Das Bourne Imperium - Robert Ludlum - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Bourne Imperium E-Book

Robert Ludlum

4,6
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bourne is back!

Großer Neuauftritt für die Bourne-Reihe: die ersten sechs Bände in aktueller Neuausstattung
Im Hinterzimmer eines Hongkonger Nachtlokals werden fünf Leichen aufgefunden. Einer der Ermordeten ist der Vizepräsident der Volksrepublik China. Doch warum hat der Killer mit dem Finger den Namen »Bourne« in die Blutlache gemalt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1207

Bewertungen
4,6 (24 Bewertungen)
18
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch
Nachdem sich Jason Bourne von seinem Gedächtnisverlust erholt hat und abgetaucht ist, sieht er sich in Hongkong einer neuen, hochbrisanten Anschuldigung ausgesetzt. Der Vizepräsident der Volksrepublik China wurde in einem Nachtlokal ermordet - und alle Spuren deuten auf Bourne. Kurz darauf wird auch noch seine Frau Marie gekidnappt und ebenfalls in Hongkong gefangen gehalten. Bourne macht sich mit der Unterstützung des Britischen Geheimdienstes und weiterer Agenten aus Amerika und Asien auf den Weg, und kommt einer groß angelegten Verschwörung der Triaden auf die Schliche, die den Friedensprozess in Fernost bedroht.
Der Autor
 
Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne. Im Anhang des Buches findet sich ein Werkverzeichnis aller lieferbaren Titel der BOURNE-Reihe.
Robert Ludlum
BOURNE Das Bourne-Imperium
THRILLER
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinz Zwack

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe The Bourne Supremacy erschien bei Random House, New York 

 

Copyright © 1986 by Robert Ludlum Copyright © 1986 der deutschsprachigen Erstausgabeby Hestia Verlag GmbH, Bayreuth Copyright © dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/Legend.artISBN: 978-3-641-09000-5V003

 

www.heyne.de

Für Shannon Paige LudlumWillkommen, meine Liebe.Viel Spaß im Leben.

1.

Kowloon. Letztes, wimmelndes Anhängsel Chinas, dem Norden nur im Geiste zugehörig – und doch reicht der Geist tief in die menschliche Seele hinein, ohne auf die harten, belanglosen Realitäten politischer Grenzen Rücksicht zu nehmen. Land und Wasser sind eins und der Geist bestimmt, wie der Mensch das Land und das Wasser nutzt – wieder ohne Rücksicht auf Leerformeln wie Freiheit, mit der man nichts anfangen kann, oder Gefangenschaft, aus der man ausbrechen könnte. Die Sorge gilt nur den leeren Mägen, den Mägen der Frauen, der Kinder. Dem Überleben. Sonst ist da nichts. Der Rest ist Dünger für die unfruchtbaren Felder.

Die Sonne ging unter. In Kowloon und auf der anderen Seite von Victoria Harbor auf der Insel Hongkong breitete sich eine unsichtbare Decke über das Chaos, das hier tagsüber herrschte. Die Schatten dämpften die schrillen Rufe der Straßenhändler und in den oberen Stockwerken der kalten, majestätischen Bauten aus Stahl und Glas, aus denen die Skyline der Kolonie bestand, gingen leise geführte Verhandlungen zu Ende, mit einem Nicken, Achselzucken oder einem kurzen Lächeln in stillschweigendem Einvernehmen. Es wurde Nacht und eine blendend orangerote Sonne kündigte sie an, die scharf durch eine riesige, ausgefranste Wolkenwand im Westen stieß – in unnachgiebigen Energiebündeln, sodass es schien, als wollten sie sich über dem Horizont entladen, damit dieser Teil der Welt das Licht nicht vergäße.

Bald würde Dunkelheit den Himmel überziehen, doch dort unten würde sie nicht Einzug nehmen. Unten würden die grellen Lichter die Erde in schreienden Farben beleuchten – diesen Teil der Erde, wo das Land und das Wasser Angst erfüllte Straßen waren, offen allem Unheil. Und gleichzeitig mit dem nie endenden nächtlichen Karneval würden andere Spiele beginnen; Spiele, die der Mensch gar nicht erst hätte anfangen sollen. Der Tod war keine Handelsware.

Ein kleines Motorboot, dessen starke Maschine das schäbige Äußere des Bootes Lügen strafte, jagte durch den Lamma-Kanal auf den Hafen zu. Für einen unbeteiligten Beobachter war das Boot einfach nur eine weitere Xiao Wanju, das Erbstück eines einst unwürdigen Fischers, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht und das Boot seinem Erstgeborenen vermacht hatte – zu einem Wohlstand, der vielleicht mit einer verrückten Mah-Jongg-Nacht begonnen hatte oder mit Haschisch aus dem Goldenen Dreieck oder geschmuggelten Juwelen aus Macao – wen interessierte das schon? Jedenfalls konnte der Sohn jetzt seine Netze werfen oder seine Ware schneller an den Mann bringen, indem er sein Boot von einer schnellen Schiffsschraube treiben ließ anstatt von dem langsamen Segel einer Dschunke oder dem schwerfälligen Motor eines Sampans. Selbst die chinesischen Grenzwachen und die Marinestreifen an den Gestaden des Shenzhen Wan feuerten nicht auf solch belanglose Übeltäter; sie waren unwichtig, und wer wusste schon, welche Familien jenseits der New Territories auf dem Festland vielleicht Nutzen von seiner Fracht hatten. Es konnte auch eine der ihren sein. Die süßen Kräuter aus den Bergen brachten immer noch volle Mägen – vielleicht sogar für einen der ihren. Sollten sie doch kommen. Und gehen.

Das kleine Boot mit den Segeltuchplanen, die das vordere Cockpit beiderseits abschirmten, verlangsamte seine Fahrt und schlängelte sich in vorsichtigem Zickzack durch die weit verstreute Flottille aus Dschunken und Sampans, die an ihre Liegeplätze in Aberdeen zurückkehrten. Die Leute von den Booten beschimpften den Eindringling, erregten sich über seine unverschämte Maschine und seine noch unverschämtere Kielwelle. Und dann verstummten sie, einer nach dem anderen, als der Eindringling an ihnen vorbeizog; irgendetwas unter den Planen brachte ihren Zorn zum Verstummen.

Das Boot raste in den Hafenkorridor, eine dunkle Wasserstraße, die jetzt von den flammenden Lichtern der Insel Hongkong auf der rechten und von Kowloon zur Linken begrenzt wurde. Drei Minuten später wurde das Geräusch des Außenbordmotors leiser, als das Boot langsam an zwei heruntergekommenen Leichtern vorbeiglitt, die am Pier vertäut waren, und schließlich eine freie Stelle an der Westseite von Tsim Sha Tsui ansteuerte, Kowloons Hafenviertel. Die Scharen von Händlern, die ihre nächtlichen Fallen für die Touristen aufstellten, achteten nicht weiter auf den Neuankömmling; schließlich war das nur ein weiterer Jigi, der vom Fischen hereinkam.

Und dann begann es in den Buden ebenso ruhig zu werden wie zuvor bei den Bootsleuten in Aberdeen. Erregte Stimmen wurden leiser und die Blicke wandten sich der Gestalt zu, die über eine schwarze, ölverschmierte Leiter zum Pier hinaufstieg.

Er war ein heiliger Mann. Seine schlanke Gestalt war in einen schneeweißen Kaftan gehüllt – er war sehr groß für einen Zhongguo ren, einen Meter achtzig vielleicht. Von seinem Gesicht freilich war nur wenig zu sehen, da die leichte Abendbrise den weißen Stoff über seine dunklen Züge flattern ließ, sodass man nur das Weiße seiner Augen sehen konnte – entschlossene Augen, Augen eines Eiferers; dies war kein gewöhnlicher Priester, das konnte jeder erkennen: er war ein Heshang, ein Auserwählter, den die weisen Ältesten ausgesucht hatten, die, die schon in einem jungen Mönch erkennen konnten, ob er zu Höherem bestimmt war. Und wenn ein solcher Mönch groß und schlank war und Augen hatte, in denen das Feuer loderte, war das gerade recht. Solche heiligen Männer zogen Aufmerksamkeit auf sich, auf ihre Persönlichkeit, auf ihre Augen, und das führte zu großzügigen Spenden, aus Angst ebenso wie aus Ehrfurcht; vorwiegend aber aus Angst. Vielleicht kam dieser Heshang von einer der mystischen Sekten, die durch die Berge und Wälder des Guangze wanderten, oder von einer religiösen Bruderschaft in den Bergen des weit entfernten Qing Gaoyuan – den Abkömmlingen, wie es hieß, eines Stammes im fernen Himalaja. Sie neigten dazu, mit großem Gepränge aufzutreten, und erweckten allenthalben große Furcht, da nur wenige ihre dunklen Lehren verstanden; Lehren der Sanftmut, doch mit subtilen Andeutungen unbeschreiblicher Pein, sollte man sich ihnen widersetzen. Dabei gab es doch auf dem Land und dem Wasser schon viel zu viel Pein – wer brauchte da noch mehr? Es empfahl sich also, den Geistern, den feurigen Augen, zu opfern. Vielleicht würde es irgendwo vermerkt werden. Irgendwo.

Die Gestalt in Weiß schritt langsam durch die sich ihr öffnende Menschenmenge am Kai, vorbei am überfüllten Pier der Star-Fähre, und verschwand im Gewühl von Tsim Sha Tsui. Jetzt war der Augenblick vorüber und in den Buden wurde es wieder so laut wie vorher.

Der Priester schritt auf der Salisbury Road in östlicher Richtung aus, bis er das Peninsula-Hotel erreichte, dessen gedämpfte Eleganz dem Kampf mit der Umgebung nicht gewachsen war. Dann bog er nach Norden in die Nathan Road, wo die glitzernde Goldene Meile Hongkongs begann, jenes Viertels, wo die Gegensätze um Aufmerksamkeit buhlten. Chinesen wie Touristen starrten auf den stattlichen heiligen Mann, wie er an den Schaufenstern vorbeischritt, um die sich die Gaffer drängten, vorbei an den Seitengassen, die vor Ware überquollen, dreistöckigen Discos und Obenohne-Cafés, wo riesige, primitiv bemalte Plakattafeln orientalische Amulette und Zaubermittel anboten, über Garküchen, die in Dampf gekochte Delikatessen des mittäglichen Dim Sum anpriesen. Fast zehn Minuten schritt er durch das Gedränge und reagierte hier und da mit einem leichten Kopfnicken auf Blicke, die ihm galten, schüttelte auch zweimal den Kopf und erteilte dem kleinen, muskulösen Zhongguo ren Befehle, der ihm abwechselnd folgte und dann wieder mit schnellen, tänzelnden Schritten an ihm vorbeieilte und sich dabei umwandte, um in seinen Augen nach einem Zeichen zu suchen.

Dann kam das Zeichen – ein zweimaliges, abruptes Nicken  –, während der Priester sich zur Seite wandte und durch den Perlenvorhang eines primitiv wirkenden Varietés trat. Der Zhongguo ren blieb draußen, die Hand unauffällig unter dem losen Umhang. Seine Augen suchten unruhig die verrückte Straße ab. Wahnsinn war das! Unerhört! Aber er war der Tudi; er würde den heiligen Mann mit dem eigenen Leben schützen, ganz gleich, wie sehr ihn das alles hier auch beleidigte.

Im Inneren des Lokals stachen farbige Lichter durch die Rauchschwaden, Scheinwerferbündel, die kreisten und sich auf eine plattformartige Bühne richteten, wo eine Rockgruppe ohrenbetäubende Rhythmen von sich gab, in denen sich der Osten und Westen mischten. Glänzend schwarze, eng anliegende oder zu weite Hosen zuckten gespenstisch an spindeldürren Beinen unter schwarzen Lederjacken über schmutzigen weißen Seidenhemden, die bis zur Hüfte offen waren. Darüber Köpfe, die in Schläfenhöhe glatt rasiert waren, groteske Gesichter mit dickem Make-up, das ihren unergründlichen asiatischen Charakter unterstrich. Und wie um den Konflikt zwischen Ost und West zu betonen, brach die Musik immer wieder überraschend ab, und dann drangen aus einem einzigen Instrument die klagenden Töne einer einfachen chinesischen Melodie, während die Gestalten auf der Bühne wie erstarrt in den Scheinwerferbündeln innehielten.

Der Priester blieb einen Augenblick stehen und sah sich in dem riesigen, überfüllten Raum um. Ein paar Gäste in verschiedenen Stadien der Trunkenheit blickten von ihren Tischen zu ihm auf. Einige ließen Münzen auf ihn zurollen, während sie sich abwandten, und ein paar andere erhoben sich von ihren Stühlen, ließen Hongkong-Dollars neben ihre Gläser fallen und strebten der Tür zu. Der Heshang erzeugte Wirkung, aber nicht die Wirkung, die der fettleibige Mann im Smoking sich wünschte, der jetzt auf ihn zuging.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Heiliger?«, fragte der Manager des Lokals mit lauter Stimme, um sich über der lärmenden Musik Gehör zu verschaffen.

Der Priester beugte sich vor und sagte dem Mann etwas ins Ohr. Die Augen des Managers weiteten sich, dann verbeugte er sich und wies auf einen kleinen Tisch an der Wand. Der Priester nickte seinen Dank und ging hinter dem Mann auf seinen Stuhl zu, während die Gäste in der Umgebung ihn mit Unbehagen zur Kenntnis nahmen.

Der Manager beugte sich zu ihm hinunter und sprach mit einer Ehrfurcht, die er nicht empfand: »Wünschen Sie eine Erfrischung, Heiliger?«

»Ziegenmilch, falls Sie zufällig welche haben sollten. Wenn nicht, ist mir gewöhnliches Wasser recht. Und ich danke Ihnen.«

»Es ist meinem Lokal eine Ehre«, sagte der Mann im Smoking und verbeugte sich. Im Weggehen versuchte er, den Dialekt des anderen einzuordnen; aber das war nicht wichtig. Dieser große Priester im weißen Umhang hatte Geschäfte mit dem Laoban, und das war alles, worauf es ankam. Er hatte tatsächlich den Namen des Laoban ausgesprochen, einen Namen, der auf der Goldenen Meile nur selten fiel. Und an diesem ganz besonderen Abend war der mächtige Taipan anwesend – in einem Raum, zu dessen Existenz er sich niemals öffentlich bekennen würde. Aber es war nicht Aufgabe des Managers, dem Laoban zu sagen, dass der Priester eingetroffen war; der Mann im weißen Gewand hatte daran keinen Zweifel gelassen. Alles sollte an diesem Abend in aller Stille geschehen, darauf hatte er bestanden. Wenn der erhabene Taipan ihn zu sehen wünschte, würde ein Mann herauskommen und ihn finden. So möge es sein; so pflegte es der geheimnisvolle Laoban zu halten, einer der wohlhabendsten, berühmtesten Taipans in Hongkong.

»Lass einen Küchenjungen Ziegenmilch holen«, sagte der Manager unfreundlich zu einem herumstehenden Boy. »Und sag ihm, er soll sich beeilen. Die Existenz seiner stinkenden Nachkommen hängt davon ab.«

Der heilige Mann saß ausdruckslos am Tisch und seine glühenden Augen wirkten jetzt sanfter, beobachteten das närrische Geschehen um ihn, allem Anschein nach ohne es zu verurteilen oder zu akzeptieren; einfach mit dem Mitgefühl eines Vaters, der seine vom Wege abgekommenen und doch ihm lieben Kinder betrachtet.

Plötzlich stach etwas durch die kreisenden Lichter. Ein paar Tische entfernt wurde ein Streichholz angerissen und schnell wieder ausgelöscht. Dann ein zweites und schließlich ein drittes; Letzteres diente dazu, eine lange, schwarze Zigarette anzuzünden. Die dicht aufeinander folgenden Lichtblitze zogen die Aufmerksamkeit des Priesters auf sich. Sein verhüllter Kopf drehte sich langsam der Flamme und dem unrasierten, schlecht gekleideten Chinesen zu, der jetzt den Rauch in sich hineinsog. Ihre Augen begegneten sich. Das Nicken des heiligen Mannes war kaum wahrnehmbar, kaum eine Bewegung, und eine ebenso unauffällige Bewegung antwortete ihm, als das Streichholz verlosch.

Sekunden später stand der Tisch des schäbigen Rauchers in Flammen. Feuer sprang von der Tischfläche hoch und breitete sich blitzschnell über alle Papiergegenstände auf der Tischplatte aus – Servietten, Speisekarten, Dim-Sum-Körbe. Der Chinese schrie und warf den Tisch um, während die Kellner kreischend auf das Feuer zurannten. Die Gäste ringsum sprangen auf, als die schmalen blauen Flammenzungen wie Bäche über den Boden huschten, um die erregten, stampfenden Füße herum. Alles ging drunter und drüber, als die Leute mit Tischtüchern und Schürzen die Flammen ausschlugen. Der Manager und seine Bediensteten gestikulierten wild, schrien, alles sei unter Kontrolle, es bestehe keine Gefahr. Die Rock-Band spielte noch lauter, im verzweifelten Versuch, die Gäste aus ihrer Panik herauszureißen.

Da aber ging es erst richtig los. Zwei Kellner waren mit dem schäbig gekleideten Zhongguo ren zusammengestoßen, dessen Unvorsichtigkeit und zu große Zündhölzer das Feuer entfacht hatten. Er reagierte darauf mit schnellen Wing-Chun- Schlägen – Handkantenschlägen gegen Schlüsselbein und Hals –, während seine Füße in ihre Leiber traten und die zwei Shi-ji zurücktaumeln ließen. Der vierschrötige Manager mischte sich schreiend ein, taumelte dann aber zurück, von einem Tritt in den Brustkasten getroffen. Der unrasierte Zhongguo ren schnappte sich einen Stuhl und drosch damit auf drei weitere Kellner ein, die sich in das Getümmel gestürzt hatten, um ihren Zongguan zu verteidigen. Männer und Frauen, die noch vor wenigen Sekunden bloß geschrien hatten, schlugen jetzt wild um sich. Die Rock-Band holte das Letzte aus sich heraus und erzeugte Dissonanzen, die der Szene würdig waren. Das ganze Lokal war in hellem Aufruhr, und der stämmige Bauer sah sich im Saal um und suchte den Tisch an der Wand. Der Priester war verschwunden.

Der Zhongguo ren griff sich einen zweiten Stuhl und zerschmetterte ihn auf dem Tisch neben sich. Dann schleuderte er ein angebrochenes Stuhlbein in die Menge. Jetzt ging es um wenige Augenblicke, aber diese Augenblicke waren wichtig.

 

Der Priester trat durch die Tür ganz hinten in der Wand beim Eingang. Er zog sie hinter sich zu und versuchte, seine Augen dem schwachen Licht in dem langen, schmalen Korridor anzupassen. Sein rechter Arm unter den Falten seines weißen Kaftans war steif, der linke lag ebenfalls unter dem weißen Tuch, schräg über seiner Hüfte. Am anderen Ende des Korridors, höchstens acht Meter entfernt, stieß sich ein Mann erschreckt von der Wand ab; seine rechte Hand griff unter sein Jackett und riss einen großkalibrigen Revolver aus einem Schulterhalfter. Der heilige Mann nickte ein paarmal langsam, während er sich mit gemessenen Schritten wie in einer Prozession weiterbewegte.

»Amita-fo, Amita-fo«, sagte er leise immer wieder, während er auf den Mann zuging. »Alles ist friedlich, alles ist in Frieden. Die Geister wollen es so.«

»Jou matyeh?« Der Wächter stand neben einer Tür; jetzt hob er die Waffe und fuhr in kehligem kantonesischem Dialekt fort: »Haben Sie sich verlaufen, Priester? Was machen Sie hier? Gehen Sie hinaus! Dies ist kein Ort für Sie!«

»Amita-fo, Amita-fo …«

»Hinaus! Los!«

Der Wächter hatte keine Chance. Der Priester holte blitzschnell ein rasiermesserdünnes, beiderseits geschliffenes Messer unter seinem Gewand hervor, zog es dem Mann über das Handgelenk und schnitt die Hand mit der Waffe halb vom Arm ab. Dann zog er die Klinge mit der Präzision eines Chirurgen über die Kehle des Mannes; Luft und Blut schossen hervor, während der Kopf in einem Schwall leuchtenden Rots nach hinten kippte. Als der Mann zu Boden fiel, war er bereits tot.

Der Mörder-Priester schob das blutbesudelte Messer in seinen Kaftan zurück und zog eine zerbrechlich aussehende Uzi-Maschinenpistole unter seinem Umhang hervor, deren Magazin mehr Munition enthielt, als er brauchen würde. Er hob den Fuß, trat gegen die Tür und stürzte hinein, um das zu finden, was er dort zu finden erwartet hatte.

Fünf Männer – Zhongguo ren – saßen um einen Tisch, vor sich Teekannen und Whiskygläser; nirgends war ein Blatt Papier zu sehen, keine Notizen oder Schriftstücke – nur Ohren und aufmerksame Augen. Und als die Augenpaare erschreckt aufblickten, verzerrten sich die Gesichter in Panik. Zwei der gut gekleideten Männer griffen in ihre maßgeschneiderten Jacketts, während sie aufsprangen; ein anderer warf sich unter den Tisch, während die restlichen zwei schreiend auf die seidentapezierten Wände zustürzten und sich dann verzweifelt umdrehten, Gnade suchten und doch wussten, dass sie keine finden würden. Eine knatternde Salve zerfetzte ihre Leiber. Blut spritzte aus ihren Wunden, als ihre Schädel zerschmettert, ihre Augen zerfetzt und ihre Münder zerrissen wurden, grellrot im halb erstickten Todesschrei. Wände, Boden und polierte Tischplatten glänzten in schrecklichem Rot, ein blutiger Beweis des Todes. Überall. Und dann war es vorbei.

Der Killer betrachtete sein Werk. Zufrieden kniete er neben einer Blutlache nieder und zog den Zeigefinger durch die rote Flüssigkeit. Dann holte er ein Stück dunkles Tuch aus dem linken Ärmel und breitete es über sein Werk. Er stand auf und eilte hinaus, knöpfte den weißen Kaftan auf, während er durch den düsteren Korridor rannte; als er die Tür zu dem Variéte erreicht hatte, war der Umhang offen. Er zog das Messer aus dem Tuch und schob es in eine Scheide am Gürtel. Dann machte er die Tür auf, das Tuch zusammenhaltend und darauf achtend, dass die Kapuze seinen Kopf bedeckte und die tödliche Waffe sicher an seiner Seite verwahrt war. Das Chaos drinnen toste noch so wie eben. Er hatte den Raum erst vor dreißig Sekunden verlassen, und sein Mann war gut geschult.

»Faai di!« Der Ruf kam von dem unrasierten Bauern aus Kanton; er war drei Meter entfernt und gerade damit beschäftigt, noch einen Tisch umzukippen und ein Streichholz anzureißen, das er auf den Boden fallen ließ. »Die Polizei wird gleich hier sein! Der Barkeeper hat gerade telefoniert – ich hab ihn gesehen!«

Der Killer-Priester riss sich den Kaftan herunter und die Kapuze vom Kopf. In den wild kreisenden Lichtern sah sein Gesicht ebenso gespenstisch aus wie das der Musiker auf der Bühne. Dickes Make-up betonte seine Augen; ihre Konturen waren in Weiß nachgezogen, wogegen sein Gesicht unnatürlich braun geschminkt war. »Geh vor mir!«, befahl er dem Bauern. Er ließ seinen Umhang und die Uzi neben der Tür auf den Boden fallen, holte ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche und steckte sie in seine Flanellhose.

Für ein Variéte an der Goldenen Meile war es kein leichter Entschluss, die Polizei zu rufen. Die Strafen für schlechte Leitung waren hoch und auf die Gefährdung von Touristen standen hohe Geldstrafen. Die Polizei reagierte deshalb schnell, wenn man sie rief. Der Killer rannte hinter dem Bauern aus Kanton her, der sich in die panikerfüllte Menschentraube am Eingang zwängte und schrie, dass er hinauswolle. Er war wie ein Bulle, und so fiel es ihm nicht schwer, sich Platz zu verschaffen. Wächter und Killer drängten sich auf die Straße hinaus, wo sich ebenfalls eine Menschentraube gesammelt hatte, die wild durcheinander schrie. Sie bahnten sich ihren Weg durch die erregten Gaffer, wobei sich ihnen der kleine, muskulöse Chinese anschloss, der draußen gewartet hatte. Er packte seinen jetzt nicht mehr mit dem weißen Umhang bekleideten Priester und zerrte ihn in eine schmale Gasse, wo er zwei Tücher unter seinem Umhang herauszog; das eine war weich und trocken, das andere in einer Plastikhülle verschweißt, und es war warm und feucht und parfümiert.

Der Mörder packte das nasse Tuch und rieb sich damit über das Gesicht, die Augenhöhlen und den Hals, drehte das Tuch um und rieb sich die Schläfen und den Haaransatz, bis seine weiße Haut sichtbar wurde. Danach trocknete er sich mit dem zweiten Tuch ab, glättete sein dunkles Haar und zog sich die Regimentskrawatte unter dem dunkelblauen Blazer zurecht. »Jau!«, befahl er seinen beiden Begleitern. Sie rannten davon und verschwanden in der Menge.

Und dann trat ein gutgekleideter Weißer allein auf die Straße asiatischer Vergnügungen hinaus.

 

Der erregte Manager des Varietés beschimpfte inzwischen den Barkeeper, der die Jing cha gerufen hatte; die Strafe würde er ihm vom Lohn abziehen! Unerklärlicherweise hatte sich nämlich der ganze Aufruhr gelegt und unter den Gästen machte sich Verblüffung breit. Etliche Kellner waren damit beschäftigt, die Gäste zu besänftigen, ihnen auf die Schulter zu klopfen und die Scherben wegzuräumen, während andere die Tische zurechtrückten, neue Stühle holten und Gratis-Whisky ausschenkten. Die Rock-Band konzentrierte sich auf die augenblicklichen Hits, und ebenso schnell, wie die Ordnung gestört worden war, wurde sie wieder hergestellt. Mit etwas Glück, dachte der Manager, würde er bei der Polizei mit seiner Erklärung durchkommen, dass ein übereifriger Barkeeper einen händelsüchtigen Betrunkenen zu ernst genommen hatte.

Doch plötzlich war jeder Gedanke an Bußgeld und Polizei wie weggefegt, als sein Blick auf ein weißes Stoffbündel am Boden fiel – vor der Tür zu den hinteren Büros. Weißes Tuch – der Priester? Die Tür! Der Laoban! Die Konferenz! Kurzatmig, das Gesicht schweißüberströmt, rannte der fettleibige Manager zwischen den Tischen durch auf den weggeworfenen Kaftan zu. Er kniete nieder, die Augen geweitet, atemlos, und sah jetzt den dunklen Lauf einer fremdartigen Waffe aus dem weißen Tuch hervorragen. Und dann war ihm, als schlösse sich ein Würgegriff um seinen Hals, als er die winzigen Flecken und dünnen Streifen von glänzendem, noch nicht ganz getrocknetem Blut erkannte, die das Tuch besudelten.

»Go hai matyeh?« Ein zweiter Mann, der ebenfalls einen Smoking trug, stellte die Frage, nur das Fehlen des Kummerbunds verriet seinen niedrigeren Status – es war der Bruder des Managers und zugleich sein erster Assistent. »Verdammter Jesus der Christen!«, fluchte er halblaut, während sein Bruder die seltsam aussehende Waffe und den fleckigen weißen Kaftan aufhob.

»Komm!« , befahl der Manager, richtete sich auf und strebte der Tür zu.

»Die Polizei!«, wandte der Bruder ein. »Einer von uns sollte mit ihnen reden, sie beruhigen, tun, was in unserer Macht steht.«

»Vielleicht können wir gar nichts tun – bloß unseren Kopf hinhalten! Schnell!«

Und dann fanden sie im schwach beleuchteten Korridor den Beweis. Der tote Wächter lag in einer Blutlache, die Waffe in der verkrampften Hand, die kaum noch an seinem Handgelenk hing. Und im Konferenzraum war der Beweis dann endgültig: fünf blutige Leichen, verkrümmt, wie der Tod sie ereilt hatte, deren eine den Manager zusammenzucken ließ. Er näherte sich der Leiche mit dem von Kugeln zerschmetterten Schädel. Mit dem Taschentuch wischte er das Blut weg und starrte das Gesicht an.

»Wir sind erledigt«, flüsterte er. »Kowloon ist erledigt, Hongkong ist erledigt. Alles ist erledigt.«

»Was?«

»Dieser Mann ist der Vizepremier der Volksrepublik, der Nachfolger unseres Vorsitzenden.«

»Hier! Schau!« Der Bruder und erste Assistent stürzte sich auf die Leiche des Laoban. Neben der von Kugeln zerfetzten, blutenden Leiche lag ein schwarzes Halstuch; es lag flach da und rote Flecken verfärbten das Tuch mit dem weißen Muster. Der Bruder hob es auf und stöhnte dann, als er die Schrift im Kreis aus Blut darunter sah: JASON BOURNE.

Der Manager war mit einem Satz neben ihm. »Allmächtiger Christenheiland!«, stieß er hervor und zitterte am ganzen Körper. »Er ist zurückgekehrt. Der Meuchelmörder ist nach Asien zurückgekehrt! Jason Bourne! Er ist wieder da!«

2.

Die Sonne versank hinter den Sangre-de-Cristo-Bergen in Zentral-Colorado, während der Cobra-Helikopter aus dem grellen Lichtschein heranschoss – eine mächtige Silhouette – und dann stotternd auf den Waldrand zu heruntersank. Der Betonlandestreifen war gut hundert Meter von einem großen, rechteckigen Haus aus schwerem Holz und dickem Glas entfernt. Außer Generatoren und getarnten Satellitenantennen waren keine Einzelheiten zu erkennen. Hohe Bäume bildeten eine dichte Wand und schirmten das Haus vor ungebetenen Blicken ab. Die Piloten der äußerst wendigen Hubschrauber rekrutierten sich aus dem Offizierskorps des Cheyenne-Komplexes in Colorado Springs. Keiner hatte einen niedrigeren Rang als den eines Colonels, und jeder Einzelne war vom Nationalen Sicherheitsrat in Washington überprüft und freigestellt worden. Über ihre Flüge zu dem geheimen Ort in den Bergen sprachen sie nie, und ihr Bestimmungsort wurde auf den Flugplänen stets unkenntlich gemacht. Ihre eigentlichen Einsatzorders erhielten sie über Funk erst dann, wenn sich ihre Hubschrauber in der Luft befanden. Die Anlage war auf den der Öffentlichkeit zugänglichen Landkarten nicht verzeichnet, und ihre Fernmeldeanlagen waren weder für Verbündete noch Feinde zugänglich. Totale Sicherheit also, so, wie es sein musste. Dies war ein Ort für Strategen, deren Arbeit von so eminenter Bedeutung für die ganze Welt war, dass man die Planer weder außerhalb der Regierungsgebäude noch in den Gebäuden selbst zusammen sehen durfte, und ganz sicher auch nie in nebeneinander liegenden Büros mit Verbindungstüren. Überall gab es neugierige Augen – von Freund und Feind –, die von der Arbeit dieser Männer wussten. Und wenn man sie zusammen beobachtete, so würde das dazu führen, dass Alarm ausgelöst wurde. Der Feind war wachsam, und die Verbündeten hielten eifersüchtig Wacht über ihre eigenen Abwehrfürsten.

Die Türen der Cobra gingen auf. Eine stählerne Leiter klappte herunter, und ein sichtlich verwirrter Mann kletterte ins Scheinwerferlicht heraus. Ein Generalmajor in Uniform begleitete ihn. Der Zivilist war ein Mann in mittleren Jahren, schlank und mittelgroß, in Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und einer Krawatte in Paisley-Muster. Selbst im Wind der Rotorblätter wirkte er wie aus dem Ei gepellt, so als ginge ihm ein makelloses Aussehen über alles. Er folgte dem Offizier einen mit Betonplatten belegten Weg hinunter auf das Haus zu. Die Tür öffnete sich vor den beiden Männern. Aber nur der Zivilist trat ein; der General nickte eine jener formlosen Ehrenbezeigungen, wie sie unter alten Soldaten für Nichtmilitärs und Offiziere des eigenen Ranges üblich sind.

»Nett, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr. McAllister«, sagte der General. »Jemand anders wird Sie zurückbringen.«

»Sie kommen nicht mit herein?«, fragte der Zivilist.

»Ich bin noch nie drin gewesen«, erwiderte der Offizier und lächelte. »Ich vergewissere mich nur Ihrer Identität und bringe Sie von Punkt B nach Punkt C.«

»Scheint mir eine Vergeudung hohen Ranges, General.«

»Ist es wahrscheinlich nicht«, meinte der Soldat, ohne weiter darauf einzugehen. »Aber ich habe natürlich auch andere Pflichten. Wiedersehn!«

McAllister trat ein und befand sich in einem langen, vertäfelten Korridor. Er wurde jetzt von einem freundlich blickenden, gut gekleideten, breitschultrigen Mann begleitet, dem man den Sicherheitsbeamten ansah – körperlich schnell und fähig, in jeder Menschenmenge unterzutauchen.

»Hatten Sie einen angenehmen Flug, Sir?«, fragte der jüngere Mann.

»Hat man das in diesen Kisten je?«

Der andere lachte. »Hier entlang, bitte, Sir.«

Sie gingen den Korridor hinunter, an einigen Türen vorbei, bis ans Ende mit größeren Doppeltüren und zwei roten Lichtern in der linken und rechten oberen Ecke: separat geschalteten Kameras. Edward McAllister hatte solche Anlagen nicht mehr gesehen, seit er vor zwei Jahren Hongkong verlassen hatte; und auch damals nur, weil er kurze Zeit für die britische Abwehr MI-6, Special-Branch, als Berater tätig gewesen war. In Bezug auf Sicherheit hatten die Briten auf ihn immer paranoid gewirkt. Er hatte diese Leute nie begriffen, ganz besonders dann nicht mehr, als sie ihm wegen seiner minimalen Beteiligung an Sachen, die sie fest im Griff hätten haben sollen, einen Orden verliehen hatten. Sein Begleiter klopfte an die Tür. Ein leises Klicken war zu hören, dann öffnete er die rechte Türhälfte.

»Ihr anderer Gast, Sir«, sagte der breitschultrige Mann.

»Vielen Dank«, erwiderte eine Stimme. Der erstaunte McAllister erkannte sie sofort aus Dutzenden von Radio-und Fernsehsendungen über viele Jahre. Da war der Tonfall einer teuren Schule und einiger Universitäten von Rang und schließlich das Produkt einer längeren Tätigkeit auf den Britischen Inseln. Aber es blieb ihm keine Zeit zur Reaktion. Der grauhaarige, makellos gekleidete Mann mit dem von Furchen durchzogenen, schmalen Gesicht, das an seinen reichlich siebzig Jahren keinen Zweifel ließ, erhob sich hinter seinem großen Schreibtisch und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Herr Staatssekretär, sehr liebenswürdig von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Raymond Havilland.«

»Ich kenne Sie sehr wohl, Herr Botschafter. Das ist eine hohe Ehre für mich, Sir.«

»Botschafter ohne Portefeuille, McAllister, und das bedeutet, dass gar nicht so viel Ehre übrig geblieben ist. Aber immerhin noch Arbeit.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendein Präsident der Vereinigten Staaten die letzten zwanzig Jahre ohne Sie überleben konnte.«

»Einige haben sich durchgewurschtelt, Herr Staatssekretär; aber mit Ihrer Erfahrung, vermute ich, wissen Sie das besser als ich.« Der Diplomat sah sich um. »Ich möchte Sie gern mit Jack Reilly bekannt machen. Jack ist einer von diesen hervorragend informierten Leuten im Nationalen Sicherheitsrat, von denen wir gar nichts wissen dürften. Aber eigentlich jagt er einem überhaupt keine Angst ein – oder?«

»Das will ich doch hoffen«, sagte McAllister und ging auf Reilly zu, der sich aus einem der zwei ledernen Besuchersessel erhoben hatte. »Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Reilly.«

»Herr Staatssekretär«, sagte der etwas dickleibige Mann mit den roten Haaren und der mit Sommersprossen bedeckten Stirn. Die Augen hinter seiner Nickelbrille strahlten keine Freundlichkeit aus – sie waren scharf und kalt.

»Mr. Reilly ist hier«, fuhr Havilland fort und begab sich wieder hinter seinen Schreibtisch, »um dafür zu sorgen, dass ich keine Dummheiten mache.« Mit einer Handbewegung bot er McAllister den Sessel zu seiner Rechten an. »So wie ich das begreife, bedeutet das, dass es einige Dinge gibt, die ich sagen darf, und andere, die ich nicht sagen darf, und bestimmte Dinge, die nur er sagen darf.« Der Botschafter setzte sich. »Wenn Ihnen das rätselhaft erscheint, Herr Staatssekretär, so muss ich Ihnen leider gestehen, dass ich im Augenblick nicht mehr anzubieten habe.«

»Alles, was sich in den letzten fünf Stunden ereignet hat, ehe ich den Befehl erhielt, mich zum Luftwaffenstützpunkt Andrews zu begeben, war ziemlich rätselhaft, Herr Botschafter. Ich habe keine Ahnung, weshalb man mich hierhergebracht hat.«

»Dann gestatten Sie mir, dass ich Ihnen das in etwa erkläre«, sagte der Diplomat, warf Reilly einen Blick zu und lehnte sich über seinen Schreibtisch nach vorn. »Sie befinden sich in einer Position, in der Sie Ihrem Land einen außergewöhnlichen Dienst erweisen – und Interessen, die weit über dieses Land hinausgehen – in einem Maße, das alles übersteigt, was Sie sich vielleicht während Ihrer langen, ausgezeichneten Laufbahn träumen lassen.«

McAllister musterte das aristokratische Gesicht des Botschafters und wusste nicht recht, wie er antworten sollte. »Meine Laufbahn im Außenministerium hat mich sehr befriedigt und war, wie ich hoffe, auch professionell, man kann sie aber wohl kaum auch nur im weitesten Sinne als hervorragend bezeichnen. Um es ganz offen zu sagen, hat sich dafür nie eine Gelegenheit geboten.«

»Jetzt hat sich Ihnen aber eine geboten«, unterbrach Havilland. »Und Sie sind in einmaliger Weise dazu qualifiziert, diese Gelegenheit zu ergreifen.«

»In welcher Weise? Warum?«

»Der Ferne Osten«, sagte der Diplomat mit eigenartiger Betonung, als könnte die Antwort selbst eine Frage sein. »Sie haben dem Außenministerium mehr als zwanzig Jahre lang angehört, seit Sie in Harvard Ihren Doktor in Orientalistik gemacht haben. Sie haben Ihrer Regierung viele Jahre im auswärtigen Dienst in Asien in höchst lobenswerter Weise gedient, und seit Sie von Ihrem letzten Posten zurückgekehrt sind, haben sich Ihre Ratschläge für die Formulierung der Politik in jenem geplagten Teil der Welt als außergewöhnlich wertvoll erwiesen. Sie gelten als brillanter Analytiker.«

»Ich weiß das, was Sie sagen, zu schätzen – aber in Asien waren auch andere. Viele andere, die gleiche und auch höhere Positionen als ich eingenommen haben.«

»Zufälligkeiten, Herr Staatssekretär. Wir wollen offen sein. Sie haben Ihre Sache gut gemacht.«

»Aber was unterscheidet mich von den anderen? Warum eigne ich mich bei dieser Gelegenheit besser als sie?«

»Weil Ihnen als Spezialist für die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik China keiner das Wasser reichen kann – ich glaube, Sie haben in der Handelskonferenz zwischen Washington und Peking eine entscheidende Rolle gespielt. Außerdem hat keiner von den anderen sieben Jahre in Hongkong verbracht.« An dieser Stelle machte Raymond Havilland eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Schließlich ist keiner unserer Mitarbeiter in Asien je vom MI-6 der britischen Regierung dort unten akzeptiert worden.«

»Ich verstehe«, sagte McAllister und begriff, dass jene letzte Qualifikation, die ihm als die unwichtigste erschienen war, für den Diplomaten eine gewisse Bedeutung hatte. »Meine Arbeit beim Nachrichtendienst war unbedeutend, Herr Botschafter. Dass der MI-6 mich akzeptiert hat, beruht eher auf dem – äh – geringen Informationsstand jener Behörde als auf besonderen Talenten meiner Person. Diese Leute hatten sich einfach die falschen Fakten herausgesucht und daraus eine Summe gebildet, die keinen Sinn ergab. Es dauerte nicht lange, um die ›korrekten Zahlen‹ zu finden, wie Sie das formulierten.«

»Sie haben Ihnen vertraut, McAllister. Sie vertrauen Ihnen immer noch.«

»Ich nehme an, dass jenes Vertrauen für diese Gelegenheit  – worin auch immer sie bestehen mag – von besonderer Bedeutung ist.«

»In sehr hohem Maße. Von vitaler Bedeutung sogar.«

»Darf ich dann erfahren, was das für eine Gelegenheit ist?«

»Das dürfen Sie.« Havilland warf dem Mann vom Nationalen Sicherheitsrat einen Blick zu. »Falls Sie das wollen«, fügte er hinzu.

»Also bin ich jetzt an der Reihe«, sagte Reilly nicht unfreundlich. Er verlagerte sein Gewicht in dem Sessel und sah McAllister an, mit Augen, die immer noch starr waren, aber jetzt nicht mehr die Kälte wie vorher ausstrahlten – so als würde er jetzt um Verständnis bitten wollen. »Im Augenblick wird alles, was wir hier sprechen, aufgezeichnet – Sie haben das verfassungsmäßige Recht, das zu wissen – aber das ist ein zweiseitiges Recht. Sie müssen sich an Eides Statt verpflichten, die Ihnen hier vermittelte Information absolut geheim zu halten, nicht nur im Interesse der nationalen Sicherheit, sondern auch im weiteren und mutmaßlich größeren Interesse einer ganz speziellen Weltlage. Ich weiß, dass das so klingt, als wollte ich Ihnen damit Appetit machen, aber so ist es nicht gemeint. Wir meinen es wirklich ernst. Nehmen Sie die Bedingung an? Wenn Sie den Eid verletzen, können Sie vor Gericht gestellt werden – Geheimprozess unter den Statuten der nationalen Sicherheit.«

»Wie kann ich eine solche Bedingung annehmen, wenn ich keine Ahnung habe, worin die Information besteht?«

»Weil ich Ihnen einen kurzen Überblick geben kann, der es Ihnen ermöglichen wird, Ja oder Nein zu sagen. Wenn Sie Nein sagen, wird man Sie aus diesem Raum geleiten und nach Washington zurückfliegen. Niemand wird dabei etwas verlieren.«

»Fahren Sie fort.«

»Gut«, sagte Reilly ruhig. »Sie werden über gewisse Ereignisse sprechen müssen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben – nicht in der fernen, historischen Vergangenheit, aber auch ganz bestimmt nicht in den letzten Monaten. Die Vorgänge selbst sind dementiert worden – oder, um es genauer zu sagen, begraben. Klingt das vertraut, Herr Staatssekretär?«

»Ich bin Mitarbeiter des Außenministeriums. Wir vergraben die Vergangenheit, wenn es keinen vernünftigen Zweck erfüllt, sie zu enthüllen. Umstände ändern sich. Entscheidungen, die gestern guten Glaubens gefällt wurden, sind morgen oft ein Problem. Wir können diese Veränderungen ebenso wenig wie die Sowjets oder die Chinesen kontrollieren.«

»Wohl gesprochen!«, sagte Havilland.

»Nein, bis jetzt noch nicht«, wandte Reilly ein und hob die Hand. »Der Herr Staatssekretär ist sichtlich ein erfahrener Diplomat – er hat weder Ja noch Nein gesagt.« Der Mann vom Sicherheitsrat sah McAllister erneut an, und die Augen hinter den Brillengläsern waren wieder scharf und kalt. »Also, wie steht’s, Herr Staatssekretär? Wollen Sie mitmachen  – oder wollen Sie gehen?«

»Ein Teil von mir möchte aufstehen und, so schnell ich kann, weggehen«, sagte McAllister und sah die beiden Männer abwechselnd an. »Der andere Teil will bleiben.« Er hielt inne, und sein Blick saugte sich an Reilly fest. Und dann fügte er hinzu: »Ob das nun Ihre Absicht war oder nicht – Sie haben mich neugierig gemacht.«

»Sie müssen für Ihre Neugierde einen verdammt hohen Preis bezahlen«, erwiderte der Ire.

»Das ist es nicht allein«, meinte der Staatssekretär leise. »Ich bin ein Profi. Und wenn ich der Mann bin, den Sie haben wollen, dann habe ich doch in Wirklichkeit keine Wahl – oder?«

»Ich muss leider darauf bestehen, dass Sie es aussprechen«, sagte Reilly. »Soll ich Ihnen vorsprechen?«

»Das ist nicht nötig.« McAllister runzelte nachdenklich die Stirn und sagte dann: »Ich, Edward Newington McAllister, bin mir völlig darüber im Klaren, dass alles, was während dieser Besprechung gesagt wird …« Er hielt inne und sah Reilly an. »Ich nehme an, Sie werden Einzelheiten hinzufügen, also Zeit und Ort und Anwesende?«

»Datum, Ort, Stunde und Minute Ihres Eintritts und Identifikation – das ist alles bereits geschehen und registriert.«

»Danke! Ich möchte eine Kopie, ehe ich hier weggehe.«

»Selbstverständlich.« Ohne die Stimme zu erheben, blickte Reilly vor sich und erteilte leise eine Anordnung: »Bitte, notieren. Kopie dieses Bandes für Subjekt bei Abreise bereithalten, ebenso die notwendigen Geräte, die ihm die Möglichkeit verschaffen, den Inhalt hier zu überprüfen. Ich werde die Kopie abzeichnen … Fahren Sie fort, Mr. McAllister.«

»Ich danke Ihnen.… In Bezug auf alles, was bei dieser Unterredung gesagt wird, akzeptiere ich die Bedingung der Nichtweitergabe. Ich werde niemandem gegenüber über irgendwelche Punkte dieser Unterhaltung sprechen, sofern ich nicht dazu persönliche Anweisung von Botschafter Havilland erhalte. Außerdem ist mir bewusst, dass ich im Falle von Zuwiderhandlungen vor Gericht gestellt werden kann. Für den Fall, dass es zu einem solchen Verfahren kommen sollte, behalte ich mir allerdings das Recht vor, mich nur meinen Anklägern persönlich und nicht etwa ihren Aussagen oder Niederschriften zu stellen. Ich füge das hinzu, da ich mir keine Umstände vorstellen kann, unter denen ich den soeben geleisteten Eid verletzen können oder wollen sollte.«

»Es gibt solche Umstände, sollten Sie wissen«, sagte Reilly ruhig.

»Nicht bei mir.«

»Extreme körperliche Folter, Chemikalien oder irgendwelche raffinierten Machenschaften von Männern oder Frauen, die wesentlich erfahrener als Sie sind. Es gibt solche Mittel und Wege, Herr Staatssekretär.«

»Ich wiederhole: Sollte mir je ein Prozess gemacht werden  – und das ist schon anderen widerfahren –, behalte ich mir das Recht vor, mich persönlich allen und jedem Ankläger zu stellen.«

»Das reicht uns.« Wieder blickte Reilly geradeaus und sagte: »Schließen Sie dieses Band ab und ziehen Sie den Stecker heraus. Bestätigen.«

»Bestätigt«, sagte eine gespenstische Stimme aus einem Lautsprecher irgendwo an der Decke. »Sie sind jetzt … draußen.«

»Fahren Sie fort, Herr Botschafter«, sagte der Rothaarige. »Ich werde Sie nur unterbrechen, wenn ich das für notwendig halte.«

»Ganz sicher werden Sie das, Jack.« Havilland wandte sich McAllister zu. »Ich nehme das zurück, was ich vorher gesagt habe; er ist wirklich schrecklich. Nach vierzig Dienstjahren sagt mir da ein rothaariger Grashüpfer, der eigentlich eine Entfettungskur machen sollte, wann ich den Mund halten soll.«

Die drei Männer lächelten; der alte Diplomat wusste, wann und wie man Spannungen abbaute. Reilly schüttelte den Kopf und hob beide Hände. »Das würde ich niemals tun, Sir – jedenfalls nicht so offensichtlich.«

»Was meinen Sie, McAllister? Laufen wir doch nach Moskau über und sagen, er hätte uns angeworben. Der Iwan würde uns beiden wahrscheinlich Datschas geben, und Reilly würde dann in Leavenworth sitzen.«

»Sie würden die Datscha bekommen, Herr Botschafter. Ich würde mir mit zwölf Sibiriern eine Wohnung teilen müssen. Nein, danke, Sir. Mich wird er nicht unterbrechen.«

»Sehr gut. Mich wundert bloß, dass keiner dieser wohlmeinenden Kurpfuscher im Oval Office Sie sich je für seinen Stab geschnappt hat – oder Sie wenigstens in die UN geschickt hat.«

»Die wussten ja nicht, dass es mich gibt.«

»Das wird sich allerdings ändern«, sagte Havilland, plötzlich ernst werdend. Dann hielt er inne, starrte den Staatssekretär an und senkte die Stimme. »Haben Sie je den Namen Jason Bourne gehört?«

»Wie könnte irgendjemand, der in Asien tätig war, diesen Namen nicht gehört haben?«, fragte McAllister verblüfft. »Fünfunddreißig bis vierzig Morde – der bezahlte Meuchelmörder, der sich jeder Falle entwunden hat, die man ihm je gestellt hat. Ein pathologischer Killer, dessen einzige Moral im Preis des einzelnen Mordes bestand. Es heißt, er sei Amerikaner gewesen – sei Amerikaner; ich weiß nicht – er ist irgendwie untergetaucht –, und er sei ein abtrünniger Priester gewesen und ein Importeur, der Millionen gestohlen habe, und ein Deserteur der französischen Fremdenlegion. Und der Himmel allein weiß, wie viele andere Geschichten sonst noch über ihn in Umlauf sind. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass man ihn nie gefangen hat und dass das unsere Diplomatie überall im Fernen Osten schwer belastet hat.«

»Gab es irgendein Schema für seine Opfer?«

»Nein, das gab es nicht. Alles geschah ganz willkürlich. Zwei Bankiers hier, drei Attachés dort – also CIA; ein Staatsminister aus Delhi, ein Industrieller aus Singapur und zahlreiche – viel zu viele – Politiker, im Wesentlichen anständige Männer. Man hat ihre Autos auf der Straße in die Luft gejagt, ihre Wohnungen in die Luft gesprengt. Dann gab es ungetreue Ehemänner und Frauen und Liebhaber der verschiedensten Art in verschiedenen Skandalen; er bot Endlösungen für verletzte Eitelkeiten. Keiner war sicher vor ihm; keine Methode war ihm zu brutal oder zu niederträchtig … Nein, ein Schema hat es nicht gegeben, nur Geld. Er stand immer dem Höchstbietenden zur Verfügung. Er war ein Monstrum – ist ein Monstrum, wenn er noch am Leben ist.«

Wieder beugte sich Havilland vor, und seine Augen musterten McAllister scharf. »Sie sagen, er sei untergetaucht. Einfach so? Ist Ihnen nie irgendetwas zugetragen worden – keine Gerüchte von unseren Botschaften in Asien oder den Konsulaten?«

»Natürlich wurde geredet, aber Bestätigungen gab es nie. Die Geschichte, die ich am häufigsten hörte, kam von der Polizei in Macao, wo Bourne angeblich zuletzt gesehen wurde. Es hieß, er sei nicht tot und habe sich auch nicht zurückgezogen, sondern sei nach Europa gegangen, um sich dort wohlhabendere Klienten zu suchen. Wenn das stimmt, könnte das möglicherweise nur die Hälfte der Geschichte sein. Die Polizei behauptete auch, sie habe von Informanten gehört, dass Bourne ein paar Kontrakte schief gelaufen seien; dass er in einem Fall den falschen Mann getötet habe, eine führende Persönlichkeit in der Unterwelt von Malaysia. Und in einem anderen Fall heißt es, er habe die Frau eines Klienten vergewaltigt. Vielleicht wurde ihm das Pflaster zu heiß – vielleicht aber auch nicht.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Die meisten von uns haben die erste Hälfte der Geschichte geglaubt, aber die zweite nicht. Bourne würde niemals den falschen Mann umbringen, ganz besonders nicht so jemanden; solche Fehler machte er nicht. Und wenn er die Frau eines Klienten vergewaltigt hat – was höchst zweifelhaft ist –, dann hätte er das aus Hass getan oder um sich zu rächen. Aber dann hätte er den Mann gefesselt und gezwungen, dabei zuzusehen, und sie beide umgebracht. Nein, die meisten von uns hielten mehr von der ersten Version. Er ist nach Europa gegangen, wo es größere Fische zu fangen gab – und zu ermorden.«

»Diese Version sollten Sie auch glauben«, sagte Havilland und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Wie bitte?«

»Der einzige Mann, den Jason Bourne je nach Vietnam in Asien getötet hat, war ein wütender V-Mann, der ihn umzulegen versuchte.«

Verblüfft starrte McAllister den Diplomaten an. »Das verstehe ich nicht.«

»Der Jason Bourne, den Sie gerade beschrieben haben, hat nie existiert. Er war ein Mythos.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Ist es aber. Die Zeiten im Fernen Osten waren damals turbulent. Die Rauschgiftnetze, die vom Goldenen Dreieck aus operierten, führten einen chaotischen Krieg, der nie durchschaut wurde. Konsule, Vizekonsule, Polizei, Politiker, Gangsterbanden, Grenzpatrouillen – sie alle waren darin verwickelt. Geld, und zwar unvorstellbare Beträge, waren die Muttermilch der Korruption. Und jedes Mal und überall, wenn es zu einem solch Aufsehen erregenden Mord kam – ganz gleich, wie die Umstände waren und wem man die Schuld gab –, war Bourne zur Stelle und behauptete, er sei der Täter gewesen.«

»Er war der Täter«, beharrte McAllister etwas verwirrt. »Da waren doch die Zeichen – seine Zeichen. Jeder wusste es!«

»Jeder nahm es an, Herr Staatssekretär. Ein spöttischer Telefonanruf bei der Polizei, irgendein Kleidungsstück, das mit der Post kam, oder ein schwarzes Halstuch, das man am Tag darauf in den Büschen fand. Das war alles Teil der Strategie.«

»Der Strategie? Wovon sprechen Sie?«

»Jason Bourne – der ursprüngliche Jason Bourne – war ein verurteilter Mörder, ein Flüchtling, dessen Leben in den letzten Monaten des Vietnam-Krieges an einem Ort namens Tam Quan mit einer Kugel endete, die man ihm durch den Kopf schoss. Es war eine Dschungelhinrichtung. Der Mann war ein Verräter, und die Leiche ließ man einfach liegen, damit sie verfaulen konnte. Er verschwand einfach. Einige Jahre später übernahm der Mann, der ihn exekutiert hatte, für eines unserer Projekte seine Identität – ein Projekt, das beinahe Erfolg gehabt hätte, das Erfolg hätte haben sollen, aber außer Kontrolle geriet.«

»Was?«

»Außer Kontrolle. Jener Mann – jener sehr tapfere Mann –, der für uns in den Untergrund ging und drei Jahre den Namen ›Jason Bourne‹ benutzte, wurde verwundet, und die Folge seiner Verwundung war Amnesie. Er verlor sein Gedächtnis; er wusste weder, wer er war, noch wer er sein sollte.«

»Du großer Gott!«

»Ja, eine scheußliche Lage. Mit Hilfe eines trunksüchtigen Arztes auf einer Mittelmeerinsel versuchte er seine Identität wiederzufinden und festzustellen, wer er war; und in dem Punkt scheiterte er leider. Er scheiterte, aber die Frau, die ihn liebte, scheiterte nicht; sie ist jetzt seine Frau. Ihre Instinkte rieten ihr das Richtige; sie wusste, dass er kein Killer war. Sie zwang ihn, sich über seine Worte und seine Fähigkeiten klar zu werden und sich dann auf die Kontakte zu besinnen, die ihn zu uns zurückführen sollten. Aber wir, denen der komplizierteste Abwehrapparat auf der ganzen Welt zur Verfügung stand, haben nicht auf den menschlichen Quotienten gehört; wir haben ihm eine Falle gestellt, um ihn zu erledigen …«

»Ich muss Sie unterbrechen, Herr Botschafter«, sagte Reilly.

»Warum?«, fragte Havilland. »Das haben wir schließlich getan – und außerdem werden wir im Augenblick nicht aufgenommen.«

»Die Entscheidung wurde von einem Einzelnen getroffen, nicht von der Regierung der Vereinigten Staaten. Das sollte klar sein.«

»In Ordnung«, nickte der Diplomat. »Sein Name war Conklin, aber das ist belanglos, Jack. Die Regierung hat mitgemacht. Es ist geschehen.«

»Personal der Regierung hatte auch entscheidenden Anteil daran, dass sein Leben gerettet wurde.«

»Etwas später«, murmelte Havilland.

»Aber warum?«, fragte McAllister; er beugte sich vor, von dem bizarren Bericht gebannt. »Er war einer der unseren. Weshalb hätte jemand ihn ausschalten sollen?«

»Man vermutete hinter seinem Gedächtnisverlust etwas anderes. Man war irrtümlich der Meinung, er sei umgedreht worden; dachte, er habe drei seiner Führungsoffiziere getötet und sei mit einem beträchtlichen Betrag verschwunden  – Regierungsgeldern in Höhe von beinahe fünf Millionen Dollar.«

»Fünf Millionen …?« McAllister sank erstaunt in den Sessel zurück. »Ihm persönlich standen derartige Beträge zur Verfügung?«

»Ja«, sagte der Botschafter. »Das gehörte auch mit zur Strategie und war Teil des Projekts.«

»Ich nehme an, dass dies der Punkt ist, wo Schweigen geboten ist. Das Projekt, meine ich.«

»Ja, das ist unerlässlich«, antwortete Reilly. »Nicht wegen des Projekts – trotz allem, was geschehen ist, haben wir keinen Anlass, uns für diese Operation zu entschuldigen, sondern wegen des Mannes, den wir uns geholt haben, damit er Jason Bourne wurde. Und auch wegen des Ortes, von dem er kam.«

»Das klingt sehr geheimnisvoll.«

»Das wird gleich klarer.«

»Das Projekt, bitte!«

Reilly sah Raymond Havilland an; der Diplomat nickte und meinte dann: »Wir haben einen Killer geschaffen, um den gefährlichsten Meuchelmörder von ganz Europa aus der Reserve zu locken und ihm eine Falle zu stellen.«

»Carlos?«

»Sie sind schnell, Herr Staatssekretär.«

»Gab es denn sonst noch jemanden? In Asien hat man Bourne und den Schakal andauernd miteinander verglichen.«

»Das war Absicht«, sagte Havilland. »Die Strategen des Projekts, eine Gruppe mit dem Namen Treadstone Einundsiebzig, haben diesen Vergleich in die Welt gesetzt. Die Gruppe nannte sich nach einem Haus in der Einundsiebzigsten Straße in New York, wo der wiedererweckte Jason Bourne ausgebildet wurde. Das war die Kommandozentrale. Sie sollten sich den Namen merken.«

»Ich verstehe«, meinte McAllister nachdenklich. »Dann waren diese Vergleiche als eine Herausforderung für Carlos gedacht. Und dann ging Bourne nach Europa – um ihn zu zwingen, aufzutauchen und sich dem Herausforderer zu stellen.«

»Sehr schnell, Herr Staatssekretär. In kurzen, dürren Worten war das die Strategie.«

»Außergewöhnlich. Wirklich brillant. Und man braucht kein Fachmann zu sein, um das zu erkennen; das bin ich nämlich weiß Gott nicht.«

»Vielleicht werden Sie einer …«

»Und Sie sagen, dieser Mann, der Bourne, der geheimnisvolle Meuchelmörder, wurde, hat drei Jahre damit verbracht, diese Rolle zu spielen, und wurde dann verletzt …«

»Man hat auf ihn geschossen«, unterbrach Havilland. »Eine Kopfverletzung.«

»Und er hat das Gedächtnis verloren?«

»Völlig.«

»Mein Gott!«

»Und trotz allem, was mit ihm passiert ist, und mit Hilfe dieser Frau – sie war übrigens Volkswirtin und für die kanadische Regierung tätig – hätte er das Ganze um Haaresbreite geschafft. Eine erstaunliche Geschichte, nicht wahr?«

»Unglaublich. Aber was für ein Mann gehört dazu, so etwas zu tun, und wer kann das tun?«

Jack Reilly hustete halblaut, worauf der Botschafter ihm einen Blick zuwarf und verstummte. »Wir kommen jetzt zum kritischen Punkt«, sagte der Aufpasser und rutschte in seinem Sessel herum, um McAllister voll anzusehen. »Wenn Sie die geringsten Zweifel haben, kann ich Sie immer noch gehen lassen.«

»Ich versuche mich nicht zu wiederholen. Sie haben Ihr Band.«

»Ist ja schließlich Ihre Neugierde.«

»Ich nehme an, das ist nur eine andere Formulierung, um zu sagen, dass es vielleicht nicht einmal einen Prozess geben könnte.«

»Das würde ich nie sagen.«

McAllister schluckte und sah dem Mann vom Sicherheitsrat in die Augen. Dann wandte er sich Havilland zu. »Bitte, fahren Sie fort, Herr Botschafter. Wer ist dieser Mann? Woher kam er?«

»Er heißt David Webb. Zurzeit ist er Dozent für Orientalistik an einer kleinen Universität in Maine. Er ist mit der Kanadierin verheiratet, die ihn buchstäblich aus seinem Labyrinth herausgeführt hat. Ohne sie wäre er getötet worden  – andrerseits hätte sie ohne ihn als Leiche in Zürich geendet.«

»Erstaunlich«, sagte McAllister so leise, dass man es kaum hören konnte.

»Tatsächlich ist sie seine zweite Frau. Seine erste Ehe endete tragisch, mit einem sinnlosen Todesfall – an dem Punkt begann seine Geschichte für uns. Vor einigen Jahren war Webb ein junger Beamter des Außenministeriums und in Phnom Penh stationiert, ein brillanter Kenner Asiens, der einige asiatische Sprachen fließend beherrschte und der mit einem Mädchen aus Thailand verheiratet war, das er auf der Universität kennen gelernt hatte. Sie wohnten an einem Fluss und hatten zwei Kinder. Für einen Mann wie ihn war das das ideale Leben; es verband die Erfahrung, die Washington vor Ort brauchte, mit der Chance für sich, in seinem eigenen Museum zu leben. Dann eskalierte der Krieg in Vietnam, und eines Morgens stieß ein einzelner Düsenjäger – welcher Seite er angehörte, weiß keiner genau, aber das hat niemand Webb je gesagt – im Tiefflug herunter und beschoss seine Frau und seine Kinder, während sie im Wasser spielten. Sie wurden von den Kugeln förmlich zerfetzt. Sie trieben ans Ufer, während Webb zu ihnen wollte; er drückte sie an sich und schrie hilflos dem Flugzeug nach, das am Himmel verschwand.«

»Wie schrecklich!«, flüsterte McAllister.

»In dem Augenblick vollzog sich in Webb eine Veränderung; er wurde zu jemandem, der er nie gewesen war und von dem er sich nie hätte träumen lassen, dass er es würde sein können. Er wurde ein Guerillakämpfer, unter dem Namen Delta bekannt.«

»Delta?«, sagte der Staatssekretär. »Ein Guerilla …? Ich fürchte, das verstehe ich nicht.«

»Das können Sie auch nicht verstehen.« Havilland sah zu Reilly hinüber und wandte den Blick dann wieder McAllister zu. »Wie Jack gerade sagte, sind wir jetzt am kritischen Punkt. Webb begab sich, von Zorn und Wut erfüllt, nach Saigon und schloss sich – mit Unterstützung des CIA-Beamten Conklin, der ihn Jahre später zu töten versuchte – einer Geheimorganisation an, die Medusa hieß. Die Leute von Medusa benützten nie Namen, nur die griechischen Buchstaben des Alphabets – Webb wurde Delta Eins.«

»Medusa? Davon habe ich nie gehört.«

»Wir sind jetzt am Punkt«, sagte Reilly. »Die Medusa-Akte ist immer noch geheim, aber wir haben im vorliegenden Fall die Genehmigung für eine beschränkte Freigabe. Bei den Medusa-Einheiten handelte es sich um Leute aus aller Welt, die sowohl den Norden als auch den Süden Vietnams wie ihre Hosentasche kannten. Offen gesagt, handelte es sich bei den meisten um Verbrecher – Schmuggel, Rauschgift, Gold, Waffen, Juwelen, alle Arten von Konterbande. Außerdem um verurteilte Mörder, Flüchtlinge, die man in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte … Und ein paar Kolonisten, deren Geschäfte man konfisziert hatte – wieder von beiden Seiten. Sie verließen sich auf uns – Onkel Sam – und erwarteten, dass wir alle ihre Probleme lösen würden, wenn sie dafür feindliche Gebiete infiltrierten, Leute töteten, die unter dem Verdacht standen, Kollaborateure des Vietcong zu sein, oder ebensolche Dorfhäuptlinge. Es handelte sich um Hinrichtungsteams – Todesschwadronen, wenn Sie so wollen –, und das sagt es so gut, wie man es überhaupt sagen kann, aber wir werden es natürlich nie sagen. Es wurden Fehler gemacht, Millionen gestohlen, und die meisten dieser Leute hätte keine Kulturnation in ihre Armee aufgenommen. Webb auch nicht.«

»Und mit seiner Herkunft, seiner akademischen Ausbildung hat er sich freiwillig einer solchen Gruppe angeschlossen?«

»Sein Motiv war eindeutig«, sagte Havilland. »Für ihn war dieses Flugzeug in Phnom Penh nordvietnamesisch.«

»Einige haben gesagt, er sei ein Irrer gewesen«, fuhr Reilly fort. »Andere behaupteten, er sei ein außergewöhnlicher Taktiker gewesen, der beste Guerilla, den man sich vorstellen konnte, ein Weißer, der wie ein Asiate denken konnte und das aggressivste Team von ganz Medusa führte. Das Kommando in Saigon fürchtete ihn ebenso sehr wie der Feind. Er war unberechenbar; die einzigen Regeln, die er befolgte, waren seine eigenen. Es war, als hätte er seinen ganz persönlichen Rachefeldzug auf die Beine gestellt, um den Mann zu jagen, der jenes Flugzeug gesteuert und sein Leben zerstört hatte. Es wurde sein Krieg; und je gewalttätiger er wurde, desto mehr befriedigte er ihn – oder vielleicht sollte ich sagen, desto näher brachte er ihn seinem eigenen Todeswunsch.«

»Todes …?« Der Staatssekretär ließ das Wort in der Luft hängen.

»Das war die Theorie der meisten damals«, unterbrach der Botschafter.

»Der Krieg endete«, sagte Reilly, »und zwar für Webb – oder Delta – ebenso katastrophal wie für uns alle anderen auch. Vielleicht sogar schlimmer; für ihn blieb nichts. Es gab keinen Sinn mehr in seinem Leben – nichts mehr, das er töten konnte. Bis wir an ihn herantraten und ihm etwas gaben, für das es sich lohnte weiterzuleben. Oder vielleicht auch, für das es sich lohnte, weiter den Tod zu suchen.«

»Indem er Bourne wurde und die Jagd auf Carlos, den Schakal, begann«, führte McAllister den Gedanken zu Ende.

»Ja«, nickte der Mann vom Nachrichtendienst. Dann folgte ein kurzes Schweigen.

»Wir müssen ihn wiederhaben«, sagte Havilland. Die leisen Worte fielen wie eine Axt auf Hartholz.

»Carlos ist aufgetaucht?«

Der Diplomat schüttelte den Kopf. »Nicht in Europa. Wir brauchen ihn wieder in Asien und können uns nicht leisten, auch nur eine Minute zu vergeuden.«

»Jemand anders? Ein anderes … Ziel?« McAllister schluckte unwillkürlich. »Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Wir können nicht an ihn herantreten. Nicht direkt.«

»Warum nicht?«

»Er würde uns nicht durch die Tür lassen. Er vertraut niemandem, der aus Washington kommt, und es fällt schwer, ihm das zu verübeln. Tage-, wochenlang hat er um Hilfe gerufen, und wir haben nicht auf ihn gehört. Stattdessen haben wir versucht, ihn umzulegen.«

»Ich muss noch einmal Einspruch erheben«, unterbrach ihn Reilly. »Das waren nicht wir; das war ein Individuum, das nach irrtümlichen Informationen gehandelt hat. Und im Augenblick wendet die Regierung mehr als vierhunderttausend Dollar im Jahr auf, um Webb zu schützen.«

»Wofür er nur Spott übrig hat. Er glaubt, es handle sich um eine Falle für Carlos, falls der Schakal ihn ausfindig machen sollte. Er ist überzeugt, dass er ihnen völlig egal ist, und ich bin gar nicht so sicher, dass er damit so Unrecht hat. Er hat Carlos gesehen, und dass er sich bis jetzt noch nicht an das Gesicht erinnern kann, weiß Carlos nicht. Der Schakal hat allen Grund, Jagd auf Webb zu machen. Und wenn er das tut, bekommen Sie Ihre zweite Chance.«

»Die Chance, dass Carlos ihn findet, ist so gering, dass man sie praktisch vergessen kann. Die Akten von Treadstone sind begraben; und selbst wenn sie das nicht wären, so enthalten sie keinerlei Informationen über Webbs Aufenthaltsort oder das, was er tut.«

»Aber Mr. Reilly!«, sagte Havilland spöttisch. »Nur sein Hintergrund und seine Qualifikationen. Wäre das denn so schwierig? Er ist doch ein typischer Akademiker.«

»Ich will mich ja gar nicht mit Ihnen streiten, Herr Botschafter«, meinte Reilly etwas gedämpft. »Ich will ja nur, dass alles klar und eindeutig ist. Wollen wir doch offen sein – man muss sehr vorsichtig mit Webb umgehen. Er hat einen großen Teil seines Gedächtnisses zurückgewonnen, aber ganz sicher erinnert er sich nicht an alles. Aber er weiß genug über Medusa, um eine beträchtliche Gefahr für die Interessen unseres Landes darzustellen.«

»In welcher Weise?«, fragte McAllister. »Wir haben sicher keinen Grund, sehr stolz zu sein; aber im Wesentlichen handelte es sich doch um eine Strategie zu Kriegszeiten.«

»Eine Strategie, die offiziell nicht sanktioniert war. Es gibt keinerlei amtliche Aufzeichnungen darüber.«

»Wie ist das möglich? Es müssen doch Mittel zur Verfügung gestellt worden sein. Und wenn Geld ausgegeben wird …«

»Jetzt halten Sie mir bloß keinen Vortrag«, unterbrach ihn der beleibte Geheimdienstler. »Wir sind jetzt zwar nicht auf Band, aber ich habe Ihre Erklärung.«

»Ist das Ihre Antwort?«

»Nein – aber das: Es gibt keine Ausnahmegesetze für Kriegsverbrechen und Mord, Herr Staatssekretär. Und Mord und andere Gewaltverbrechen sind gegen unsere eigenen Streitkräfte ebenso wie gegen unsere Verbündeten begangen worden. Im Wesentlichen wurden diese Verbrechen von Mördern und Dieben in Tateinheit mit Diebstahl, Plünderung, Vergewaltigung und Mord begangen. Bei den meisten der Täter handelte es sich um pathologische Kriminelle. So wirksam Medusa auch in vieler Hinsicht war, so war es doch ein tragischer Fehler aus Zorn und Enttäuschung, damals in einer Situation, in der keiner gewinnen konnte. Welchen Nutzen könnte es denn haben, jetzt all die alten Wunden aufzureißen? Ganz abgesehen von all den Ansprüchen, die gegen uns gestellt würden, würden wir in den Augen des größten Teils der zivilisierten Welt zum Paria werden.«

»Wie ich schon sagte«, meinte McAllister leise und etwas zögernd, »wir halten im Außenministerium nicht viel davon, alte Wunden aufzureißen.« Er wandte sich dem Botschafter zu. »Ich fange an zu begreifen. Sie wollen, dass ich Verbindung mit diesem David Webb aufnehme und ihn dazu überrede, nach Asien zurückzukehren. Ein anderes Projekt, ein anderes Ziel – obwohl ich vor heute Abend dieses Wort nie in diesem Zusammenhang benutzt habe. Wahrscheinlich weil es für uns von früher einige ganz deutliche Parallelen gibt – wir sind Asien-Männer. Wir haben, was den Fernen Osten angeht, ähnliche Ansichten, und deshalb glauben Sie, dass er auf mich hören wird.«

»Im Wesentlichen ja.«

»Und doch sagen Sie, dass er nichts mit uns zu tun haben will. Wie soll ich es dann schaffen?«

»Wir werden es gemeinsam tun. So wie er einmal die Regeln für sich selbst gemacht hat, werden wir sie jetzt machen. Das ist unerlässlich.«

»Wegen eines Mannes, den Sie tot wissen wollen?«

»Sagen wir eliminiert. Es muss sein.«

»Und Webb kann das erledigen?«

»Nein. Jason Bourne kann es. Wir haben ihn drei Jahre lang unter außergewöhnlichem Stress alleine hinausgeschickt  – und dann wurde ihm plötzlich sein Erinnerungsvermögen genommen, und er wurde gejagt wie ein Tier. Trotzdem hat er sich seine Fähigkeiten, sich einzuschleusen und zu töten, bewahrt. Ich bin ganz offen.«

»Ich verstehe. Da wir nicht auf Band aufgenommen werden  – und selbst, wenn wir das werden …« Der Staatssekretär warf Reilly einen missbilligenden Blick zu, worauf dieser den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte. »Darf ich erfahren, wer die Zielscheibe ist?«

»Das dürfen Sie, und ich möchte, dass Sie sich diesen Namen merken, Herr Staatssekretär. Es ist ein chinesischer Minister, Sheng Chou Yang.«

McAllisters Gesicht rötete sich ärgerlich. »Ich brauche ihn mir nicht zu merken, und ich denke, das wissen Sie. Er war so etwas wie eine Institution in der Verhandlungsdelegation der Volksrepublik, und wir haben beide Ende der Siebzigerjahre in Peking an den Handelskonferenzen teilgenommen. Ich habe über ihn gelesen, ihn analysiert. Sheng war mein Verhandlungspartner, und mir blieb gar nichts anderes übrig – eine Tatsache, die Ihnen, wie ich vermute, auch bekannt ist.«