"Darling Jane". Jane Austen – eine Biographie - Christian Grawe - E-Book

"Darling Jane". Jane Austen – eine Biographie E-Book

Christian Grawe

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Beschreibung

Zwischen Tee und Tinte: Das Leben einer Literatin Elizabeth Bennett, Emma und natürlich Mr Darcy – die Lieben und Leiden der Figuren aus Jane Austens Werken sind bekannt. Doch was weiß man über die Frau, die sie erschuf? Die Biographie des Literaturwissenschaftlers und Austen-Experten Christian Grawe bietet eine lebendige Darstellung von Austens Leben und entwirft zugleich ein Gesamtbild des sozialen, politischen und literarischen Umfelds um 1800, das den Hintergrund der Romane bildet. Ein Geschenk für alle Jane-Austen-Fans.

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christian Grawe

»Darling Jane«

Jane Austen – eine Biographie

Reclam

Meiner Frau Ursula gewidmet:Wir haben Jane Austen gemeinsam erobert.

 

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

RECLAM TASCHENBUCH Nr. 962370

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Kosmos Design, Münster

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962370-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020758-1

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Zitate

Vorspiel/Nachspiel

Einleitung

Erstes Kapitel: Steventon 1775–1801

Zweites Kapitel: Jugendwerke

Drittes Kapitel: Jane Austens England

Viertes Kapitel: Bath–Southampton 1801–1809

Fünftes Kapitel: Literarische Krisenjahre

Sechstes Kapitel: Chawton–London 1809–1816

Siebtes Kapitel: Werke zu Lebzeiten

Achtes Kapitel: Chawton–Winchester 1816–1817

Neuntes Kapitel: Werke aus dem Nachlass

Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Personenregister

Zum Autor

Heirat, Moral, Umgangsformen, GeldPaul Poplawski
Tugend, gesunder Menschenverstand, GeschmackDavid Cecil1

Vorspiel/Nachspiel

Da zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur Männer einen Sarg auf dem Weg zur Beerdigung begleiteten, blieb Cassandra Austen am 24. Juli 1817 als Zuschauerin zurück und sah vom Fenster aus dem Beerdigungszug ihrer Schwester Jane zu, der von dem Haus in der College Street in Winchester aufbrach, in dem beide seit Ende Mai gewohnt hatten. »Unsere Unterkunft hier ist sehr bequem. Wir haben ein nettes kleines Wohnzimmer mit einem Erkerfenster, das auf Dr Gabells Garten hinaussieht«, hatte Jane in ihrem letzten erhaltenen Brief geschrieben (B 2402). Die Brüder Edward und Charles kamen am 23. Juli abends nach Winchester und der in Oxford studierende Neffe James Edward (»der jüngste der Trauernden«, Files 48) am nächsten Morgen. Sie begleiteten den Sarg auf seinem Weg zur Kathedrale, wo Jane Austens Sarg unter einer schwarzen Marmorplatte beigesetzt wurde. »Es ist mir eine Genugtuung zu wissen«, schrieb Cassandra an eine ihrer Nichten, »dass sie in einem Gebäude liegen soll, das sie so bewundert hat« (B 244).

Sechs Tage vorher, am 18. Juli, war Jane nach langer Krankheit im Alter von 41 Jahren gestorben; und drei Monate davor waren Cassandra und ihre schwerkranke Schwester von Chawton nach Winchester aufgebrochen, wo der erfahrene Arzt Mr Lyford bessere Hilfe für Janes Krankheit versprach. Janes Mutter, nun 78 Jahre alt, blieb in Chawton zurück und sah ihre jüngere Tochter nie wieder. Es regnete fast die ganze Zeit, als die kleine Kavalkade am Sonnabend, dem 24. Mai 1817, die 16 Meilen zurücklegte. Jane und Cassandra saßen in der Kutsche und wurden zu Pferd von ihrem Bruder Henry und ihrem 23-jährigen Neffen Edward Knight begleitet, die zu Janes Bedauern klitschnass wurden. Die Kranke überstand die Reise zur College Street ohne nachhaltige Folgen und machte sich wieder einmal Hoffnung auf eine Besserung ihres Zustandes.

Aber auch Mr Lyford konnte Jane nicht retten; er war selbst ratlos und gestand Janes Schwägerin Mary, »die Dauer der Krankheit werde ganz ungewiss sein – sie könne sich hinziehen oder sie könne mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit auch zu einem plötzlichen Ende kommen, und er fürchte, die letzte Phase, wann immer sie eintrete, werde schweres Leiden mit sich bringen« (Files 43). Janes Zustand verschlimmerte sich, und die kurzen Besserungen erwiesen sich als Illusion. Woran Jane Austen starb, ist nicht sicher erwiesen. Lange ist die Addinson-Krankheit (Versagen der Nebennieren) für die Ursache gehalten worden, aber auch ein Hodgkin-Lymphom (Drüsenkrebs) und sogar eine zusätzliche Lungenentzündung sind vermutet worden. Wie Janes letzte Tage und Stunden verliefen, berichtete Cassandra zwei Tage nach dem Tod ihrer Schwester deren 25-jähriger Lieblingsnichte Fanny Knight, die Jane noch im Februar bei »den Capricen Deines Geschmacks, den Widersprüchen Deiner Gefühle« (B 228) beraten hatte:

Gleich nach dem Dinner am Donnerstag ging ich in die Stadt, um etwas zu besorgen, woran Deiner lieben Tante sehr lag. Ich kehrte ungefähr um Viertel vor sechs zurück, als sie sich gerade von einem Anfall von Schwäche und Niedergeschlagenheit erholte; sie war sogar imstande, mir einen genauen Bericht des Anfalls zu geben; und als die Uhr sechs schlug, sprach sie ruhig mit mir. Ich kann nicht sagen, wie bald danach sie wieder einen ähnlichen Schwächeanfall bekam, dem dann die Schmerzen folgten, die sie nicht beschreiben konnte, aber Mr Lyford war herbeigerufen worden und hattte ihr etwas zur Erleichterung gegeben, und spätestens um sieben lag sie in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit. Von da an bewegte sie sich bis halb fünf morgens kaum, als sie zu atmen aufhörte, so dass wir – und dem Allmächtigen sei Dank dafür – allen Grund haben anzunehmen, dass ihre Schmerzen vorüber waren. Fast bis zuletzt bewegte sich ihr Kopf mit jedem Atemzug leicht. Ich saß sechs Stunden lang mit einem Kissen auf dem Schoß bei ihr, um ihr den Kopf zu stützen, der fast außerhalb des Bettes lag. Dann zwang mich Erschöpfung, meinen Platz für zweieinhalb Stunden Mrs James Austen zu überlassen, und ungefähr eine Stunde, nachdem ich ihn wieder eingenommen hatte, tat sie ihren letzten Atemzug. Ich konnte ihr selbst die Augen schließen, und es ist mir eine große Befriedigung, ihr diesen letzten Dienst selbst erwiesen zu haben. Ihre Züge waren nicht verzerrt oder schmerzlich verzogen – im Gegenteil, außer der ständigen Bewegung ihres Kopfes erweckte sie in mir den Eindruck einer schönen Statue, und noch jetzt in ihrem Sarg liegt ein so rührend heiterer Ausdruck auf ihren Zügen, dass ihr Anblick wohltuende Gedanken weckt. (B 243 f.)

Als der herbeigerufene Mr Lyford eintraf, war Jane Austen schon gestorben. Sie wurde im nördlichen Schiff der Kathedrale begraben, wo man noch heute die marmorne Grabplatte betrachten kann. Sie trägt die Inschrift:

Zum Gedenken an

Jane Austen,

die jüngere Tochter

des Geistlichen George Austen,

vormals Pastor von Steventon in dieser Grafschaft.

Ihr Leben endete am 18. Juli 1817,

im Alter von 41, nach langer Krankheit, gestärkt von

der Geduld und Hoffnung einer Christin.

 

Ihr wohlwollendes Herz,

ihr ausgeglichenes Temperament und

ihre außerordentlichen Geistesgaben

garantierten ihr das Wohlwollen aller, die sie kannten, und

die herzlichste Liebe derer, die ihr am nächsten standen.

 

Deren Trauer entspricht ihrer Zuneigung,

sie wissen, dass ihr Verlust unersetzlich ist,

aber bei ihrer tiefsten Erschütterung werden sie getröstet

durch die feste, aber bescheidene Hoffnung, dass Großmut,

Hingabe, Glaube und Reinheit ihrer Seele

ihr den Anblick gewähren werden ihres

ERLÖSERS.

Wozu »ihre außerordentlichen Geistesgaben« sie befähigt hatten, erwähnt die Inschrift auf der Grabplatte nicht. War es familiäre Diskretion, bewusste Konzentration auf ihre Menschlichkeit, Erfüllung von Janes Wunsch, unbekannt zu bleiben, mangelndes Verständnis der Einmaligkeit ihrer literarischen Begabung?

Gut 50 Jahre später berichtete James Edward Austen-Leigh, ein Freund, der das Grabmal Jane Austens besucht habe, sei vom Küster der Kathedrale gefragt worden, »ob an der dort begrabenen Dame etwas Besonderes gewesen sei; so viele Leute wollten wissen, wo sie begraben ist« (Files 108).

War etwas Besonderes an ihr? Aber natürlich, und sie war um 1870 schon eine viel gelesene Berühmheit. Heute gilt sie als eine der größten Begabungen der englischen Literatur. Ihr schmales Œuvre von nur sechs Romanen hat sie zu ihrer beliebtesten Klassikerin gemacht. Sie ist im 21. Jahrhundert eine weltweite Kult- und Devotionsfigur, ein Star, eine industrielle Ikone. Straßen, Parks, Gesellschaften und Gebrauchsartikel wie Tassen, Taschen, Tees und T-Shirts führen ihren Namen. Jane-Austen-Bälle und -Kongresse werden veranstaltet; jedes Jahr findet in Bath ein zehntägiges Jane-Austen-Festival statt, das die Teilnehmer und Teilnehmerinnen in den Kostümen der damaligen Zeit feiern. Im Stadteil von Melbourne in Australien, wo der Autor dieser Biographie lebt, hat ein Jane Austen Tearoom eröffnet, in dem man in »Mr Darcy’s Room and Miss Elizabeth Bennet’s Room« speisen kann, und zwar »Mr Colin’s Pompous Simple Breakfast« oder »Miss Fanny Dashwood’s seafood catch« (allerdings gibt es nur eine Mrs, nicht eine Miss Fanny Dashwood in Austens Verstand und Gefühl). Wo immer man hinsieht, wo immer man hinhört – Jane Austen ist ›Darling Jane‹.

Wie führte die anonyme Veröffentlichung ihrer sechs Bücher innerhalb des kurzen Zeitraums von nur sieben Jahren zu dem so sensationellen Nachleben der Schriftstellerin? Was waren das für Romane? Und wer war diese Autorin? Was sind die Gründe für ihre außerordentliche Beliebtheit? Dies ist die Geschichte Jane Austens, ihrer Werke, ihres Ruhms und ihrer Zeit.

Einleitung

»Behaupten Sie das einfach, oder können Sie nachweisen, dass Sie in der fraglichen Nacht an einer Jane-Austen-Biographie gearbeitet haben?«

Jane Austens sechs Romane Verstand und Gefühl, Stolz und Vorurteil, Mansfield Park, Emma, Kloster Northanger und Überredung haben endlich auch in Deutschland eine breite Leserschaft gefunden. In der englischsprachigen Welt sind sie in unzähligen Leinen- und Taschenbuchausgaben mit und ohne Illustrationen verbreitet und fehlen in kaum einem Jahr im Abiturkanon vieler Schulen. Zeitschriften und das Internet sind voll von Jane-Austen-Cartoons. Es gibt ein Musical und Theaterstücke nach Stolz und Vorurteil, und die Filme und Fernsehserien nach ihren Romanen und sogar nach Episoden ihres Lebens haben ein weltweites Publikum gefunden und ihre Figuren zum Leben erweckt. Jane Austens bekannteste Gestalten sind in England sprichwörtlich. Schon Ende des 19. Jahrhunderts nannte man in manchen Familien einen überschwänglichen Dankbrief nach dem überkandidelten Pfarrer in Stolz und Vorurteil einen ›Collins‹.3 Heute haben einige ihrer Gestalten ein Eigenleben entwickelt. Der nasse Mr Darcy, der in der Fernsehserie nach Stolz und Vorurteil aus dem See steigt, ist zu einer Art Kultfigur geworden. Ständig werden ihre Romane von der Literaturwissenschaft verglichen und neu gedeutet. Jedes Jahr werden neue Doktorarbeiten über sie angefertigt. Jeder erhaltene Brief, den Jane Austen geschrieben, jedes Dokument, das sich auf sie und ihre Familie bezieht, ist veröffentlicht worden. Schon die Bibliographie über die Jane-Austen-Studien von 1952 bis 1972 enthält 794 Einträge.4 Unter den literarischen Größen der Weltliteratur gehört sie zu den beliebtesten und am intensivsten erforschten. Sie ist konkurrenzlos der beliebteste ›Klassiker‹ Großbritanniens. Ihr wurde 1923 sogar die erste wissenschaftliche Ausgabe eines englischen literarischen Œuvres gewidmet.

»Es tut mir leid, Gav, aber ein nasses Hemd genügt nicht, um wie Darcy auszusehen.«

Aber nicht allein dies: Es gibt eine Jane-Austen-Gesellschaft. Zu Jane Austens 200. Geburtstag 1975 und zum 200. Erscheinungsjahr der Erstausgabe von Stolz und Vorurteil 2013 erschienen Serien von Briefmarken in Großbritannien. Ihr Bild schmückt seit 2017 die britische Zehn-Pfund-Note – offenbar aus gutem Grund. 2008 erschien im Spectator ein Aufsatz mit dem Titel »Jane Austen Knew All About a Banking Crisis«5, und der französische Ökonom Thomas Piketty erklärt:

Tatsächlich zeichneten die Romane Jane Austens und Honoré de Balzacs ein überraschend genaues Bild der Vermögensverhältnisse in Großbritannien und Frankreich zwischen 1790 und 1830. Beide Romanciers waren vertraut mit der Hierarchie der Vermögensverhältnisse in ihrer jeweiligen Gesellschaft. Sie durchschauten die verborgenen Vermögensstrukturen und ihren unvermeidlichen Einfluss auf das Leben von Männern und Frauen, einschließlich ihrer Heiratsstrategien und persönlichen Hoffnungen und Enttäuschungen. Diese und andere Romanciers beschrieben die Wirkungen dieser Ungleichheit mit solcher Genauigkeit und Anschaulichkeit, dass keine statistische oder theoretische Analyse es mit ihr aufnehmen kann.6

Ihre drei Romanfragmente sind in den letzten zehn Jahren von modernen Autorinnen zu Ende gesponnen worden. 1984 ist Jane Austen in Barbara Ker Wilsons (leider allzu naivem) Buch Jane Austen in Australia sogar zur Romanheldin auf dem fünften Kontinent geworden. 1986 hat die englische Autorin Judith Terry den Roman Mansfield Park aus der Perspektive eines Dienstmädchens im Haus Sir Thomas Bertrams neu erzählt.7 Das Haus in Chawton, wo sie gelebt und ihre Bücher geschrieben hat, das Haus in Winchester, wo sie gestorben ist, und die Kirche, wo sie begraben liegt, sind literarische Wallfahrtsorte. Der englische ›Poet Laureate‹ von Königin Victoria, Lord Alfred Tennyson, fuhr, wie sein Sohn berichtet, Jane Austens wegen 1867 in das südenglische Seebad Lyme Regis:

Am 23. August fuhr mein Vater nach Bridport. Von da wurde er durch die Beschreibung der Stelle in Miss Austens Überredung nach Lyme gelockt und wanderte über die Hügel die neun Meilen von Bridport. Bei seiner Ankunft meldete er sich bei [F. T.] Palgrave, lehnte jede Erfrischung ab und sagte sofort: »Jetzt bring mich zu dem ›Cobb‹ und zeig mir die Stufen, von denen Louisa Musgrove fiel.«8

Die Briefmarken von 1975

1870 berichtete James Edward Austen-Leigh, einer seiner Freunde benutze die Frage, ob jemand Jane Austen möge, als Test für die Einsicht einer Person. 1926 veröffentlichte Rudyard Kipling, der Autor des Dschungelbuchs, eine Kurzgeschichte mit dem Titel The Janeites, in der englische Offiziere, die begeisterte Anhänger Jane Austens sind, im Ersten Weltkrieg an der französischen Front einen einfachen Soldaten zur Lektüre ihrer Romane veranlassen. Außer dem Soldaten, der die Geschichte im Rückblick erzählt und dem ihre Gestalten Modelle der Wirklichkeit geworden sind, werden sie alle im Krieg getötet. Seitdem sind die Begriffe ›Janeites‹ und ›Anti-Janeites‹ in England für Verehrer und Gegner Jane Austens eingebürgert. Die Erzählung ist nur ein Dokument für die besondere und persönliche Beziehung, die sich über das Literarische hinaus immer wieder gerade zwischen dieser Autorin und ihren Lesern herstellt. Jane Austen ist mehr als eine Klassikerin der englischen Literatur. Für viele Leser, in Krisenzeiten sogar für berühmte Persönlichkeiten, haben ihre Bücher geradezu eine tröstende, ablenkende oder auch eskapistische Funktion. Der englische Premierminister Winston Churchill las Stolz und Vorurteil während des Zweiten Weltkriegs. A. A. Milne, der Autor des berühmten Kinderbuchs Winnie-the-Pooh, stöhnte 1936 über die politischen Zustände: »Die Welt stinkt. Ich hasse den beschränkten Egoismus Frankreichs, ich finde die deutsche Regierung unerträglich, ich kann Mussolini nicht ausstehen, ich verabscheue den Kommunismus«, und dann entfloh er in Austens Welt und machte aus seinem »Lieblingsbuch«9Stolz und Vorurteil ein Schauspiel. Die erste wissenschaftliche Ausgabe der Werke und Briefe eines englischen Schriftstellers wurde ihr gewidmet.10 In Deutschland war sie lange ein Geheimtipp, soweit ihre Bücher überhaupt verfügbar waren. Das hat sich geändert, seit ihre Romane – von 1977 bis 1984 – im Reclam Verlag zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung erschienen.

Jede Darstellung von Jane Austen steht vor der Schwierigkeit, dass das biographische Material über sie keineswegs reichhaltig, ja für bestimmte Perioden ihres Lebens geradezu dürftig ist. Das hat mehrere Gründe. Der außerordentlichen heutigen Beliebtheit ihrer Bücher, ihrem überwältigenden Nachruhm, der sie selbst zweifellos sehr überrascht hätte, steht die Anonymität ihres Daseins als Kontrast gegenüber. Sie lebte zurückgezogen im Kreis ihrer Familie in der englischen Provinz und kannte keine einzige literarische Persönlichkeit ihrer Zeit. Ihre Bücher erschienen anonym. Nicht einmal ihre weitere Familie wusste zunächst, dass sie Schriftstellerin war. Sie ließ die Blätter, auf denen sie ihre Manuskripte schrieb, unter ein Löschblatt gleiten, wenn jemand das Zimmer betrat, und unternahm nichts gegen das Quietschen der Zimmertür, weil es sie rechtzeitig warnte. Eine ihrer Nichten nahm in einer Buchhandlung in ihrem Beisein ihren ersten Roman in die Hand und legte ihn mit einer abfälligen Bemerkung über den Titel wieder auf den Tisch zurück. Ihr ältester Neffe fiel aus allen Wolken, als er drei Jahre vor ihrem Tod erfuhr, dass sie die Romane geschrieben hatte, die er so bewunderte. Er machte ihr sein Kompliment in einem reizenden Scherzgedicht, dessen Anfang lautet:

Ich war überrascht, die Luft blieb mir weg,

Ich bekam, liebe Tante, einen furchtbaren Schreck

Wie das arglose Schwein, das der Fleischer ersticht,

Als ich erfuhr, dass Verwandtschaft ich habe,

Die Bücher zu schreiben hat die glänzende Gabe,

Die ganz England jetzt liest – ich ahnte es nicht.

Sollte der Prinzregent davon erfahren, so heißt es in den letzten Zeilen,

Dann macht er zur Gräfin dich ohne Frage,

Und zwar zur Belohnung – ich weiß es genau –

Und wenn die Prinzessin beschließt ihre Tage,

Dann macht er dich sicher zu seiner Frau. (B 152)

Gerade als Jane Austen berühmt zu werden begann und der Schleier ihrer Autorschaft sich lüftete, starb sie. Es gibt nur ein einziges authentisches Porträt von ihr – ein flüchtiges Aquarell ihrer Schwester, das nach Aussagen ihrer Verwandten nicht sehr treffend ist. Nach diesem Bild wurde dann 1870 der Kupferstich für James Edward Austen-Leighs Biographie seiner Tante im viktorianischen Geschmack entstellt angefertigt.

Obwohl ihre sieben Geschwister sie zum Teil um Jahrzehnte überlebten, haben auch sie aus dem Leben Janes, deren Zurückhaltung sie kannten, aus Diskretion fast nichts veröffentlicht. Ja, ihre einzige Schwester hat in der Befürchtung, dass Persönliches an die Öffentlichkeit gelangen könnte, den größeren Teil ihrer Briefe ganz vernichtet und andere von Intimem, Unliebsamem und Indiskretem gereinigt, indem sie einzelne Zeilen mit der Schere daraus entfernte. Die Äußerungen Jane Austens gerade während persönlicher Krisen oder Zeiten besonderer seelischer Belastung sind daher unwiderruflich verloren. Nur der indiskreteste ihrer Brüder, Henry, gab den beiden aus dem Nachlass herausgegebenen Romanen kurz nach dem Tod seiner Schwester eine biographische Notiz von mehreren Seiten bei, die zwar idealisiert und für die Öffentlichkeit stilisiert ist, aber doch aus unmittelbarer Nähe und intimer Kenntnis Jane Austens stammt. Henry war ihr Lieblingsbruder.

Die meisten Augenzeugen starben, ohne der Nachwelt ihr Wissen und ihre Eindrücke von Jane Austen zu hinterlassen. Erst als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Bücher immer beliebter wurden und ihr Ruhm sich immer weiter verbreitete, sammelten die nachfolgenden Generationen der Austens alles, was sich über Jane Austen noch finden und erfahren ließ, und veröffentlichten es 1870 und 1913 in zwei die Grundlage der Jane-Austen-Forschung bildenden Bänden. Sie wurden zwar nicht mehr von Familiendiskretion, aber dafür von viktorianischen Vorstellungen der Wohlanständigkeit geleitet. Manches wurde deshalb zurückhaltender behandelt, als dem heutigen Wahrheitsbedürfnis lieb ist. So liegen das Leben der Schriftstellerin und ihre Ansichten über ihre Kunst zum Teil für immer im Dunkeln. Dass sich um sie allerlei Mythen ranken, ist bei dieser Quellenlage nicht verwunderlich. Auf welches Material kann sich eine Biographie Jane Austens stützen?

(1) Überlebt haben in ihrer kleinen, ungewöhnlich gepflegten und leserlichen Handschrift gut 150 Briefe, von denen fast hundert an ihre Schwester gerichtet sind. Erst in den letzten drei Lebensjahren ist die Zahl der Adressaten größer und daher der Eindruck von Jane Austens Persönlichkeit weniger einseitig. 1932 hat der Philologe R. W. Chapman alle erhaltenen Briefe in einer bis heute nicht überholten, kommentierten Ausgabe herausgegeben.11

Aber so dankbar man für diese erhaltenen Briefe sein muss, so wenig erschöpfend sind sie. Der erste Brief stammt von 1796, also aus Janes Austens 21. Lebensjahr, so dass aus ihrer Kindheit und Jugend keinerlei eigene Aussagen von ihr selbst erhalten sind. Zudem gibt es zwischen den brieflichen Äußerungen große zeitliche Lücken, einmal, weil die beiden Schwestern den größeren Teil ihres Lebens zusammen verbrachten und daher häufig keine Veranlassung bestand, einander zu schreiben. Zum anderen aber vernichtete Cassandra offenbar für einige Lebensabschnitte alle Briefe. So fehlen sie etwa

– zwischen September 1796 und April 1798,

– Mai 1801 und September 1804, August 1805 und Januar 1807,

– Juli 1809 und April 1811,

– Juni 1811 und November 1812,

– und von 13 der insgesamt 21 Jahre sind nur ein, zwei oder drei Briefe überliefert. Die brieflichen Äußerungen Jane Austens erhellen also ihr Leben nicht gleichmäßig, sondern beleuchten daraus in Abständen nur einzelne Phasen.

Obwohl diese Briefe für den Jane-Austen-Biographen außerordentlich reiches Material enthalten, sind manche Leser von ihnen enttäuscht, weil es sich dabei um Familienbriefe handelt und sie selten Themen außerhalb des häuslichen Lebensrahmens der Autorin berühren. Über die großen Begebenheiten der Zeit, über kulturelle Ereignisse, ihre Lektüre und Schriftstellerei spricht Jane Austen nur gelegentlich. Erst in den letzten Jahren ihres Lebens tauchen Bemerkungen über das Romanschreiben und Jane Austens Verständnis von Literatur in den Briefen an den Bibliothekar des Prinzregenten und in denen an ihren ältesten Neffen James Edward und ihre älteste Nichte Anna auf, die beide in jungen Jahren literarische Ambitionen hatten. Was die Briefe trotz dieser Einschränkungen zur so anregenden Lektüre macht, sind die Menschlichkeit, die aus ihnen spricht, der Einblick in das englische Provinzleben um 1800 und der manchmal heiter und ironische, manchmal bitter und bissige … der unvergleichliche Jane-Austen-Ton. Es gibt keine andere Briefsammlung eines Menschen während der ersten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts, die das alltägliche Leben im Süden Englands so ausführlich und lebendig schildert.

(2) Die Manuskripte von Austens Romanen sind nicht erhalten; Entwürfe, Skizzen und Studien sind außer einem ausgeschiedenen Kapitel von Überredung nicht vorhanden. Wohl aber gibt es die Sammlung ihrer Jugendwerke, die sie selbst säuberlich in drei Hefte abgeschrieben und zum Teil datiert hat. Sie vermitteln einen guten Eindruck von der Entwicklung der Schriftstellerin Jane Austen, die ungefähr in ihrem zwölften Lebensjahr zu schreiben begann. Diese frühen Versuche sind noch heute zum Teil wegen ihres Humors und parodistischen Geschicks ein Lesevergnügen.12

(3) Die Bücher oder Aufzeichnungen ihrer Neffen und Nichten und deren Kinder und Enkel, die ab 1870 unter Verwendung von Familienbriefen und -dokumenten erschienen, haben die Kenntnis von Jane Austens Leben erheblich erweitert.13 Ihre Verfasser und Verfasserinnen, Nachkommen von dreien ihrer sieben Geschwister, kannten die Schriftstellerin oder doch einige ihrer Geschwister noch persönlich oder waren jedenfalls mit den Familientraditionen vertraut. Cassandra lebte bis 1845, ihr Bruder Francis sogar bis 1865. All diesen Büchern verdankt der deutsche Biograph Fakten und Anregungen. Er nennt die Autorin von jetzt an in den Kapiteln über ihr Leben »Jane«, in denen über ihr Werk »Austen« und im historischen dritten Kapitel als Zeitzeugin »Jane Austen«.

Erstes Kapitel

Steventon 1775–1801

I

Janes Lebenszeit (1775–1817) umfasst eine der ereignisreichsten und turbulentesten Epochen der europäischen Geschichte. In dieser Zeit wurde in Frankreich der Staat von 1789 bis 1799 durch die Revolution vollständig umgeformt und Europa durch Napoleons Herrschaft von 1799 bis 1815 in Krieg und Chaos gestürzt. Die politische Ordnung des europäischen Kontinents wurde erschüttert, die soziale vorübergehend infrage gestellt. Fast ganz Europa wurde nach und nach in blutige und verlustreiche Kriege verwickelt, die in Deutschland zur Besetzung weiter Teile des Landes durch französische Truppen und zu einer tiefempfundenen nationalen Erniedrigung führten.

Jane ist also eine Zeitgenossin von Ludwig van Beethoven (1770–1827), Heinrich von Kleist (1777–1811) und Madame de Staël (1766–1817), von Napoleon (1769–1821) und Königin Luise von Preußen (1776–1810). Aber von den inneren Erschütterungen und künstlerischen Krisen des Komponisten und des Dichters, von den plötzlichen äußeren Lebensumschwüngen des französischen Kaisers und der preußischen Königin ist in Janes Leben kaum etwas zu spüren, und das Wanderdasein im Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit, das das Lebenselixier der Französin war, wäre ihr sicher ein Grauen gewesen. Madame de Staël hielt sich im Sommer 1813 in London auf und traf u. a. den Prinzregenten und Lord Byron, aber Jane schlug die Gelegenheit aus, sie zu treffen.

Karte von Südengland

In die Welt der englischen Provinz, in der Jane lebte, drangen diese Ereignisse nur als Neuigkeiten, aber die Austens waren gut informiert und verfolgten sie mit großem Interesse, weil zwei von Janes Brüdern als Marineoffiziere am Krieg beteiligt waren. Janes Welt veränderte sich während dieser spannungsgeladenen Jahrzehnte nicht wesentlich – jedenfalls nicht in dem noch weitgehend landwirtschaftlich bestimmten Süden. Dort verbrachte Jane ihr ganzes Leben auf dem Land oder in kleinen Städtchen – abgesehen von kürzeren Aufenthalten in London. Nie kam sie nach Norden weit über die Linie London–Bristol hinaus; nie setzte sie nach Süden auf das Festland über. Da es zu ihren künstlerischen Grundsätzen gehörte, in ihren Büchern nur das zu schildern, was sie aus eigener Anschauung kannte, sind der Umkreis Londons und die südenglische Landschaft zwischen Bath und Brighton, zwischen Lyme Regis und Canterbury, zwischen Somerset und Kent auch der Handlungsraum ihrer Romane. Verstand und Gefühl spielt in London und ganz im Südwesten, im Umkreis der Stadt Exeter. In Stolz und Vorurteil ist der Handlungsraum in Hertfordshire angesiedelt, nördlich von London, und dann in Kent, südöstlich von London. Das Herrenhaus Mansfield Park, der zentrale Handlungsort des gleichnamigen Romans, steht in Northamptonshire, nordwestlich von London; später zieht die Heldin nach Portsmouth, in die Hafen- und Marinestadt an der Südküste. Highbury, das fiktive Dorf der Woodhouses in Emma, das die Leser nie verlassen, muss man sich in Surrey, südwestlich von London denken. Catherine Morelands Abenteuer in Kloster Northanger finden zunächst in Bath und der näheren und weiteren Umgebung des Kurortes statt, bis sie dann zu der säkularisierten Abtei Northanger in Gloucestershire nördlich davon reist. Bath und die Grafschaft Somersetshire südlich davon bilden die Schauplätze in Überredung, und in einigen Kapiteln spielt der Ausflug nach Lyme Regis, in das kleine Seebad an der Südküste, eine zentrale Rolle. Das fiktive aufstrebende Seebad Sanditon in dem gleichnamigen Fragment haben sich die Leser ebenfalls an der Küste vorzustellen, allerdings viel weiter östlich, zwischen Hastings und Eastbourne.

Das Pfarrhaus von Steventon. Zeichnung von Jane Austens Nichte Anna

Janes Elternhaus stand in Hampshire, in der Grafschaft mit den Hafenstädten Southampton und Portsmouth nördlich der Insel Wight. Steventon liegt in hügeliger, leicht bewaldeter Landschaft mit den breiten, hohen Hecken, die im zehnten Kapitel von Überredung ein Handlungselement bilden. Es war mit seinem Herrenhaus, seiner Pfarre und seinen bäuerlichen Hütten ein typisches friedliches Dorf, in dem es zwar Armut, aber nicht Elend gab. Die Hütten sind abgerissen, aber das Übrige hat sich bis heute fast nicht verändert und wirkt wie unberührt von der Zeit. Die Landstädtchen Basingstoke und Winchester waren in der Nähe. In Steventon war Janes Vater seit 1764 Pastor und neben der Grundbesitzerfamilie der angesehenste Bewohner des Dorfes. Das Pfarrhaus, das in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts abgerissen wurde, lag ganz im Grünen, umgeben von Wiesen, Gebüsch und Ulmen – nur die Pumpe der Waschküche steht noch heute. An der Rückseite hatte es einen üppigen Gemüse- und Blumengarten. Die zwei Stockwerke enthielten unten die Wohnräume der Familie und oben die zahlreichen Schlafzimmer. Für die beiden Töchter wurde oben zusätzlich ein kleines, an ihr gemeinsames Schlafzimmer angrenzendes ›Ankleidezimmer‹ eingerichtet, wo sie viel Zeit mit Lesen und Handarbeiten verbrachten und wo Jane ihre frühen Manuskripte schrieb. Auch das Klavier – Jane musizierte, ihre Schwester malte in Aquarell – hatte hier seinen Platz. Jane erhielt eine Zeitlang Musikunterricht von einem Organisten der Kathedrale in dem 15 Meilen entfernten Winchester, der regelmäßig von dort nach Steventon kam.

Jane Austens Vater, Rev. George Austen

Janes Vater, George Austen, entstammte einer bürgerlichen Familie aus Kent und war schon mit sechs Jahren Waise. Glücklicherweise fand sich sein Onkel Francis Austen, ein reicher Rechtsanwalt, bereit, seine Erziehung zu finanzieren. George durchlief seine Universitätsausbildung in Oxford, wo er 1761 als Geistlicher ordiniert wurde. Ein anderer reicher Verwandter, Thomas Knight auf Godmersham in Kent, übertrug ihm die Pfarre von Steventon. Die Kirche, nur einen kurzen Fußweg vom Pfarrhaus entfernt, hat mit seinem kleinen quadratischen Turm noch heute ganz das Aussehen von Janes Zeit. 1773 kaufte ihm Onkel Francis die Pfarre von Deane ganz in der Nähe dazu, um sein Einkommen aufzubessern. George hatte nur eine Schwester, deren einzige Tochter, Eliza Hancock, mit der Familie in Steventon eng verbunden war.

Silhouette von Jane Austens Mutter Cassandra geb. Leigh

Janes Mutter, Cassandra Leigh, war eine resolute und humorvolle Frau, die heitere Verse schrieb, aber mit zunehmendem Alter hypochondrische Züge annahm. Ihre schwache Gesundheit ist ein ständiges Thema in der Korrespondenz ihrer Töchter. Trotzdem wurde sie 88 Jahre alt und überlebte ihre jüngere Tochter um zehn Jahre. Sie entstammte einer angesehenen Familie aus Gloucestershire, die wohlhabend war und hocharistokratische Verbindungen hatte. Ihr Vorname Cassandra wurde in der Familie in Erinnerung an eine Vorfahrin tradiert, die Herzogin von Chandos. Ihr kinderloser Bruder James lebte mit seiner Frau als reicher Gentleman abwechselnd in Bath und auf seinem Gut Scarletts in Berkshire, nicht weit von Steventon. Ihre einzige Schwester lebte als Frau des Pastors Dr. Edward Cooper dicht bei Bath. Mit ihren beiden Kindern Jane und Edward waren die Austen-Kinder befreundet.

Das Pfarrerehepaar von Steventon bekam in den ersten 15 Jahren seiner Ehe sechs Söhne und zwei Töchter: James (1765), George (1766), Edward (1768), Henry (1771), Cassandra (1773), Francis (1774), Jane (1775) und Charles (1779). Da fast alle Geschwister in Janes Leben eine wichtige Rolle spielten, empfiehlt es sich, sie gleich vorzustellen. Dass Jane mit 41 als Erste starb, ist in einer Zeit hoher Geburtensterblichkeit wie dem 18. Jahrhundert erstaunlich. Was ist aus ihnen geworden?

James Austen

James wurde nach seinem Studium in Oxford Geistlicher und übernahm 1805 nach Vikarstellen in unmittelbarer Nähe die Nachfolge seines Vaters in Steventon, wo er 1819 starb. Er vermählte sich 1792 mit der sechs Jahre älteren Anne Mathew, einer Enkelin des Herzogs von Ancaster, und hatte eine Tochter mit ihr (Anna, geb. 1793). Seine Frau starb schon 1795, und James heiratete dann Cassandras und Janes Freundin Mary Lloyd, die ihm einen Sohn (James Edward, geb. 1798) und eine Tochter (Caroline, geb. 1805) gebar. Alle drei Kinder haben wichtige Aufzeichnungen über ihre Tante Jane hinterlassen; James Edward war ihr schon erwähnter erster Biograph. Mit James’ zweiter Frau, Mary Lloyd, verstanden sich die Austen-Schwestern nicht so gut, obwohl sie bereits lange mit ihr befreundet waren (»[Sie ist] alles in allem keine hochherzige Frau«, B 239). Nach ihrer Nichte Caroline war »Tante Jane allen ihren Brüdern eine liebevolle Schwester« (Files 39). Der Einzige, den sie in ihren Briefen wiederholt kritisiert, ist James. Sie schrieb über ihn 1807:

Es tut mir leid und macht mich wütend, dass die Besuche meines Bruders James einem nicht mehr Freude machen. Die Gesellschaft eines so guten und klugen Mannes müsste einem wohltun, aber seine Unterhaltung ist forciert, seine Urteile sind in vieler Hinsicht nur von seiner Frau übernommen; und er bringt seine Zeit hier, scheint mir, nur damit zu, im Haus herumzulaufen und mit den Türen zu schlagen oder nach einem Glas Wasser zu klingeln. (B 99)

James ging es finanziell zunächst nicht besonders gut, denn sein Schwiegervater war 1805 gestorben, und das erwartete Erbe seiner Tochter fiel ohne sein Verschulden dem Staat zu. Aber 1817 beerbte er seine Tante Jane Leigh-Perrot und änderte seinen Namen zu Austen-Leigh. Er schrieb Gedichte und hielt nicht viel von Romanen. War er auf das literarische Talent seiner Schwester neidisch? Von früh an galt er als der Dichter der Familie und gab zusammen mit seinem Bruder Henry während ihrer gemeinsamen Studentenzeit in Oxford von Januar 1789 bis März 1790 die Zeitschrift The Loiterer (Der Bummler) heraus, die es auf 60 Nummern brachte. James war auch die treibende Kraft bei den Theateraufführungen der Austen-Kinder in der väterlichen Scheune zwischen 1782 und 1788, bei denen manchmal auch Vettern, Cousinen und Freunde mitwirkten. Nach seinem Studium hatte er eine Europareise unternommen, aber sein wenig aufregendes späteres Leben als Landpfarrer erfüllte ihn offenbar nicht. Da er zehn Jahre älter und von Janes Brüdern der ›akademischste‹ war, verdankte sie ihm nach Aussage seines Sohnes viel für die Entwicklung ihrer Bildung und ihres literarischen Geschmacks.

George hatte als kleines Kind »Anfälle« (»fits«) und kehrte nach dem üblichen ersten Jahr, das alle Austen-Kinder bei einer Amme im Dorf verbrachten, nie mehr in sein Elternhaus zurück. Woran er litt, ist nicht bekannt, aber da auch ein Bruder von Mrs Austen an einer ähnlichen Krankheit litt, könnte es sich um ein erbliches Leiden gehandelt zu haben. Er lebte bis 1838, wird aber von den Quellen nach dem vierten Lebensjahr kaum mehr erwähnt und in den Berichten über Jane von den Nachkommen der Familie in typisch viktorianischer Manier einfach totgeschwiegen. Einige Forscher vermuten, dass George taubstumm war, weil aus einer brieflichen Bemerkung Janes hervorzugehen scheint, dass sie die Taubstummensprache beherrschte (vgl. S. 157). Aber das ist wenig überzeugend, denn es heißt in der Briefstelle nur, dass sie versuchte, sich einem schwerhörigen Mann mit den Händen verständlich zu machen.

Edward, nicht gerade lernbegierig, aber liebenswürdig und kinderlieb, war das Glückskind der Familie. Er wurde von dem kinderlosen Sohn des schon erwähnten Thomas Knight adoptiert und erbte dessen Vermögen und dessen zwei Herrensitze Godmersham (Kent) und Chawton (Hampshire), hielt aber zeit seines Lebens engsten Kontakt mit seiner Familie. Als künftiger wohlhabender Gentleman wurde er nicht zum Studieren nach Oxford, sondern von 1786 bis 1788 auf eine zweijährige europäische Bildungsreise geschickt, um sich auf dieser damals für reiche Söhne üblichen ›Grand Tour‹ Weltkenntnis und gesellschaftlichen Schliff und oft auch sexuelle Erfahrungen anzueignen. 1794 starb Mr Knight, und da seine Witwe sich 1797 nach Canterbury zurückzog, kam Edward in den Besitz seines reichen Erbes und lebte auf seinen beiden Landsitzen. Nach dem Tod seiner Adoptivmutter 1812 nahm er mit seiner unterdessen zahlreichen Familie den Namen Knight an. Er hatte 1791 die hübsche, reiche und liebenswürdige Elizabeth Bridges (geb. 1773) geheiratet, deren Eltern Jane und Cassandra öfter auf ihrem Landsitz Goodnestone in Kent besuchten. Dabei konnten sie auch abwechselnd einen Abstecher nach Godmersham machen. Elizabeth gebar in 17 Ehejahren elf Kinder und starb 1808 bei der Geburt des letzten. Vor allem Cassandra hielt sich nun noch öfter in Edwards Familie auf, um ihrem Bruder und seinen Kindern behilflich zu sein. Auch ein Teil von Janes Briefen an Cassandra ist in Godmersham geschrieben. Edwards älteste Tochter Fanny (geb. 1793) war Janes Lieblingsnichte. Edward lebte bis 1852.

Henry, Janes Lieblingsbruder, dem sie angeblich am ähnlichsten sah, war der Heiterste, aber auch Unbeständigste der Brüder: »Glänzend im Gespräch und wie sein Vater gesegnet mit einem optimistischen Temperament, das alle, auch die unangenehmsten Situationen bewältigte, verbreitete er anscheinend ständig eine sonnige Stimmung.« (FC 55) Er war offenbar vielseitig begabt und gab eine Zeitlang sogar Zeichenunterricht. Nach seinem in der Familie Austen üblichen Studium in Oxford ging er als Offizier zur Militia. Dies war die Reservearmee, die den Heimatdienst tat und im Kriegsfall die reguläre Truppe verstärkte, aber das Inselreich nicht verließ. Dass Frankreich Großbritannien gerade den Krieg erklärt hatte, regte ihn vielleicht dazu an, Soldat zu werden, denn er trat 1793 als Leutnant ein und brachte es bis zum Obersten und Zahlmeister. Ende 1797 heiratete er seine zehn Jahre ältere Cousine Eliza Hancock, die man wohl hinter seiner Entscheidung vermuten darf, den Soldatenberuf aufzugeben und sich in London niederzulassen. Dort gründete er mit einem Partner ein Bankhaus, das 1807 durch einen dritten Partner vergrößert wurde und ihm in den nächsten Jahren zur Freude seiner gesellschaftlich versierten Frau ein elegantes Leben in der Hauptstadt erlaubte. Jane war öfter bei ihnen zu Besuch und genoss das kulturelle Leben in London. Als sie sich 1811 bei ihm aufhielt, fand in seinem Haus gerade eine große Abendgesellschaft mit fast 70 Gästen statt, die sogar in der Gesellschaftsspalte der Times erwähnt wurde (B 132–134). Mit seinen geschäftlichen Erfahrungen war er Jane bei der Publikation ihrer Romane behilflich. 1813 wurde er auf den ehrenvollen Posten des Steuereinnehmers der Grafschaft Oxfordshire berufen. Aber dieses Leben auf großem Fuß hörte unvermittelt auf, als das Bankhaus ohne Henrys eigenes Verschulden bankrott ging und auch einige Familienmitglieder Geld verloren. Sie scheinen es mit Gleichmut getragen zu haben, denn Verstimmungen hat es darum anscheinend nicht gegeben. Henry wurde dann Pfarrer und war 1819 der Geistliche an der britischen Botschaft in Berlin, bevor er nach dem Tod seines Bruders James dessen Pfarre in Steventon übernahm. Er heiratete 1820 seine zweite Frau Eleanor Jackson, hatte aber auch mit ihr keine Kinder. Sie stammte aus Chawton, muss also der Familie bekannt gewesen sein, aber über sie ist nahezu nichts zu erfahren. Nach und nach zahlte er gewissenhaft seine Schulden ab und musste deshalb ein anspruchsloses Leben führen. Er lebte bis 1850.14

Cassandra war zeit ihres Lebens Janes Vertraute. Die Schwestern wuchsen zusammen auf und teilten bis zu Janes Tod ein Schlafzimmer. Dass Cassandras Briefe an Jane nicht erhalten sind, ist ein großer Verlust, denn Jane hielt ihre Schwester für eine glänzende, witzige Korrespondentin. Cassandra verlobte sich 1795 mit dem Geistlichen Thomas Fowle, der eine Pfarrstelle in Aussicht hatte und die Zeit bis zu ihrem Freiwerden dadurch überbrückte, dass er mit seinem Gönner Lord Craven als Kaplan in dessen Regiment nach St. Domingo in die Karibik segelte. Dort bekam er Gelbfieber und starb unerwartet 1797. Cassandra hat nie geheiratet. Sie lebte weiter mit Mutter und Schwester und starb als Letzte der drei 1845.

Francis Austen

Francis machte von den Brüdern die steilste Karriere: Er starb hochbetagt 1865 als Flottenadmiral Sir Francis Austen. Wie damals bei der Ausbildung der Marineoffiziere üblich, ging er 1786 schon als Zwölfjähriger auf die Marineakademie in Portsmouth, diente als Vierzehnjähriger auf verschiedenen Schiffen im Orient und war mit achtzehn Leutnant. Anders als in der Armee bot die Marine auch nicht bemittelten jungen Männern gute Karrierechancen, weil die Offizierspatente nicht gekauft wurden, so dass persönliche Verdienste eine größere Rolle spielten. Mit kurzen Unterbrechungen an Land war er als Kapitän auf den Weltmeeren unterwegs, denn der Krieg gegen Napoleon erforderte den ständigen Einsatz der britischen Flotte im Mittelmeer, im Atlantik, im Indischen Ozean und in der Nord- und Ostsee. Aber 1815 hörte dieses ›Wanderleben‹ auf, denn Francis war nun bis 1845 an Land stationiert. Nur knapp verpasste er im Oktober 1805 zu seinem großen Bedauern mit seinem Schiff die Seeschlacht von Trafalgar (vgl. B 90 f.), nahm aber am 6. Februar 1806 an der siegreichen Seeschlacht von St. Domingo in der Karibik teil. Dorthin hatte die englische Flotte die französische verfolgt – auch Kapitän Wentworth in Überredung kämpft 1806 an diesem Kriegsschauplatz. 1806 heiratete Francis Mary Gibson, die eine von den Austen-Schwestern besonders geschätzte Schwägerin wurde, und mietete ein Haus in Southampton, das für Jane wichtig werden sollte. Er hatte elf Kinder, bevor seine erste Frau 1823 starb. Drei seiner sechs Söhne folgten ihm in die Marine. Später heiratete er noch einmal, und zwar Martha Lloyd, eine alte Freundin der Austen-Mädchen, die sie ihm schon Jahrzehnte früher zugedacht hatten und deren Schwester Mary in zweiter Ehe mit James Austen verheiratet war. In der Marine war Francis bekannt als »der Offizier, der in der Kirche kniet«. Seine Genauigkeit, Ordnungsliebe und Ernsthaftigkeit sind durch allerlei Familienanekdoten belegt, unter anderen durch diese beiden: Als einer seiner Offiziere in exotischen Gewässern vom Schiff aus badete, rief Francis: »Vorsicht, Mr Pakenham, ein Hai. Kommen Sie lieber zum Schiff zurück.« Und er fügte hinzu: »Ein Hai der blauen Art.« – Nach fünfjähriger Abwesenheit auf See ging Francis zum Uhrmacher, dieser sah sich seine Taschenuhr an und sagte: »Sie ist in ausgezeichneter Verfassung. Sie geht anscheinend überhaupt noch nicht nach.« »Doch«, antwortete Francis, »sie geht nach – um zehn Sekunden.« (Files 175) Francis wurde von Admiral Nelson sehr geschätzt und war im Seekrieg gegen die französische Flotte äußerst erfolgreich. 1801 besiegte er ohne Verlust eines einzigen Matrosen innerhalb von zwölf Stunden drei feindliche Schiffe, so dass sein eigenes Schiff mit Kriegsgefangenen gefüllt war. Park Honan hat 1988 in seiner Jane-Austen-Biographie zum ersten Mal enthüllt, dass Francis in etwas dubiose Geschäfte mit der East India Company verwickelt war. Er transportierte auf seinem Schiff Ladungen von Silber. Da die Company Einfluss innerhalb der Marineführung hatte, war das nicht nur finanziell, sondern auch karrieremäßig vorteilhaft für Francis.

Charles, das von den Schwestern besonders geliebte Nesthäkchen, war mit seinem spontanen, lebhaften Naturell das Gegenteil seines Bruders, folgte ihm aber in den Fußstapfen. Auch er ging früh zur Marineakademie und wurde 1797 Leutnant. Er diente dann vor allem im Mittelmeer und vor der amerikanischen Küste. 1807 heiratete er die 17-jährige Tochter Fanny des Justizministers der Bermudainseln, mit der er vier Töchter hatte. Als sie 1814 auf dem Schiff ihres Mannes starb, heiratete er ihre ältere Schwester Harriet, die bei den Austens als gewöhnlich galt und nicht beliebt war. Auch mit ihr hatte er vier Kinder. Zwei seiner drei Söhne folgten ihm in die Marine. 1816 geriet seine Karriere in Gefahr. Es wurde gerichtlich untersucht, ob er als Kapitän für den Untergang seines Schiffes Phoenix vor Smyrna (heute Izmir) im östlichen Mittelmeer verantwortlich war, wo er Piraten bekämpfen sollte. Sein Logbuch beschreibt die Katastrophe:

Um 14.00 Uhr wurde das Schiff von einem nordöstlichen Sturm mit dem Heck an die Felsen geschleudert. Ließen die Boote zu Wasser und kappten die Masten. Versuchten das Schiff zu heben … Ruder gebrochen und weggeschwemmt … Die Leute begannen sofort an Land zu schwimmen, da alle Boote Lecks hatten. Um 16.00 Uhr erschien ein Türke mit einer Botschaft vom Aga und fragte nach mir, als ich von der Bramstenge, die vom Schiff ans Ufer reichte, an Land sprang. Gott sei Dank stellte ich fest, dass kein Menschenleben verloren war. Ging mit dem Marineoffizier und anderen bei heftig wehendem Wind, Hagel und Regen und starker Kälte eine endlose Meile in die Stadt. In Mr Cortowitschs Haus wurden wir sehr freundlich und gastlich aufgenommen. Sie versorgten uns mit Kleidung, Lebensmitteln und Betten. Für die Matrosen bekam ich ein großes Lagerhaus mit Feuer, Brot und Wein. Trotz unseres Unglücks schlief ich fest.15

Das eingesetzte Kriegsgericht sprach Charles