Das Bourne Enigma - Robert Ludlum - E-Book
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Robert Ludlum

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Beschreibung

Der Feind ist überall

In Moskau fällt der russische General Boris Karpow einem Attentat zum Opfer. Jason Bourne ist vor Ort, kann die Täter jedoch nicht stoppen. Karpow hinterlässt ihm eine verschlüsselte Nachricht. War der Mord nur Nebenschauplatz einer weltumspannenden Verschwörung? Die Hinweise führen Bourne nach Ägypten, Syrien und Zypern – und auf die Spur Iwan Borz’, eines skrupellosen internationalen Waffenhändlers, der mit Bourne noch eine persönliche Rechnung offen hat …

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ROBERT LUDLUM

ERIC VAN LUSTBADER

DAS BOURNE

ENIGMA

THRILLER

Aus dem amerikanischen Englisch

von Norbert Jakober

Wilhelm Heyne Verlag

München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe The Bourne Enigma erschien 2016 bei Grand Central Publishing, New York.
Copyright © 2016 by Myn Pyn, LLC Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Alexandra Klepper Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/HE Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-19561-8V002
www.heyne.de

Das Buch

In Frankfurt bekommt Jason Bourne eine verschlüsselte Nachricht zugespielt. Sie stammt von seinem alten Freund, dem russischen General Boris Karpov. Tags darauf ist Karpov tot, ermordet auf seiner eigenen Hochzeit. Offenbar war er einer finsteren Verschwörung auf die Spur gekommen und wurde beseitigt. Bourne bleiben nur vier Tage Zeit, um Karpovs Nachricht zu entschlüsseln und einen Krieg zu verhindern. Die Hinweise führen ihn nach Ägypten, Syrien und Zypern – und in die Nähe eines alten Feindes, der bereits auf ihn wartet.

Die Autoren

Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.

Eric Van Lustbader ist Autor zahlreicher internationaler Bestseller. Seine Bücher wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau Victoria in New York und auf Long Island.

Weitere Titel und Informationen unter heyne.de/ludlum

Leugnen ist die typische Reaktion eines Verräters.

Josef Stalin

PROLOG

Frankfurt, Deutschland

Als Jason Bourne das Hotel »Royal Broweiser« betrat, waren die Angestellten sofort zur Stelle. Sie waren zwar alle beschäftigt – Direktor Hummel duldete es nicht, dass auch nur einer untätig herumstand –, doch Herr Bourne war ein Gast, dem sie besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden ließen. Er gab immer großzügig Trinkgeld, und so beeilten sie sich, ihm die drei luxuriösen Koffer abzunehmen. Sie selbst hätten für so ein teures Stück vermutlich sechs Monatsgehälter hinlegen müssen.

Bourne, ein breitschultriger, makellos gekleideter und offensichtlich wohlhabender Gentleman, hatte in den letzten drei, vier Monaten wiederholt in diesem Hotel eingecheckt. Er war Geschäftsmann und, nach seiner Statur zu schließen, regelmäßiger Gast im Fitnessstudio. Mit seiner freundlichen, leutseligen Art und seinen leicht schlüpfrigen Witzen war er bei den Pagen überaus beliebt, die sich alle Mühe gaben, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

An diesem Vormittag wurde Bourne zu seiner gewohnten Suite geleitet, und Direktor Hummel ließ ihm eine Spezialitätenplatte aufs Zimmer bringen. Sobald er allein war, trat er ans Fenster, von dem er den Thurn-und-Taxis-Platz in der Altstadt überblickte, und zog sein Handy hervor. Er wählte eine Kurzwahlnummer, und Augenblicke später meldete sich eine weibliche Stimme.

»Ich bin im Hotel«, berichtete er. »Wie lange muss ich warten?«

»Nur ein paar Tage.« Ihre Stimme wärmte ihn innerlich. »Wir überwachen ihn, er wird sich bald auf den Weg machen.«

»Ein paar Tage …«

»Jetzt werd nicht ungeduldig«, beschwichtigte sie ihn. »Hast du eine Ahnung, wie aufwendig es war, eine vertrauliche Mitteilung des FSB abzufangen und stattdessen unsere eigene weiterzuleiten, damit Wanow sich mit dir trifft, und nicht mit Bourne?«

»Keiner weiß das besser als ich, Irina.« Der Mann, der sich als Jason Bourne ausgab, spürte ein Ziehen in den Lenden. »Trotzdem. Was soll ich hier so lange machen?«

»Ich weiß, dass du Frankfurt nicht magst, Jason.«

»Ich mag es, wenn du mich Jason nennst.«

»Kann ich mir vorstellen«, lachte Irina. »Du bist zu verkrampft. Such dir irgendwas zur Entspannung.«

»Da wüsste ich nur dich«, erwiderte er fast sehnsüchtig.

»Jetzt komm schon, mein Tierchen«, flüsterte sie. »Du kannst doch sicher …«

Er unterdrückte ein Stöhnen, doch sie schien es gehört zu haben.

»Was tust du da, Jason?«

»Das weißt du genau.« Er hatte den Hosenschlitz geöffnet und massierte mit der rechten Hand seine Erektion. »Entspannen.«

»Dann lass mich dir wenigstens helfen«, gurrte Irina zärtlich.

Hinterher wischte er das Fenster mit einem feuchten Waschlappen ab. Er schlüpfte in den weichen Bademantel und die Pantoffeln, die zur Ausstattung der Suite gehörten, schlurfte auf den Flur hinaus und fuhr mit dem Aufzug in den Wellnessbereich hinunter. Unter einer heißen Regenwalddusche reinigte er Körper und Geist.

Zurück in der Suite, zog er frische Kleider an und verließ das Hotel. Unter dem grau verhangenen Himmel spazierte er zu einem Café am Römerberg, wo er etwas zu üppig zu Mittag aß. Danach besichtigte er den Kaiserdom und die Paulskirche. Den folgenden Tag verbrachte er im Zoo und sah einem männlichen Löwen in die Augen, der irgendwie nach Tod roch. Bourne konnte Zoos noch weniger ausstehen als die Stadt Frankfurt und die Deutschen ganz allgemein. Dass man so prächtige Geschöpfe einsperrte, erschien ihm als eine Sünde, die sich die ewige Verdammnis verdient hatte, an die er als Pragmatiker und Atheist natürlich nicht glaubte.

Er dankte den Göttern und Dämonen, als Irina am nächsten Tag anrief.

»Er ist soeben gelandet«, meldete sie. »Er sollte in einer Stunde im Hotel sein.«

Der Morgen war genauso grau und hässlich wie an den Tagen zuvor. Zu allem Überfluss regnete es auch noch. Diese Stadt würde mich krankmachen, dachte er, als er die Verbindung trennte. Aber jetzt würde er es gleich hinter sich haben. Er spürte das Adrenalin in den Adern pulsieren.

Endlich ging es los.

Hauptmann Maksim Wanow vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB war innerlich aufgewühlt, als er in der offiziellen Funktion eines Kulturattachés im Hotel eintraf. Er war zum ersten Mal in Deutschland, dem einstigen Feind seiner russischen Heimat. Sein Großvater war in der heldenhaften Schlacht um Stalingrad gefallen. Wanow hatte von klein auf gelernt, dass die von den Vorfahren erbrachten Opfer nie in Vergessenheit geraten durften. Als ihm der Page die Tür zu seinem Hotelzimmer öffnete, schüttelte er den Regen von seinem Trenchcoat. Der Angestellte hängte seinen Mantel auf, erklärte ihm die Ausstattung des Zimmers und wartete, bis ihm Wanow ein paar Euro in die feuchte Hand gedrückt hatte.

Wanow zog die alte Bronzemünze hervor, die er an einer Halskette trug, seit General Karpow sie ihm gegeben hatte. Er hielt sie in der Hand, bis sie warm wurde, und ließ sie widerstrebend los.

Er konnte nicht länger warten, griff nach dem Telefon und erkundigte sich nach Jason Bourne.

»Ist er im Hotel?«, fragte Wanow in annehmbarem Deutsch.

»Ich glaube, Herr Bourne frühstückt heute auf seinem Zimmer. Soll ich Sie ankündigen?«

»Nicht nötig«, antwortete Wanow. »Ich bin ein alter Freund und möchte ihn überraschen.«

Das schien den Mann an der Rezeption zu überzeugen. »Alles klar, Herr Wanow. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«

»Auch Ihnen einen angenehmen Tag«, gab der Russe höflich zurück.

Er verließ sein Zimmer und fuhr mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk. An der Tür zu Jason Bournes Suite ergriff ihn eine ungewohnte Nervosität, und er zögerte einen Augenblick. General Karpow hatte ihn für diese streng geheime und überaus wichtige Mission ausgewählt. Der große General verließ sich auf ihn, und er wollte es nicht vermasseln. Alles musste so laufen, wie es der General geplant hatte.

Auf sein zögerliches Klopfen hin wurde die Tür geöffnet, und da stand er: Jason Bourne persönlich. Bekleidet mit Polohemd, Jeans und Slippern ohne Socken. Statur und Gesicht entsprachen in etwa der Beschreibung, die er erhalten hatte.

»Jason«, begann Wanow, wie ihn der General angewiesen hatte, »ich arbeite mit Ihrem alten Freund Boris zusammen.«

Bourne zog die Stirn in Falten. »Boris?«

»Karpow«, präzisierte Wanow. »Boris Karpow.«

»Ah, ja. Bitte.« Bourne ließ ihn eintreten und deutete auf ein Sideboard. »Einen Drink?«

Wanow hob abwehrend die Hand. »Nicht heute.«

»Und Sie sind?«

»Hauptmann Wanow.« Der Russe checkte mit einem kurzen Blick, ob noch jemand im Zimmer war – eine Frau vielleicht –, doch er sah niemanden. »Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.«

»Ja?« Bourne hob neugierig eine Augenbraue. »Dann sollten wir das tun.« Er trat zum Sofa im Wohnbereich der Suite. »Machen wir es uns bequem.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, stehe ich lieber.«

Bourne musterte ihn leicht erstaunt, nickte aber. »Wie Sie möchten.« Er ging zu Wanow zurück. »Warum ist Boris nicht selbst gekommen?«

Wanow lachte. »Das meinen Sie wohl nicht im Ernst. Er hat mit seiner bevorstehenden Hochzeit alle Hände voll zu tun.«

Bourne ärgerte sich im Stillen über den Lapsus.

Wanow zog die Bronzemünze an der Kette hervor und zeigte sie Bourne. »Der General hat mich geschickt, damit ich Ihnen das hier gebe.« Er griff sich in den Nacken, öffnete den Verschluss der Kette und legte sie mit der Münze in Bournes aufgehaltene Hand. »Er hat gesagt, Sie wüssten Bescheid.«

Bourne betrachtete die Münze frustriert. »Leider nicht.« Er blickte zu Wanow auf. »Erklären Sie es mir doch bitte.«

Wanow öffnete den Mund, um zu antworten, zögerte dann aber. Irgendetwas stimmte hier nicht, das hatte er gleich gespürt, als Bourne ihm die Tür geöffnet hatte. Die Frage war, was.

»Wanow?« Bourne trat auf ihn zu. »Ist irgendwas? Sie sind auf einmal so blass.«

»Nitschewo. Ya prosto tschuwstwowal, cholod«, antwortete der Russe. Es ist nichts. Mir ist nur ein bisschen kalt.

»Prostite menja za to chto y tak goworu«, gab Bourne zurück, »no eto ne meloche.«Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber es hat nicht so ausgesehen, als wäre es nichts.

Wanow trat abrupt zurück und stieß gegen das Sofa. »Sie sind nicht Jason Bourne«, behauptete er. »Der General hat mich eingehend informiert. Bourne spricht den typischen Moskauer Dialekt. Ihrer klingt nach Tschertanowo.«

Bourne lächelte breit. »Ich war in den letzten Jahren viel in den Moskauer Slums unterwegs, auch in Tschertanowo. Natürlich hat sich mein Akzent ein bisschen verändert.«

Wanow schüttelte den Kopf. »Sie können mich nicht täuschen – wer immer Sie sind.«

Er griff nach der Münze in Bournes Hand, doch dieser war schneller. Bourne hämmerte dem Russen die Fingerknöchel in die Kehle. Wanow stürzte würgend zu Boden und fasste sich an den Hals. Mit Tränen in den Augen rang er nach Luft.

Bourne ging neben ihm in die Hocke. »Ich will nicht lange darüber diskutieren, ob ich nun Jason Bourne bin oder nicht.«

Er öffnete die Faust, und die Münze wurde sichtbar. In diesem Moment ließ Wanow sein Bein hervorschnellen und brachte Bourne mit einem Tritt gegen das Knie zu Fall. Wanow setzte mit drei Handkantenschlägen nach, bis Bourne reagieren konnte, einen stählernen Schlagstock aus einem Holster zog und dem Russen mit einem gezielten Hieb die rechte Hand brach. Er ließ einen nicht ganz so harten Schlag gegen Wanows Schädel folgen.

»Bitte«, sagte er, »wir wollen die Sache nicht noch unangenehmer machen.« Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Münze. »Ich will wissen, was es damit auf sich hat und welche Nachricht Sie Bourne überbringen sollten.«

Wanow spuckte einen Blutklumpen auf Bournes Hemd. »Von mir erfahren Sie nichts.«

Bourne seufzte. »Schade, Hauptmann.« Er packte Wanow am Hemd und zog ihn hoch. »Dann müssen wir es wohl auf die unangenehme Tour machen. Das heißt, unangenehm für Sie. Mir macht es Spaß.«

Bourne zog den taumelnden Russen quer durch den Raum in das gekachelte Badezimmer. Ohne Vorwarnung hämmerte er Wanow den Schlagstock gegen den Kiefer. Wanow stolperte zwei Schritte zurück, Bourne packte ihn und schlug ihm noch einmal auf dieselbe Stelle. Blut spritzte aus der klaffenden Wunde.

»Sehen Sie, von den Fliesen hier drin lässt sich das Blut leicht abwaschen.« Bournes Lächeln verdüsterte sich. »Und wenn Sie meine Fragen nicht beantworten, wird noch viel mehr Blut fließen.«

Er schlug wieder und wieder zu, und die Fliesen verfärbten sich rot.

Bourne setzte sich auf den Rand der Badewanne und blickte auf das leblose Etwas hinunter, das einmal der FSB-Offizier Wanow gewesen war. Er stand auf, ging zum Waschbecken, wusch sich die Hände und trocknete sie mit einem Handtuch.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Irina, als er sie mit seinem Handy erreichte.

»Die schlechte Nachricht ist, dass er keine ausdrückliche Botschaft zu überbringen hatte.«

»Ich verstehe nicht.« Irinas Stimme klang nun gar nicht mehr schnurrend.

»Dafür habe ich eine Münze.«

»Eine Münze?«, fragte sie nachdenklich.

»Genau. Die Botschaft war eine Münze. Möglicherweise sehr alt.«

»Hat er dir nicht verraten, was die Münze bedeutet?«

»Nein. Er wollte nicht reden.«

»Kein Wort?«

»Er ist ein verdammter FSB-Offizier«, erwiderte Bourne. »Die sind darauf trainiert, einem Verhör standzuhalten.«

Sie seufzte. »Dann also Plan B. Du musst Bourne die Münze geben und mich mit ihm in Kontakt bringen.«

»Kein Problem.«

»Werd bloß nicht leichtsinnig«, mahnte sie.

»Ich will die Sache einfach nur so schnell wie möglich erledigen, damit ich wieder bei dir sein kann.«

»Hör zu, moj golodnij zver.« Mein hungriges Tierchen. »Wenn du Bourne auch nur ein klein wenig unterschätzt, nimmt er dich auseinander, und das würde mich sehr unglücklich machen.«

»Das können wir nicht zulassen«, versicherte er. »Das würde ich nicht ertragen.«

Nach dem Gespräch zog er im Badezimmer die blutbespritzten Schuhe aus und ging zurück ins Schlafzimmer. Er öffnete einen der drei großen Koffer, holte eine Handkreissäge mit extralangem Kabel hervor, dazu mehrere Rollen Plastikplane, Klebeband und eine große Gartenschere. Mit dem Werkzeug kehrte er ins Badezimmer zurück, schlüpfte in seine Schuhe und breitete eine Plane über den Abfluss der Wanne und den Boden. Auf seinem Handy startete er eine Musik-App und drehte laut auf. Er setzte das Sägeblatt an Wanows rechter Schulter an und beobachtete, wie sich die scharfen Zähne durch Haut, Gewebe, Muskeln und Knochen schnitten.

Zwanzig Minuten später hatte er Wanows Leiche in Plastik verpackt und die Pakete mit Klebeband verschnürt. Zuletzt wandte er sich dem Kopf zu, betrachtete die Augen und fragte sich, was sie im Moment des Todes gesehen haben mochten. Er verpackte ihn ebenfalls und brauchte anschließend vierzig Minuten, um Blutspritzer, Knochensplitter und sonstige DNA-Spuren mithilfe spezieller Chemikalien aus dem Badezimmer zu tilgen. Zur Musik aus dem Handy summend, packte er die Leichenteile in den nun leeren Koffer. Was übrig blieb, wanderte in den zweiten Koffer. Dann zog er sich nackt aus, legte sich aufs Bett und machte ein Nickerchen.

Genau eine Stunde später erwachte er, stand auf, ging zur Kommode hinüber und bediente sich von der Spezialitätenplatte, die ihm der Hoteldirektor hatte bringen lassen. Nachdem er alles aufgegessen hatte, wischte er sich sorgfältig die Fingerspitzen und seine glänzenden Lippen ab und öffnete den dritten Koffer, der mit einer großen Auswahl an Kleidern gefüllt war. Er suchte einen Anzug heraus, der am ehesten dem glich, den Wanow getragen hatte.

Neunzig Minuten später rief er einen Angestellten und fuhr mit ihm und den drei Koffern im Aufzug in die Lobby hinunter. Herr Hummel persönlich übernahm das Auschecken. Der Mann, der als Jason Bourne im Hotel gewohnt hatte und der nun – ohne dass es der Hoteldirektor wusste – Maksim Wanow war, bedankte sich für das großzügige Willkommensgeschenk.

»Fantastisch! Vielen Dank, mein Herr«, sagte er, als Hummel ihm die auf Jason Bourne lautende Kreditkarte zurückgab.

Der strahlende Direktor hätte beinahe die Hacken zusammengeknallt. »Ich und die gesamte Belegschaft freuen uns schon auf Ihren nächsten Besuch, Herr Bourne.«

Er verließ das Hotel, ließ die drei Koffer in seinem Mietwagen verstauen und gab den Angestellten ein großzügiges Trinkgeld, ehe er sich ans Lenkrad setzte und abfuhr.

Am Stadtrand hielt er an einem abgelegenen See an, den Irina ausfindig gemacht hatte, und rollte die beiden Koffer mit Hauptmann Wanows Überresten ins Wasser. Kleine Luftblasen stiegen auf, als sie in die Tiefe sanken. Er trocknete seine nassen Füße und Unterschenkel ab, zog die Socken wieder an, rollte die Hose hinunter und schlüpfte in seine Schuhe. Anschließend fuhr er zurück in die Stadt und betrat um sieben Uhr abends als Kulturattaché Maksim Wanow ein Hotel in der Stresemannallee.

Es war noch nicht Zeit für das Abendessen, und als er im zweiten Stock an die Tür am Ende des Flurs klopfte, war Jason Bourne noch in seinem Zimmer. Er packte gerade für seinen Flug nach Moskau.

»Jason«, sagte er, als die Tür aufging, »Boris hat mich zu Ihnen geschickt.«

Bourne zog die Stirn in Falten. »Boris?«

»Karpow. Boris Karpow. Ihr alter Freund.«

»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.« Bourne stand in der Tür und machte keine Anstalten, ihn hereinzubitten.

»Maksim Wanow, Hauptmann des FSB, zu Ihren Diensten.«

Bourne zögerte immer noch.

»Ihr Freund hat mich zu Ihnen geschickt. Darf ich reinkommen?«, bat Wanows Mörder auf Russisch. »Die Sache ist dringend, und hier auf dem Flur darüber zu sprechen ist nicht gerade …«

»Derzhite vashi ruki, gde ja mogu videty ih.« Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann. Wanow hob die Hände mit den Handflächen nach außen, und Bourne trat zur Seite und ließ ihn eintreten.

»I vash russki yazajk prevoshoden, mne govorili.« Ihr Russisch ist ausgezeichnet, so wie man es mir gesagt hat.

»Ja imel prevoshodnaj prepodavatelej«, gab Bourne zurück. Ich hatte hervorragende Lehrer.

Bourne verstummte und musterte Wanow so eindringlich, dass dem Mann, der sich als Wanow ausgab, etwas mulmig zumute wurde. Wenn er ehrlich war, hatte er dieses unangenehme Gefühl in der Magengrube nicht mehr empfunden, seit er vor vielen Jahren in einer finsteren Seitengasse in Tschertanowo überfallen worden war. Er hatte gerade seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert und sich mit neunzigprozentigem Schnaps zugeknallt. Fünf Schlägertypen waren auf ihn zugekommen und hatten ihn im russischen Gefängnisjargon verspottet. Sie trieben ihn in eine Sackgasse und begannen ihn zu verprügeln. Er hatte nur wenig Geld und auch keine Wertsachen wie eine Uhr oder einen Ring bei sich. In ihrer Wut hätten sie ihn wahrscheinlich umgebracht, wäre Irina nicht dazwischengegangen. Sie erschoss den Anführer mit einer alten Makarow, die sie irgendwo auf dem Schwarzmarkt gekauft hatte. Ihm war schleierhaft, wie sie das angestellt hatte, wo sie selbst noch so jung war. Jedenfalls machten sich die Kumpel des toten Schlägers sofort aus dem Staub. In diesem Moment wusste er, dass er sie mehr liebte, als er jemals irgendeinen Menschen lieben würde.

Bourne sah auf seine Uhr. »Meine Zeit ist knapp, Hauptmann. Ich fahre in nicht einmal einer Stunde zum Flughafen.«

»Dann ist mein Timing ja perfekt«, meinte Wanow und schob seine Erinnerungen beiseite. Es kam immer wieder vor, dass sich Irina in seine Gedanken drängte, selbst in den unmöglichsten Momenten. Er konnte es nicht verhindern; was sie betraf, war er einfach machtlos. Es war, als wäre einst im Mutterleib ein Teil von ihr für immer mit ihm verschmolzen.

Wanow zog die Bronzemünze hervor und hielt sie ihm hin. »Sagt Ihnen das hier etwas?«

Bourne betrachtete die Münze einen Moment lang, bevor er Hauptmann Wanows Gesicht erneut mit seiner ganzen Erfahrung musterte. Boris hatte angekündigt, dass Wanow ihn aufsuchen würde, als er angerufen hatte, um Bourne zu seiner Hochzeit einzuladen.

»Du scheinst dich gar nicht für mich zu freuen, mein Freund«, hatte Boris gemeint.

»Doch, schon«, hatte Bourne versichert. »Mich wundert nur, dass du es so eilig hast. Du hast Swetlana noch nie erwähnt.«

»Die Liebe kommt zu uns allen, wenn wir Glück haben. Auch zu dir, Jason. Auch zu dir.«

Bourne war einen Moment lang erstarrt und hatte sich gefragt, ob Boris dank seiner vielfältigen Kontakte von Sara wusste. Er war ihr natürlich begegnet, aber das war, bevor zwischen ihr und Bourne etwas gewesen war. Dennoch war Bourne extrem paranoid, wenn es um Liebe ging. Er hatte sich geschworen, Sara niemals in noch größere Gefahr zu bringen, als sie es ohnehin schon war, auch wenn das bedeutete, eine gewisse Distanz zu ihr zu wahren und seine Gefühle im Zaum zu halten. Er hatte es schon früher so gehalten und würde davon nicht abweichen. Wenngleich es ihm zunehmend schwerfiel, seine Gefühle unter Verschluss zu halten, was in seiner Branche eine beunruhigende Schwachstelle darstellte.

»Keine Sorge«, hatte Boris gemeint. »Wir sehen uns bei der Hochzeit – du wolltest ja sowieso nach Moskau kommen. Bist du schon etwas näher an Iwan Borz dran?«

»Näher ist ein relativer Begriff, wenn es um Borz geht.«

»Aber du wirst ihn finden.« Er hatte es nicht als Frage ausgesprochen, sondern als eine Feststellung. Boris hatte noch nie an Bournes Fähigkeiten gezweifelt.

»Ja.«

»Ich hoffe nur, dass du ihm diesmal für immer das Handwerk legst. Der Drecksack schafft es immer wieder, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Er ist darin fast so gut wie du. Der Kerl wechselt so geschickt die Identität, dass man glauben könnte, du hättest es ihm beigebracht.«

»Dann hätte ich wirklich ein Problem.«

»Ich schicke Wanow zu dir – er wird dir etwas übergeben.« Boris’ düsterer Tonfall verriet Bourne, dass sie beim eigentlichen Grund des Anrufs angelangt waren. »Du musst es um jeden Preis aufbewahren.«

»Was ist es?«

»Eine Rettungsleine.«

»Was?«

»Eine Rettungsleine für die Welt.«

Mit diesen kryptischen Worten hatte Boris das Gespräch beendet.

Nun, in dem Frankfurter Hotelzimmer, nahm Bourne die Münze endlich in Empfang – die Rettungsleine, von der Boris gesprochen hatte. Er drehte sie in der Hand herum und betrachtete sie von allen Seiten. »Sie ist sehr alt, aus der Zeit der Römer. Aber sonst …« Er schüttelte den Kopf.

Wanows Enttäuschung war nicht gespielt. »Schade. Der General hat mich nur angewiesen, Ihnen die Münze zu geben. Er hat gemeint, Sie wüssten schon, was sie bedeutet.«

Bourne nickte unverbindlich. »Er hat Ihnen keine mündliche oder schriftliche Nachricht mitgegeben?«

»Zur Hochzeit kommen viele Leute, die Sie nicht kennen werden. Manche könnten aber Sie kennen und werden vielleicht nicht erfreut sein, Sie zu sehen. Darum möchte der General, dass Sie sich an eine Frau wenden, die Ihnen in dieser und vielen anderen Angelegenheiten behilflich sein wird. Egal was Sie brauchen – sie wird es Ihnen beschaffen.« Hauptmann Wanow reichte Bourne einen Zettel. »Hier haben Sie ihre Handynummer. Rufen Sie sie an, sobald Sie in Scheremetjewo landen.«

Bourne zog die Stirn kraus. »Wer ist diese Superfrau?«

»Ihr Name ist Irina. Irina Wassiljewna. Sie hat die besten Kontakte zu den einflussreichen Kreisen der Silowiki und Oligarchen in Moskau. Zudem verfügt sie auch über sehr nützliche Verbindungen zu anderen – wie soll ich sagen – weniger offiziellen Gruppen.«

»Sie hat mit dem Moskauer Schwarzmarkt zu tun?«

»Ihr Vater und ihr Bruder waren in diesen Kreisen aktiv.«

»Sind sie tot?«

Wanow nickte. »Seit drei Jahren.« Seltsam, dachte er, dass es ihm absolut nichts ausmachte, über den Tod seines Vaters und seines Bruders zu sprechen. So als handelte es sich um Figuren aus einem Roman oder einem Film. Für Irina war es natürlich anders. Sie und ihr Vater hatten sich sehr nahegestanden. Er hatte ihr alles anvertraut und war ihr dafür überaus dankbar gewesen.

»Ich werde sie nicht brauchen«, stellte Bourne klar.

»Der General besteht darauf, dass auf seiner Hochzeit alles perfekt verläuft. Das ist sein ausdrücklicher Befehl.« Mit einem unterwürfigen Lächeln ging Wanow zur Tür. Die Hand am Türgriff, drehte er sich noch einmal um. »Viel Glück, Mr. Bourne. Ich hoffe, Sie haben einen dicken Mantel dabei. In Moskau wird Ihnen der Winter im Nacken sitzen.«

ERSTES BUCH

Es gibt kein stärkeres Aphrodisiakum als die Bindung zwischen Zwillingen.

Irina Wassiljewna

EINS

»Wo warst du so lange, mein Bär?«, fragte Swetlana.

»Liebling, ich habe gearbeitet«, antwortete General Karpow, während er aus dem riesigen Badezimmer der luxuriösen Suite trat, die sie in einem Moskauer Hotel bewohnten.

»Gearbeitet?« Swetlana zog einen übertriebenen Schmollmund. »Und das ausgerechnet heute?«

Karpow seufzte, während er seine frisch gebügelte Uniformjacke anzog. »Leider bleibt die Welt nicht stehen, um unsere Hochzeit zu feiern.«

Swetlana Nowatschenko hatte ein Gesicht wie eine Porzellanpuppe – eine Puppe mit atemberaubenden Wangenknochen, smaragdgrünen Augen und champagnerfarbenem Haar. Dass sie halb Ukrainerin und nur halb Russin war, hinderte Boris Karpow in keiner Weise daran, sie zu heiraten. Er war der Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB. Damit befand er sich in einer überaus privilegierten Position innerhalb der Russischen Föderation, genoss höchstes Ansehen im Kreml und wurde zu allen politischen Feierlichkeiten eingeladen. Er hatte sich sogar schon ein-, zweimal mit dem Präsidenten persönlich zum Dinner getroffen. Kurz gesagt, Boris Karpow konnte heiraten, wen er wollte, solange es keine Jüdin war.

Eine Jüdin war Swetlana Nowatschenko nicht. Sie stammte aus einer begüterten, einflussreichen russisch-ukrainischen Industriellenfamilie, deren Herkunft auf Zar Nikolaus I. zurückging.

»Was hast du wirklich getan, Boris?«

Sie lag ausgestreckt auf einer samtenen Chaiselongue und zeigte ihm ihren schlanken, makellosen Körper in seiner ganzen Pracht. Die Arme hatte sie in einer neckischen Pose über den Kopf gelegt, in bewusster Nachahmung von Goyas Bild Die nackte Maja.

»Wenn du es unbedingt wissen musst«, antwortete Boris und schloss die Knöpfe seiner Jacke, an deren linker Brust zahlreiche Orden prangten, »unsere Station in Kairo war in Aufruhr, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Israelis sie elektronisch ausspionierten.«

»Kairo, soso. So weit weg von unserem schönen Plätzchen hier am Busen von Mütterchen Russland.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich bin mir nie ganz sicher, wann du etwas sarkastisch meinst.«

»Das weißt du ganz genau, Liebling.« Swetlana lächelte mit ihren kleinen weißen Zähnen. »Du willst es bloß nicht zugeben.« Sie streckte die Arme noch höher über den Kopf, und ihre Brüste wölbten sich nach oben. »Es kann nicht vielleicht sein, dass du wieder mit dem heimtückischen Feldzug gegen die Ukraine beschäftigt bist, den der Kreml plant?«

Boris zog die Stirn in Falten und bemühte sich nach Kräften, ihren Verführungskünsten zu widerstehen. »Du glaubst mir nicht?«

»Der Kreml scheint fest entschlossen zu sein, alles zurückzuholen, was Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren hat. Du hast damit nichts zu tun?«

»Das ist doch absurd.«

»Findest du? Jetzt verteidigen sie schon ganz offen den Pakt, den die Sowjetunion vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit Nazi-Deutschland geschlossen hat. Damals haben sie still und leise Polen und andere Länder untereinander aufgeteilt, diese Mörder. Die heutigen Machthaber im Kreml sind auch nicht besser als Molotow und Ribbentrop damals.«

Boris schwieg. Es irritierte ihn, dass sie mit ihren Vorwürfen das ungute Gefühl nährte, das ihn schon seit Wochen verfolgte und das er nur mit Mühe kontrollieren konnte. Und das am Tag ihrer Hochzeit!

»Und was hat Russland von dieser aggressiven Strategie? Die Bevölkerung leidet unter den westlichen Sanktionen, der Rubel ist auf ein Rekordtief gefallen, und die Aktienkurse sinken. Selbst die Milliardäre sind zunehmend beunruhigt, weil ihr Vermögen von Tag zu Tag schrumpft. Sieh den Dingen ins Auge – die aktuelle Politik hat das Land in eine schlimme Lage manövriert.«

»Was meinst du damit?« In Wahrheit wusste Boris genau, wovon sie sprach.

Swetlana seufzte, was ihre Brüste noch stärker zur Geltung brachte. »Wankor«, sagte sie mit diesem schelmischen Ausdruck in den Augen, in den sich Boris von Anfang an verliebt hatte.

»Was ist damit?« Eine jähe Angst durchzuckte ihn. Ihre Kombination aus scharfer Intelligenz und einer nahezu unheimlichen Intuition führte sie viel zu nahe an den Kern der Sache heran.

»Mein Bär, glaubst du, ich weiß nicht, wie grundlegend die Energiestrategie der Föderation geändert wurde? Russland besitzt das Erdölfeld von Wankor. Durch das Unternehmen Wankorneft verfügt das Land über das Knowhow und die Infrastruktur zur Öl- und Gasförderung – und dennoch haben sie zehn Prozent der Anteile an die Chinesen verkauft.« Sie musterte Boris hintergründig. »Warum in aller Welt sollte sich Russland von einem Teil seiner Kronjuwelen trennen?«

Boris schwieg; er wusste, dass sie ihre Fragen gern selbst beantwortete.

»Weil das Land dringend Geld braucht, mein Bär. Die Wirtschaft geht immer mehr den Bach runter. Zudem muss Mütterchen Russland die Separatisten in der Ostukraine unterstützen, und natürlich die Krim. Aber woher sollen die nötigen Milliarden kommen, jetzt da der Rubel im freien Fall ist und der Aktienmarkt dahinsiecht? Ein Unternehmen wie Apple ist im Moment mehr wert als alle unsere börsennotierten Firmen zusammen. Das alles schreit nach verzweifelten Maßnahmen – und du stehst mittendrin. Das bereitet mir die größten Sorgen.«

Swetlana deutete seinen gequälten Gesichtsausdruck falsch. »Mein Bär, du bist darauf programmiert zu lügen – auch mir gegenüber, ja, ich würde sagen, besonders mir gegenüber.«

Er drehte sich zu ihr. »Warum sollte das so sein?«

»Deine ›wichtige Angelegenheit‹ ausgerechnet an deinem Hochzeitstag ist nicht zufällig Maskirowka, ein Ablenkungsmanöver?«

Karpow lachte. Es gab Momente, so wie jetzt, da machten ihm ihre Intelligenz und Intuition wirklich Angst. »Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben alles getan, um Dinge verborgen zu halten, um notfalls alles leugnen zu können, um Desinformationen zu streuen und unsere Feinde auf eine falsche Fährte zu locken, damit sie nicht wissen, was wir als Nächstes vorhaben, und nicht darauf reagieren können.«

Swetlana nahm ihre Arme herunter und setzte sich auf. »Weißt du, manche behaupten sogar, es sei nur Maskirowka, dass du mich heiratest.«

»Was?«

»Wegen meiner Familie.«

Er starrte sie an, als habe er plötzlich eine Viper in seinem Zimmer entdeckt.

»Dass du mich gar nicht wirklich liebst. Dass du dich zu einer Zweckehe entschlossen hast.«

»Ha!« Boris lachte laut auf, doch es war ein hartes, nicht amüsiertes Lachen. »Der Präsident hört auch so auf mich. Ich brauche deine Familie nicht.« Doch als er ihr ernstes Gesicht sah, verging ihm das Lachen. »Wer setzt solche widerlichen Lügen in die Welt?«

»Wenn du es wüsstest, würdest du ihm die Zunge herausschneiden?«

Boris grunzte verächtlich. »Wir leben nicht im Mittelalter. Ich bin nicht Iwan der Schreckliche.«

»Darüber lässt sich streiten.«

Boris hob seine buschigen Augenbrauen. »Wer erzählt einen solchen Unsinn?«

»Das weißt du genau: der Erste Vizepremier Timur Sawasin. Aber keine Sorge, Liebling. Ich würde dich wohl kaum heiraten, wenn ich auch nur ein Wort davon glauben würde.«

Nun sah Boris wirklich unglücklich drein.

»Es stimmt, dass der Präsident auf dich hört. Aber wenn seine rechte Hand Lügen verbreitet, bekommt er selbst es mit Sicherheit auch mit. Er gibt sich als großer Abenteurer, geht auf die Jagd und reitet halb nackt auf einem Pferd durch die Gegend.«

»Er will nur, dass die Länder der ehemaligen Sowjetunion wieder enger zusammenrücken.«

»Länder, die mit ihrer wirtschaftlichen Schwäche Moskau so sehr belastet haben, dass man sie gezwungenermaßen gehen ließ. Moskau konnte froh sein, dass es sie los war.«

»Die Russische Föderation ist zu klein für diese neue Weltordnung, Swetlana. Wir müssen wieder unsere Flügel ausbreiten.«

»Jetzt klingst du wie Hitler.«

»Pass auf, was du sagst! Der Präsident will Russland nur zu alter Stärke führen. Und das russische Volk will das auch.«

»›Zu alter Stärke führen‹. Wie sich das anhört! Dir ist schon klar, dass die Ukraine, Litauen, Polen, Lettland, Estland und alle anderen nach dem Zweiten Weltkrieg von Russland vereinnahmt wurden. Sie haben nie rechtmäßig dem Kreml gehört. Willst du, dass sich die Verbrechen von einst wiederholen?«

»Jetzt spricht nur noch die Ukrainerin aus dir … Zum Glück weiß ich, dass du es nicht so meinst, sonst müsste ich …«

»Was müsstest du?«, schnappte Swetlana. »Mich von einem deiner vermummten Terroristen umbringen lassen? Oder mich irgendwo an der Grenze von einem Panzer überfahren lassen? Ist unsere Hochzeit vielleicht nur ein Mittel zum Zweck? Die neue Strategie deiner Herren im Kreml, ihren Einflussbereich zu erweitern?«

Boris verdrehte die Augen. »Es hat keinen Sinn zu diskutieren, wenn du …«

»Ich hasse es, wenn du mich wie ein Kind behandelst, Boris Iljitsch.«

Er wusste, dass sie nun wirklich zornig war. Sie sprach ihn sonst nie mit seinem Vatersnamen an. Dennoch konnte er sich eine Erwiderung nicht verkneifen: »Wenn du dich wie ein Kind benimmst, wirst du auch so behandelt. Du jagst irgendwelchen Phantomen hinterher und lässt deine Fantasie mit dir durchgehen. Das ist die russische Definition von Paranoia, weißt du.« Seine Stimme nahm wieder einen versöhnlicheren Ton an. »Mein Spezialgebiet ist der Nahe Osten, wie du sehr wohl weißt. Was die Ukraine und die anderen Länder der ehemaligen Sowjetunion betrifft …«

»Trotzdem stellst du meine Loyalität infrage.«

»Das habe ich nie getan. Unsere Diskussion …«

»Würdest du es so nennen?«

Er musterte sie einen Moment lang. »Unsere Diskussion war rein hypothetisch.«

»In Wahrheit dreht sich alles um die Wirtschaft, stimmt’s?«, wechselte sie abrupt das Thema. »Wirtschaft und Gier. Die Kreml-Clique hat Milliarden Dollar mit russischem Öl verdient. Aber damit wird bald Schluss sein. Von wo soll dann das Geld kommen, um die Föderation am Laufen zu halten? Diese Unsicherheit ist die Wurzel des neuen Expansionsdrangs. Russland braucht die Staaten der ehemaligen Sowjetunion anscheinend, um … ja, wofür eigentlich?«

»Um stark zu bleiben.«

»Obwohl sie Mütterchen Russland einst an den Rand des Bankrotts gebracht haben?«

Boris staunte einmal mehr über den scharfen Blick, mit dem diese Frau die komplexen Zusammenhänge von Wirtschaft und Weltpolitik erfasste. Es war einer der Gründe, warum er sich in sie verliebt hatte, abgesehen davon, dass sie im Bett unvergleichlich war. Sie hatte auf ganzer Linie recht. Insgeheim dachte er ebenfalls, dass die aggressive Strategie des Kreml Russland eher schadete. Moskau musste von den ehemaligen Sowjetrepubliken die Finger lassen; sie hatten Russland tatsächlich einst wirtschaftlich ruiniert. Die UdSSR war einfach zu riesig gewesen, und nun, da die Tschetschenen und andere muslimische Volksgruppen sich aufführten, als gehöre ihnen die Welt, war es absolut nicht ratsam, sie in einen gemeinsamen Staat zurückzuholen. Diese Pferde ließen sich nicht mehr im Zaum halten.

»Du irrst dich wirklich, Lana. Hätte der Kreml sonst ein neues Abkommen mit der Ukraine angekündigt, in dem garantiert wird, dass der Gashahn über den langen, kalten Winter hinweg offen bleibt?«

Swetlana schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich weiß nicht, was die Machthaber wirklich vorhaben, Boris? Aber die Menschen hier in Russland wollen keinen Krieg. Die Wirtschaftssanktionen nehmen uns die Luft zum Atmen, vor allem den kleinen Leuten.

Dieses sogenannte Abkommen mit der Ukraine wird sich in Luft auflösen, noch bevor es unterzeichnet ist. Der Kreml wird behaupten, die NATO sei schuld, weil sie sich in der Ukraine einmische. Die Temperaturen gehen schon zurück; wenn der Winter kommt, werden sie den Gashahn zudrehen – nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Westeuropa. Die Folge wäre eine Rezession mit weltweiten Auswirkungen.«

Boris’ Lachen klang hart und freudlos, und sein Gesicht verdunkelte sich. »Was du für eine Fantasie hast, Liebling. Der Kreml wird doch nicht einen dritten Weltkrieg riskieren.«

Swetlana lachte. »Du hast sicher recht. Ich hab wohl übertrieben. Ach, komm schon, Liebling, jetzt schmoll nicht. Du siehst aus wie ein bockiges Kind.« Trotz des gedämpften Lichts war ihr Lächeln unwiderstehlich. »Außerdem magst du es doch, wenn eine Frau Temperament hat.« Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie ihn mit dem Zeigefinger zu sich winkte, dessen Nagel blutrot lackiert war. »Komm her, mein Bär. Du siehst so schneidig aus in deiner Uniform.«

Boris schüttelte den Kopf. Er war immer noch ein bisschen pikiert von ihrem verbalen Schlagabtausch, obwohl solche kleinen Auseinandersetzungen zu ihrer Beziehung gehörten. »Gebumst wird erst nach der Zeremonie.«

»Wer hat was von Bumsen gesagt?«, erwiderte Swetlana mit einem verführerischen Lächeln.

»Später.« Er sah ihr fest in die Augen und straffte seine Jacke. »So sehr wir es beide wollen … aber später.«

»Boris, du bist so spießig.«

»Nein, meine Liebe, ich denke nur praktisch.« Er trat zu ihr, beugte sich hinunter und küsste sie flüchtig auf die Lippen. »Für dich wird es auch Zeit, ein Bad zu nehmen oder dich zu schminken oder was immer ihr Frauen tun müsst.«

»Idiot!« Doch ihr Lächeln war warm, als sie seinen Kuss leidenschaftlich erwiderte, ihre weichen Lippen öffnete und ihre Hand an seinen Hinterkopf legte. »Jetzt geh schon«, sagte sie in gespieltem Befehlston und ließ ihn los. »Misch dich unter die Gäste.« Als er zur Tür schritt, rief sie ihm nach: »Und sei nett!«

»Bin ich doch immer.«

Ihr kehliges Lachen folgte ihm auf den Flur hinaus.

Kaum war die Tür geschlossen, hüllte sich Swetlana in einen prächtigen seidenen Morgenmantel. Wenjamin Below trat durch eine schmale Tür aus dem angrenzenden Zimmer hervor. Er war ein kleiner Mann mit blasser Haut und dichtem schwarzem Haar. Seine dunklen, rastlosen Augen hinter den runden Brillengläsern schienen ständig nach einem sicheren Ausweg zu suchen. Er trug ein kleines Gerät vor sich und schwenkte es hin und her, um nach eventuellen Lauschvorrichtungen zu suchen.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Raum sauber war, kam er zu Swetlana. »Also«, kam er sofort auf den Punkt, »hat er klar gesagt, wo er steht?«

Swetlanas Mundwinkel zuckten. »Wenjamin Nasarowitsch, du hast doch bestimmt an der Tür gelauscht, oder?«

Belows angespannte Lippen zitterten. »Das ist kein Spiel, Lana. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Komm her, mein Lieber.« Sie streckte die Arme aus. »Deine Krawatte sitzt zu fest.«

Er schüttelte den Kopf. »Willst du, dass ich es bereue …«

»Was?« Ihre Augen funkelten drohend. »Dieser Plan würde ohne mich niemals funktionieren.«

Er verstummte für einige Augenblicke, als warte er darauf, dass die frostige Atmosphäre sich aus dem Zimmer verzog. »Tut mir leid, Lana«, seufzte er schließlich. »Meine Ungeduld …«

»… geht mal wieder mit dir durch«, ätzte sie. »Ziemlich unprofessionell.«

»Mea culpa.« Er verschränkte die Finger ineinander. »Mea maxima culpa.«

Seine Entschuldigung entlockte ihr ein Lächeln, das den Raum sofort ein wenig zu wärmen vermochte. »Mit deinen Lateinkenntnissen könntest du im Vatikan Karriere machen.«

Below entspannte sich sichtlich. »Also, wie schätzt du die Einstellung des Generals ein?«

Swetlana zog die Stirn in Falten. »Schwer zu sagen. Boris ist äußerst sparsam mit Fakten. War er immer schon.« Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. »Er vertritt die Linie des Kreml, sogar, wenn wir unter uns sind.«

»Enttäuschend. Er steht doch im Ruf, immer seine eigene Meinung zu haben.«

»Stimmt.« Swetlana hob den Zeigefinger. »Und wenn ich eine Vermutung äußern müsste, würde ich sagen, dass er die Dinge völlig anders sieht als der Kreml.«

»Das heißt dann wohl, so wie wir.« Below tippte sich mit seinem langen, schmalen Zeigefinger an die Lippen. »Wie viel würdest du auf den General setzen?«

»Was denkst du denn?« Sie zuckte mit ihren wohlgeformten Schultern. »Alles, was ich habe.«

Etwas in ihrem Ton schien ihm zu denken zu geben. »Lana, bitte sag mir, dass du dich nicht in ihn verliebt hast.«

»Das geht dich nichts an«, schnappte sie eine Spur zu hastig.

»Oh doch.« Er setzte sich zu ihr aufs Sofa. »Die Liebe verzerrt die Realität. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir haben das doch alles schon erlebt. Du hast ja selbst gesehen, wie die Liebe den schönsten Plan zum Scheitern bringen kann. Wir zählen auf dich; du bist jetzt der entscheidende Faktor. So kurz vor dem Ziel darfst du dir keinen Fehler erlauben.«

Swetlana richtete sich auf. »Und du verlierst so kurz vor dem Ziel das Vertrauen in mich, Wenjamin Nasarowitsch?«

»Ich wollte dich nur erinnern.«

»Mein Gedächtnis funktioniert noch sehr gut, danke.«

»Schön.« Below stand von seinem Platz auf. »Denn ohne den General …«

»Vorsicht«, ermahnte sie ihn und erhob sich vom Sofa. »Wage es nicht, so etwas auch nur zu denken.«

ZWEI

Boris schritt über den mit Wandteppichen geschmückten Flur und trat durch die Doppeltür, die von bewaffneten Wachmännern der Armee und des FSB flankiert war, in den glitzernden Ballsaal voller elegant gekleideter Leute. Von Stolz erfüllt, sah er sich um. Sie waren alle gekommen: der Präsident, der Ministerpräsident, der Erste Vizeregierungschef, der Leiter der Administration des Präsidenten, der Stabschef, der Außenminister und viele andere. Alle erwiesen ihm zu seiner Hochzeit die Ehre. Es gab reichlich Champagner und Kaviar, dazu feinsten Wodka, von livrierten Kellnern auf dem Silbertablett serviert. In einem Winkel des Saals spielte ein Streichquartett die Bearbeitung einer Symphonie von Tschaikowsky – für seinen Geschmack etwas bemüht und ein wenig lächerlich.

Doch unter all den führenden Vertretern des Kreml und der Oligarchenkreise, die alle von der russischen Wirtschaft profitierten, suchten seine Augen nur einen Mann – bis er ihn in einem Winkel des Saals erblickte: seinen alten Freund und Waffenbruder Jason Bourne.

Während er zwischen den Festgästen hindurchschritt, Hände schüttelte und Glückwünsche entgegennahm, entgingen ihm nicht die versteckten Blicke, in denen Neid, aber auch Angst zu erkennen war – er war ein gefürchteter Mann innerhalb der Russischen Föderation und weit darüber hinaus. Und noch etwas bemerkte er: Zu seiner Überraschung war Jason Bourne nicht allein gekommen. An seiner Seite stand eine zierliche, katzenartige Frau in einem violetten Kleid, das so tief ausgeschnitten war, dass die prallen Halbkugeln ihrer Brüste auf geradezu aufreizende Weise zur Schau gestellt wurden.

Boris bildete sich einiges darauf ein, Bourne so gut wie kaum ein anderer zu kennen, was natürlich nicht hieß, dass er ihn in- und auswendig kannte. Das tat niemand, vermutlich nicht einmal Bourne selbst, vor allem, seit er das Gedächtnis verloren hatte. Eines stand für Boris jedoch fest: Bourne war der typische Einzelgänger. Er ließ sich nie mit einer Frau in der Öffentlichkeit sehen – doch die Art, wie diese gut aussehende Frau ihren Arm besitzergreifend um seinen geschlungen hatte, ließ vermuten, dass sie ihn so schnell nicht mehr loslassen würde. Noch seltsamer war, dass Bourne sie kaum wahrzunehmen schien. Sobald sie nach der Trauungszeremonie einen Moment unter sich waren, würde Boris ihn fragen, was es damit auf sich hatte. Er schämte sich ein wenig, dass er Bourne nicht nur eingeladen hatte, weil er sein Freund war, sondern auch aus einem anderen Grund. Wäre das Leben nicht nett, wenn er Bourne nur bei seiner Hochzeit haben wollte, um mit ihm zu feiern? Mag sein, dachte er wehmütig, aber mein Leben ist nun mal nicht nett.

Als Boris sich ihm näherte, blieb ihm einen Moment lang das Herz stehen. War das nicht …? Konnte es sein …? Und dann explodierte ein Gedanke in seinem Kopf: Was zum Teufel hatte Bourne mit Irina Wassiljewna zu schaffen? Es erschien ihm undenkbar, dass die beiden sich kannten. Und wenn doch, warum hatte Jason es dann nicht erwähnt? Er musste doch wissen … Boris’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Aber so wie Bourne sich verhielt, war sich Boris fast sicher, dass er wirklich ahnungslos war.

Irinas Vater Wassili war ein reicher und mächtiger Oligarch gewesen, doch auch die Reichen und Mächtigen konnten richtig Ärger bekommen, wenn sie mit den falschen Leuten Geschäfte machten. Genau das war Wassili und seinem ältesten Sohn widerfahren. Boris hatte die Eliminierung der beiden nicht angeordnet; er hatte sich zu der Zeit zusammen mit Jason in Damaskus aufgehalten, weil sich ihre Interessen in einer bestimmten Angelegenheit überschnitten hatten. Die Anweisung war, wie er später erfahren hatte, direkt aus dem Kreml gekommen. Boris war gerade noch rechtzeitig zurückgekehrt, um die Zwillinge vor dem gleichen Schicksal zu bewahren, indem er wahrheitsgemäß argumentierte, dass die zwei im Gegensatz zum älteren Sohn nichts mit Wassilis Verbrechen zu tun hatten. Natürlich ahnten die Zwillinge nicht, wie knapp sie am Tod vorbeigeschrammt waren und wer sie gerettet hatte. Doch ihr Großvater wusste es und hatte sich überaus dankbar gezeigt.

Boris musste seine ganze Willenskraft zusammennehmen, als er mit einem breiten Lächeln zu Jason trat und sie einander umarmten, nicht bloß als alte Freunde, sondern als Brüder, die zahlreiche Gefahren durchgestanden und einander mehr als einmal das Leben gerettet hatten. Das war die Welt, in der sie beide zu Hause waren, und in diesem Moment wurde ihnen wieder einmal bewusst, wie viel sie bis zu diesem bedeutungsvollen Tag durchgemacht hatten. Wenigstens das ist echt, dachte Boris.

Er küsste Bourne auf beide Wangen und flüsterte ihm so leise, dass es die Frau an seiner Seite nicht hören konnte, ins Ohr: »Hast du die Münze bekommen?«

Bourne nickte kaum merklich.

»Gut. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen. Treffen wir uns am Ende der Loggia, gleich nachdem die Vorspeisen serviert werden.« Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme hatte er es auf Arabisch gesagt, einer Sprache, die sie beide beherrschten.

Nach dem kurzen Moment der Vertrautheit wandte sich Boris mit einem routinierten Lächeln den anderen Gästen zu, um weiter Hände zu schütteln und Glückwünsche entgegenzunehmen.

Bourne ließ es sich nicht anmerken, wie unwohl er sich dabei fühlte, dass Irina nicht von seiner Seite wich. Weder sein Freund Boris Karpow noch Irina selbst bekamen etwas von seinem inneren Aufruhr mit. Diese Frau hatte eine unglaubliche erotische Ausstrahlung. Sie roch nach purer Sinnlichkeit, und es kostete ihn einige Anstrengung, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Er hatte sie angerufen, nachdem er die Einreisekontrolle am Flughafen Scheremetjewo passiert hatte. Irina hatte angeboten, ihn von einem Wagen abholen zu lassen, doch Bourne stieg grundsätzlich nicht in Autos ein, die ihm jemand schickte. Stattdessen nannte er ihr einen Treffpunkt und fuhr mit dem Taxi über den Gartenring in die Innenstadt.

Sie hatte ihn mit einem strahlenden Lächeln empfangen. »Guten Abend«, hatte sie in ihrem Moskauer Russisch gesagt und ihn auf beide Wangen geküsst, als wären sie alte Freunde. »Hatten Sie einen angenehmen Flug?«

»Ja, danke«, hatte Bourne geantwortet und zum ersten Mal ihren sinnlichen Duft eingeatmet.

Sie sah, wie sich seine Nasenflügel blähten, und ihr süffisantes Lächeln verriet ihm, dass sie sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst war.

»Hauptmann Wanow hat Sie treffend beschrieben«, stellte sie fest und nahm besitzergreifend seinen Arm.

Bourne traute ihr ebenso wenig, wie er Wanow voll und ganz getraut hatte. Boris hatte diese Frau mit keinem Wort erwähnt und hätte wohl kaum jemanden geschickt, um ihn zu empfangen. Er wusste genau, dass Bourne es vorzog, allein zu kommen und zu gehen. Andererseits hatte Wanow ihm Boris’ Münze übergeben. Es war eine merkwürdige Situation, die nur Boris selbst aufklären konnte. Bis dahin würde er versuchen herauszufinden, was Irina von ihm wollte. In Moskau spielten überall politische und wirtschaftliche Interessen hinein – es konnte einem hier noch viel leichter als in Washington passieren, dass man in eine Falle tappte, die ein Unbekannter ausgelegt hatte. Diese Möglichkeit erschien ihm umso realer, als Boris ausgerechnet seine Hochzeit zum Anlass genommen hatte, um Bourne eine mysteriöse Münze zu schicken – als seine »Rettungsleine«, wie er es ausgedrückt hatte.

Bourne sog Irinas Anblick in sich auf. Sie trug einen dunkelroten Mantel und glänzend schwarze, hochhackige Stiefel. Ihr offenes dunkles Haar umrahmte ein makelloses Gesicht. Ihre Brust schmiegte sich an ihn, während sie mit ihm durch die hell erleuchtete Moskauer Nacht spazierte, in der überall ein wachsamer Angehöriger irgendeiner staatlichen Behörde lauern konnte.

Zwei Blocks weiter wartete ein schwarzer Range Rover SUV auf sie, dessen 510 PS starker Motor schnurrte wie ein Löwe nach erfolgreicher Jagd. Ein uniformierter Chauffeur öffnete ihnen die hintere Tür. Seine Uniform sagte Bourne nichts; sie war jedenfalls von keiner offiziellen Regierungsbehörde. Der Mann musste für eine Privatfirma oder einen schwerreichen Oligarchen arbeiten.

Der SUV bahnte sich einen Weg durch den dichten Verkehr und ließ die Innenstadt hinter sich. Am nördlichen Stadtrand bog der Fahrer in eine für Moskauer Verhältnisse außergewöhnlich gut erhaltene Straße ein, die von blühenden Kirschbäumen gesäumt war. Vor ihnen erstreckte sich ein dichter Kiefernwald, in den die Straße wie in einen Gebirgstunnel einmündete. Die Scheinwerfer des SUV durchbohrten die Dunkelheit und erhellten die Zweige der Nadelbäume. Von dem mit Sternen übersäten Himmel war nichts mehr zu sehen.

Nach einer Weile tauchten sie aus dem dichten Wald auf. Im Licht der Scheinwerfer war eine mindestens sechs Meter hohe, grüne Wand zu erkennen. Das Fahrzeug wurde langsamer, und ein Tor öffnete und schloss sich, nachdem sie es durchfahren hatten. Bourne kam sich vor wie in einer anderen Welt, die mit dem übrigen Russland nichts gemeinsam hatte. Prächtige Villen standen in einem weitläufigen Park. Die Häuser waren in verschiedenen Stilen erbaut – im viktorianischen ebenso wie im japanischen und im Jugendstil. Eines war nach dem Vorbild eines bayerischen Schlosses gestaltet.

Sie fuhren zwischen den luxuriösen Villen hindurch und bogen in eine lange Auffahrt ein, deren weißer Marmorkies wie Sternenlicht funkelte. Mitten in der gepflegten Gartenanlage standen zwei steinerne Sphinx-Figuren, die mit ihrem rätselhaften Lächeln ein getreues Abbild des ägyptischen Originals darstellten.

Sie gelangten zu einer festlich erstrahlenden Jugendstilvilla mit reich verzierter Steinfassade und kunstvoll gestalteten weiblichen Gesichtern über den Fenstern, die wie Augen leuchteten. Die runden Balkone waren von anmutig geschwungenen Kupfergeländern begrenzt. Es war eine Szene wie aus einem Bild von Dalí oder aus einem drogenbefeuerten Fiebertraum.

»Dreitausend Quadratmeter, Schwimmbecken und Eislaufplatz, zwei Kinos, ein Ballsaal«, hatte Irina aufgezählt. »Was noch? Im Moment fällt mir nichts mehr ein, aber das ist längst nicht alles.« Der SUV kam vor der Eingangstür zum Stehen. Sie sah ihn lächelnd an. »Wir sind zu Hause.«

Während die Menge nun langsam in den Ballsaal strömte, in dem die Trauungszeremonie stattfinden würde, musste Bourne an einen Artikel in der Financial Times denken, den er während des Fluges gelesen hatte: In Moskau lebten mehr Milliardäre als in jeder anderen Stadt der Welt; zudem wurde ein Drittel der gesamten russischen Wirtschaft von nur sechsunddreißig Personen beherrscht, die zum Umfeld des Präsidenten gehörten. Diese Konzentration des Reichtums war einer der Gründe, warum es so tückisch war, sich in Moskau mit mächtigen Leuten abzugeben: Man hatte ihre Feinde automatisch selbst zum Feind.

Sie schritten zwischen zwei Reihen von grimmig dreinblickenden Sicherheitsleuten hindurch, die jedes einzelne Gesicht eingehend musterten. Ungeprüft ließen sie nur hohe Amts- und Würdenträger passieren, die man besser nicht verärgerte.

Der riesige Ballsaal war zum Bersten voll. Das Licht der kunstvollen Kronleuchter ließ den kostbaren Schmuck der Frauen in allen Farben funkeln und die Brillantinefrisuren ihrer Ehemänner, Liebhaber und sonstigen Begleiter glänzen.

Während die letzten Eintretenden ihre Plätze einnahmen, traten zehn Wachmänner in den Saal und nahmen ihre Posten an den Wänden ein, während die übrigen sechs draußen im holzgetäfelten Flur blieben. Bourne hatte sie nicht erst zählen müssen; seine Augen suchten unablässig die Umgebung ab und hatten diese und viele andere Informationen an sein Gehirn übermittelt, wo sie zur eventuellen späteren Verwendung gespeichert wurden.

Ebenso hatte er zuvor jedes Detail in Irinas Villa registriert: die Marmorstatue nach dem Vorbild von Michelangos David, aus dessen Penis Wasser in eine Muschel aus Alabaster plätscherte, den Isfahan-Teppich im Arbeitszimmer, die Bücher in den Teakholzregalen.

Irina hatte ihn zu einem der beiden italienischen Ledersofas geführt. Ein Diener servierte auf einem Silbertablett Kaviar und verschiedene Getränke – von Tee bis Wodka. Alles hier roch nach enormem Reichtum. Bourne fühlte sich an Donald Ducks Onkel Dagobert erinnert, der mit Vorliebe in seinem mit Talern gefüllten Geldspeicher badete.

»Leben Sie ganz allein in diesem Haus?«, hatte Bourne gefragt, als sie unter sich waren.

Irina musterte ihn mit einem ebenso schelmischen wie lasziven Lächeln. »Hauptmann Wanow hat mir erzählt, Sie wüssten nicht, wozu Sie die Münze bekommen haben«, erwiderte sie, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Das stimmt.« Bourne fand es interessant, dass sie offenbar nicht gerne über sich sprach. Er würde sich später mit der Frage beschäftigen, woran das liegen mochte.

»Darf ich sie sehen?« Irina streckte ihre makellos gepflegte Hand aus. Sie musterte ihn mit dem forschenden Blick eines Schmetterlingskundlers.

»Das halte ich für keine gute Idee.«

Sie verbarg ihr Interesse hinter einem Schmollmund. »Ich will sie doch nur ansehen. Ist das so schlimm?«

»Erzählen Sie mir mehr über dieses Haus«, wechselte Bourne mit einem angedeuteten Lächeln das Thema.

Sie beäugte ihn einen Moment lang aus halb geschlossenen Lidern und zuckte schließlich mit den Schultern. »Wie Sie wünschen. Ich respektiere Ihre Privatsphäre.« Sie bot ihm einen Blini mit einem Häufchen Kaviar an und balancierte den kleinen Pfannkuchen auf ihren Fingerspitzen. »Ich erzähle, während wir essen.« Wieder sah sie ihn mit ihrem lasziven Lächeln an. »Ich will mir nicht vorwerfen lassen, Sie hungrig zu Bett gehen zu lassen.«

DREI

»Irgendwie unheimlich, mit dem Direktor des FSB befreundet zu sein«, bemerkte Irina.

»Wie bitte?«

»Na ja, jemand in einer solchen Position.«

»Man könnte fast glauben, Sie haben etwas gegen ihn oder den FSB.«

Irina lachte. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Boris und ich, wir kennen uns schon lange«, erklärte Bourne. »Obwohl ich mich da auf seine Aussage verlassen muss – ich selbst habe bei einem Unfall das Gedächtnis verloren und kann mich an vieles aus meiner Vergangenheit nicht mehr erinnern.«

»Und Sie glauben ihm?«

»Voll und ganz.«

»Sie wissen doch, dass die Angehörigen einer Regierungsbehörde vor allem eines lernen: zu lügen.«

»Ich lebe selbst in dieser Welt«, betonte Bourne. »Ich kenne sie in- und auswendig.«

Irina schüttelte den Kopf. »Ich finde es merkwürdig, dass General Karpow ein so enges Verhältnis zu einem Amerikaner hat.«

»Ich schätze, wir haben unsere persönliche Entspannungspolitik gefunden. Das kommt uns beiden zugute.«

»Sie haben ihn nicht nach der Münze gefragt.«

Bourne fand ihr Interesse an der Münze sehr merkwürdig. »Dafür ist nach der Trauung Zeit genug.«

Die Gäste hatten ihre Plätze eingenommen. Anstelle des Streichquartetts spielte nun eine Gruppe von Musikern ein etwas kriegerisch anmutendes Lied. Eine seltsame Wahl für eine Hochzeit – in Moskau aber möglicherweise normal.

»Aber dieser Mann … General Karpow«, flüsterte sie, »er ist schon furchteinflößend, oder? Natürlich ist er nicht der Einzige von dieser Sorte.«

»Keiner ist so wie er«, betonte Bourne.

»Sie sind kein Russe. Sie können das nicht beurteilen.«

»Da irren Sie sich.«

Sie taxierte ihn nachdenklich. »Es kommt mir zwar ziemlich unwahrscheinlich vor, aber … stimmen Sie beide politisch überein?«

»Wir sprechen über vieles, aber nicht über Politik.«

»Da bin ich ja erleichtert.« Ihr Blick war jedoch immer noch ein wenig argwöhnisch.

»Überlegen Sie doch«, fügte Bourne hinzu. »Wären Boris und ich nicht so gute Freunde, wären Sie jetzt nicht hier mitten unter der Moskauer Elite.«

»Jetzt sind Sie sauer.«

»Bin ich nie«, konterte Bourne.

Irina atmete erst einmal durch, bevor sie antwortete. »Wahrscheinlich kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Sie mit diesem Mann befreundet sind – überhaupt mit irgendjemandem im FSB.«

Bourne wandte sich ihr kurz zu. »In meinem Geschäft begegnet man den merkwürdigsten Leuten. Und oft sind es die, von denen man es am wenigsten erwartet, die einem am Ende helfen.«

Irina zögerte einen Moment. »Und so war es zwischen Ihnen und dem General?«

Bourne nickte. »Sehr oft.«

Sie wirkte immer noch nachdenklich. »Also, das ist wirklich eigenartig.«

»Soll ich Ihnen verraten, was mir eigenartig vorkommt? Dass Boris es ausgerechnet Ihnen übertragen hat, mich zu empfangen, obwohl Sie keine so gute Meinung von ihm haben.«

Sie lachte. »Er ist nun mal vom FSB – und der ist mir einfach suspekt. Aber ich habe gelernt, mit diesen Leuten auszukommen. Was bleibt einem anderes übrig, wenn man überleben will?«

Bevor Bourne über ihre Worte nachdenken konnte, kündigten zwei Waldhörner den Beginn der Trauungszeremonie an.

Während Bourne Irina in den Armen hielt, fragte er sich, wie die Silowiki im Kreml die russisch-orthodoxe Zeremonie gefunden haben mochten. Und wie Boris sie erlebt hatte. Soweit Bourne wusste, hatte sein Freund nie das geringste Interesse an irgendeiner Form der organisierten Religion gezeigt. Der Vorschlag musste von der Braut gekommen sein, die Bourne noch nicht kennengelernt hatte.

Das Kammerorchester spielte einen Walzer, und Bourne und Irina tanzten zusammen mit Dutzenden anderen Paaren auf der riesigen Tanzfläche unter den glitzernden Kronleuchtern. Die Trauung war vollzogen, und das frisch verheiratete Paar war noch nicht wieder erschienen. Irgendwo im Haus wurden wahrscheinlich die Hochzeitsfotos geschossen.

»Ich war schon einmal mit Boris hier«, erzählte Bourne. Er drehte sich mit ihr von einem FSB-Oberst und seiner jungen Tanzpartnerin weg, bekam jedoch noch mit, dass der Offizier Irina einen bitterbösen Blick zuwarf. Er war ein gut aussehender Mann, hatte aber etwas Düsteres an sich. Seine aristokratische Haltung schien so gar nicht vereinbar mit den Wildwestsitten, die in dieser Stadt herrschten, schon gar nicht mit der rauen, ungeschliffenen Welt des FSB. »Wir waren hinter einem Waffenhändler her.«

»Haben Sie ihn erwischt?«

»Ja, aber es war kein schöner Anblick. Das Reinigungsteam hat einige Tage gebraucht, um sauber zu machen.«

»Ihr schlimmen Jungs.«

Bourne wusste nicht recht, wie ihre Bemerkung gemeint war, und blickte sich im Ballsaal um. »Dieses Hotel war früher einer der vielen Paläste des Zaren«, erzählte er. »Ich frage mich, wie man sich in diesen riesigen Räumen gefühlt hat. Auch mit noch so vielen Dienern muss es ein ziemlich einsames Leben gewesen sein.«

Der Hauch eines Schattens huschte über Irinas Gesicht. Für einen Moment tat sich ein winziger Riss in ihrer Fassade auf. »Ich habe genug getanzt. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir eine Weile hinausgehen?«

Sie schlängelten sich zwischen den Festgästen hindurch zur Tür, durch die man auf die gekachelte Terrasse gelangte. Bourne schnappte sich zwei Champagnerflöten vom Tablett eines Kellners. Irina hatte bereits vier Gläser getrunken, und er dachte sich, dass es nicht schaden konnte, wenn sie so weitermachte. Der Alkohol hatte schon die verschlossensten Menschen gesprächig gemacht.

Die nächtlichen Düfte von Jasmin und Orangen wehten zu ihnen herüber. Sie kamen an zwei Sicherheitsleuten vorbei, die sie flüchtig musterten, bevor sie sich wieder der Überwachung des hell erleuchteten Geländes zuwandten. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund.

»Das muss man ihnen lassen – für die Sicherheit haben sie gesorgt«, bemerkte sie leise, wie zu sich selbst.

Bourne blickte auf die weitläufige Anlage hinaus, doch alle seine Sinne waren auf Irina gerichtet, während er versuchte, das wahre Wesen der Frau hinter der atemberaubenden erotischen Fassade zu ergründen.

»Die Einsamkeit gehört irgendwie zu meinem Leben«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, ob ich sie gesucht habe oder sie mich. Normalerweise mache ich mir darüber keine großen Gedanken, aber es gibt Momente …« – er warf ihr einen kurzen Blick zu –, »da frage ich mich, ob es auch anders sein könnte.«

Irina nippte nachdenklich an ihrem Champagner. »Ist das ein Kompliment oder …?« Sie zuckte mit ihren wohlgeformten Schultern. »Egal.«

Erneut bellte der Hund, diesmal noch näher. Sie sahen zuerst nur seinen großen, verzerrten Schatten, bevor er selbst in Sicht kam. Ein Sicherheitsmann hielt ihn an der Kette; der Hund war fast so groß wie sein Schatten und schnüffelte in den Büschen nach einem eventuellen Eindringling. Plötzlich hielt er inne, hob das Bein und pinkelte fast verächtlich in den Busch.

Irina lachte leise. »Das Tier tut mir leid. Nie wirklich frei, immer an der Kette.«

Bourne wartete schweigend. Schließlich wurde seine Geduld belohnt, wenn auch nicht so, wie er es erwartet hatte.

»Sagen Sie«, begann sie, »waren Sie jemals verliebt?«

Er bemühte sich zu verbergen, wie überrascht er war. »Warum fragen Sie?«

»Gestern Nacht. Sie haben ihren Namen ausgesprochen.«

»Ich glaube nicht, dass ich irgendeinen Namen ausgesprochen habe.«

»Doch – im Schlaf. Sie haben sicher geträumt. Vielleicht war es ein Albtraum.«

»Ich habe keine Albträume.«

Sie lächelte ihm zu. »Ich habe auch manchmal Albträume. Das geht jedem so.«

»Trotzdem habe ich sicher keinen Namen gesagt.«

»Ich habe es selbst gehört.«

»Das glaube ich nicht.«

»Sara. Sie haben ›Sara‹ gesagt.«

Es war gar nicht nach Bournes Geschmack, wie sich das Gespräch entwickelte. Hatte er wirklich im Schlaf Saras Namen ausgesprochen? »Ich kenne keine Sara.«

»Sie lieben sie.«

Etwas in ihm verhärtete sich. »Irina, was soll das?«

Sie überraschte ihn erneut. »Ich war gestern Nacht in Ihrem Schlafzimmer. Ich habe gehört, wie Sie ihren Namen riefen. ›Sara‹. Zwei-, dreimal, mit der zärtlichsten Stimme, die man sich vorstellen kann. Ich habe mir immer gewünscht, dass einmal ein Mann meinen Namen so zärtlich ausspricht.«

Was sollte er von dieser Frau halten? Es war, als würde sie mehrere Persönlichkeiten in sich vereinen. »Ich glaube, Sie haben geträumt, nicht ich.«

Sie ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Ich habe stundenlang an Ihrem Bett gesessen und Ihnen beim Schlafen zugesehen.«

»Das hätte ich bemerkt.«

Irina nahm einen winzigen Schluck Champagner. »Ich war einmal verlobt. Damals war ich jung genug, um mich Hals über Kopf zu verlieben. Er war wie Sie – das zeigt, wie dumm ich war. Er arbeitete in Ihrem Geschäft, im Schatten. Er war gut, sehr gut sogar. Viele haben ihn gefürchtet. Aber er hat ganz in seiner Welt gelebt und sie nur ab und an für wenige Stunden verlassen. Mir wurde schnell klar, dass in seinem Leben kein Platz für mich war. Aber das kennen Sie ja alles.« Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. »Wie gesagt, ich war jung und dumm. Und zu verliebt, um es zu beenden. Eines Tages ging er für immer – Gott weiß, wohin. Er kam nie mehr zurück. Hinterließ keine Spur. Wie vom Erdboden verschluckt. Paff! Verschwunden, von einem Moment auf den anderen. Wie ein Zauberer.«

»Es gibt keine Zauberer«, erwiderte Bourne. »Nur Illusionisten.«

Sie lächelte hintergründig, atmete tief durch und ließ die Luft langsam entweichen. »Es gibt so viel, was einen töten kann, so viele Arten zu sterben.«

Einmal mehr wusste er nicht, ob sie mit ihm oder mit sich selbst sprach.

»Haben Sie je an den Tod gedacht, Bourne?«

»Jeden Tag«, versicherte er. »Eigentlich bin ich schon einmal gestorben. Das ist mein zweites Leben.«

»Gibt es da nicht einen Song? ›You Only Live Twice‹?«

»Nancy Sinatra.« Bourne lachte. »Das gehört zu einem Leben, das in weiter Ferne liegt.«