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Lena Meyer hat genug von Elfen und Wölfen und allem, was dazu gehört. Sie will studieren, nach ihrer verkorksten Jugend als Essgestörte endlich normal sein, und in ihrem Pflegebruder Noel nur ihren Bruder sehen, nicht den geheimen Prinzen der Elfen. Aber dann stößt sie in ihrer WG auf ein gefährliches Buch, ihre Mitbewohner entpuppen sich nicht alle als menschlich, und plötzlich ist Lena sich nicht einmal mehr sicher, inwieweit sie noch sie selber ist. Ernsthaft - normal sein bedeutet nicht, eine mystische Maid mit einem Vampir als Ritter zu werden. Und auf die Geister der Vergangenheit - sowohl ihre eigenen als auch die ihres Vampirs - hätte sie wirklich gut verzichten können! Im Namen der Menschen ist der dritte Teil der Trilogie Von Elfen und Wölfen.
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Seitenzahl: 585
Veröffentlichungsjahr: 2025
Widmung
Lena will leben
Malachi
Lena
Lena will Gerechtigkeit
Malachi
Lena
Malachi
Lena
Lena will die Wahrheit
Malachi
Anhang
Nachwort
Personen
Für die Menschen.
Und für all die Elfen, Wölfe, Hexen und Vampire, die da draußen vielleicht unterwegs sein könnten.
Und für die Gnome. Ja, für euch auch.
Der Tag, an dem wir meine Zwillingsschwester Mona begraben, ist der seltsamste Tag meines Lebens.
Zu einen ist er seltsam, weil er so schlimm ist. Das ist jetzt an und für sich nicht besonders überraschend – immerhin reden wir von meiner Zwillingsschwester. Aber wenn man es genau nimmt, standen Mona und ich uns schon seit Jahren nicht mehr nahe. Eigentlich haben wir einander am Ende fast gehasst. Dennoch ist ihr Tod schrecklich für mich – nicht nur, weil damit das letzte Mitglied meiner direkten Familie geht, was mir zumindest noch etwas bedeutet hat, sondern auch, weil ihr Tod mir vor Augen führt, was für ein verdammtes Glück ich gehabt habe. Mona und ich stammen aus einem wirklich kaputten Elternhaus – ein uninteressierter, nur auf seine Karriere fixierter Vater und eine kriminelle Mutter – und wir haben es beide gleich und doch wieder anders kompensiert: mit einer Essstörung.
Mona hörte auf zu essen.
Ich fing an.
Eine Zeitlang, als meine Mutter noch vor Gericht stand und nicht im Gefängnis war, war das so etwas wie ein Witz bei uns. Das gibt einem vielleicht ein Gefühl für die Dynamik meiner leiblichen Familie: Lena isst jetzt für Mona mit! Na, sind halt Zwillinge, nicht wahr?
Dann jedoch hörte es auf, lustig zu sein. Erst war ich es, die sich permanente Ermahnungen anhören musste, weil ich meine Hosen zum Platzen brachte und meine Shirts sich über meinem Bauch spannten. Dann war es Mona, weil sie im Gegensatz zu mir nicht mit stillem Erdulden reagierte, sondern mit heftigem Aufbegehren. Sie war eindeutig die Rebellischere, die Lautere von uns beiden.
Sie hat sich zu Tode gehungert.
Obwohl man uns aus der Familie nahm – man musste, weil meine Mutter in den Knast ging und mein Vater keine Verwendung für eine Dicke und eine Dürre hatte, seine ureigenen Worte – obwohl wir eine liebevolle Pflegefamilie bekamen und alle möglichen Hilfen, schlug keine Therapie bei meiner Schwester an. Dreimal kollabierte sie und musste im Krankenhaus zwangsernährt werden.
Beim letzten Mal war sie blöderweise bereits volljährig und hat alle Maßnahmen abgelehnt. So endete es, wie es enden musste.
Dass mir nicht dasselbe passiert ist, dass ich mich nicht wortwörtlich zu Tode gefressen habe, liegt an einem ganz dummen, simplen Zufall. Ich würde gerne sagen, dass bei mir die Therapie besser funktionierte, dass meine Störung leichter zu beheben war, doch das war nicht der Fall, oder zumindest nicht allein.
Nein, der Zufall, der mir das Leben rettete, war, dass Mona von meinem durch die Fettsucht ausgelösten schweren Schnarchen so angenervt war und so unerträglich wurde, dass unsere Pflegemutter Sandra mich wohl oder übel in die Wäschekammer ausquartierte. Das war bei weitem nicht so schlimm, wie es klingt – zum einen bekam ich ein gemütliches Bett und lauter nette Kleinigkeiten, die mich über die Waschmaschine und den Trockner hinweg trösten sollten.
Zum anderen aber, und das war der entscheidende Faktor, liegt die Wäschekammer direkt unter dem kleinen Vordach, was man vom Dachboden aus erreichen kann, und welches mein Pflegebruder Noel und Cara, die leibliche Tochter unserer Pflegeeltern, im Sommer als ihren persönlichen Balkon und ihr Versteck nutzten.
Dort besprachen sie all das, was nicht für fremde Ohren bestimmt war – wie die Dinge, die Noel und seine Freundin Lucie von uns Menschen unterscheiden.
Was ich dort hörte, in meinem Versteck, war so seltsam, so erstaunlich, und öffnete mir die Augen für Wunder dieser Welt, von denen ich bislang keine Ahnung gehabt hatte. Ich bin ziemlich sicher, dies trug sehr dazu bei, dass ich nicht noch weiter zunahm. Und als ich dann im Winter nach Noels Auszug mit eigenen Augen besagte Wunder zu sehen bekam, und im Frühjahr sogar mit einem Auftrag zu ihnen geschickt wurde, gab dies den letzten Anstoß.
Um zu meinen Wundern im Alten Wald zu gelangen, musste ich mich bewegen, musste längere Strecken zurücklegen, und war zudem zu aufgeregt und zu abgelenkt zum Essen. Ich begann abzunehmen. Ich hatte keine Probleme mehr, meinen Essenplänen zu folgen, hatte ich doch eine Aufgabe, eine Ablenkung, eine andauernde Bestätigung, dass ich gebraucht wurde und wichtig war.
Das war wunderbar für mich. An dem Tag, an dem ich endlich einen BMI unter 30 hatte, war ich so glücklich, so glücklich.
An diesem Tag war ich so glücklich, dass Robin mich zum ersten Mal küsste.
Und damit kommen wir leider zum zweiten Grund, warum der Tag von Monas Begräbnis der seltsamste meines Lebens ist: denn er ist nicht nur schlimm, er ist zudem befreiend. Er ist der letzte Tag, den ich unter dem Dach von Oliver und Sandra Becker verbringe, der letzte Tag, bevor ich ausziehe, fortgehe von hier.
Vor einem Monat, ja zwei Wochen noch habe ich diesen Tag gefürchtet, ihn so weit es geht von mir geschoben, wollte nicht gehen. Habe mich sogar mit meinem Sozialarbeiter und meinem Pflegevater gestritten, weil die darauf bestanden, dass ich die Bewerbungsunterlagen für ein Medizinstudium an der nahen Uni ausfülle. Ich habe immer gesagt, ich will Medizin studieren, eben weil ich heilen möchte, so wie ich geheilt wurde.
Aber ich wollte nicht fort.
Vor zwei Wochen jedoch hat sich Robin von mir getrennt.
Das ist vielleicht ein zu krasses Wort. Im Grunde genommen waren wir nie ein Paar – wie sollte das auch gehen! Er ist Jahrzehnte älter als ich, wir teilen nicht einmal dieselbe Spezies, er ist der Wächter des Alten Waldes, und ich bin das kleine dicke Pflegemädchen aus dem Chaoshaus. Okay, ich bin nicht mehr so fett, wie ich es einst war. Aber ich bin auch nicht dünn. Ich habe Angst, zu dünn zu werden.
Ich will nicht sterben, wie Mona. Essen ist ein Balanceakt für mich, wird immer ein Balanceakt sein.
Und trotzdem war da etwas zwischen Robin und mir. Er hat zwar stets behauptet, ich würde ihm auf den Geist gehen, weil ich so penetrant wie Lucie wäre, aber ich weiß, ich weiß, dass dies nicht stimmt.
Ich weiß es, weil er mich kommen ließ, weil er mich helfen ließ, bei der Vorbereitung seines Volkes auf ein Leben außerhalb des Alten Waldes, sobald Noel für sie die Freiheit erstritten hatte.
Ich habe es am Lächeln in seinen Augen erkannt, wenn ich in den Wald trat, an der Art, wie er sich von seinen Bäumen herunterschwang, direkt vor mir auf den Weg, und mich sofort zu necken anfing.
Und ich habe es an den wenigen, ach so teuren Küssen bemerkt, die er mir gab, in dieser Sommernacht vor einem Jahr, und dann erneut im Frühling.
Aber Robin will nicht, dass ich bleibe. Er will, dass ich fortgehe, dass ich mein Leben lebe, wie er es nennt. Er hat noch ganz andere Ausdrücke gefunden. Ich glaube, einen so bitteren Streit wie den unseren haben die Waldbewohner schon lange nicht mehr erlebt.
Zwei Wochen.
Zwei Wochen, in denen ich nicht mehr in den Alten Wald gegangen bin.
Die erste Woche war ich verletzt, mein Herz gebrochen, ich voller Trotz, und voller Trotz habe ich mich in den Schlaf geheult.
Dann starb Mona.
Normalerweise wäre dies ein Anlass für mich gewesen, erst recht in den Wald zu rennen, mich unter den Farnen zu verstecken und darauf zu warten, dass Robin mich findet und tröstet. Und ich glaube, alle reagieren besorgt, weil ich dies nicht tue.
Sandra hat wieder ein Auge auf mein Essen und meine Taille.
Oliver versucht, mit mir zu reden.
Aber ich, ich erkenne etwas ganz anderes: Ich bin frei. Ich kann gehen. Ich will gehen. Anders als Mona bin ich nicht tot. Anders als Mona habe ich überlebt.
Und mein neues Leben beginnt heute.
Es soll ein Leben ohne Elfen, Wölfe und allem was dazu gehört sein. Nie wieder werde ich mich blauäugig auf jemanden einlassen, zwischen dem und mir eine ganze Spezies steht. Nie wieder werde ich mich dem Irrglauben hingeben, ich könnte etwas anderes sein als ein Mensch. Ich bin ein Mensch.
Ich will ein Mensch sein, und alles andere lasse ich hinter mir.
*
Zum Glück hat die Uni mich angenommen. Zum Glück bekomme ich ein Zimmer in einem Studentenwohnheim, in einer Vierer-WG nahe des Campus. Zum Glück ist es kein Problem, meine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken und mich von Oliver zur Uni fahren zu lassen. Sechs Jahre habe ich bei ihnen gelebt. Ich glaube, er lässt mich ungern los, sagt mir mindestens dreimal, dass sie immer noch für mich da wären, dass ich, wie Noel, jederzeit zu ihnen zurückkehren könnte.
Er glaubt, Noel sei ein Findelkind. Er sieht ihn praktisch als seinen eigenen Sohn.
Er hat keine Ahnung.
Ich belasse ihn darin. Und nachdem er mir geholfen hat, mich ein wenig einzurichten, sichergestellt hat, dass ich über alle notwendigen Papiere verfüge, mein Handy funktioniert und ich mich in keiner akuten Lebensgefahr befinde, geht er wieder.
Aber erst, nachdem ich versprochen habe, ihn einmal pro Woche anzurufen.
Oliver ist ein guter Mensch. So ein Mensch möchte ich auch werden, und nicht so einer wie mein Vater, der mir zwar ein Konto eingerichtet hat und regelmäßig Geld überweist, der mein Studium finanziert, es aber nicht einmal für nötig hielt, zu Monas Begräbnis zu kommen.
Ich war die einzige Blutsverwandte auf dem Begräbnis meiner gerade mal achtzehnjährigen Schwester.
Die nächsten Tage verbringe ich damit, mich auf dem Campus zurechtzufinden und notwendige Formalitäten zu erledigen. Dazu gehört ein Besuch bei meinem Pflegebruder und seiner Freundin. Als ich mich für eine Uni entschied, hatte ich noch nicht beschlossen, mich auf mein Menschsein zu konzentrieren, auf mein Leben, und so ist es die dichteste Uni zum Alten Wald, die, an der auch Noel und Lucie studieren.
Und natürlich haben sie beide ein Auge auf mich. Lucie adoptiert sowieso jeden, der nicht bei drei auf den Bäumen ist, und Noel hat bestimmt von Oliver den Auftrag bekommen, auf mich zu achten. Es ist einfacher, die Drei bei Laune zu halten, als alle Brücken hinter sich abzubrechen.
Außerdem mag ich sie, sehr.
Also finde ich mich bei Lucie und Noel zum Essen ein, bespreche mit ihr noch mal meine Essenspläne – ja, ich brauche so etwas, ich bin wie ein ehemaliger Junkie – und lasse mich von ihm über alle möglichen Gefahren auf dem Campus belehren.
Zugegeben, Noel ist ein ziemlich cooler großer Bruder. Da beide den Großteil ihres Lebens glaubten, Menschen zu sein, verhalten sie sich auch so. Und Mai, die Nymphe, die derzeit bei ihnen wohnt, ist derart erpicht darauf, als Mensch durchzugehen, dass sie mich ebenfalls nicht schmerzhaft an das erinnert, was ich hinter mir gelassen habe.
Die vierte Mitbewohnerin, Judith, ist ein Mensch. Sie ist der einzige Mensch außer Tom, Cara und mir, von dem ich weiß, dass er die Geheimnisse der anderen Welt um uns herum kennt. Aber wir reden nicht darüber. Wir reden überhaupt nicht über Elfen, Wölfe, Hexen und Vampire, und schon gar nicht über Gnome. Wir reden über das Studieren, über meine und Mais Pläne, über das Masterstudium, welches Noel und Lucie begonnen haben, über solche Dinge. Judith spielt uns etwas auf ihrer Geige vor, nachdem ich sie angebettelt habe. Ich war ein großer Fan ihrer kurzen Episode als Leadgeigerin bei einer Indie-Rockband, The New Fairytales.
Leadsänger dieser Band war Noel. Ich bitte ihn nicht zu singen, und jeder hier im Raum weiß, warum.
Ansonsten bin ich in den Tagen vor Semesterbeginn damit beschäftigt, meine eigenen Mitbewohner kennenzulernen. Die erste richtige Bekanntschaft ist das zweite Mädchen in unserer WG, ein halber Hippie namens Roxanne.
„Lena Meyer?“, fragt sie, als ich mich ihr in der Küche vorstelle.
„Ja“, erwidere ich und befestige meinen Essensplan in meiner Ecke des Regals. „Nur Meyer. Und ich singe auch nicht.“
„Ah, das ist gut“, sagt sie. „Ich hasse es, wenn jemand mich ansingt.“ Sie springt vom Tresen und grölt in einer super-schlechten Imitation los: „Roooooxannnne! You don’t have to put on the red light ...!”
Ich kann nicht anders, ich muss lachen.
„Das werde ich nie tun, ich verspreche es“, sage ich.
„Prima“, meint sie, hüpft neben mich und wirft einen Blick auf meinen Zettel.
„Was ist das?“, fragt sie neugierig.
„Mein Essenplan“, sage ich ruhig. „Ich hatte einmal eine Essstörung. Ein Problem für dich?“
Hier ist ein Geheimnis: Meine Ruhe ist mein neuer Panzer. Ich war schon immer die Stillere von uns beiden, von Mona und mir. In meiner Therapie habe ich gelernt, meine Ruhe wie einen Wall um mich herum aufzubauen, der Verletzungen von mir abschirmt, nicht an mich heranlässt, damit ich den Panzer des Fettes nicht brauche.
Es funktioniert. Es funktioniert vor allem jetzt, wo ich Robin verloren habe und Mona mir so drastisch vor Augen geführt hat, was geschieht, wenn man seine Krankheit nicht bekämpft. Und diese Ruhe kann ich gut gebrauchen, als ich meine Schwäche in genau dem Moment offenbare, wo der zweite Mitbewohner hereinspaziert kommt: Nils, der das Zimmer neben mir bewohnt. Ich bin ihm schon auf dem Flur begegnet, doch mehr als ein Hallo haben wir nicht ausgetauscht.
„'ne Essstörung, hm?“, meint er. „Musst du kotzen?“
„Nein“, entgegne ich und gebe mir Mühe, die Ecken des Zettels ordentlich zu befestigen. Lucie hat ihn liebevoll bemalt.
„Ich habe nie gekotzt“, setze ich hinzu.
„Das ist gut“, sagt er. „Das würde auf dem Klo immer so stinken.“
Roxanne versetzt ihm einen Knuff. Ich glaube, ich mag sie.
„Also keine Bulimie“, meint sie mitfühlend. „Anorexie, hm?“
„Nein“, sage ich und hülle mich ganz fest in meine Ruhe. „Fettsucht.“
Es gibt auch ein medizinisch schickes Wort dafür. Ich jedoch empfinde es als befreiend, die Dinge beim Namen zu nennen. Es ist eine Sucht. Nach Fett. Gegen jeglichen Sinn und Verstand – eine Sucht eben. Schönreden hilft mir nicht.
Schweigen herrscht hinter mir. Ich befestige die letzte Ecke und drehe mich um, mein Gesicht der Inbegriff der Ruhe.
„Ah, so“, sagt Nils. „Na, scheinst es ja im Griff zu haben. Klau bloß nix von meinem Essen, ich brauche meine Nervennahrung.“
Er greift sich eine Tüte Chips und marschiert wieder hinaus.
Ich sehe Roxanne an.
„Mag er uns nicht?“, frage ich.
„Weiß ich nicht“, erwidert sie naserümpfend. „Ich zumindest mag ihn nicht. Ich hoffe, Nummer vier ist netter. Du bist nett. Und wenn ich dir helfen kann, lass es mich wissen, ja?“
Es hilft mir, dass sie mich verstehen möchte und nicht verurteilt. Ich lächele sie an.
„Ich habe es wirklich im Griff“, sage ich. „Ich hatte viele Therapiestunden, und Lucie, die Freundin meines Bruders, unterstützt mich hierbei. Es ist schon okay. Aber genug von mir. Erzähl mal von dir – was studierst du denn?“
Ich verschweige ihr, dass ich eigentlich keinen Bruder habe, sondern eine Schwester, und dass diese tot ist. Es tut gut, Noel als meinen Bruder anzusehen. Insgesamt ist meine Pflegefamilie sowieso um Klassen besser als meine leibliche. Sogar Cara ist zu Monas Beerdigung gekommen, obwohl sie am anderen Ende des Landes studiert. Und sie hat immer ein Auge auf Mona und mich gehabt, solange sie noch daheim gewohnt hat.
Roxanne ist speziell, jedoch auf eine liebenswerte Art und Weise. Sie studiert Ethnologie. Sie sagt, andere Völker und Kulturen haben sie schon immer fasziniert. Ich nicke und schweige lächelnd dazu.
Ja, ich mag Roxanne. Mit Nils werde ich zurechtkommen.
Nummer vier jedoch ist eine ganz andere Sache.
*
Roxanne sieht ihn zuerst, am nächsten Morgen, als er einzieht. Wie sie und ich ist er neu in dieser WG, anders als Nils. Er ist von einer anderen Uni her transferiert, wo er bereits ein oder zwei Jahre studiert hat. Sie sagt, sein Name wäre Malachi.
Und er wäre ein arroganter Schnösel.
Am Nachmittag kann ich mich von ihrer Einschätzung überzeugen, als wir zusammen bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch sitzen und die erste Ausgabe der Campusnews studieren. Montag wird die Orientierungsphase für Erstsemester starten, und wir sind neugierig. Da kommt dieser junge Mann hineinstolziert, greift sich die Kaffeekanne – mit unserem Kaffee – schnuppert daran und verzieht das Gesicht.
„Grauenvoll“, murmelt er. „War ja klar.“
Ich kann ihn erst nur verblüfft anschauen. Er ist gutaussehend, mit schwarzen Haaren und Augen, mit klarer, heller Haut. Auch seine Kleidung ist schwarz, aber nicht auf so eine rockige Art wie Caras, sondern edel. Designermäßig.
Roxanne starrt ihn an wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Ich weiß nicht, ob sie Angst vor ihm hat oder dabei ist, sich in eine unglückliche Liebe zu stürzen.
„Macht nichts, wenn du den Kaffee grauenvoll findest“, sage ich. „Er ist gar nicht für dich. Er gehört Roxanne.“
Schönling Malachi – ernsthaft? Wer nennt sein Kind denn so? – dreht sich um und mustert mich.
„Ah, Nummer vier“, sagt er, genau der Titel, mit dem ich ihn auch bedacht habe. „Soll das heißen, du willst mir den Zugang zu diesem Gebräu verwehren?“
Ich erwidere seinen Blick ganz gelassen.
„Das dürfte für dich ja nicht besonders schlimm sein, oder?“, meine ich. „Du findest ihn grauenvoll. Also ist es doch im Sinne aller, wenn du dir eigenen Kaffee kaufst, nicht wahr?“
Er sieht mich einen Moment an, den Mundwinkel hochgezogen.
„Am besten, ich kaufe gleich eine Kaffeemaschine“, gibt er zurück. „Na denn. Ich will euch nicht stören.“
Er ist so schnell wieder raus wie Nils. Wenn das so weitergeht, haben Roxanne und ich den Gemeinschaftsraum für uns.
Sie beugt sich vor.
„Hast du das gesehen?“, zischt sie. „Das waren bestimmt Designerjeans! Und der Pulli ist aus Kaschmir! Himmel! Wetten, dass der stinkreiche Eltern hat? Wieso kaufen die ihrem verzogenen Sprössling nicht eine hübsche kleine Wohnung, in der er seinen edlen Kaffeevollautomaten aufstellen kann?“
Tja. Mein Verdacht mit der unglücklichen Liebe ist wohl null und nichtig. Dennoch beiße ich mir auf die Lippen. Denn hier ist noch ein Geheimnis: Auch ich habe einen reichen Vater. Er hat sich noch nie um die Zahlungen für mich gedrückt. Jetzt, wo Mona tot ist, bekomme ich jeden Monat sogar das Doppelte auf mein Konto überwiesen. Er hat anstandslos alle Gebühren übernommen.
Wenn ich wollte, wenn ich mich aufbrezeln, ihn besuchen und ihm zeigen würde, dass seine überlebende Tochter doch ganz herzeigbar ist, würde ich bestimmt ebenfalls eine eigene Wohnung bekommen und wäre eine weitere Trophäe in seinem Schrank.
Ich habe ihn seit vier Jahren nicht gesehen.
Ich habe nicht die Absicht, ihn jemals wiederzusehen.
Also räuspere ich mich und sage diplomatisch: „Lass uns nicht vorschnell urteilen. Wir kennen seine Geschichte nicht. Vielleicht ist seine Familie furchtbar. Vielleicht versteckt er hinter seinen tollen Klamotten und seiner Arroganz nur etwas.“
Roxanne verzieht das Gesicht.
„Ja“, murrt sie. „Und vielleicht ist es ein mieser Charakter.“
*
An diesem Abend koche ich für Roxanne und mich. Kochen habe ich aus reinem Selbstschutz gelernt, und in Lucie habe ich seit kurzem eine begeisterte Lehrerin. Nachdem sie fort war, hatte ich die Wahl, wieder die geschmacklosen Mahlzeiten meiner überlasteten Pflegemutter zu essen oder mich selbst an den Herd zu stellen. Am Ende war es Oliver, der mir dabei geholfen hat, und wie gesagt, seit kurzem ist es Lucie.
Ihr verdanke ich das Rezept, was ich heute für uns ausprobiere. In der ganzen WG duftet es bald nach Kräutern und Gewürzen. Nils‘ Tür bleibt hartnäckig verschlossen, wie schon die ganze Zeit. Doch als ich auftische, taucht, oh Wunder, Malachi wieder auf. Er bleibt in der Tür stehen und schnuppert.
„Riecht gut“, sagt er.
„Leider nur genug für zwei“, antworte ich freundlich.
Er zuckt mit den Schultern, geht an den Kühlschrank und holt sich so einen schicken, speziell in Glasflaschen abgefüllten Smoothie hervor. Das Zeug ist knallrot und bestimmt bis an den Rand voll mit Roter Beete. Ich hasse Rote Beete. Von dem Kram hat er einen halben Monatsvorrat eingeräumt und einen unmissverständlichen Zettel draufgeklebt, dass es seins ist.
Schon gut. Ich habe nicht vor, Rote Beete zu stibitzen.
Er trinkt ein paar tiefe Schlucke. Sieht uns schweigend beim Essen zu. Nippt an seinem super-duper gesunden Drink.
Und noch mal.
Ich warte.
„Wenn ich das Dessert spendiere“, sagt er plötzlich, „darf ich dann probieren?“
Roxanne schaut mich unsicher an – sie fragt sich bestimmt, inwieweit ich von meinem Plan abweichen darf. Aber mein BMI ist längst im Normbereich, und ich kenne die Regeln. Zu starr dürfen sie nicht sein, sonst zerbrechen nicht nur sie, sondern auf Dauer auch ich.
„Kommt drauf an“, sage ich. „Was wäre denn das Dessert?“
Er verzieht das Gesicht. Geht an den Kühlschrank, schaut hinein.
„Eis?“, schlägt er vor.
Ich muss lachen.
„Das ist Nils‘ Nervennahrung“, sage ich. Ich weiß schließlich genau, wem was in diesem Kühlschrank gehört. „Er wird mir die Schuld geben, wenn wir es ihm wegessen“, setzte ich hinzu. „Und er wird sauer sein. Vergiss es!“
„Vielleicht kommt er dann endlich mal aus seinem Zimmer raus“, meint Roxanne und rollt die Augen. „Ernsthaft. Ich glaube, ich habe ihn noch nie bei Tageslicht gesehen. Ist er vielleicht ein Vampir?“
„Nein“, sagen Malachi und ich sofort und gleichzeitig.
Für einen Moment bin ich irritiert. Ich basiere meine Einschätzung darauf, dass Nils keine der Eigenschaften von Vampiren aufweist, von denen mir berichtet wurde; Eigenschaften, von denen die meisten Menschen nichts wissen, weil sie wie Roxanne die Mythen der Popkultur im Kopf haben.
Aber dann rufe ich mich zur Vernunft. Malachis Reaktion ist ganz natürlich. Er wird einfach nicht an Vampire glauben, so wie die meisten Menschen.
„Er ist kein Vampir“, sagt Malachi. „Er ist ein älteres Semester. Der Einzige der vorherigen WG, der durch das Examen geflogen ist und wiederholen muss. Er kommt nicht raus, weil er das Sonnenlicht fürchtet, sondern weil er lernen muss und kein Bock auf Jungsemester wie uns hat.“
Na bitte. Eine ganz normale Reaktion, eine ganz normale Erklärung. Und passend zu Nils, so dass auch Roxanne nickt. Also zurück zur Dessertfrage.
„Kein Eis“, wiederhole ich fest. „Kein Stehlen von Mitbewohnern. Was gibt es sonst?“
Malachi grinst schwach, tritt an das Regal und durchstöbert sein Fach – wohlwissentlich nur seines. Dann zieht er plötzlich eine Tüte Maiskörner hervor.
„Popcorn!“, sagt er triumphierend.
Popcorn! Das ist okay, und das ist gesund, wenn man es nicht in Butter und Zucker ertränkt.
„Einverstanden“, sage ich. „Aber salzig und fettarm für mich. Hier, setz dich.“
Er lässt sich am Tisch nieder, während ich einen dritten Teller aus dem Schrank nehme und ihm von meiner Portion abgebe. Roxanne ist nett und teilt ebenfalls ein bisschen für ihn ab. Und so essen wir gemeinsam. Wir reden nicht viel. Ich bin, wie bereits ausgeführt, ohnehin eine der Stilleren, und die anderen beiden wissen offenbar nicht genau, wie sie einander einschätzen sollen. Roxanne ist vorsichtig in ihren Aussagen, was mich nicht wundert, denn Malachis Antworten sind alle ziemlich sarkastisch.
„Wirklich erstaunlich lecker“, sagt er schließlich und schiebt den leeren Teller von sich. „Wo hast du so gut kochen gelernt?“
„Von der Freundin meines Bruders“, antworte ich, erneut den „Pflege“ unter den Tisch fallen lassend. „Was ist jetzt mit dem Popcorn?“
Fast fürchte ich, dass er sein Versprechen bricht, oder dass er die Aufgabe zumindest mir überträgt. Aber er ist erstaunlich fair: Er poppt zwei Töpfe, einen mit Salz und wenig Öl, einen mit Zucker. Allerdings füllt er sich danach seine Portion ab und trägt sie in sein Zimmer, uns erneut die Küche überlassend.
„Amüsiert euch noch gut“, meint er trocken, bevor er verschwindet. „Am Montag beginnt das harte Leben!“
Ich sehe ihm nach. Roxanne boxt mich in die Seite.
„Du fällst mir jetzt aber nicht auf den Schnösel rein, oder?“, fragt sie empört.
Ich schüttele den Kopf und reibe mir geistesabwesend die Seite.
Nein, Malachi führt mich nicht in Versuchung, zu anders ist er als der wilde Robin, den ich zurückgelassen habe. Zu geleckt, zu schick.
Aber nicht arrogant. Malachi ist nicht arrogant.
Er ist zynisch – so zynisch, dass ich mich unwillkürlich frage, was er erlebt haben muss, um eine derart bittere Sicht auf die Welt entwickelt zu haben.
*
Den Rest des Wochenendes bekommen wir weder Nils noch Malachi zu Gesicht. Ich verbringe viel Zeit mit Roxanne, die sich akribisch auf ihren ersten Tag in der O-Phase vorbereitet. Ehrlich gesagt, ist sie mir ein wenig zu esoterisch unterwegs, hat ein bisschen zu viel Klimbim, Traumfänger und Mondsteine für meinen Geschmack. Ich bin echten Hexen begegnet, und echten Elfen.
Aber ich nehme es hin. Mein Outfit für Montag ist simpel: Jeans und Turnschuhe, und eine feste Jacke. Noel hat mich gewarnt, dass die Tutoren den Erstsemestern gerne fiese Aufgaben geben, und da wären Röckchen und Stöckelschuhe eher hinderlich.
Nicht, dass ich so etwas überhaupt besitze. Zumindest keine Stöckelschuhe.
Die O-Phasen für Ethnologie und Medizin finden in unterschiedlichen Bereichen des Campus statt, so dass wir jede für sich alleine die Aufgabe angehen müssen. Meine Taktik ist wie immer, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. So ganz einfach ist das nicht, als ich mein Semester finde – viele sind es, aufgeregt sind sie, laut, und das ist ansteckend. Ich halte mich zurück, werde einer Gruppe zugelost und bin kurz darauf in einem Raum, in den jener Student tritt, der uns als Tutor zugeordnet ist und uns mindestens das erste, wenn nicht sogar das zweite Semester über begleiten wird.
Und, man mag es nicht glauben – es ist Malachi.
Sein Blick gleitet über die Gruppe, mit mir darin, der fast die Augen aus dem Kopf fallen. Er wirkt amüsiert. Ich wette, er hat gewusst, dass dies geschehen könnte.
Vielleicht hat er sogar dafür gesorgt, nur um mich zu ärgern!
„Hi“, sagt er. „Ich bin Malachi. Ja, ich weiß, der Name ist komisch, er ist auch schon ziemlich alt. Meine Kumpel nennen mich Mal. Wir sind keine Kumpel, also Malachi für euch. Ihr habt Glück, dass ihr bei mir seid, denn ich mache keine so dämlichen Spielchen wie My little Pony. Ihr sagt jetzt einmal fein der Reihe nach eure Namen, und dann werde ich euch mit all der Info versorgen, die ihr braucht, um die Rallye heute Nachmittag nicht nur unversehrt zu überstehen, sondern vielleicht sogar zu gewinnen.“
Die meisten nicken, aber insgeheim denke ich, die würden zu allem nicken, was ein älterer, erfahrener Student von sich gibt. Ich nicke nicht. Ich sage lediglich schnell und deutlich meinen Vornamen, als die Reihe an mir ist, und ansonsten lasse ich mir nichts anmerken.
Fein, ich habe wirklich keine Lust auf dämliche Spielchen, und ich bin an nüchterner, pragmatischer Information weitaus interessierter als an salbungsvollem Geschwafel. Doch er ist wirklich hart, streng und schnell, und die Infos fliegen uns nur so um den Kopf.
Bei der Rallye geht es nicht nur darum, Aufgaben zu lösen, sondern auch, sich zum Idioten machen zu lassen, damit die Älteren was zu lachen haben – check.
Deshalb sollten wir nicht auf die Idee kommen, auf den Markplatzbrunnen zu klettern, um den dort befindlichen Hinweis herunterzuholen, denn die Polizei würde schon auf uns warten. Ein gut platzierter Schuss mit einem Tennisball wird es ebenso tun – kapiert.
Wenn wir Leute in der Fußgängerzone ansprechen, um mit ihnen putzige Selfies zu machen, soll immer einer den Hintergrund im Blick haben, wegen möglicher obszöner Streiche – alles klar.
Die Internetportale zum Einschreiben der Kurse öffnen schon heute Abend, nicht erst in drei Tagen, wie man uns glauben machen will, also nichts wie ran und das erledigen, bevor es auf die Party geht – jawohl.
Und so geht es weiter und weiter. Ich bin nicht die Einzige, die sich heimlich Notizen macht. Ich bin aber vermutlich die Einzige, die sich sicher ist, dass sie lieber Malachi als dem Tutoren-Komitee glauben soll, was uns eben noch begrüßt hat.
Woher ich mir so sicher bin?
Ich habe keine Ahnung.
*
Es ist jedoch unter anderem meiner Beharrlichkeit zu verdanken, dass wir die darauffolgende Rallye tatsächlich einigermaßen unbeschadet überstehen. Dass zwei der Jungs entgegen allen Warnungen auf den Brunnen klettern mussten, nun, das ist jetzt ihr Problem. Wir belegen trotzdem den ersten Platz, bekommen einen Fastfoodketten-Gutschein dafür – den ich umgehend zerreiße – und werden entlassen.
Daheim angekommen öffne ich als Erstes meinen Laptop und trage mich in die begehrtesten Kurse ein. Ich habe einige Bekanntschaften an diesem Nachmittag gemacht, und durch die Tatsache, dass ich so oft Recht hatte, schon Angebote für Lerngruppen.
Ich will eine Lerngruppe. Mindestens eine.
„Na“, sagt Malachi von meiner Tür her, die ich dummerweise nicht geschlossen habe. „Bist du mir nicht dankbar?“
Ich beende die letzte Eintragung und fahre den Computer herunter, bevor ich mich zu ihm herumdrehe.
„Doch“, gestehe ich.
Er streckt die Hand aus.
„Dann bekomme ich als Dankeschön deinen Gutschein?“, fordert er spöttisch.
Oh. Nun ja. Das hätte ich auch damit tun können. Innerlich etwas zerknirscht ziehe ich die zerrissenen Reste aus meiner Hosentasche und halte sie ihm hin.
Er zieht die Augenbrauen hoch.
„Das war keine Falle“, sagt er. „Das war echt. Warum ...?“
„Ich hatte eine Essstörung“, sage ich abrupt. „Fettsucht. Dieses Zeug wäre das pure Gift für mich. Tut mir leid.“
Er kommt näher und lässt sich auf meinem Bett nieder, dem einzigen Sitzplatz im Raum außer des Schreibtischstuhls.
„Das wusste ich nicht“, sagt er „Sorry. Also war das Eis auch eine blöde Idee?“
„Selbstgemacht ist es kein Problem“, erwidere ich. „Ich habe eine Eismaschine von meiner Familie geschenkt bekommen. Ich werde sie beizeiten mal benutzen.“ Es ist natürlich ein Geschenk meiner Pflegefamilie, aber das muss er ja nicht wissen.
„Okay“, sagt er nachdenklich. „Deshalb der Essensplan.“
Hat er etwa heimlich nachgeguckt? Ihm habe ich nicht gesagt, was da in meinem Regal hängt.
„Genau“, erkläre ich gleichmäßig. „Und deshalb auch kein Alkohol für mich heute Abend. Und jetzt raus. Es ist bald Zeit, ich will mich umziehen.“
Das will ich zwar gar nicht, doch das geht ihn nichts an.
„Schon gut“, gibt er nach, erhebt sich und geht zur Tür. Dort angekommen dreht er sich jedoch noch einmal um.
„Lena“, sagt er. „Du weißt schon, dass zu einem echten Studentenleben auch mal ein zünftiges Besäufnis gehört?“
Ich rolle innerlich mit den Augen.
„Ja, ich weiß“, sage ich stattdessen freundlich. „Aber das muss ja nicht heute Abend sein.“
„Nein“, antwortet er erstaunlich milde. „Natürlich nicht.“
Und damit lässt er mich allein.
*
Unter anderen deshalb, weil ich es ihm gegenüber angekündigt habe, ziehe ich mich für die Party um. Ich nehme auch eine gründliche Dusche, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der Fettrollen an mir herunterhingen. Dick zu sein ist schon schlimm. Dick zu sein und zu stinken ist der Super-GAU.
Sich nur in eine andere Jeans zu werfen erscheint mir als sicherer Weg, Malachis Spott herauszufordern, und so wähle ich den einzigen Rock, den ich besitze. Dazu trage ich eines meiner schickeren T-Shirts und eine Strickjacke, denn ich wette, es wird warm.
Aber ich hätte mir gar keine Sorgen machen müssen, ob mein Mitbewohner mein Outfit für partytauglich erachtet oder nicht, denn er ist überhaupt nicht da. Ich sehe ihn weder auf dem Weg zu Party, noch auf dieser selbst.
Stattdessen treffe ich die Mitglieder meiner O-Phasen-Truppe wieder. Bis auf die zwei Jungs, die anscheinend gerade erst aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde, bilden wir eine nette kleine Clique – groß genug für ein paar Lerngruppen, überschaubar genug, dass jeder meinen Namen weiß, und gerade so angenehm, dass ich ein akzeptiertes, unauffälliges Mitglied sein kann.
Man könnte das für grässlich unambitioniert halten. Doch wenn man wie ich den Großteil seiner Teenagerjahre als die ausgestoßene, fette Kuh verbracht hat, ist das ein riesiger Preis. Normal sein, ein normales Leben führen – das ist es, was Robin für mich wollte, weshalb er Schluss mit mir machte.
Normal sein. Für mich ist das vorerst Ziel genug.
*
Nach drei Tagen O-Phase, wo wir alle viel von Malachi lernen – unter anderem auch, dass sein Zynismus nur vor wenig Halt macht – beginnen die Kurse und damit der richtige Studentenalltag. Medizin ist kein einfaches Fach, ich muss viel lernen. Eine Menge Begriffe kenne ich tatsächlich schon, durch meine und Monas Krankengeschichte. Ich weiß, wozu eine Leber da ist, wozu eine Niere. Man soll es nicht meinen, aber das weiß nicht jeder.
Ich muss jedoch auch jeden einzelnen Knochen auswendig lernen, und das ist kein Spaß.
Ziemlich bald, ziemlich schnell gehe ich in meinen Kursen und meiner neuen Clique auf. Aber die einzige, richtige Freundin, die ich in all dieser Zeit finde, ist Roxanne, trotz ihrer Esoterik.
Nils bleibt nach wie vor zumeist verschwunden, und wenn er mal aus seinem Zimmer rauskommt, wird er von einem Schwall schaler Luft begleitet.
Malachi, der zwei Semester über mir ist, hat mit seinen eigenen Kursen zu tun. Unsere WG-Interaktionen beschränken sich auf so lästige Kleinigkeiten wie Putzpläne und wer-hat-meinen-Joghurt-geklaut Debatten (niemand, Nils, er war drei Wochen abgelaufen, und Roxanne und ich haben ihn zum Schutz deiner Gesundheit weggeschmissen). Malachi schwört nach wie vor auf seine Supershakes, aber meckert erstaunlich wenig, wenn er mit Kloputzen dran ist. Nils und Roxanne meckern viel mehr.
Beide.
Doch es spielt sich ein – das WG-Leben, der Studentenalltag, meine Besuche bei Noel und Lucie, die Anrufe bei Oliver und meinem Sozialarbeiter, den ich aufgrund meiner speziellen Umstände trotz Volljährigkeit immer noch habe. Ich kann sie alle beruhigen. Ich halte mein Gewicht, ich esse vernünftig, ich will mir nicht die Pulsadern aufschlitzen.
Hin und wieder gehe ich mit Noel einen Kaffee auf dem Campus trinken, wo er mich unter vier Augen ausfragt. Auch er hat sich verändert – der weißhaarige Punkrocker, der er einmal war, nimmt es jetzt sehr ernst mit der Verantwortung für alle, die er für die Seinen hält.
Ich bin, genau genommen, keine der Seinen.
Aber ich bin sehr gerne seine kleine Schwester.
Und so kommt es eines Tages im Dezember leider auch dazu, dass Robins Name fällt.
„Ich mache es kurz, ich verspreche es“, sagt Noel, sobald er bemerkt, wie ich zusammenzucke. „Nur so viel – es tut ihm leid. Es tut ihm furchtbar leid, dass er bei Monas Tod nicht für dich da sein konnte. Er meint, er hätte das nie getan, wenn er gewusst hätte, wie schlimm es um sie stand. Er wollte sofort, dass ich dich zu ihm bringe, weißt du? Aber ich dachte ...“
„Robin hatte seine Gründe“, unterbreche ich ihn. „Ich kenne sie. Er war sehr deutlich, und es ist egal, ob ihm der Zeitpunkt später leidtat. Glaubst du, ich will aus Mitleid genommen werden? Monas Tod hat nichts an seinen Gründen geändert. Wenn das alles ist, habe ich ihm nichts zu sagen.“
Verdammt. Es tut noch immer weh, so weh. Ich war – ich bin – so sehr in ihn verliebt, in diesen eigenartigen Jungen, der eine faszinierende Mischung aus Schalkhaftigkeit und Ernst in sich vereint. Er hat den Alten Wald und Noels Lande noch nie verlassen. Er geht einer Aufgabe nach, schon solange ich lebe.
Er hat Recht – es liegen Welten zwischen uns. Ich muss doch heulen.
Noels Hand schließt sich über meiner.
„Oh Lena“, sagt er leise. „Hätte ich dich nicht mitnehmen sollen, in den Alten Wald? Hätte ich dich besser ferngehalten?“
Erschrocken hebe ich den Kopf.
„Nein“, sage ich sofort. „Verstehst du nicht? Der einzige Grund, weshalb ich nicht wie Mona geendet bin, war dein Wald und dein Volk – die Aufgaben, die du mir anvertraut hast! Das hat mich gerettet, Noel! Das darfst du niemals bereuen! Aber es ... es war eine Zeit, in der ich diese Flucht aus meiner Welt brauchte, schätze ich, allein um zu überleben. Und diese Zeit ist vorbei. Jetzt bin ich wieder in meiner Welt, da, wo ich hingehöre. Robin hat Recht. Ich bin ein Mensch.“
„Das war nicht der Grund, und das weißt du“, erinnert er mich sanft. „Robin lebt schon über achtzig Jahre, und du noch keine zwanzig. Er ist gebunden, du bist es nicht. Aber egal. Es ist gut, was du tust. Du breitest deine Flügel aus. Diese Welt hier gehört dir. Vergiss nur nicht – du bist auch ein Teil von meiner.“
Ich sehe ihn an. Er wirkt so besorgt, so ernst, gar nicht mehr so unbeschwert und schelmisch wie vor seinem Auszug daheim.
Ich stelle fest, wie lieb ich ihn habe.
„Ich bin ein Teil deiner Welt“, wiederhole ich. „Doch für den Moment fände ich es besser, wenn ich nur den Bruder haben könnte, und nicht den Prinzen der Elfen.“
Noel lächelt und drückt meine Hand.
„Dann soll es so sein“, sagt er.
Und so läuft es, spielt es sich ein, mein Leben ohne Wunder, und es geht ganz gut – bis zu dem Tag, an dem sich wieder alles ändert.
Es ist Anfang Januar, und wir stecken mitten in den Vorbereitungen für die ersten Klausuren. Ich kann mit einem Mal Nils verstehen, den man gar nicht mehr zu Gesicht bekommt. Malachi lernt so eifrig wie ich, und Roxanne ... Roxanne ist irgendwie seltsam.
Ehrlich gesagt, ist sie seltsam, seitdem sie aus den Weihnachtsferien zurückgekommen ist.
Ich habe die Ferien auf Wunsch Olivers und meines Sozialarbeiters zum Großteil daheim verbracht. Noel fährt über Weihnachten immer mit zu Lucies Familie, und so bekomme ich sein Zimmer, denn die Wäschekammer ist längst wieder eine Wäschekammer, und in Monas Zimmer schläft ein neues Kind. Sandra hat ein schlimmes Helfersyndrom.
Für mich ist es okay – daheim und doch nicht daheim. Ich bin auch nicht in Versuchung, in den Wald zu gehen, kein bisschen.
Na, vielleicht ein kleines bisschen. Aber ich habe Unterstützung in Cara, die ganz anders mit mir spricht, seitdem sie weiß, was ich weiß, und seitdem Mona tot ist. Gemeinsam überstehen wir diese hektischen, lauten Tage, die nicht unbedingt weniger hektisch und laut werden, als Noel und Lucie von der Familienfeier zurückkehren und im Nachbarhaus bei Lucies Eltern wohnen.
Ich bin aus mehr als nur einem Grund froh, als wir zurück an die Uni fahren und der Alte Wald nicht mehr vor meiner Nase ist. Die Semesterferien werde ich garantiert woanders verbringen.
Nun ja. Ich werde sie zum Teil mit einem Praktikum verbringen, und darum muss ich mich auch noch kümmern.
Vielleicht liegt es daran, an all den Dingen, die ich lernen und erledigen muss, dass es mir zunächst nicht auffällt. Zunächst verbuche ich Roxannes Verhalten nur unter ihrer normalen Spleenigkeit – Mondsteine und Traumfänger halt.
Doch diesmal ist es anders. Jetzt fängt sie an, mir beim Essen von Zaubersprüchen zu erzählen. Anfangs nehme ich sie überhaupt nicht ernst, so weit weg ist mein Kopf. Sie beharrt drauf, behauptet, sie hat etwas gefunden, was uns das Leben erleichtern wird – das Kloputzen, zum Beispiel.
Na sicher.
Aber dann geschieht das wirklich Seltsame: Nils, der nur noch für die nötigsten Dinge aus seinem Zimmer kommt, schießt eines Tages aus der Toilette und brüllt wie am Spieß. Irgendetwas hat ihn anscheinend in den Hintern gebissen. Er brüllt so laut und so empört, dass wir alle hinauskommen.
Mit einem Stock bewaffnet und Nils‘ wilden Theorien von Alligatoren im Klo in den Ohren wagen Malachi und ich uns ins Bad. Roxanne bleibt mit geweiteten Augen in der Tür.
Wir finden ... keinen Alligator. Eigentlich finden wir nichts. Malachi fährt mit seinen Händen über den Rand der Toilette – hätte ich ihm nie zugetraut – und runzelt die Stirn.
„Das ist seltsam“, sagt er langgezogen. „Für einen Moment ... Ist das ein Trick?“
„Ein Trick?“, schnauzt Nils, sich das malträtierte Körperteil reibend. „Habt ihr Deppen mir einen Streich gespielt? Wisst ihr nicht, was passiert, wenn ich noch mal durchfalle? Das ist meine letzte Chance! Ich habe keine Zeit für Kindergartenspiele, kapiert? Wenn ich euch noch einmal bei so einem Scheiß erwische ...“
„Hier ist nichts!“, unterbricht Malachi mit Nachdruck seine Tirade. „Reg dich ab, okay? Vielleicht war es eine Ratte. Ich spiele mit Sicherheit keine albernen Klo-Streiche, und ich wette, die Mädchen auch nicht.“
„Ganz bestimmt nicht“, sage ich.
Irgendwie kann ich die Theorie mit der Ratte nicht ganz glauben. Und irgendwie gefällt mir Roxannes Verhalten nicht. Sie wirkt so schuldbewusst.
Sie hasst Kloputzen.
Aber was kann sie mit einem Biss zu tun haben, imaginär oder nicht?
Nils verschwindet maulend in seinem Zimmer und schwört, nur noch bei einem Kumpel aufs Klo zu gehen. Meinetwegen. Ich koche mir einen Tee und setze mich nachdenklich in die Küche. Etwas ist hier faul.
Malachi erscheint und schmeißt die hochmoderne, schlanke Kaffeemaschine an, die er tatsächlich eines Tages angeschleppt hat. Er drückt auf eine Taste, und mit Druck fließt tiefschwarzer Espresso in ein kleines Tässchen.
„Mach dir keine Sorgen, Lena“, sagt er seltsam aufmunternd. „Wir haben bestimmt keine Ratten. Und auch keine Alligatoren“, setzt er augenzwinkernd hinzu.
„Es gibt hierzulande überhaupt keine Alligatoren“, sage ich sachlich.
„Na also“, meint er, trinkt seinen Espresso und stellt die Tasse neben die Spüle. Und Roxanne kommt in die Küche, ihre Nase in ein Buch vergraben, vor sich hin murmelnd.
Es ist nicht das erste Mal, dass sie mit der Nase in einem Buch in die Küche kommt oder dass sie vor sich hinmurmelt. Ich sage doch, sie ist ein wenig esoterisch. Es ist allerdings das erste Mal mit diesem Buch – und so ein Buch wie dieses habe ich schon einmal gesehen.
Letztes Jahr. Im März.
Ich habe es mit einem Drachenzahn durchbohrt und danach zerfiel es unter meinen Händen.
Oh. Mein. Gott!!
Mit einem Satz bin ich hoch und schnappe ihr das Buch weg.
„Was ist das?“, frage ich erschrocken. „Wo hast du das her?“
Ich hatte das Buch des Drama-Magiers nur kurz in meinen Händen, aber ich habe alles darüber gehört, und ich erkenne die Zeichen wieder. Damals, im März, fragten wir uns, ob es das letzte seiner Art war. Wir würden es merken, hatten die Geister der Hexenahnen behauptet.
Nun, offensichtlich war es das nicht!
„Hey!“, sagt Roxanne empört. „Das ist meines!“
Aber ehe sie es mir wieder wegnehmen kann, hat Malachi das schon getan, so schnell, dass ich kaum gesehen habe, wie er sich bewegt hat.
„Hölle, Tod und Teufel!“, flucht er. „Du warst es doch, oder? Im Bad? Woher hast du dieses Ding?“
„Was?“, schnauft Roxanne.
Wieso ... wieso reagiert Malachi so?
„Roxanne?“, sage ich langsam. „Woher hast du dieses Buch? Ist es das, wovon du mir erzählt hast? Das mit den Zaubersprüchen?“ Und ich habe sie nicht ernst genommen.
Sie sieht mich beleidigt an.
„Das sollte ein Geheimnis sein, Lena!“, meckert sie. „Und ja, es ist das Buch! Ich habe es Weihnachten wiedergefunden. Das habe ich dir doch erzählt! Es war ein Geschenk eines ehemaligen Nachbarn!“
Ich bin versucht, Malachi das Buch wieder abzunehmen, doch er hält es außer Reichweite.
„Was für ein Nachbar?“, fragt er, während ich sage: „Wann hast du es geschenkt bekommen?“
Sie rollt mit den Augen.
„Ihr seid bloß neidisch!“, schimpft sie. „Er hat jahrelang neben uns gewohnt, und als er wegzog, schenkte er mir das Buch. Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Ich hatte es total vergessen! Aber Lena – es funktioniert! Fein, ich muss noch üben, und ja, ich weiß, du glaubst nicht an Magie, doch dies ist ...“
„Drama-Magie“, sage ich.
Und zeitgleich sagt es Malachi.
Mir wird aus mehr als nur einem Grund kalt. Ich wirbele zu ihm herum.
„Woher kennst du dieses Wort?“, herrsche ich ihn an.
„Und woher kennst du es?“, gibt er funkelnd zurück. „Du bist ein Mensch, durch und durch! Erzähl mir nichts anderes!“
Er sagt, ich wäre ein Mensch – als ob es Alternativen gäbe? Als ob er von diesen Alternativen wüsste? Er ... Mein Blick trifft auf das Regal, an dem unsere Namen kleben, damit jeder weiß, welches Fach wem gehört.
Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
„Oh, verflucht!“, zische ich und schlage mir mit der Hand vor dem Kopf. „Ich bin so eine Idiotin! Du bist ein Lamprecht! Natürlich! Dein Nachname ist Lamprecht!“
„Ja ...“, meint er langsam. „Und das bedeutet ...?“
„Du gehörst zu Vic Lamprechts Clan, nicht wahr?“, jammere ich. „Oh Mann! Ich komme echt vom Regen in die Traufe! Das ist gar kein Rote-Beete-Saft im Kühlschrank, das ist Blut, nicht wahr?“
Ich bin so zornig, dass ich Tränen in den Augen habe.
„Was?“, keucht Roxanne und versucht, ihr Buch zurückzuerhaschen.
Malachi entzieht es ihr mit einem harschen Griff.
„Nichts da“, sagt er. „Das hier ist Drama-Magie, gefährlich in den Händen von Menschen, und ich habe erst letztes Jahr gesehen, wie einer meiner besten Kumpel seinen Arm an einen Drama-Magier verlor. Dein Nachbar hieß nicht zufällig Henri Patel, oder?“
Jetzt ist es an Roxanne, weiß zu werden. Sie sinkt vor mir auf einen Stuhl.
„Doch“, haucht sie.
„Dein Kumpel?“, wiederhole ich, während die letzten Puzzlestücke fallen. „Ich bin wirklich dämlich, was? Malachi Lamprecht! Und Cianán hat noch von dir erzählt! Du bist der Vampir, der Cianán und Bina geholfen hat!“
„Ja, das bin ich“, streitet Malachi gar nichts mehr ab. „Aber wer bist du? Wer bist du, kleine Lena, dass du Dinge weißt, die ein Menschenkind nicht wissen sollte?“
Ich starre ihn an.
Kleine Lena?
Menschenkind?
„Ich bin Noel Tylls Schwester“, sage ich grimmig.
Er lacht hart auf.
„Noel Tyll ist ein Einzelkind!“, erwidert er böse.
Ich werfe meine Hände hoch.
„Ich bin seine Pflegeschwester, okay?“, fauche ich. „Ich habe jahrelang in derselben Pflegefamilie gelebt wie er, weil meine Familie ein vollkommener Missgriff ist! Und ich weiß seit Jahren von Noel, seit Jahren! Ich war dabei, als Cianán den Alten Wald verließ! Von mir hat er gelernt, wie man ein Handy bedient!“
Malachi setzt sich jetzt ebenfalls, das Buch noch immer außerhalb unserer Reichweite.
„Noels Pflegeschwester“, wiederholt er.
„Ja!“, schnauze ich. „Willst du ihn anrufen? Er wohnt gleich um die Ecke!“
„Und du kennst Cianán und Bina“, fügt er hinzu.
Ich verdrehe meine Augen. Ich werde nicht schnell wütend, aber wenn ich es bin, dann richtig.
„Ich kenne auch Arabella, die Oberhexe“, zische ich. „In ihrem Auftrag habe ich Patels Buch vernichtet, vor fast einem Jahr! Ein Mensch musste dies tun! Wusstest du das nicht?“
„Doch“, sagt er, während seine Augen hin und her huschen. „Das wusste ich. Ich wusste aber nicht, wer es war oder dass Noels Pflegeschwester ... Egal. Das ist alles egal. Hol deine Jacke, Lena.“
„Was?“, mache ich irritiert.
Er steht auf.
„Hol deine Jacke“, sagt er erneut. „Die Birnbaumhexen waren sich nicht sicher, ob es noch eine Kopie des Zauberbuchs gab, richtig? Hiermit ist diese Frage wohl geklärt. Ich bringe dich zu ihnen. Du hast das erste Buch zerstört, du zerstörst auch dieses.“
Was? Er will mit mir zu Arabella und Bina Birnbaum? Jetzt?
„Nun mach schon!“, faucht er mich ungeduldig an. „Oder muss ich dir erklären, wie gefährlich es ist? Nils glaubt, eine Ratte hat ihn gebissen. Aber Josephs Arm ist für immer verloren, und wie, denkst du, ist das Leben für einen einarmigen Werwolf?“
Ich habe das erste Buch zerstört. Wir waren uns nie sicher, ob es nicht noch eine Kopie davon gibt. Und Drama-Magie ist gefährlich, verleiht Kräfte an die, die ihnen nicht gewachsen sind, korrumpiert, tötet. Arabella war da ganz klar. Sie muss vernichtet werden, und nur ein Mensch kann es tun.
Ich kann es tun.
„Ich hole meine Jacke“, sage ich.
*
Malachi fährt einen eleganten kleinen Flitzer, was mich nicht weiter verwundert. Er fährt zudem rasant, was ebenfalls nicht verwunderlich ist, bedenkt man die besseren Reflexe von Vampiren.
Irgendwann auf halbem Weg aus der Stadt lacht er auf.
„Das ist schon total absurd“, sagt er kopfschüttelnd. „Da ziehe ich zum ersten Mal in meinem Leben in eine WG, und in dieser WG lebt nicht nur Patels Erbin, sondern auch die kleine Schwester von Noel Tyll! Wie unwahrscheinlich ist denn so etwas?“
„Ja, was für ein Glück“, murre ich vor mich hin. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich gerade hierhergezogen bin, um all diesen Scheiß hinter mir zu lassen.“
Er wirft mir einen neugierigen Blick zu. Ich verdrehe die Augen.
„Weißt du noch, wie du dir Sorgen gemacht hast, ich könne auf den Schnösel reinfallen, Roxanne?“, sage ich zu ihr, die wir auf die schmale Rückbank geklemmt haben. „Vergiss es. Ich habe genug Abenteuer mit Anderen gehabt. Ich will ein friedliches, menschliches Leben. Du solltest das auch wollen!“
Natürlich mussten wir sie mitnehmen. Mal ganz abgesehen davon, dass wir Roxanne unmöglich einfach so zurücklassen können, wird Arabella sie ganz bestimmt zu dem Buch und der Möglichkeit der Existenz weiterer befragen wollen. Leider ist Malachis Auto für mehr als zwei Mitfahrer nicht richtig ausgelegt. Aber Roxanne ist jetzt bereits so verängstigt und besorgt, dass sie sich nicht beschwert. Ich wette, sie wünscht sich, sie hätte das Buch nie angefasst.
Sie wird es sich definitiv wünschen, wenn Arabella Birnbaum mit ihr fertig ist.
„Bist du wirklich ein Vampir?“, wispert sie aus dem Schatten der Rückbank. „Aber du isst doch ganz normal – mal abgesehen von diesen Gesundheitsshakes! Und ich habe dich im Sonnenlicht gesehen!“
„Ich ...“ Malachi seufzt. Er trägt eine dunkle Brille, ob als Schutz vor Licht oder weil es cool aussieht, weiß ich nicht.
„Okay, Roxanne“, sagt er. „Die meisten Dinge, die du über Vampire gehört hast, sind falsch. Sieh uns einfach als eine Art von Menschen mit einem vererbten Gendefekt. Über ein Virus vererbt, um genau zu sein. Dieser Gendefekt hat Vor- und Nachteile. Vorteil: Wir altern extrem langsam. Wir sind schnell und stark. Nachteil: So, wie ihr Vitamine und Spurenelemente zu euch nehmen müsst, brauchen wir bestimmte Bestandteile aus dem Blut. Menschliches Blut ist am besten geeignet, tierisches tut es aber auch. Nur dass wir keine Liter davon benötigen. Ein paar Milliliter am Tag reichen. In meinen Shakes ist tatsächlich Blut, aber hauptsächlich kommt die Farbe von Roter Beete.“
Er wirft mir wieder einen Blick zu.
„Ich mag Rote Beete“, sagt er spöttisch. „Vic lässt sie extra für mich mischen.“
„Vic, die Vampirkönigin?“, hake ich nach.
„Victoria Lamprecht, die Vampirkönigin, meine liebe Cousine“, sagt er grinsend.
Roxanne gibt ein Wimmern von sich. Er rollt die Augen.
„Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben“, setzt er schnell hinzu. „Ich beiße dich schon nicht. Mein Vorrat ist gut bemessen. Außerdem kann ich Reserven aufbauen! Selbst, wenn ich morgen keine Shakes mehr hätte, würde es noch einen Monat dauern, bis ich die Auswirkungen spüre und dich vielleicht beißen möchte. Und sogar dann würde ich dich nicht leersaugen, klar? Für dich wäre es allerhöchstens wie ein Mückenstich. Du würdest es nicht einmal richtig merken.“
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit dies wirklich der Sache zuträglich ist.
„Würde ich dadurch nicht auch zum Vampir?“, flüstert sie.
„Nein“, sagt er sofort. „Einen Vampir zu erzeugen ist ein langwieriges und ätzendes Geschäft. Ich habe nicht vor, jemals damit anzufangen. Du bist vollkommen sicher vor mir. Ich vermeide es tunlichst, Menschen zu beißen.“
Ich hingegen erinnere mich an Lucies Entführung durch Virgilia Lamprecht, und die vereitelte Verwandlung. Virgilia hat Lucie und Noel lange vorgemacht, ein Mensch zu sein. Rückblickend war einer der Hinweise, dass sie nicht besonders gerne aß. Außerdem studierte auch sie Medizin und hatte sich das Recht darauf vermutlich mit dem Versprechen erworben, Lucie zu entführen.
Ein Arzt mit Blutdurst ...?
„Virgilia“, sage ich sofort. „Kanntest du sie?“
„Ja“, murrt Malachi. „Mochte sie nicht. Worauf willst du hinaus?“
„Ärzte sind bei Vampiren hochangesehen“, erinnere ich mich an das, was ich über diese Episode weiß. „Weil sie ihren Blutdurst im Griff haben. Sie müssen sich harten Tests dafür unterziehen. Du studierst Medizin. Willst du mir sagen, du hast kein Problem mit Blutdurst?“
Er seufzt.
„Warum immer alle darauf hinaus wollen ...“, brummelt er. „Du hattest mal ein Problem mit Essen. Du hast es in den Griff gekriegt. Willst du in jedes Kuchenstück beißen, was dir vor der Nase liegt?“
„Manchmal schon“, provoziere ich ihn.
„Aber du tust es nicht“, erwidert er. „Und ich tue es ebenfalls nicht. Arzt zu werden ist ... hm ... eine nette Abwechslung. Eine Herausforderung. Ich habe es im Griff. Willst du jetzt auch noch wissen, warum ich im Sonnenlicht weder funkele, noch in Flammen aufgehe?“
„Ja“, sagen Roxanne und ich gleichzeitig.
Er stöhnt.
„Weil es ein Mythos ist, sonst nichts“, erwidert er grimmig. „Ja, wir sind lichtempfindlich. Ja, wir tragen gerne lange Kleidung und Sonnenbrillen, und sich nur in Badehose an den Strand zu legen ist eine doofe Idee. Es tut weh. Das ist einer der Nachteile des Gendefektes. Aber wir sind weder untot, noch können wir fliegen, und uns in Fledermäuse verwandeln schon gar nicht. Genug von mir. Roxanne. Was weißt du über Henri Patel?“
„Sie wird das alles ohnehin bei den Birnbaums erzählen müssen“, weigere ich mich, das Thema von ihm abzulenken. „Wie ist es mit Gehör? Kannst du hören, was wir in der Küche sagen, wenn du in deinem Zimmer bist?“
„Mein Geruchssinn ist besser als mein Gehör“, weicht er aus. „Deshalb bitte, koch nicht mit Knoblauch. Ich kann den Gestank kaum ertragen. Wenn Roxanne nicht über Patel sprechen soll, wie ist es dann mit dir? Wie war es, direkt am Alten Wald aufzuwachsen? Bist du dem berüchtigten Wächter des Waldes begegnet?“
Robin.
Ich beiße die Zähne zusammen und ringe darum, weder zu heulen noch zu schreien.
„Henri Patel“, sage ich heiser, als ich wieder sprechen kann. „Was weißt du über ihn, Roxanne?“
„Aber ich dachte ...“, beginnt sie.
„Wenn du es erst uns erzählt, fällt es dir bei den Hexen bestimmt leichter“, unterbreche ich sie.
Sie zögert einen Moment.
„Na gut“, sagt sie dann.
Und während sie spricht, merke ich immer wieder, wie Malachis neugieriger Blick von der Straße zu mir springt, und wieder zurück.
*
Malachi hat Bina angerufen, bevor wir losgefahren sind, und so werden wir am Komplex der Birnbaums schon erwartet, und zwar von Cianán selbst. Malachi und er geben sich eine echte Männerumarmung, so mit einem Arm und viel Geklopfe, aber es ist deutlich zu erkennen, wie sehr sie einander mögen.
Mich hingegen sieht der Waldelf erst forschend an, bevor er mich an sich zieht. Cianán ist Robins kleiner Bruder.
Ich sollte besser nicht daran denken.
„Ich habe von Mona gehört“, sagt er behutsam. „Wie geht es dir?“
„Es geht mir gut“, sage ich ehrlich. „Lass uns ... lass uns nicht über Vergangenes reden, ja? Hier, das ist meine Freundin Roxanne. Sie hatte keine Ahnung, auf was sie sich einließ.“
„Roxanne“, grüßt Cianán freundlich, jedoch vorsichtig.
Henri Patel hat ihn einmal in die Finger bekommen und ziemlich gequält. Es ist nicht zu erwarten, dass er eine potenziell angehende Drama-Magierin in sein Herz schließt.
„Wo ist das Buch?“, setzt er hinzu.
„Bei mir“, sagt Malachi und klopft auf seine Jackentasche. „Lasst uns hineingehen. Ich wette, die Schwestern warten schon.“
*
Die Schwestern warten. Bina Birnbaum ist eine langbeinige, schlanke Blondine, die ich um ihre Figur mehr als nur beneide. Ihre Schwester Arabella ist älter, kleiner und auf ihre Art besonders ehrfurchtgebietend. Sie ist die Oberhexe der Birnbaums, und ich habe plötzlich Mitleid mit meiner armen, unbedarften Freundin.
„Sei einfach nur ehrlich zu ihnen“, wispere ich ihr rasch zu. „Sie sind fair. Sie hassen Drama-Magie, aber sie sind fair.“
Sie hassen auch Henri Patel, doch das sage ich lieber nicht laut.
Malachi und ich dürfen bei der Befragung dabei sein. Sie ist allerdings nicht besonders ergiebig. Henri Patel hat ungefähr zwei oder drei Jahre als unauffälliger Nachbar neben Roxannes Familie gewohnt. Er sah, dass sie sich für Esoterik interessierte und schenkte ihr hin und wieder ein paar Bücher, aber hielt Abstand, wie man das bei einem erwachsenen Mann und einem jungen Mädchen erwarten würde.
Die meisten Titel, die sie nennt, scheinen Arabella Birnbaum bekannt und harmlos zu sein, denn sie nickt lediglich. Ich wette, Hexerei für Anfänger kann man auch bei Amazon bestellen. Roxanne hat, auf Malachis Betreiben hin, praktisch alle mitgebracht, und sogar ich kann sehen, dass sie die wieder mitnehmen darf.
Nur das letzte Buch, das Patel ihr gab, das war seltsam. Seltsam waren ebenso die Umstände. Er sei erschrocken gewesen, habe gehetzt gewirkt, und sie habe ihm versprechen müssen, dieses Buch gut zu verstecken, was sie auch getan hat.
Zwei Tage später war er fort und sein Haus stand zum Verkauf. Sie vergaß das Buch prompt, bis sie an Weihnachten darüber stolperte, zum Spaß einen Spruch ausführte und feststellte, dass dies – die Verwandlung von einem Schokokeks in einen Goldtaler – tatsächlich klappte. Der Goldtaler löste sich zwar kurz darauf auf, aber ihre Neugier war geweckt.
„Wie viele von den Sprüchen hast du durchgeführt?“, will Arabella ganz sachlich wissen.
„Ich weiß nicht“, gesteht Roxanne. „Ein Dutzend vielleicht? Ein paar davon sind echt eklig, und wenn man weiter nach hinten kommt, wird es richtig widerlich. Ich will keine Frösche häuten.“
Sie wirft Malachi und mir einen Blick zu.
„Ich studiere Ethnologie und keine Medizin“, sagt sie mit einem aufmüpfigen Wurf ihres Kopfes.
„Das klingt nicht so, als sei sie weit vorgedrungen“, meint Arabella langsam. „Bina? Eine Diagnose?“
Bina Birnbaum tritt vor. Noel zufolge ist sie die stärkste Hexe ihrer Generation und hat das Zeug, zur stärksten Hexe überhaupt zu werden. Ich möchte nach Roxannes Hand greifen und beiße mir auf die Lippen, um mich daran zu hindern.
Langsam, kaum merklich, gleitet Binas Diagnosezauber über meine Freundin. Wenn ich nicht wüsste, dass es so etwas gibt, hätte ich es bestimmt nicht gesehen.
„Ich denke, sie ist harmlos“, sagt Bina.
Roxanne und ich holen beide endlich wieder richtig Luft.
„Sie ist harmlos“, sagt Malachi, der verärgert wirkt. „Ich wohne mit ihr zusammen! Sie ist ein wenig fluffig im Kopf, aber nicht bösartig. Das Buch ist etwas anderes!“
„Dein Wort in allen Ehren, Mal“, sagt Bina grinsend. „Wir mussten trotzdem auf Nummer Sicher gehen. Zum Buch kommen wir gleich. Was machen wir jetzt mit dem Mädchen?“
Cianán erhebt sich.
„Ich rede mit ihr“, sagt er, „und erkläre ihr, warum sie die Klappe halten muss.“
„Oh, das ist einfach“, sagt Malachi zynisch. „Roxy in ihren wallenden Kleidern? Wenn sie auch nur ein Wort über Hexen, Vampire und Wölfe sagt, geht sie direkt in die geschlossene Anstalt.“
Das ist ziemlich brutal, und Roxanne schießen prompt Tränen in die Augen.
Cianán verdreht die seinen.
„Man kann das auch anders ausdrücken, mein Bester“, sagt er. „Komm, Roxanne. Sie brauchen uns nicht für das, was jetzt getan werden muss. Lass uns einen Kaffee trinken gehen, ja? Du bist also Lenas beste Freundin?“
Sanfter und sehr viel netter als Malachi komplimentiert er sie hinaus. Es ist sicher besser, wenn sie bei diesem letzten Schritt nicht dabei ist. Es hilft ihrem Ansehen bei diesen Leuten zudem, dass sie kein besonders enges Verhältnis zu Patel hatte. Bina wirft ihnen zwar einen besorgten Blick nach, aber das täte ich ebenfalls, würde ich einen Waldelfen lieben, der von einem Drama-Magier fast zu Tode gefoltert wurde und jetzt mit dessen Erbin Kaffeetrinken geht.
Besser, das Buch verschwindet, dann ist Roxanne wieder nur Roxanne, und nichts mehr mit der dummen Drama-Magie.
„Also dann“, sage ich. „Ich bin bereit. Habt ihr den Zahn?“
Malachi war beim letzten Mal nicht dabei. So ist es zu verstehen, dass er hinter mir stehen bleibt, die Hände auf meine Stuhllehne gestützt, und mir genau über die Schulter schaut. Wenn ich mich richtig an die Geschichten vom letzten Jahr erinnere, kann er ebenfalls ein wenig zaubern. Ich kann es nicht. Aber alles, was ich tun muss, ist einen alten Riesenzahn durch ein Buch zu rammen, und dann darf ich zurück in mein normales Leben.
Vielleicht brauche ich allerdings eine neue WG.
Bina legt das Buch vor mich, Arabella gibt mir den Zahn. Und dann beobachten sie mich ganz genau, wie ich das Ungetüm anhebe und mitten in das Buch stoße. Es geht rein wie Butter. Es geht rein, und ...
Und das leichte Kribbeln, das ich das letzte Mal verspürte, kehrt zurück, verstärkt sich, nimmt immer mehr zu, gleitet über meine gesamte Haut und scheint förmlich in mir zu versickern. Mit einem Quieken lasse ich den Zahn los und springe so hastig zurück, dass ich Malachi fast umwerfe.
Das Buch glüht.
Der Zahn glüht.
Ich glühe.
Und dann, mit einem Puff, löst das Buch sich auf, zerspringt der Zahn und meine Haut sieht wieder ganz normal aus.
Sie fühlt sich allerdings nicht mehr ganz normal an.
„Was war das?“, rufe ich erschrocken. Meine Stimme klingt schrill.
„Vermutlich das, worauf die Ahnen hingewiesen haben“, sagt Arabella. „Dies war das letzte Buch. Die Drama-Magie ist endgültig in den Kreislauf der Natur zurückgekehrt – über dich, Lena. Du hast es beendet.“
„Ich bin jetzt aber nicht magisch, oder?“, sage ich unbehaglich und reibe mir über die Unterarme.
Verdammt, es kribbelt noch immer.
Bina lässt sofort ihren Diagnosezauber über mich gleiten.