau Brummell

Kapitel 37: Nicolettes Gunst

Kapitel 38: Das Ende alter Geschichten

Nachwort

Appendix

Literatur

Fachliteratur

Romane

Personenverzeichnis (fiktiv)

Personenverzeichnis (historisch)

„Dieses Jahr hat hoffentlich für richtige Denker begonnen. Nach all diesen Jahrhunderten feudaler Barbarei und politischer Sklaverei ist es überraschend zu sehen, wie das Wort „Freiheit“ den Geist in Brand setzt.“

Napoleon Bonaparte, 1789

Kurze Anmerkung der Autorin

Ich muss ein paar Sätze vorab zum Thema Anrede verlieren: Im achtzehnten Jahrhundert spielte diese eine große Rolle und spiegelte die soziale Hierarchie wider. Es gab insgesamt fünf Formen, wobei galt, Plural ist höflicher als Singular, und je distanzierter desto ehrerbietiger. Die Formen der Anrede waren deshalb in aufsteigender Reihenfolge: Duzen, Ihrzen, Erzen, Siezen, und die ganz distanzierte Anrede wie Dero Gnaden. Wer dann wem gegenüber welche Form anwandte, war eine Kunst für sich.1

Dies hier korrekt umzusetzen wäre eine Mammutaufgabe geworden und hätte nicht unbedingt zur leichteren Lesbarkeit der Geschichte beigetragen. Deshalb habe ich beschlossen, es auf das vertrauliche Du und das höfliche Ihr zu reduzieren – auch wenn die Zeitgenossen dabei vermutlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sich angewidert abgewandt hätten.

Ich bitte um Verzeihung und wünsche trotzdem viel Spaß!

Prolog

1785

Es war ein Holzklotz. Ein einfacher Holzklotz war die Ursache allen Übels. Er lag mitten auf dem Weg, heruntergefallen von der nachlässig gepackten Last eines Fuhrwerks. Es war so leicht, ihn in der einsetzenden Dämmerung zu übersehen, vor allem, wenn man mit hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Und das war nicht außergewöhnlich – der Baron reiste nie langsam.

Ein Holzklotz also. Eine Kutsche in hoher Geschwindigkeit, dazu die schlechten Sichtverhältnisse, vielleicht auch noch ein Schubs des Schicksals – zumindest raste die Kutsche über besagten Holzklotz, und das hohe Rad traf auf die harten Kanten, das laute Splittern der brechenden Speichen schreckte die Pferde auf, die eisige, abschüssige Straße tat ein Übriges – mit Geschrei, Gebrüll und Gepolter donnerte die Kutsche den Abhang hinunter, begrub zwei Pferde unter sich, mit zerbrechendem Chassis und umher wirbelnden Menschenkörpern, Truhen und Bündel wie Geschosse dazwischen, alles innerhalb weniger Augenblicke.

Dann war es im Vergleich zum Lärm des Unglücks still, nahezu gespenstisch still. Ein Pferd wieherte schmerzerfüllt und versuchte, auf die Beine zu kommen. Der Kutscher hing wie eine Puppe zwischen den Zügeln.

Ein Lakai, der geistesgegenwärtig vom Rücksitz gesprungen und relativ weich in den Büschen gelandet war, richtete sich erschrocken auf. Etwas unbeholfen kam er auf die Füße, rutschte vorwärts zu dem verunglückten Gefährt und warf einen vorsichtigen Blick hinein. Ein Stöhnen antwortete ihm.

Da nahm er die Beine in die Hand und rannte.

*

„Ich habe dir immer gesagt, du fährst wie ein Verrückter“, sagte Graf Freilheim. „Wie du reitest, fährst du auch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis du dir den Hals brichst.“

„Ich habe ihn mir doch gar nicht gebrochen“, erwiderte Baron von Satten milde.

Er lag in den weichen Laken eines geräumigen Bettes. Im Kamin an der Wand flackerte ein Feuer, die Winterkälte verdrängend, und auf dem Tischchen standen neben den Tinkturen und Salben des Arztes die Reste eines Abendessens.

„Weil du Glück hattest“, seufzte der Graf, „aus keinem anderen Grunde. Henri – ich bitte dich. Du bist mein ältester Freund. Ich würde dich nur ungern verlieren!“

„Ich weiß nicht, ob ich es so charmant finde, als ältester Freund bezeichnet zu werden“, erwiderte der Baron. „Obwohl, im Moment fühle ich mich alt. Es ist, als hätte ich mir sämtliche Knochen gebrochen. Und nicht nur den Hals.“

„Du fühlst dich nicht bloß alt, du bist es“, sagte der Graf, „so wie ich. Ja, ich weiß, das ist nicht à la mode. Aber wenn man die fünfzig Jahre überschritten hat, ist man nicht mehr taufrisch, lieber Henri. Dennoch fährst du wie ein Irrer. Bitte versprich mir, jetzt einen vernünftigen Kutscher einzustellen.“

Es tat Not, einen Kutscher einzustellen – das war die traurige Wahrheit. Im Gegensatz zum Baron hatte man den Kutscher nur noch tot aus dem Wrack bergen können.

„Ich verspreche es“, sagte der Baron nachgiebig.

„Wenigstens was“, seufzte der Graf. „Ich verlasse mich darauf. Henri, du musst dich ausruhen. Der Arzt wird später noch einmal nach dir schauen. Wenn du etwas brauchst – ich habe meinen Diener angewiesen, dir heute aufzuwarten. Er kommt, sobald du rufst. Hast du Schmerzen?“

„Ein paar“, wehrte der Baron ab, „unwesentlich.“

„Du hast Glück gehabt, ehrlich“, sagte der Graf noch einmal, bevor er ging.

Er hatte Glück gehabt – ja, das hatte er wirklich. Der Kutscher war tot, er hätte tot sein können. Er, Heinrich, den man seit Urzeiten nur noch Henri rief, wenn man es wagte, seinen Vornamen zu benutzen – er, der letzte aus dem Geschlecht der alteingesessenen Berlingen, Barone von Satten, hätte tot sein können.

Heute hätte er aufhören können zu existieren.

Es war warm im Zimmer. In Anbetracht seiner Verletzungen war dem Baron der größte und schönste Raum des Hauses überlassen worden. Es war warm, das Feuer knackte. Er war müde. Sein verstauchter Fuß lag in Binden gewickelt auf einem Kissen, seine verletzte Hand war dick bandagiert, so wie seine Rippen. Den einen oder anderen Knochen hatte er sich doch gebrochen, wenn auch nicht den Hals.

Er hätte sterben können …

Er war alt …

Wo war die Zeit hin?

Heinrich Berlingen, Baron von Satten, lag stumm da, und starrte in die Flammen. Sein Blick ging weit, weit zurück.

Und dann ging er in die Zukunft.

*

„Es freut mich zu sehen, dass es dir wieder gut geht“, sagte Graf Freilheim mehrere Tage später erleichtert, „und es tut mir leid, dass ich dich allein lassen musste. Wenn mein Herr Sohn nicht wäre … aber du kennst ihn ja!“

„Ich kenne ihn“, sagte der Baron. „Was hat er denn diesmal angestellt? Ich habe irgendetwas von einem Hund gehört?“

„Von einem Hund, einer Dame und einem Bordell“, stöhnte der Graf. „Frag nicht, du willst es nicht wissen. Wie ist es dir ergangen? Ich sehe, der Verband ist fort.“

Der Baron hob die Hand und bewegte vorsichtig die Finger.

„Mir ist es gut ergangen“, sagte er. „Ja, alles heilt. Zeit heilt Wunden, nicht wahr? Außerdem hat dein Personal mich hervorragend umsorgt.“

„Das höre ich gerne“, schmunzelte der Graf, „und ich wette, du hast schon wieder Pläne gemacht. Wohin geht es als Nächstes? Kommst du nicht gerade aus Spanien?“

„Aus Madrid, richtig“, nickte der Baron.

„Darum beneide ich dich“, seufzte der Graf, „so zu reisen, so frei zu sein, während unsereins an der Scholle klebt … Die unwürdigen Söhne einem die Haare vom Kopf fressen …“

„Ja“, sagte der Baron.

„Die Pächter ständig neue Ausreden dafür bringen, weshalb sie nicht zahlen können, die Bauern, die Pfäfflein, all die, die etwas von dir wollen – du hingegen bekümmerst dich nicht damit! Wann warst du das letzte Mal auf Gut Satten?“

„Zum Tod meines Vaters“, antwortete der Baron. „Ich habe einen sehr tüchtigen Verwalter.“

„Zum Tod deines Vaters“, sagte der Graf kopfschüttelnd. „Du bist wie ein Vogel, Henri. Los, erzähl mir, damit ich wenigstens mit dir träumen kann! Wohin geht es als Nächstes? Italien? Schweden? Oder vielleicht etwas Exotisches?“

Der Baron antwortete nicht sofort. Stattdessen trat er behutsam zum Fenster und sah hinaus. Er bewegte sich jetzt ganz anders als vor dem Unfall, mit viel mehr Bedacht, als spüre er sein Alter tatsächlich.

„Wie ein Vogel …“ murmelte er.

Der Graf richtete sich verwundert auf.

„Henri?“, fragte er, „Ist alles in Ordnung?“

„Wie ein Vogel“, wiederholte der Baron und drehte sich um, „und wie ein Vogel werde ich verschwinden, wenn ich einst nicht mehr bin. Von mir wird nichts bleiben als ein paar Federn, und die bläst der Wind bald fort. So ist es doch.“

„Henri?“, wiederholte der Graf, erschrocken.

Der Baron schnaufte grimmig.

„Nenn es wie du willst“, sagte er schroff, „ich denke, ich habe einen Moment der Klarheit, eine Art Selbsterkenntnis erlebt, während du fort warst. Ich hätte sterben können bei diesem Unfall.“

„Ja, ich weiß“, sagte der Graf, „aber du bist nicht gestorben!“

„Weil ich Glück hatte“, wiegelte der Baron brüsk ab. „Du hast ganz recht, wenn du mich als Vogel bezeichnest. Ich bin wie ein Vogel – habe kein Heim, keine Bindungen, keine Familie. Ich bin der letzte meines Geschlechtes. Und seit Jahren war ich nicht mehr auf Gut Satten.“

„Dann ist das dein nächstes Ziel?“, fragte der Graf, verständnislos. „Du willst nach Gut Satten?“

Der Baron schüttelte unwillig den Kopf.

„Nein“, sagte er, „oder vielleicht ja, um nach dem Rechten zu sehen. Aber nicht, um zu bleiben. Das würde nichts ändern. Ich hätte sterben können – und wenn ich gestorben wäre, wäre nichts von mir geblieben als die Erinnerung.“

„Sehr viele Menschen würden sich an dich erinnern“, erwiderte der Graf fest, „und ich behaupte, die meisten sehr gerne!“

„Und sehr kurz“, sagte der Baron brutal. „Nein, nein, ich weiß, du meinst es ehrlich. Aber sage mir, wie lange würdest du noch an mich denken, nachdem ich fort wäre – mit deinen Söhnen, deinen Pächtern, deinen Bauern und Pfäfflein? An mich, der alle Jahre mal vorbei kommt?“

Der Graf war es, der diesmal schwieg, anstatt sofort zu antworten, wie sein Ehrgefühl es ihm zornig befohlen hatte. Er suchte die Worte mit Bedacht.

„Einen guten Freund“, sagte er sehr ernst, „mit dem man so viel geteilt hat, vergisst man nie. Aber du hast recht – ich würde mich in einem Jahr bestimmt nicht jeden Tag an dich erinnern.“

„Genau das meine ich“, sagte der Baron, „genau das ist es. Es ist meine eigene Schuld. Ich habe nur für mich gelebt, all die Jahre lang nur für mich. Und die Jahre sind zu schnell vergangen. Jetzt bin ich alt, wie du selbst gesagt hast, und ich habe nichts, nicht einmal einen Erben. Ich bin der letzte meines Geschlechtes.“

Der Graf zog die Stirn kraus.

„Der letzte?“, wiederholte er argwöhnisch. „Das kann doch nicht sein. Hattest du nicht diesen Vetter?“

„Vor vier Jahren gestorben, kinderlos“, antwortete der Baron. „Es gibt keine Berlingen von Satten mehr. Nicht einen einzigen – außer mir. Nach meinem Tod verfällt das Lehen. Gut Satten wird verschwinden, der Titel wird verfallen, mein Vermögen, alles, was ich bin, wird fort sein. Was bleibt, sind ein paar Erinnerungen.“

Er drehte sich um und beugte sich abrupt vor, dem Freund zu.

„Sieh dich dagegen“, sagte er hart. „Du hast Söhne. Sie mögen manchmal nichtsnutzig sein, manchmal teuer und nervenzerfressend – aber du hast sie. Du hast drei Kinder über ihre Jugend gebracht…“

„Vier“, sagte der Graf, „ich habe auch noch eine Tochter.“ Und biss sich auf die Lippen.

„Sogar noch eine Tochter“, griff der Baron auf. „Du hast Erben! Verstehst du nicht? Wenn du eines Tages gehst, wird jemand kommen, der deine Grafschaft übernimmt. Du bekommst einen Platz im Familienstammbuch, und alles, was du geschaffen oder bewahrt hast, geht an einen Erben. Du hast, im Gegensatz zu mir, nicht selbstsüchtig gelebt. Du hast an dein Land und deine Familie gedacht.“

„Ich hatte aber auch keine große Wahl“, stellte der Graf trocken fest. „Ich hatte kein Vermögen von meiner Mutter ererbt, das mich meinem Vater gegenüber unabhängig machte. Ich musste heimkommen, ich musste gehorchen. Und die Ehe war nicht immer ein Zuckerschlecken. Auch das Vatersein ist es nicht – wie du wohl weißt! Von mir!“

„Ich habe nie gesagt, dass es einfach oder leicht sei“, widersprach der Baron, „dass es nicht Schweiß und Tränen kostet. Es ist, das sehe ich ganz klar, der härtere Weg von beiden. Aber es ist auch der lohnenswertere. Von dir wird etwas bleiben, von mir nicht. Ich habe nur für mich gelebt, und wenn ich aufhöre zu sein, werde ich auch wirklich aufhören zu sein.“

Er holte tief Luft.

„Ich will dies ändern“, sagte er. „Ich will einen Erben. Und ich werde mir einen holen.“

Kapitel 1: Krautjunker

1787

Der Keller war dunkel und ruhig. Zwischen hohen Regalen und dicken Fässern ruhte der Rest der Vorjahresäpfel, zwei Säcke Getreide und eine große Kiste mit Zwiebeln. In Staub und Stille gehüllt standen Flaschen mit seltsam dunkel schimmernder Flüssigkeit, sorgfältig aufgereiht, als ob sie warten würden.

Plötzlich fiel ein Lichtstreifen hinein. Es kratzte, scharrte, dann gab es einen unterdrückten Fluch, und auf einmal war aus dem Lichtstreifen ein offenes Kellerfenster geworden – eine Luke, von den ganz kleinen.

Es wurde wieder dunkel.

„Vorsichtig, vorsichtig!“, erklang eine mahnende Stimme. „Lasst ihn nicht fallen! Passt auf!“

„Wir lassen ihn nicht fallen“, erwiderte schnaufend eine andere, „dann wäre ja alles umsonst. So, weiter geht es nicht – spring!“

Ein tiefes Luftholen, dann das Geräusch von zwei bloßen Füßen, die auf einem gestampften Erdfußboden landeten. Der Keller hatte Besuch bekommen: ein kleiner, vielleicht sieben Jahre alter Junge mit einem dicken Schopf weizenblonder Haare stand regungslos da und sah sich aufmerksam um.

„Da hinten sind sie! Ich seh’s ja von hier!“, erklang die fordernde zweite Stimme von oben.

Der Junge drehte den Kopf in die angesagte Richtung. Ein bezauberndes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er die Flaschen entdeckte. Mit ein, zwei schnellen Schritten war er da, und die Hände im Regal. Schwer bepackt huschte er zurück zum aufgebrochenen Kellerfenster, von wo aus sich bereits wartende Finger hinab streckten. Er reichte die Flaschen hinauf.

Die Kellertür ging auf.

Hastige, entsetzte Stimmen erklangen auf der anderen Seite des Fensters:

„Schnell weg, er kommt!“

„Los, abhauen!“

„Er hat die Rute dabei!“

Scharren, Rutschen, sowie das Geräusch von laufenden Füßen. Ein letztes Paar Hände streckte sich dem Jungen im Keller entgegen, und der zögerte nicht, sprang, packte sie und schwang sich dran hinauf, zwängte sich durch die enge Luke und zappelte, einem Wurm gleich, hinaus.

„Ihr Lauselümmel!“, erdröhnte eine furchterregende Stimme hinter ihm. „Ihr Saukerle! Meinen Pflaumenwein – meinen guten Pflaumenwein! Euch krieg ich!“

Und donnernd klang es, als der Beraubte die Kellertreppe hinaufstürmte, durch die Holztür hinaus platzte, auf den Hof und den in der Sonne glänzenden Vorplatz davor. Er kam keine Sekunde zu früh – um die Ecke bei der Kirche sah er noch die letzten Nachzügler der Diebesbande verschwinden.

Er war ein guter Läufer.

„Los, Georg, renn!“, keuchte der Kleine mit den weizenblonden Haaren, der die Haupttat vollbracht hatte. „Er kommt gleich – oh ja, da kommt er! Los, renn, renn!“

Neben ihm schnaufte ein kaum größerer, aber deutlich blasserer und magerer Junge mit derselben Haarfarbe. Er war ganz und gar auf den Akt des Laufens konzentriert. Die anderen waren längst über die Wiese hinweg, und sie noch hier bei der Kirche, und der Pastor, um Himmels willen, der Pastor ...! Der Kleine drehte sich immer wieder um, packte die Hand des Größeren und riss daran, als könne er ihn so beschleunigen.

Umsonst.

„Es ... es geht nicht ...“, keuchte der Ältere, wurde langsamer, blieb stehen und sackte zusammen. Aus seiner Lunge drang ein brodelndes Pfeifen, ein Giemen und Brummen, so dass der Kleine neben ihm auf die Knie fiel.

„Oh nein, Georg, bitte nicht“, bettelte er. „Los, komm schon, er gibt uns mit der Rute, wenn er uns ... komm schon ...!“

„Es ... es ...“, keuchte Georg, die Hand auf den dünnen Brustkorb gepresst.

Der drohende Schatten fiel über sie. Außer Atem, die besagte Rute in der rechten Hand, ragte der Pastor über ihnen auf.

„Was muss ich sehen?“, donnerte er. „Georg von Altenmark! Ist es zu fassen! Du solltest es besser wissen, als deinen kleinen Bruder Nikolaus zu solchen Schandtaten anzustiften!“

Georg nickte bloß verzweifelt, ganz darauf konzentriert, den Anfall unter Kontrolle zu kriegen. Seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt.

„Georg kann doch nichts dafür!“, jammerte der Kleine und sprang auf die Füße. „Er wollte ja gar nicht! Er ist doch nur mit, damit mir nichts passiert! Er ist doch nur meinetwegen ...“

Dicke Tränen rollten, bettelnde, meerfarbende Augen sahen zu dem Pastor empor. Dieser hielt inne. Es war etwas Merkwürdiges an diesen Augen, grünblau wie die See, etwas das anrührte und traf, selbst, wenn man nicht wollte. Der Pastor holte tief Luft. Georg keuchte noch immer.

„Du weißt, dass es Unrecht ist zu stehlen, Niklas von Altenmark“, sagte er.

Der kleine Blonde nickte und wischte an seinen Tränen.

„Vor allem solltet gerade ihr, die Söhne des Ritters, von solchen Schurkenstreichen Abstand nehmen!“, fuhr der Pastor mit erhobener Stimme fort.

Auch Georg nickte diesmal. Sein Atem begann, sich zu beruhigen.

„Wo ist überhaupt Euer ältester Bruder, Andreas?“, fuhr der Pastor fort.

Niklas erstarrte, und Georg richtete sich auf.

„Es war überhaupt nicht unsere Idee“, sagte er, jetzt, wo er wieder sprechen konnte, „aber sie haben Niklas gefragt, weil er der Kleinste ist und durch das Fenster passt ...“

Und stärker als du, dachte der Pastor.

„Und Niklas hat nicht abgelehnt?“, hakte er dazwischen.

Niklas errötete.

„Ich hätte schon gerne mal probiert“, murmelte er. „Das wird jetzt ja nichts. Über alle Berge sind sie.“

„Ich glaube, du bist noch zu jung für Pflaumenwein“, sagte der Pastor grimmig. „Wer sind sie? Wo sind meine Flaschen jetzt?“

Schweigen. Niklas starrte auf seine bloßen Füße, schmutzig und zerkratzt. Georg räusperte sich. Er hatte keine solchen Skrupel.

„Der dicke Johann war’s“, sagte er. „Der wollte die Flaschen haben, und der hat sie jetzt. Es tut mir leid.“

„Ein wenig spät, was, Georg?“, sagte der Pastor. „Nun denn, der dicke Johann. Mit seinem Vater habe ich sowieso noch zu sprechen. Das wird sich finden. Die Frage ist nur, was mache ich jetzt mit euch? Wo, habt ihr gesagt, ist euer Bruder?“

Gar nichts hatten sie dazu gesagt. Auch Georg kam jetzt auf die Füße, die Wangen brennend, ob von der Anstrengung, der Scham, oder vom Fieber, das war bei ihm nur schwer zu sagen. Er biss sich auf die Lippen.

Niklas hob den Kopf.

„Könnt Ihr uns nicht gehen lassen?“, bat er schlicht.

Der Pastor schüttelte empört den Kopf.

„Ohne Buße?“, erwiderte er. „Wo ihr meinen besten Pflaumenwein gestohlen habt? Um euch daran zu berauschen? Ja, wenn ihr aus Not gehandelt hättet, oder aus Hunger – aber dies war kein harter Winter! Ihr seid nicht am Verhungern!“

Die beiden Jungen sahen sich an. Nein, es war kein harter Winter gewesen, nicht so wie der vor drei Jahren, in dem sie vier Geschwister verloren hatten, und in dem Georg so krank geworden war, dass er sich bis heute nicht richtig erholt hatte. Ein schlimmer Winter war das gewesen, mit Eisfluten, die Menschen in den Tod gerissen hatten.2 Im Vergleich dazu waren die Monate hinter ihnen mild gewesen. Und jetzt war Frühling, fast schon Sommer. Sie litten keine Not. Sie waren bloß arm.

Niklas kaute auf seiner Unterlippe. Dann hob er wieder den Kopf und sagte: „Wir helfen Euch, neuen zu machen! Im Herbst, wenn die Pflaumen reif sind – nicht wahr, Georg? Und Andreas muss es nicht wissen! Ihr könnt viel mehr Pflaumenwein machen, wenn wir Euch helfen! Bitte! Andreas ist sowieso nicht da, er ist drüben, bei den Lichterbergs. Ihr könnt es ja Vater sagen, wenn Ihr wollt.“

Der Pastor hielt inne. Es war überall bekannt, dass der Ritter ganz andere Sorgen als die Lausetaten seiner Sprösslinge hatte. Ein guter Herr über das Dorf war er, der Ritter, ließ seine Ängste nicht an ihnen aus, nahm nur, was ihm zustand, und das konnte man ihm nicht verübeln. Dass seine Kinder besser erzogen sein konnten und der Älteste, selbst gerade mal vierzehn Jahre alt, ein vergeblich strenges Regime führte – nun, das war nicht zu bestreiten. Aber es erschien seltsam unnötig, dem Herrn von Altenmark dies zu seiner Last aufzubürden, oder der Herrin, die entweder schwanger war, Windeln nähte oder eines ihrer Kinder begrub.

Er sah auf die beiden Sprösslinge vor ihm, ein paar nur aus der vielzähligen kleinen Ritterschar. Georg von Altenmark war kränklich, viel zu klein für seine zehn Jahre, aber ein lieber Junge, mit mehr Verstand als man ihm zutraute. Sein kleiner Bruder Niklas hingegen unterschied sich in nichts von den dutzenden Lausebengeln, die braungebrannt und in den abgetragenen Kleidern ihrer großen Brüder durch das Dorf rannten. Der Pastor konnte sich schon vorstellen, wie dieser Streich geboren worden war. Der Zorn über den guten Wein, welcher vermutlich just in diesem Moment hinter irgendeiner Hecke ausgetrunken wurde, brandete wieder in ihm auf. Sein Gesicht wurde finster.

Niklas lächelte, halb erschrocken, halb flehend.

Stille. Der Pastor räusperte sich.

„Nun denn“, sagte er, „so soll es meinetwillen sein. Im Herbst kommt ihr und helft mir bei der Pflaumenernte. Und dann zeige ich euch, wie man Wein macht.“ Der letzte Satz klang bereits wie ein Versprechen und hatte zur Folge, dass Georg ebenfalls zu lächeln begann – wie alles eine blasse Variante seines jüngeren Bruders. Er streckte die Hand aus.

„Versprochen, Herr Pastor“, sagte er.

„Versprochen“, echote Niklas, und sein Lächeln wurde strahlend.

*

Niklas von Altenmark rannte. Diesmal rannte er aber nicht, weil er auf der Flucht war, sondern einfach aus Freude, aus Freiheit, und weil am Ende seines Weges jemand auf ihn wartete.

Er war sieben, nicht größer und nicht wesentlich kleiner als die anderen Jungen seines Alters, und er war glücklich. Niklas war gerne glücklich, einfach so. Und deshalb hatte er Georg nach Hause zurückbegleitet, wo dieser sich in seine warme Ecke am Ofen verzog, um den Schreck auszukurieren, und war wieder davongesprungen, ganz rasch, bevor ihn jemand entdeckte und am Ende noch aufhalten konnte.

Den Weg kannte er im Schlaf, er rannte ihn beinahe jeden Tag. Er führte über die weiten Felder und grünen Wiesen, an einem kleinen Birkenhain vorbei, über einen Bach, und wieder hinaus, aufs offene Land, wo zwischen zwei Äckern eine alte Weide stand.

In den Ästen hockte jemand, wie er erwartet hatte.

„Hat er euch gekriegt?“, fragte Greta-Lina von Suttburg sofort, als er sich zu ihr hochzog.

„Ja“, antwortete Niklas, „aber es war gar nicht so schlimm!“

Greta ließ sich natürlich nicht mit diesen einfachen Worten abspeisen, sondern wollte die ganze Geschichte wissen, ein Mädchen eben. Aber gerade deshalb liebte Niklas sie, gerade deshalb war sie seine beste Freundin – weil sie als Einzige immer die ganze Geschichte hören wollte.

Er hatte so viele Brüder und Schwestern, dass er sie nicht zählen konnte. Die meisten davon waren tot, aber es lebten noch genug, als dass er in der Masse unterging. Niklas störte sich nicht groß daran, war es gewohnt, dass der Vater in der Regel nur von Andreas Notiz nahm, und die Mutter hauptsächlich von dem schwächlichen Georg. Er war es derart gewohnt, einer unter vielen zu sein, dass er sich gewundert hatte, weil der Pastor seinen Namen kannte. Er wusste, er war nichts Besonderes, war einer der Söhne des Ritters – bloß hier, bei Greta, war das anders.

Sie befand sich ziemlich genau in derselben Lage wie er. Auch sie war eine von vielen, auch sie war die Tochter eines völlig verarmten Landadligen, und sie war so unwichtig, dass sie ihre Tage mit Niklas an der alten Weide verbringen konnte, anstatt sticken und wirtschaften zu lernen, wie sie doch eigentlich gemusst hätte. Greta kümmerte sich nur um Sticken und Wirtschaften, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Und am besten ließ es sich vermeiden, wenn sie hier war, bei Niklas, der ihr wortgetreu von der Auseinandersetzung mit dem Pastor berichtete.

„Also war es wirklich nicht schlimm“, folgerte sie am Ende.

„Im Herbst helfen wir ihm beim Pflaumenwein“, sagte Niklas. „Vielleicht gibt er uns dann sogar was ab. Nein, es war überhaupt nicht schlimm.“

„Aber du hättest wegrennen können, wenn Georg nicht gewesen wäre“, setzte sie scharfsinnig nach.

Niklas biss sich kurz auf die Lippen. Niemals hätte er Georg allein zurückgelassen, so, wie der ihn nicht im Keller im Stich gelassen hätte, und Greta wusste das. Sie sagte es nur, weil sie manchmal ein wenig eifersüchtig war.

„Hätt‘ ihn schon gern probiert, den Pflaumenwein“, meinte er schließlich, anstatt zu antworten. „Wie hat er denn geschmeckt?“

„Glaubst du, ich hätte ihn ohne dich getrunken?“, fuhr sie auf. Dann sank sie zusammen und erklärte: „Keiner hat was gekriegt. Der dicke Johann hat alles selbst behalten.“

„Ah“, machte er. „Na, da ist es ja gut, dass Georg ihn verpetzt hat.“

„Hat er?“

„Der Pastor hat ihn halt gefragt.“

Sie dachte kurz darüber nach.

„Ja“, stimmte sie ihm zu, „ist wirklich gut.“

Niklas seufzte, schlang die Beine fest um den Ast, auf dem er saß, und ließ sich hinterrücks herunterfallen. Kopfüber baumelte er am Ast, die Arme wie zur Kreuzigung ausgestreckt. Es war seine Lieblingsposition. Greta fand sie blöd, aber nur, weil sie sie nicht nachmachen konnte. Ihr fiel dabei der Rock über das Gesicht.

Niklas hingegen liebte es, über ein Land zu schauen, was auf dem Kopf stand. Er liebte all dies – die hellen Felder, die saftigen Wiesen, die vereinzelten Haine, die Bäche und Seen. Er wusste natürlich, dass nicht eine Krume dieses Landes jemals ihm gehören würde, aber dann, auf eine bestimmte Art und Weise tat es das doch.

„Ich möchte nirgends lieber sein als hier“, seufzte er.

„Och“, meinte Greta leichthin, die sich aus Blättern eine Krone flocht, „ich schon. Eines Tages werde ich bestimmt mal reisen!“

Das erschrak ihn so sehr, dass er fast abgestürzt wäre. Hastig zog er sich hoch.

„Du willst weg? Wohin?“, fragte er bestürzt.

Sie sah ihn an.

„Willst Du nicht manchmal etwas anderes sehen als das hier?“, fragte sie.

„Nein“, erklärte er mit Inbrunst, „nie!“

„Gar nichts?“, hakte sie nach. „Nicht einmal das Meer? Oder den König? Oder die Berge?“

Worte. Das waren nur Worte. Er wusste, dass es das Meer, den König, die Berge gab, doch sie hatten keine Bedeutung für ihn.

„Nein“, erklärte er nachdrücklich.

„Aber“, sie rutschte dichter an ihn heran, „aber du musst wollen! Weil ich es will! Und ich kann doch nicht ohne dich gehen!“

Ja, das war wahr. Sich zu trennen, war beiden unvorstellbar. Sich zu trennen, das wäre, als würde man einen Teil von sich aufgeben. Sich zu trennen, das durfte nie geschehen.

„Also gut“, gab er nach, „schauen wir es uns halt an – dein Meer, deinen König, und deine Berge. Aber dann kommen wir wieder hierher und bleiben hier!“

Greta lächelte, sichtlich entzückt, dass sie ihren Willen bekommen hatte.

„In Ordnung“, erklärte sie. „So machen wir es.“

„So machen wir es“, bekräftigte er, und sie sahen sich wieder an, beide lächelnd. Ein bekanntes, warmes Gefühl erfüllte Niklas, ein Gefühl der Sicherheit und des Urvertrauens in seine Zukunft. Nie spürte er das so klar wie bei Greta.

Und noch nie war es erschüttert worden.

Andreas von Altenmark, der älteste lebende Sohn des Ritters, störte schließlich ihr trautes Zusammensein. Er kam schnaufend über die Felder gerannt, erkannte den Baum, erkannte die beiden Ungebärdigen darin und blieb stehen.

„Niklas!“, forderte er heftig. „Komm sofort runter! Du musst nach Hause!“

Das war ein direkter Befehl, und direkten Befehlen hatte man unverzüglich zu gehorchen.

„Wir sehen uns morgen“, flüsterte Niklas Greta zu. „Es muss was passiert sein.“

„Erzähl mir alles!“, wisperte das Fräulein von Suttburg rasch zurück, bevor sich ihr Spielgefährte brav vom Baum schwang.

Unten wurde sein Arm sicherheitshalber fest vom Bruder gefasst.

„Wie du aussiehst!“, schüttelte Andreas den Kopf. „Los, lauf! Dich müssen sie aber in der Waschküche erst einmal gründlich schrubben! Und die Hosen sind auch zerrissen – na warte!“

Niklas duckte sich unter der Ohrfeige weg und folgte seinem Bruder gehorsam im Laufschritt nach Hause.

Am Rittergut angekommen zerrte Andreas seinen jüngeren Bruder über die Hintertreppe in die Waschküche und überließ ihn der Mamsell, die beim Anblick der Hosen seufzte und ihren Zorn über die neue Flickarbeit bei einer deftigen Wäsche ausließ, so dass Niklas’ Ohren glühten. Er wurde widerstandslos in seinen besten Anzug gesteckt, ein Erbstück von Andreas. Und dann traf er seine Geschwister allesamt in der kleinen Halle wieder, wo sie aufgereiht wie die Orgelpfeifen saßen, mit glühenden Ohren, in ihren besten Kleidern, stumm und regungslos, wie es sich gehörte.

Niklas setzte sich genauso stumm und regungslos daneben. Er wusste, wann er sich zu benehmen hatte, und dies war definitiv ein solcher Augenblick.

Allerdings zog sich der Augenblick gehörig in die Länge. Eine halbe Stunde verging, noch eine, und die ganz Kleinen wurden sehr unruhig. Greta-Lina war längst nach Hause gegangen und die Kirchturmuhr des Dörfchens läutete bereits zum Abend, als endlich die Tür aufging.

Darin standen Vater, Mutter und ein unbekannter älterer Herr in feinster Garderobe.

„Aufstehen!“, zischte Andreas, und ausnahmslos kam die Kinderschar auf die Beine.

„Unsere Kinder, Euer Hochgeboren“, sagte der Vater und verneigte sich kurz. „Wenn ich vorstellen darf – unsere Söhne. Andreas, der Älteste, dann Georg, Nikolaus, und der kleine Johannes. Unsere Töchter ...“

Aber an den Töchtern war Hochgeboren nicht interessiert. Er nickte ihnen nur einmal zu, wandte sich um und schritt erneut die Reihe der Jungen ab. Alle, bis auf den kleinen, dreijährigen Johannes, starrten stur geradeaus, den Rücken gerade, die Schultern zurückgenommen, wie man es in sie hineingeprügelt hatte.

„Euer Ältester“, sagte der Gast, vor Andreas stehenbleibend. „Der Erbe des Gutes, nehme ich an?“

„So ist es“, beeilte sich der Vater zu sagen, „und er ist ein guter, ehrlicher Sohn, der uns viel Freude macht.“

Andreas’ Kinn hob sich noch ein wenig, seine Ohren glühten jetzt auch. Der Gast musterte ihn und nickte bedächtig.

„Wie alt bist du, Junge?“, fragte er.

„Vierzehn, Euer Hochgeboren“, antwortete Andreas fest.

„Vierzehn“, murmelte der Gast, nickte erneut und trat weiter. Seine Stirn runzelte sich.

„Euer zweiter Sohn?“, vergewisserte er sich.

Diesmal war es die Mutter, die bejahte.

„Georg“, sagte sie. „Er ist sehr fleißig und klug! Er macht seinen Lehrern die meiste Freude!“

„Gut, gut“, sagte der Gast, „wie alt, Junge?“

„Zehn“, sagte Georg und setzte nach einem Moment, „Euer Hochgeboren“, hinzu. Er kämpfte mit dem Husten, sah Niklas, das tat er immer, wenn er aufgeregt war.

Aber er selbst war ebenfalls ganz schön aufgeregt, denn jetzt kam die Reihe an ihn. Obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wer dieser fremde Mann war, dem seine Eltern so viel Ehre zukommen ließen – dass sie hier geprüft wurden, eine unbekannte Prüfung mit unbekannten Fallstricken, das war auch ihm bewusst. Er hielt sich kerzengerade und sah stur geradeaus.

„Das ist Nikolaus“, sagte die Mutter. „Wir nennen ihn Niklas.“

„Sieben, Euer Hochgeboren!“, donnerte Niklas heraus – und errötete heftig, denn er hatte gesprochen, bevor er gefragt worden war. Er konnte Andreas’ drohenden Blick wie eine Ohrfeige spüren. Verlegen senkte er den Kopf.

„Sieben, so“, sagte der Fremde nicht ohne Belustigung, „und das neben dir ist dein kleiner Bruder, vermute ich?“

Niklas wagte es, den Kopf wieder zu heben. Offenbar war der Fremde nicht zornig.

„Das ist Johannes, Euer Hochgeboren“, sagte er. „Er ist erst drei. Aber er weiß das noch nicht.“

Nein, Johannes wusste in diesem Moment vermutlich gar nichts. Völlig eingeschüchtert starrte er zu dem fremden Mann hinauf und brachte kein Wort heraus. Der fremde Mann wiederum nickte erneut, musterte die vier, streckte seine Hand aus, legte sie kurz auf Niklas’ Kopf, als wolle er ihn segnen, und wandte sich dann zu den Eltern um.

„Ich habe Euch ein Angebot zu machen“, sagte er brüsk.

Kapitel 2: Die Pläne des Herrn Baron

1787

Das war es dann auch schon gewesen, mehr bekamen sie vom Besuch des edlen Gastes vorerst nicht mit. Die Eltern zogen sich mit ihm zurück, und Andreas scheuchte seine Geschwister in die Küche, wo sie erst ihre guten Kleider loswurden und zum Ausgleich dann etwas zu essen bekamen. Die Besprechung oben dauerte weit darüber hinaus an. Nicht einmal zum Gutenacht-Sagen kam die Mutter heraus.

Niklas schlief dennoch süß und selig.

Der nächste Morgen begann seltsam. Anstatt wie üblich von der Mamsell oder – falls er besonders müde war – von Andreas mit Kopfnüssen geweckt zu werden, erwachte er, weil sich neben ihm jemand bewegte, und zwar auf seiner rechten Seite. Das war höchst ungewöhnlich – rechts von ihm lag nämlich keiner, da kam die Bettkante. Links schnaufte Georg in seinem schweren Schlaf, daneben erklang Andreas’ rascher, leichter Atem – aber rechts hätte eigentlich niemand sein dürfen. Niklas blinzelte.

Die Mutter saß dort und sah ihn an.

Als sie seine offenen Augen bemerkte, wischte sie rasch über ihre Lider, die merkwürdig rot waren. Dann beugte sie sich wortlos vor und zog ihren Sohn an sich.

Niklas war völlig perplex. Das kannte er ja gar nicht! Andreas, der Älteste, ja, der war hin und wieder so ausgezeichnet worden, oder Georg, der Kränkste – aber er?

Seine Brüder regten sich, als die Mutter ihn losließ. Er begegnete für einen Moment Andreas’ misstrauischem und Georgs besorgtem Blick, bevor sie ihn aus dem Bett zog. Barfuß, im Hemd, tappte Niklas hinter ihr her über die kalten Steine, bis sie im Elternschlafzimmer angelangt waren, wo – weitere Verblüffung – eine dampfende Badewanne vor dem Feuer stand.

Niklas hatte noch nie warm gebadet, nicht mal im Winter – und schon gar nicht im Schlafzimmer der Eltern! Und außerdem – er hatte doch erst gestern baden müssen!

Er protestierte, aber die Mutter, nach wie vor schweigsam, zog ihm einfach das Hemd aus und bedeutete ihm unmissverständlich, dass er sich zu fügen hatte. Dann beschäftigte sie sich lange Zeit mit einer äußerst gründlichen Reinigung ihres Sprösslings, an deren Ende Niklas nur noch verwirrter war.

Keine seiner Fragen wurde beantwortet! Und irgendetwas Schlimmes musste passiert sein, denn sie weinte ja beinahe unaufhörlich!

Nach dem Bad wurde er wieder in Andreas’ alten Anzug gesteckt, der trotz glänzender Nähte und Flicken tadellos gebürstet und hergerichtet war.

Niklas schnürte sich die Kehle zu.

„Habe ich was angestellt?“, fragte er bang. „Was habe ich denn gemacht?“

Die Mutter jedoch sagte immer noch nichts, sondern brachte ihn hinunter in das Zimmer, wo sein Vater schon auf ihn wartete.

Niklas hatte bereits des Öfteren hier gestanden, in Erwartung einer gehörigen Tracht Prügel. Aber in solchen Fällen hatte er immer gewusst, warum, und in solchen Fällen war ihm zuvor auch nicht eine derartige Behandlung angediehen worden. Er war vollkommen verwirrt, und dieser Verwirrung half schon gar nicht, dass der Vater besonders steif und ungelenk wirkte, wie er da in seinem hohen Stuhl Zuflucht zu suchen schien.

Niklas schluckte, seine Lippen begannen zu beben.

„Nikolaus, mein Sohn“, sagte der Ritter sehr ernst und sehr streng. „Du hast Grund zur Freude. Dir ist ein großes Glück widerfahren.“

Danach hielt er eine lange Rede, die Niklas nur in Ansätzen begriff. Irgendwann war der Satz gefallen, dass er heute noch abreisen würde, fort vom Anwesen der Altenmarks, fort für „wenn auch nicht immer, dann zumindest sehr lange Zeit.“ Von diesem Moment an hatte etwas in Niklas ausgesetzt, wie ein Pulsschlag, ein Trieb, der ihn bislang auf Spur gehalten hatte. Er war vollends und zuinnerst erschüttert und bekam folglich nur noch die Hälfte mit.

Baron von Satten, dieser fremde, hochgeborene Mann, war ein entfernter Verwandter, von dem man bislang gar nichts gewusst hatte. Er war kinderlos, unverheiratet und steinreich. Irgendeine Urgroßmutter des Ritters war eine von Satten gewesen, wie der Baron nach langer, aufwendiger Recherche herausgefunden hatte. Und da sie seine einzigen Verwandten waren, bot er sich an, ihn, Niklas, zu erziehen und zu seinem Erben auszubilden, und das alles unentgeltlich! Er würde sogar die Schulden der Familie zahlen, so dass Andreas ein Erbe und seine Geschwister ein Auskommen haben würden! Dafür würde Niklas mit ihm gehen und seine Familie verlassen, aber was machte das schon, wenn man eines Tages vermögend und von Rang sein würde, das verstand er sicherlich, und deshalb sollte er sich bemühen, dem Baron immer zu gefallen, ihm stets zu gehorchen und seinen Wünschen noch zuvorzukommen, denn dieser sei ein großer Wohltäter für ihn.

Er sollte fort?

Jetzt gleich?

Niklas kam es vor, als sei er unerwartet und ungewarnt in einen Traum geraten, einen Alptraum. Er war wie gelähmt, unfähig sich zu wehren oder gegen das zu protestieren, was ihm hier geschah. Er konnte nicht einmal sprechen, nicht einmal sagen, dass ihm großartige Erziehung, Geld und Titel vollkommen egal waren. Er wollte hier sein, bei seiner Familie, bei Greta und ihrem Baum, hier war doch sein Zuhause, seine Zukunft, sein Ein und Alles ... Verstand das denn keiner?

Aber wie sollte jemand verstehen, was in ihm vorging, wenn er kein Wort hervorbrachte?

Nach dem Gespräch mit dem Vater führte man ihn zum Frühstück zu dem Baron, den er nur anstarren konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keinen Hunger und konnte nichts essen. Zum ersten Mal war er völlig verstummt und fassungslos. Und zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in seinem Leben taten Mächtigere mit ihm, was sie wollten.

Zum Abschied, noch vor der Mittagsstunde, waren alle Bewohner des Anwesens angetreten, staunend, berührt vom Glück des kleinen Junkers. Einige hatten echte Tränen vorzuweisen, doch die meisten dachten eher pragmatisch und bejammerten weniger den Abschied, als dass sie hofften, der mächtige Fürst würde sich eines Tages wieder an sie erinnern, und dass man ihm Äpfel geschenkt und beim Reiten geholfen hatte, aber nicht an die Ohrfeige oder die anständige Tracht Prügel.

Niklas nahm von all diesen Wünschen nichts wahr. Er spürte, wie seine Mutter ihn noch einmal fest an sich drückte und küsste, er sah Andreas’ erstarrten, wie aus Marmor erscheinenden Blick, und wie sich der Älteste abrupt abwandte. Er hörte Georg husten. Dann umarmte ihn sein mittlerer Bruder und flüsterte in Niklas’ Ohr: „Lass es ihn nie wissen, hörst du? Lass es ihn nie wissen!“

Was denn, wollte Niklas fragen, aber dazu war keine Zeit mehr. Eigenhändig hob der Vater ihn in den Wagen. Die Tür schloss sich mit einem Knall, der Kutscher schrie, und die Pferde zogen an. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden, nachdem die Kutsche aufgetaucht war, nahm sie bereits den Rückweg.

Greta-Lina von Suttburg, die an diesem Tag vergeblich an der alten Weide wartete, erfuhr erst am Abend vom Glück ihres Freundes.

Aber da war Niklas längst über alle Berge.

*

Niklas konnte kaum schlucken. Er konnte nicht weinen, er konnte nicht sprechen. Das Einzige, was irgendwie zu funktionieren schien, war zu atmen, schwer genug. Dies tat er, sonst nichts. Das hieß, er hielt sich natürlich fest, weil er ansonsten durch das Gefährt geschleudert worden wäre.

Nach einer Weile, in der nichts weiter geschehen war, als dass sie in rasendem Tempo über die Landwege holperten, beugte sich der fremde Baron vor, klopfte gegen das vordere Fensterchen und rief: „Ein wenig langsamer, ja? Wir sind nicht auf der Flucht!“

Der Kutscher reduzierte das Tempo widerspruchslos. Und Niklas, der jetzt immerhin von allein atmen konnte, nahm seinen Mut zusammen und schaute den Mann unter gesenkten Wimpern an.

Dass er mit einem so feinen Herrn verwandt sein sollte ... Der Baron war in schlichte, jedoch teure Stoffe gehüllt. Glänzende Schuhe mit Schnallen bedeckten seine Füße, weiße Strümpfe reichten bis an die Knie, darüber schloss sich eine dunkle Hose mit Biesen an. Die Weste war reich bestickt, das Hemd weit gefältelt und voller Spitzen. Nur die Jacke, die bestach wieder durch schlichte Eleganz. Auf dem Kopf trug er eine kurze Perücke, so dass man seine echten Haare nicht sehen konnte.

Aber obwohl sie bestimmt grau waren, wirkte der Baron nicht alt – nicht so, wie der alte Müller oder die Trude in der Küche. In seinem Gesicht befanden sich Falten, vor allem um die Augen herum, doch seine Wangen schienen glatt, sauber rasiert, und die meisten seiner Zähne hatte er offensichtlich auch noch. Die Hände konnte Niklas nicht sehen, da er feine Handschuhe trug. In der rechten hielt er lose einen Spazierstock, aus dunklem Holz und mit silbernem Knauf.

Mit der linken hielt er sich fest, was auch er musste. Und sein Blick ruhte auf Niklas, seltsam unbehaglich wirkend.

Niklas senkte hastig den Kopf.

Einen Moment war es still, dann räusperte sich der Baron.

„Hast du Hunger, mein Junge?“

Essen war bestimmt ein Ding der Unmöglichkeit. Niklas schüttelte stumm den Kopf.

„Aber du hast zum Frühstück kaum etwas gegessen.“

Nun, das war richtig. Und als ob sein Magen ihn daran erinnern wollte, begann er zu knurren. Niklas biss sich auf die Lippen.

„Also“, murmelte der Baron, klopfte erneut mit dem Spazierstock gegen die Luke und rief: „Am nächsten Rasthaus wird gehalten!“

Niklas hatte noch nie ein Rasthaus aufgesucht – warum auch, er hatte ja noch nie die elterlichen Gefilde verlassen. Ein wenig verwirrt beobachtete er, wie ein Becher Milch und ein Teller Suppe vor ihm hingestellt wurden, und wie der feine Diener, der hinten auf der Kutsche mitreiste, dafür bezahlte. Aber dann drang der Duft des Essens in seine Nase, die Natur gewann die Oberhand, und er aß, allem würgenden Gefühl zum Trotz.

Ein Rasthaus, beschloss er, war zumindest eine gute Sache.

*

Ob er denn lesen könne?

Ja, sagte Niklas, den Katechismus.

Und ob er schreiben könne?

Seinen Namen, antwortete Niklas.

Das war natürlich nicht viel, was ihm inzwischen durchaus bewusst war. Nach dem Mittagessen hatten sie rasch wieder die Kutsche bestiegen, und die Fahrt war weiter gegangen. Mit etwas Wärme im Bauch ließ es sich weitaus leichter atmen und schlucken, fand Niklas. Aber nun hatte der Baron begonnen, Fragen an ihn zu richten, und das Ergebnis schien ihn, gelinde gesagt, nicht zufriedenzustellen.

Ob er die alten Griechen kennen würde?

Niklas dachte bei sich, wenn er die kennen würde, hätte er bestimmt schon einmal davon gehört, und so schüttelte er den Kopf.

Ob ihm Descartes, Voltaire und Rousseau ein Begriff wären?

Nein, das waren sie nicht.

Ob er denn wüsste, wer sein Landesherr wäre?

„Der König von Preußen?“, antwortete Niklas unsicher, worauf der Baron einen Moment fast so aussah, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Und so ging es weiter. Anhand der Fragen des Barons wurde Niklas zum ersten Mal seine eigene Unwissenheit bewusst. Er war also schon auf den ersten Schritten eine Enttäuschung für seinen Wohltäter, und das war nun wirklich kein vielversprechender Anfang. Seine Antworten wurden immer leiser, immer zaghafter, und irgendwann schien der Baron zu begreifen, was für eine Qual das war, denn er verstummte.

Niklas fand das Schweigen deutlich angenehmer als zuvor.

Bei Abenddämmerung steuerte man ein Gasthaus an, wiederum eine Premiere für Niklas. Er aß in der Gaststube zu Abend, wurde dann von dem Diener in den Nebenraum gebracht, wo er ausgekleidet und ins Bett gesteckt wurde. Der Baron hatte es sich bereits im großen Zimmer in einem Sessel gemütlich gemacht, wie Niklas erkennen konnte, bevor die Tür sich schloss.

Die Tür schloss sich.

Die Tür war zu.

Er war allein.

Allein ...

Niklas war noch nie allein gewesen.

Einen Moment lang lag er einfach nur da, regungslos. Es war dunkel, es war vollkommen still. Niemand schnaufte, niemand keuchte, kein Stroh raschelte von unruhigen Füßen. Ruhe. Absolute, vollkommene Ruhe und Finsternis.

Es traf ihn wie ein Schlag, fast wie aus dem Nichts heraus. Urplötzlich brach all das über ihn hinein, was er den Tag über nicht hatte fassen können, was er am liebsten sofort ungeschehen gemacht hätte, was niemals hätte geschehen dürfen.

Er war allein, hatte seine Familie und sein Zuhause verlassen ...

Er hatte sich von Greta nicht einmal verabschieden können ...

Er würde eine Ewigkeit lang nicht zurückkehren, so hatte es geheißen, und wer wusste schon, wer noch da sein würde, wenn er kam ...

Er war auf Gedeih und Verderb einem Fremden ausgeliefert, den er weder kannte noch überhaupt kennen wollte ...

Er war allein ...

Er war allein, so allein ...

Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, das Schluchzen, das krampfhafte, verzweifelte Weinen zu unterdrücken. Der Schmerz, die Fassungslosigkeit und das Entsetzen waren größer als Niklas. Alles, was er tun konnte, war, sich zusammenzurollen, mit der Decke die Laute ersticken zu versuchen. Und das tat er auch – ziemlich lange Zeit.

Plötzliche Helle schreckte ihn hoch. Er hatte keine Ahnung, wie lange er hier schon lag und heulte. Und er hatte zwar eine ungewisse Vorstellung, dass sein Kummer nicht willkommen sein würde – waren doch die, die bei ihm waren, ursächlich dafür – aber er war zu verängstigt und zu verzweifelt, um seinen Schmerz zu verstecken. Nicht in der Lage, falschen Mut zu heucheln, blieb er einfach so sitzen, wie ein Lamm auf der Schlachtbank, und starrte seinem Henker entgegen.

In der Tür stand der Baron.

Erstaunlicherweise fing er nicht an zu schreien oder zu ohrfeigen. Er stand einfach nur da, stumm, ein wenig irritiert, und vor allem ziemlich ratlos wirkend.

Niklas zog die Nase hoch.

Der Baron tat einen Schritt, noch einen, setzte sich auf die Bettkante, holte sein Taschentuch hervor und streckte die Hand aus. Niklas fuhr automatisch zurück, bevor er realisierte, dass der Baron ihm vermutlich einfach nur die Tränen hatte abwischen wollen.

Nun, ein derart offensichtliches Zurückzucken konnte man nicht ungeschehen machen. Beide verharrten schweigend, unsicher.

„Du weinst“, stellte der Baron fest.

Niklas sagte nichts, die Tatsache war ja offensichtlich. Der Baron atmete tief ein.

„Du weinst“, wiederholte er, „und ich glaube, du hast auch Angst. Du fühlst dich verraten und verkauft, nicht wahr? Fern von allem, was dir lieb ist, mit einem völlig Fremden ...“

Niklas spürte, wie das Schluchzen wieder in ihm hochkroch. Seine Unterlippe begann, erbärmlich zu zittern.

Auf der Stirn des Barons entstanden kleine Schweißperlen.

„Es ging dir bestimmt alles zu schnell“, fuhr er fort. „Du hast es noch gar nicht richtig begriffen. Und wenn du könntest, würdest du sofort umkehren, nicht wahr?“

Umkehren? War das ein Angebot?

Doch der Baron schüttelte den Kopf, als habe er die aufflammende Hoffnung gesehen.

„Gib nicht so rasch auf, mein Junge“, sagte er. „Ich weiß, du und ich, wir kennen einander nicht. Aber das wird die Zeit ändern. Du wirst sehen, ich bin ein verträglicher Geselle.“

Nun, das sagte er. Niklas war sich da gar nicht sicher. Vorsichtshalber senkte er den Kopf. Der Baron fuhr sich mit dem Tuch zur Abwechslung über die eigene Stirn.

„Ich verstehe deine Angst“, sagte er, beinahe drängend, „die Angst vor dem Unbekannten, der Abschiedsschmerz, das Heimweh – ich verstehe das alles. Ich habe Ähnliches durchgemacht, als ich damals aufbrach.“

Niklas sah erstaunt auf. Dem Baron war etwas Ähnliches widerfahren?

Das war erstaunlich! Das war bedenkenswert!

Als der Mann diesmal mit dem Taschentuch über Niklas‘ Wangen wischte, wich er vor lauter Verblüffung nicht zurück.

„Ich verstehe dich“, wiederholte der Baron leise. „Ist es nicht so? Sind die Dinge nicht wahr, die ich genannt habe?“

Niklas antwortete nicht, er biss sich auf die Unterlippe. Der Baron beugte sich vor und nahm seine Hände.

„Du brauchst keine Angst davor zu haben, mir die Wahrheit zu sagen“, sagte er sehr ernst. „Hör zu, mein Kleiner. Du und ich, wir sind einander fremd, aber wir wollen hier und jetzt eine Abmachung treffen. Wir werden uns nie anlügen, verstanden? Du sagst mir die Wahrheit, selbst wenn sie unangenehm ist und du sie lieber verschweigen würdest. Eine Lüge wäre noch viel unangenehmer. Und ich verspreche dir, auch immer die Wahrheit zu sagen, selbst wenn andere das nicht tun würden. Wollen wir uns das versprechen? Immer ehrlich zu sein?“

Immer ehrlich sein? Nun, fairerweise musste man sagen, dass Niklas dies in seinem Leben bislang nicht geschafft hatte. Er hatte genauso viel und genauso wenig wie die meisten Kinder seines Alters gelogen. Mit manch einer Lüge war er durchgekommen, manch andere war böse auf ihn zurückgefallen. Aber in Anbetracht der großen, völlig unbekannten Zukunft, die vor ihm lag, in Anbetracht seines kläglichen Versagens bei der nachmittäglichen Befragung schien ihm dies eine simple Aufgabe zu sein.

Ehrlich sein. Seinen Wohltäter nicht belügen – nun denn, das klang gerecht. Er nickte.

Der Baron lächelte.

„Sehr gut“, sagte er. „So, Niklas. Dies ist das Einzige, was ich jetzt von dir verlange – ehrlich zu sein, mehr nicht. Du musst keine Aufgaben bewältigen, mich nicht amüsieren, keine Prüfungen bestehen, nichts. Du musst nur ehrlich sein, und mir ehrliche Antwort geben. Das ist alles, was dich momentan erwartet. Meinst du, dass du das kannst?“

Nach einem Moment nickte Niklas erneut. Wenn das wirklich das Einzige war, dann würde er das wohl schaffen.

Das Lächeln des Barons wurde breiter.

„Also, habe ich recht gehabt mit dem, was ich sagte?“, forderte er. „Du hast Heimweh, nicht wahr? Nach deinen Eltern, deinen Geschwistern ... noch jemandem?“

Erst hatte Niklas Angst davor, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen. Aber dann überwand er sich und sprach das aus, was ihn am brennendsten schmerzte.

„Greta“, flüsterte er.

„Und Greta“ sagte der Baron, der doch gar nicht wissen konnte, wer das war. „Die sind alle weit weg jetzt. Aber glaub mir, mein Junge, du wirst sie wiedersehen. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann. Eines Tages wirst du wieder nach Altenmark kommen, und du wirst die Taschen voller Geschenke für sie haben. Wäre das schön?“

Diesmal musste er auf seine Antwort nicht warten.

„Ja“, hauchte Niklas.

„Das wird nicht heute und nicht morgen“, wiederholte der Baron ernst, „aber wir haben Zeit. Die richtigen Geschenke müssen ja auch ausgesucht werden, nicht wahr? Vielleicht besorgst du deiner Mutter einen französischen Kopfputz, oder deinem Vater einen feinen, englischen Sattel? Vielleicht freut dein Bruder sich über ein türkisches Krummschwert, und deine Schwestern über italienisches Konfekt? Was meinst du?“

„Ja“, wiederholte Niklas mit glänzenden Augen, obwohl er nur die Hälfte davon verstanden hatte.

„Wir werden uns das alles ansehen und die richtigen Gaben auswählen“, lächelte der Baron. „Du wirst sehen, mein Junge. Ich werde dir die Welt zeigen. Und du wirst sie erobern – dafür werde ich schon sorgen. Vergiss das nicht, ja? Du ziehst aus, die Welt zu erobern. Und du wirst siegreich zurückkehren, wenn die Zeit gekommen ist.“

„Ja“, sagte Niklas ein drittes Mal, diesmal mit gänzlich getrockneten Tränen.

„So“, sagte der Baron, „dann weine jetzt nicht mehr. Du solltest schlafen, wir haben morgen einen langen Tag vor uns.“

Aber das war wieder zu viel. Die Aussicht, erneut allein zurückzubleiben, ließ Niklas’ ganzen frisch geschaffenen Mut in sich zusammensacken wie eine Sandburg bei Flut. Seine Augen füllten sich unwillentlich erneut mit Tränen.

„Was ist denn?“, fragte der Baron mit erschrocken klingender Stimme.

Niklas errötete. Er zupfte an seiner Decke und schwieg.

Der Baron räusperte sich.

„Die Wahrheit“, mahnte er. „Erinnerst du dich? Wir wollen immer ehrlich miteinander sein!“

Niklas schluckte. Ja, das hatte er gerade versprochen, und jetzt war er bereits wieder kurz davor, zu versagen. Also hob er den Kopf und sagte rasch: „Aber ich habe noch nie allein geschlafen!“

Der Baron hielt irritiert inne. Vermutlich hatte er nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Niklas mit einem eigenen Bett – geschweige denn vom eigenen Zimmer – überfordert sein würde. Er zögerte sichtlich.

Doch nach einem Moment beugte er sich vor und sagte: „Dann kommst du eben mit rüber. Du kannst bei mir schlafen, bis Ludorff zurück ist und ich zu Bett gehe.“

Sprach‘s, hob, kaum dass er die Worte gesagt hatte, Niklas einfach mit seiner Decke hoch, und trug ihn nach nebenan. Es war erstaunlich angenehm, warme, menschliche Arme um sich herum zu spüren, stellte Niklas verblüfft fest. Der Baron roch gut, nach irgendeinem unbekannten Duft, und sein Griff war fest, ohne wehzutun. Am großen Bett angelangt, setzte er Niklas ab, der sich nach einem Moment des puren Staunens in seine Decken wickelte.

Der Baron trat zu seinem Sessel und ließ sich nieder, ganz wie zuvor.

„Siehst du?“, sagte er. „Du bist nicht allein. Ich sitze gleich hier drüben. Und nachher wirst du auch nicht allein sein, denn Ludorff liegt im selben Zimmer wie du. Ist das besser?“

„Ja“, sagte Niklas zögernd, „es ist besser.“

„Also“, meinte der Baron, „dann schlaf jetzt. Es ist spät.“

Und Niklas zögerte nicht länger, rollte sich zusammen wie ein Hündchen, und schloss gehorsam die Augen.

Jemand, der auszieht, die Welt zu erobern ... dachte er im Stillen, sich die Worte des Barons wiederholend, die den meisten Eindruck auf ihn gemacht hatten. Er zog aus, die Welt zu erobern.

Was tat eigentlich jemand, der auszog, die Welt zu erobern?

Und darüber schlief er wirklich ein.

Kapitel 3: Erste Schritte

1787

Niklas erwachte am nächsten Morgen wider Erwarten im großen Bett, und zwar allein, so wie er eingeschlafen war. Einen Moment lang war er vollkommen desorientiert, richtete sich auf, gähnte und blinzelte verwirrt.

„Guten Morgen“, sagte der Baron. „Hast du gut geschlafen?“

Die Erinnerung an den Vortag und die Nacht kamen zurück. Niklas rieb sich über die Augen.

„Ja, Euer Hochgeboren“, sagte er zaghaft.

Jetzt, im hellen Tageslicht, waren die Tränen vielleicht getrocknet, doch er war sich umso mehr der Fremdheit und der neuen Situation bewusst. Der Baron aber schien entschlossen, am Vorabend anzuknüpfen.

„Du brauchst nicht ganz so förmlich mit mir zu sein“, sagte er freundlich. „Es reicht, wenn du mich ihrzt und mit Herr Baron oder ... oder meinetwegen nenne mich deinen Onkel. Das wird das Einfachste sein, denke ich.“

Niklas, auf dem Bett, blinzelte erneut. Dann nickte er brav.

„Ja, Onkel“, sagte er.

Für einen Moment sah der Baron beinahe gerührt aus.

Dann jedoch hob er das Kinn und sagte forsch: „Ludorff, ich nehme einmal an, dass wir hier keine Schokolade bekommen werden. Aber ein Frühstück sollte wohl zu erhalten sein, nicht wahr?“

„Gewiss, Herr Baron“, sagte der Diener und verbeugte sich. „Ich werde sofort danach schicken.“

„Sehr gut“, sagte der Baron, „und danach helft dem Junker beim Waschen und Anziehen. Wir haben noch viel vor. Ach – und Niklas?“

„Ja, Onkel?“

„Meinst du, dass du heute Nacht in deinem eigenen Bett schlafen kannst?“

Das klang seltsam gequält. Niklas war irritiert, aber zuckte schließlich mit den Schultern. Er würde wohl nicht drum herum kommen, so oder so.

„Ich denke schon“, meinte er artig.

Beinahe wäre ihm entgangen, wie der Diener Ludorff sich ein Grinsen verkniff. Und beinahe hätte er auch nicht gehört, wie der elegante Baron in seinen nicht existenten Bart murmelte: „Dem Himmel sei Dank. Wer hätte aber auch gedacht, dass ein so kleiner Kerl so treten kann.“

Niklas beschloss klugerweise, beides zu ignorieren.

Das Frühstück war schnell verzehrt, die Kutsche angespannt, und die Reise wurde fortgesetzt. Am Nachmittag erreichten sie Berlin.

Für Niklas war es das erste Mal, dass er Preußens Hauptstadt sah. Er staunte sich fast die Augen aus dem Kopf. Noch nie hatte er solche Häuser gesehen, oder so viele Menschen auf einem Platz. Am liebsten hätte er Fragen über Fragen gestellt, doch zwischen seinem schwankenden Mut und den ständig wechselnden Eindrücken war kein Raum dafür. Er war schlichtweg sprachlos, während die Kutsche zielsicher eine Unterkunft ansteuerte, sie ausstiegen und abgeladen wurde, und der Baron sich mit einem Mann mit Bart und dunklem Teint besprach, der auf sie gewartet hatte.

Das war Señor Alvarez, der Reisemarschall.

„Wir werden nicht lange bleiben“, sagte der Baron. „Mietet für drei Tage und beantragt die notwendigen Papiere für das Kind. Aber als erstes werden wir einen Schneider aufsuchen, der Junge braucht dringend etwas Passendes zum Anziehen. Das muss so schnell wie möglich gehen. Morgen oder übermorgen möchte ich zum König, und da soll er mich begleiten.“

„Sehr wohl, Euer Hochgeboren“, nickte Alvarez. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“

Ein distanzierter Blick mit hochgezogenen Augenbrauen traf den kleinen, ungeniert lauschenden Krautjunker in seinen geerbten Kleidern. Aber Niklas störte sich nicht dran. Ihm war auch egal, dass er neu ausstaffiert werden sollte. Wichtiger, viel wichtiger als das war, dass der Baron ihm mit zum König nehmen wollte!

Zum König von Preußen!

So war er denn auch ganz hibbelig und kribbelig, als man ihn zum Schneider brachte. Er konnte kaum stillhalten während der Anprobe, und als der Baron damit anfing, ihn mit den Grundlagen der verschiedenen Stoffe vertraut machen zu wollen, war es ihm ein Unding zuzuhören. Wer wollte denn über Satin und Sammet diskutieren, wenn ein König winkte! Was Greta dazu sagen würde, sobald er wieder daheim war! Und er würde ja wieder nach Hause kommen, die Taschen voller Geschenke! Und voller Geschichten!

Niklas konnte es kaum noch erwarten. Während in der Schneiderstube nach ihrem Fortgang mit Hochtempo zu arbeiten begonnen wurde, versüßt durch einen ordentlichen Bonus des Barons, zappelte er in der Kutsche seines neuen Nennonkels hin und her. Sogar seine Scheu kapitulierte schließlich vor seinem Wissensdurst. Niklas platzte fast, bis endlich die erste Frage aus ihm hinausschoss, und als sie freundlich beantwortet wurde, war der Damm gebrochen.

Es gab aber auch so viel anzuschauen und zu fragen.

„Was sind das für Leute? Warum sehen die so aus?“, plapperte er, mit riesengroßen, hin und her huschenden Augen.

Der Baron antwortete, erklärte, geduldiger, als manch einer erwartet hätte. Als Niklas aber wissen wollte, wer denn die Damen mit den roten Schleifen auf dem Korso waren, hatte er genug und zog die Vorhänge vor.3

„Hat sich doch ganz schön was getan in Berlin, seitdem der Alte Fritz tot ist“, murmelte er.

Der Alte Fritz, das hatte Niklas inzwischen erfahren, war der frühere König von Preußen gewesen, welcher im Vorjahr gestorben war. Jetzt regierte sein Neffe Friedrich Wilhelm, und dem sollte er am nächsten Tag begegnen.

„Was wollen wir denn vom König?“, fragte er.

Der Baron betrachtete ihn mit einem milden Gesichtsausdruck.

„Wir sind in Berlin, um ein paar juristische Dinge zu klären“, sagte er. „Genauer gesagt brauchst du eine Erlaubnis, um das Land verlassen zu dürfen. Du bist immerhin preußischer Untertan. Und der König würde es mir übelnehmen, wenn ich in Berlin wäre, ohne ihm meine Aufwartung zu machen. Ich kenne ihn gut.“

Niklas hielt daraufhin den Mund. Der Baron kannte den König gut! Was für ein angesehener Mann er sein musste.

Etwas unsicher sah er unter den Wimpern zum Baron hinauf. Mächtig, elegant und allwissend erschien der ihm. Er entschied einfach, und Niklas selbst hatte bei seiner eigenen Zukunft überhaupt kein Mitspracherecht, war weder auf dem Gut noch jetzt gefragt worden, was er eigentlich wollte. Es schien, als ginge der Baron schlicht davon aus, dass Niklas mit ihm kommen wollte oder sich zumindest fügen würde – ganz egal, was er dafür aufgeben musste.

Der Baron hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihn mitzunehmen, und wenn er sogar der Freund eines Königs war, dann gab es vermutlich gar nichts, was Niklas dagegen unternehmen konnte. Da war es besser, sich zu fügen. Da war es sogar ratsam, den Schmerz tief in sich zu vergraben und nicht daran zu rühren.

Niklas schwieg. Aber er dachte an Greta.

Am nächsten Morgen wurden die über Nacht angefertigten Kleider geliefert. Er trennte sich für immer von seinem alten Anzug, den Johannes doch vielleicht noch hätte auftragen können. Stattdessen wurde Niklas in Seide und Samt gesteckt, seine alten Schuhe wichen gewienerten Stiefeln, und seine kurzen Haare wurden gekämmt und in einen winzigen Zopf im Nacken gezwängt.

Auch der Baron putzte sich heraus. Die elegante Perücke auf dem Kopf, den Gehstock in der linken Hand, griff seine Rechte nach Niklas’ Schulter und dirigierte ihn in die Kutsche hinein und wieder hinaus, als sie am Schloss angekommen waren.

„Dies ist eine inoffizielle Audienz“, erklärte der Baron. „Es wird also nicht ganz so förmlich zugehen. Dennoch erwarte ich von dir dein bestes Benehmen. Sprich nur, wenn du etwas gefragt wirst, steh gerade und fass nichts an. Halte dich an meiner Seite – und hab keine Angst. Friedrich Wilhelm ist ein verträglicher Mensch.“

Niklas, dem der Kopf schwirrte, wollte schon fragen, ob er wirklich dabei sein musste, aber er schloss schnell wieder den Mund.

„Seine Majestät ist beim Tee. Also – rede nur, wenn man dich anspricht“, prägte der Baron seinem aufgeregten Schützling noch einmal ein, „und sag nur das, wonach man dich fragt. Halt dich gerade – sehr gut! Zumindest das hast du gelernt.“

Niklas hielt sich, als ob er einen Stock verschluckt hätte, und in seinen Ohren rauschte es, während sie in die Gemächer geführt wurden.