Der Arktis-Plan - Robert Ludlum - E-Book

Der Arktis-Plan E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Droht ein neuer Kalter Krieg?

In der kanadischen Arktis finden Wissenschaftler das Wrack eines russischen Bombers. Nur eine Handvoll Menschen weiß, dass dieses Wrack eine heute noch hochgiftige biologische Waffe an Bord hat. Mit mehr als zwei Tonnen Anthrax kann man ganze Länder und Millionen von Menschen verseuchen. Colonel Jon Smith von der Geheimorganisation Covert One wird vom amerikanischen Präsidenten persönlich beauftragt, die Fundstelle abzusichern und die Biowaffe zu entschärfen. Doch sobald sie den Ort erreichen, finden sie dort bereits einen tödlichen Widersacher.

Beängstigend und topaktuell – ein Politthriller der Extraklasse.

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Zum Buch

In der kanadischen Arktis finden Wissenschaftler auf einem Gletscher das Wrack eines russischen Bombers. Für die Öffentlichkeit handelt es sich nur um die Relikte aus dem frühen Kalten Krieg. Doch eine Handvoll Menschen weiß, dass dieses Wrack eine heute noch hochgiftige biologische Waffe an Bord hat. Mit mehr als zwei Tonnen Anthrax kann man ganze Länder und Millionen von Menschen verseuchen. Colonel Jon Smith von der Geheimorganisation Covert One wird vom amerikanischen Präsidenten persönlich beauftragt, die Fundstelle abzusichern und die Biowaffe zu entschärfen. Doch sobald sie den Ort erreichen, finden sie dort bereits einen tödlichen Widersacher. Ohne Hilfe von außen und in der extremen Umwelt der Polarregion gilt es, einen zweiten kalten Krieg abzuwehren und den Feind, der auch aus dem eigenen Lager zu kommen scheint, zur Verantwortung zu ziehen.

Die Autoren

Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 280 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.

James Cobb entstammt einer Marine-Familie und ist Mitglied der Navy League of the United States wie auch des United States Naval Institute. Er selbst war auf nahezu allen Arten von Kriegsschiffen unterwegs. Heute lebt James Cobb im Nordwesten der USA.

Inhaltsverzeichnis

Zum BuchDie AutorenPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierCopyright

Donald Hamilton und seinem Geschöpf Matt Helm gewidmet

(dem echten Matt Helm,nicht der Hollywoodversion)

Prolog

5. MÄRZ 1953 In der kanadischen Arktis

Nichts lebte auf der Insel. Dort war kein Leben möglich.

Es war ein schroffer, zerklüfteter Felsgrat, dem Stürme übel mitgespielt hatten. Nicht weit vom Magnetpol der Erde entfernt erhob er sich aus dem Eis und den eiskalten Wassermassen des Nordpolarmeers. Eine schlanke Mondsichel, die sich von Osten nach Westen über eine Länge von zwölf Meilen zog, an der breitesten Stelle zwei Meilen maß und sich an den Spitzen auf eine Viertelmeile verjüngte, mit einer Art kleiner Bucht am westlichen Ende. Zwei markante Gipfel ragten aus dem schmalen, mit Geröll übersäten Flachland an der Küste auf, durch einen vergletscherten Bergsattel miteinander verbunden.

Flechten und ein paar erfrorene Büschel verkümmertes Seegras rangen zwischen den rissigen Felsen um ihr bloßes Dasein. Vereinzelte Dreizehenmöwen und Eissturmvögel bezogen während der kurzen arktischen Sommer ihre Schlafplätze auf den Klippen. Gelegentlich schleppte sich eine Robbe oder ein Walross die Geröllstrände hinauf, und noch seltener tappte ein majestätischer Eisbär geisterhaft durch den eisigen Nebel.

Aber nichts lebte dort dauerhaft.

Die Insel war einer von zahllosen Landkrümeln, die zwischen der Nordküste Kanadas und dem Pol verstreut waren. Sie gehörte zu den Queen Elizabeth Islands, und jede Insel dieses Archipels war so trostlos und von Schneestürmen gebeutelt wie die andere.

Die Menschheit hatte die meiste Zeit nichts von der Existenz dieser Insel gewusst und sie daher auch nicht aufgesucht. Wenn der eine oder andere weit gereiste Inuitjäger auf einer seiner Wanderungen ihre Gipfel über dem Meeresdunst am fernen Horizont aufragen gesehen hatte, dann hatte die Notwendigkeit des eigenen Überlebens und des Fortbestands seines Stammes jede nähere Erkundung verhindert.

Oder möglicherweise könnte ein Arktisforscher der viktorianischen Ära, der sich der vergeblichen Suche nach der Nordwestpassage verschrieben hatte, die Insel mit einer Hand in einem Fäustling auf seiner ungenauen Landkarte grob skizziert haben. Wenn dem so war, dann hatte sein Schiff zu denen gehört, die dem Untergang im Eis geweiht waren.

Bis zum Ausbruch des Kalten Krieges spielten die Insel und ihre Nachbarinseln in den Angelegenheiten der Menschheit keine Rolle. In den späten vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Queen Elizabeth Islands von der United States Air Force durch Luftaufnahmen überwacht, eine Vorstufe zur späteren Errichtung einer Radarlinie des Nordamerikanischen Luftabwehrkommandos als Verteidigungsfrühwarnsystem. Zu der Zeit erhielt die Insel einen Namen. Der gelangweilte Militärkartograph, der sie auf den Weltkarten eintrug, nannte sie Wednesday, denn irgendwie musste sie schließlich heißen und die Vermessungsunterlagen waren zur Wochenmitte über seinen Schreibtisch gegangen.

Nicht lange danach erhielt Wednesday Island erstmals Besuch.

Ein plötzlich aufkommender Sturm blies durch die urtümliche Dunkelheit eines arktischen Winters heftig vom Pol hinunter. Winde heulten um die Gipfel der Insel, scheuerten den Schnee von ihren Nordwänden und setzten den schwarzen Basalt ungeschützt dem Ansturm aus.

Möglicherweise war das der Grund, weshalb die Insel unbemerkt blieb, bis es zu spät war.

Schwach drangen die Geräusche starker Flugzeugmotoren, vom Wind mitgerissen, aus dem Norden und nahmen schnell an Intensität zu. Aber es war niemand da, der ihr Getöse hörte, als die Maschine tief über die Küste der Insel flog. Zu tief. Das Dröhnen der Motoren schwoll plötzlich an und ging in ein – der blanken Verzweiflung entsprungenes – Heulen über, als der Pilot Vollgas gab.

Das Heulen endete abrupt mit dem scharfen, durchdringenden Gellen von Metall, das auf Eis prallt, und die ewigen Winde kreischten triumphierend.

Wednesday Island gab für ein weiteres halbes Jahrhundert keinen Anlass zur Sorge.

Kapitel eins

HEUTE Kanadische Arktis

Mit grellorangen Parkas und Schneemobilanzügen bekleidet, stützten sich die drei aneinander geseilten Gestalten auf ihre Eispickel und bewältigten mühsam die letzten Meter zum Ziel. Sie hatten den Aufstieg an der Südwand des Felsgrats in Angriff genommen, und das Massiv schützte sie vor den vorherrschenden Winden. Aber jetzt, als sie sich über den Rand des kleinen kahlen Felsplateaus auf dem Gipfel vorkämpften, traf sie die volle Wucht des polaren Fallwinds und ließ die gefühlte Temperatur von knapp unter dem Gefrierpunkt auf weit unter null absinken.

Es war ein angenehmer Herbstnachmittag auf Wednesday Island.

Der bleiche Sonnenball, der keine Wärme spendete, rollte am südlichen Horizont entlang und erfüllte die Welt mit dem eigentümlichen gräulichen Schimmer der wochenlangen arktischen Dämmerung.

Wenn man auf das Meer hinunterblickte, das die Insel umspülte, war es schwierig, das Land vom Wasser zu unterscheiden. Das Packeis rückte um Wednesday herum immer enger zusammen, und das neue lebendige Eis wölbte sich über die Küste und türmte sich wüst aufeinander. Die einzigen eisfreien dunklen Wasserrinnen, die zu sehen waren, lagen weit hinter den treibenden Eisbergen am Horizont und kämpften gegen den Frost des bevorstehenden Winters an.

Im Osten hatten die stürmischen Winde eine Schneeverwehung über das ferne Ende der Insel getrieben, und daher verschwamm der zweite größere Berg zu einer unheilvollen dunklen Masse, die hinter einem zerfetzten Nebelvorhang nur ansatzweise zu erkennen war.

Die Aussicht war ein Blick in die Hölle mit still gelegten Öfen, doch die drei, die sie betrachteten, gehörten zu dem Menschenschlag, der solche Anblicke erfrischend findet.

Der Teamleiter warf seinen Kopf in den Nacken und forderte den Wind mit einem wilden Wolfsheulen heraus. »Da ich ihn als Erster bezwungen habe, beanspruche ich diesen Berg für mich und nenne ihn hiermit … Wie zum Teufel nennen wir ihn überhaupt?«

»Du warst als Erster oben, Ian«, hob die kleinste Gestalt unter den drei Bergsteigern hervor. Ihre Stimme wurde durch den Windschutz gedämpft. »Daher sollte er von Rechts wegen Mount Rutherford heißen.«

»Nein! Auf keinen Fall!«, protestierte das dritte Mitglied des Bergsteigerteams. »Unsere bezaubernde Miss Brown ist die erste Dame, die diesen gewaltigen Gipfel erklommen hat. Er sollte Mount Kayla heißen.«

»Das ist ganz reizend von dir, Stefan, aber mehr als einen Händedruck nach der Rückkehr in unsere Forschungsstation wird es dir trotzdem nicht eintragen.«

Ian Rutherford, der in Oxford Biologie studierte, lachte in sich hinein. »Vermutlich sollten wir uns darüber gar keine Sorgen machen. Ganz gleich, welchen Namen wir ihm geben, wir werden ihn ja doch weiterhin den Westgipfel nennen, wie wir es bisher immer getan haben.«

»Du leidest an übertriebenem Realismus, Ian.« Stefan Kropodkin von McGill’s kosmischem Strahlenforschungsprogramm grinste in den dicken Wollschal, der seine untere Gesichtshälfte bedeckte.

»Ich finde, im Moment können wir ein bisschen Realismus gut gebrauchen.« Kayla Brown studierte Geophysik an der Purdue State University. »Wir sind bereits eine Stunde später dran als geplant, und Dr. Creston war ohnehin nicht gerade erfreut darüber, dass wir überhaupt hier raufgeklettert sind.«

»Noch so ein Mann, der keinen Sinn fürs Romantische hat«, brummte Kropodkin.

»Wir haben noch genug Zeit für ein paar Fotos«, erwiderte Rutherford und nahm seinen Rucksack ab. »Dagegen hat Cresty doch gewiss nichts einzuwenden.«

Sie sahen es, als sie sich behutsam einen Weg am Rand des winzigen Plateaus entlang bahnten. Die scharfen Augen der kleinen angehenden Geophysikerin aus Indiana entdeckten es zuerst.

»He, Leute, was ist denn das? Da unten auf dem Gletscher.«

Rutherford warf einen Blick auf den Sattel zwischen den Gipfeln hinunter. Da war etwas, kaum sichtbar durch den Schneeschleier. Er schob sich die dunkle Schutzbrille auf die Stirn und zog sein Fernglas aus dem Etui. Als er durch das Fernglas schaute, achtete er sorgsam darauf, das eisige Metall nicht mit seiner Gesichtshaut in Berührung zu bringen,.

»Schöne Scheiße! Da unten ist doch was!« Er reichte seinem Freund den Feldstecher. »Was hältst du davon, Stefan?«

Der Osteuropäer sah lange durch das Fernglas, ehe er es wieder sinken ließ. »Das ist ein Flugzeug«, sagte er verwundert, »ein Flugzeug auf dem Eis.«

Kapitel zwei

Huckleberry Ridge,Trainingslager für Gebirgsjäger

Lieutenant Colonel Dr. med. Jonathan (»Jon«) Smith von der US Army stand mit dem Rücken zum Rand der Klippe und sah sich ein letztes Mal um.

Es war wunderschön hier oben. Von diesem Punkt aus konnte man nach Süden über die Westhänge der Cascade Range blicken, das Gestein der Berge war graublau, Schnee glitzerte weiß und die Laubwälder leuchteten grün. Dunstfetzen schwebten schützend über den tieferen Hängen, und der goldene Schimmer des Sonnenaufgangs strömte durch die Einschnitte zwischen den Gipfeln. Wenn er den Kopf noch etwas weiter drehte, rückte der ferne zertrümmerte Kegel von Mount St. Helens in sein Gesichtsfeld, in dessen klaffenden Vulkankrater sich ein dünner Schleier aus Dampf schmiegte.

Das erinnerte Smith an lange zurückliegende Sommer in Yellowstone und an den kindlichen Stolz und die Begeisterung darüber, erstmals mit seinem Vater und seinem Onkel Ian in die Wildnis aufzubrechen, alle mit ihren Rucksäcken bepackt.

Insbesondere die Luft, kühl, lieblich und ungemein belebend. Er atmete ein letztes Mal tief ein, genoss den Augenblick und trat rückwärts über den Rand des jähen Abgrunds.

Sein Horizont drehte sich um glatte neunzig Grad, und der Klettergurt umschloss ihn beruhigend, als das grüne Nylonseil, das durch seine Karabinerhaken gefädelt war, sich spannte. Sein Gewicht wurde von der Abseilbremse gehalten, und die Sohlen seiner Stollenstiefel von Danner, Modell »Fort Lewis«, stemmten sich gegen den mit Flechten gesprenkelten schwarzen Basalt, als er auf der vertikalen Felswand stand. Die Erfahrung war noch so neu und erfrischend, dass er vor Begeisterung strahlte. Das war bei Gott besser als die Arbeit im Labor!

»Okay, Colonel«, hallte die durch ein Megafon verstärkte Stimme des Ausbilders vom Fuß der Klippe herauf, »stoßen Sie sich ab, und immer mit der Ruhe.«

Über ihm lugten die anderen Kursteilnehmer über den Rand des Abgrunds. Sie trugen dieselbe grüne Tarnkleidung wie er. Das war der große Absprung, das Abseilmanöver aus hundertfünfzig Fuß Höhe. Das lose Ende des Seils schleifte unter ihm an der Wand, und Smith gab ihm einen letzten Ruck, um es zu befreien. Dann drückte er die Knie durch, stieß sich von dem Felsen ab und ließ das Seil durch die Bremse laufen.

In seinem fortwährenden Bestreben, die enorm unterschiedlichen Aspekte seines Lebens auszubalancieren – das eines Soldaten, Wissenschaftlers, Arztes und Spions –, war dieser Kurs für Gebirgsjäger ein nachhaltiger Erfolg gewesen.

Im Lauf der letzten drei Wochen hatte er sich mit wachsender Begeisterung den Herausforderungen des knochenbrecherischen Wildnistrainingsprogramms gestellt und dabei seinen Körper abgehärtet und seinen Kopf frei geräumt, nachdem er zu viele Tage in Fort Detrick verbracht und sich dort in den Laboratorien des US Army Medical Research Institute of Infectious Diseases, oder kurz USAMRIID, vergraben hatte, dem medizinischen Forschungsinstitut der Army für ansteckende Krankheiten.

Er hatte eingerostete Fertigkeiten wieder aufgefrischt und neue erworben: Orientierung in unwegsamem Gelände, Überleben unter widrigen klimatischen Bedingungen, Tarnung, Treffsicherheit beim Steilfeuer. Und er war in die Kunst des Bergsteigens eingeführt worden. Smith hatte gelernt, wie man Steigeisen, Kletterhaken und einen Felshammer benutzt und, was noch entscheidender war, wie man sich dem Seil und dem Gurt anvertraut und die instinktiven menschlichen Ängste vor dem Fall und der Höhe zeitweilig außer Kraft setzt.

Das Seil lief durch die Stahlschlaufen, Smiths dicker Handschuh wurde auf der Handfläche warm, und seine Stiefel trafen zwanzig Fuß tiefer mit einem Ruck wieder auf die Felswand. Seine Augen verengten sich und sein Gesicht spannte sich an, als sein Adrenalinspiegel in die Höhe schoss, und er stieß sich ein weiteres Mal ab und bretterte diesmal volle vierzig Fuß an der Felswand hinunter.

»Langsam, Sir«, warnte ihn die Stimme von unten.

Er stieß sich ein drittes Mal kraftvoll ab und ließ sich lotrecht hinabstürzen. Das Seil pfiff und die Bremse rauchte.

»Immer mit der Ruhe, Colonel … langsam … LANGSAM! … LANGSAM, HABE ICH GESAGT, VERDAMMT NOCHMAL!«

Smith bremste heftig und fing seinen Fall ab. Er zog sich in eine aufrechte Haltung und ließ sich mit den Stiefeln voran das kurze letzte Stück auf den humusartigen Waldboden mit der dichten Fichtennadeldecke am Fuß der Klippe fallen. Er trat vom unteren Ende des Seils zurück und rieb seinen glühend heißen Handschuh an seiner Drillichhose.

Ein stämmiger Sergeant von den Rangers mit einem sandfarbenen Barett kam von hinten auf ihn zu und blieb stehen. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte er verdrossen, »aber ich hoffe, Ihnen ist klar, dass sich ein Offizier hier oben genauso leicht das Genick brechen kann wie ein Unteroffizier oder einer aus den Mannschaften.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Sergeant«, sagte Smith grinsend.

»Das heißt, wenn ich sage: ›LANGSAM, SIR‹, dann meine ich es verdammt ernst!« Der Ausbilder hatte zwanzig Jahre sowohl im 75th Ranger Regiment als auch in der berühmten 10th Mountain Division gedient und nahm somit eine ziemlich privilegierte Position ein, sogar in den Augen eines Lieutenant Colonel.

Smith wurde wieder ernst und löste den Kinngurt seines Helms. »Ich habe verstanden, Sergeant. Ich war da oben plötzlich etwas zu sehr von mir eingenommen. Eine schlechte Idee. Nächstes Mal werde ich mich an die Vorschriften halten.«

Der Ausbilder nickte beschwichtigt. »Okay, Sir. Abgesehen davon, dass Sie es etwas zu wüst angegangen sind, war das ein guter Abstieg.«

»Danke, Sergeant.«

Der Ausbilder ging wieder, um den nächsten Kursteilnehmer zu überwachen, der sich abseilte, und Smith zog sich an den Rand der Lichtung unterhalb der Klippe zurück. Er legte seinen Helm und den Gurt ab, zog einen Schlapphut aus der Hosentasche und klatschte ihn in Form, bevor er ihn sich auf das dunkle, kurz geschnittene Haar setzte.

Jon Smith hatte sich für Anfang vierzig gut gehalten: breite Schultern, schmale Hüften und – sowohl durch sein intensives Training der letzten Wochen als auch durch eine aktive Lebensweise, die ihm von Natur aus lag – eine straffe Muskulatur. Er war auf eine herbe männliche Art attraktiv, sein gebräuntes Gesicht war gut geschnitten und wirkte aufmerksam und irgendwie ungerührt  – ein Gesicht, das Geheimnisse gut bewahren konnte. Seine Augen, die einen ungewöhnlichen dunkelblauen Farbton hatten, konnten einen Raum mit durchdringendem Blick von einem Ende zum anderen durchmessen.

Smith sog die saubere Höhenluft ein weiteres Mal tief ein und ließ sich neben den Stamm einer turmhohen Douglasfichte sinken. Das war eine Welt, in der er einmal gelebt hatte. Während einer frühen Phase seiner beruflichen Laufbahn, bevor er in die Forschung und ans USAMRIID gegangen war, hatte er eine Dienstzeit bei den Special Forces der US Army als Militärarzt im Einsatz absolviert. Das war eine gute Zeit gewesen, eine Zeit der Herausforderungen und der Kameradschaft. Es war auch eine Zeit voller Ängste, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gewesen, aber alles in allem eine gute Zeit.

Im Lauf der letzten Tage hatte sich unwillkürlich ein Gedanke in sein Bewusstsein geschlichen: Wie wäre es damit, sich wieder ins Getümmel zu stürzen, eine weitere Dienstzeit bei einer taktischen Einheit zu absolvieren, vielleicht bei den Special Forces? Wie wäre es damit, eine Zeitlang zur echten Armee zurückzukehren?

Smith wusste, dass es nichts weiter als ein vages Liebäugeln war. In seiner gehobenen Position würden sie ihn nicht mehr ins Feld schicken. Er könnte es bestenfalls schaffen, einen Schreibtischjob zu ergattern, einen Stabsposten, wahrscheinlich wieder mitten in dem altbekannten Rummel von Washington.

Außerdem hatte er sich auf seinem derzeitigem Forscherposten, einer äußerst kritischen Position, bewährt. Das USAMRIID war Amerikas vorderste Verteidigungslinie sowohl gegen den Bioterrorismus als auch gegen den einsetzenden globalen Anstieg von Krankheiten, der sich deutlich abzeichnete, und an dieser Front nahm Smith einen Platz in der ersten Reihe ein. Eine wichtige Aufgabe, das war unbestreitbar.

Und dann war da schließlich auch noch sein anderer Aufgabenbereich in einer Sondereinheit, der weder in seinem Wehrpass noch in seiner jedem zugänglichen Militärakte angegeben war. Der Aufgabenbereich, der aus dem Alptraum eines Megalomanen, genannt das Hades-Projekt, und dem Tod von Dr. Sophia Russell resultierte, der Frau, die er geliebt hatte und heiraten wollte. Auch das war eine Pflicht, die er nicht von sich weisen konnte, jedenfalls dann nicht, wenn er eines Tages mit sich selbst Frieden schließen wollte.

Smith lehnte sich an den Stamm der Fichte und sah entspannt zu, wie sich die anderen Kursteilnehmer der Reihe nach an dem Steilhang abseilten. Trotz allem war heute ein guter Tag, um Soldat zu sein.

Kapitel drei

Camp David, Landsitz des Präsidenten

Der Landsitz des Präsidenten in Camp David befand sich rund siebzig Meilen außerhalb von Washington, D.C., in einem sorgfältig abgeschirmten Bereich des Catoctin-Mountain-Erholungsgebiets.

Seine Ursprünge reichten bis zu den Turbulenzen des Zweiten Weltkriegs zurück, als der Secret Service in seiner Sorge um die Sicherheit der Potomac, der Präsidentenyacht, mit dem Ersuchen an Franklin Delano Roosevelt herangetreten war, er solle sich in der näheren Umgebung von Washington ein neues und leichter zu bewachendes Ferien- und Naherholungsziel suchen.

Ein solcher Ort wurde in der bewaldeten Hügellandschaft von Maryland ausfindig gemacht, ein Sommerlager für Regierungsbeamte und ihre Familien, das Mitte der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts als Pilotprojekt zur Urbarmachung von nicht mehr rentablem Boden durch das Zivile Umweltschutzkorps CCC, einem freiwilligen Arbeitsdienst Arbeitsloser, errichtet worden war.

Als ein Relikt aus den Zeiten der Potomac wurde das Personal des Lagers vom United States Navy and Marine Corps gestellt, eine Tradition, die sich bis zum heutigen Tage gehalten hat. Ursprünglich hatte der Ort den Decknamen »USS Shangri-La«. Den Namen »Camp David« erhielt das Lager erst in den fünfziger Jahren, als es zu Ehren des Enkels von Präsident Eisenhower umbenannt wurde.

Viele kritische Begegnungen und Gespräche hatten auf dem Landsitz stattgefunden, darunter Glanzstücke der Diplomatie und der Staatskunst, wie zum Beispiel die in die Geschichte eingegangenen Friedensabkommen von Camp David zwischen Ägypten und Israel. Aber neben all den Treffen und Konferenzen, über die von den überregionalen Medien berichtet wurde, gab es auch noch andere, über die nicht viel bekannt wurde. Und auch solche, die in tiefe Geheimhaltung gehüllt wurden.

Lässig mit einer saloppen Hose, Polohemd und Golferpulli bekleidet, sah Präsident Samuel Adams Castilla zu, wie ein Merlin-Hubschrauber in den Farben des Präsidentengeschwaders, Dunkelblau und Gold, über dem Heliport auftauchte und sein Rotor leuchtend rote Blätter von den Baumwipfeln fegte. Hinter dem unvermeidlichen argwöhnischen Wachpersonal des Geländes, das sich aus Wachposten der Marine und Secret-Service-Agenten zusammensetzte, wartete Castilla allein. Es war keine formelle diplomatische Begrüßung geplant. Kein Tamtam und kein großes Trara. Keine neugierigen Journalisten vom Pressekorps des Weißen Hauses.

Castillas Gast hatte es sich so ausgebeten.

Dieser Gast stieg jetzt aus dem Hubschrauber, der im Leerlauf dastand – ein untersetzter Mann mit schweren Hängebacken, kurz geschnittenem grauem Haar und einem blauen Nadelstreifenanzug europäischen Schnitts. Er trug ihn so, als säße er nicht bequem. Oder als wäre der Träger ganz andere Kleidung gewohnt. Die Geste, mit der er nahezu automatisch auf den Salut des Marinewachpostens reagierte, während er die Stufen aus dem Hubschrauber herabstieg, gab einen klaren Hinweis darauf, um welche Form von Kleidung es sich dabei handeln könnte.

Castilla, ein ehemaliger Gouverneur von New Mexico und in seinen Fünfzigern immer noch groß, schlank und breitschultrig, trat mit ausgestreckter Hand vor. »Willkommen in Camp David, General«, sagte er und übertönte mit seiner Stimme das Wummern der Turbinen des Merlin.

Dimitri Baranov, Befehlshaber der 37sten Luftarmee der strategischen Fernfliegerkräfte der Russischen Föderation, erwiderte den festen Händedruck mit trockener Handfläche. »Es ist mir eine Ehre, hier zu sein, Mr. President. Im Namen meiner Regierung bedanke ich mich noch einmal für Ihre Bereitschaft, mich unter diesen … außergewöhnlichen Umständen hier zu treffen.«

»Keine Ursache, General. Unsere Nationen haben heutzutage viele gemeinsame Interessen. Informationsgespräche und Absprachen zwischen unseren Regierungen sind uns stets willkommen.«

Oder zumindest notwendig, fügte Castilla im Geiste hinzu.

Das neue, nicht mehr sowjetische Russland stellte die Vereinigten Staaten vor fast so viele Herausforderungen wie es die alte UdSSR getan hatte, nur waren sie jetzt anders geartet. Von Korruption zersetzt, politisch instabil und mit einer Wirtschaft, die noch darum rang, aus den Ruinen des Kommunismus aufzuerstehen, drohte die gerade erst flügge gewordene russische Demokratie laufend, entweder in den Totalitarismus zurückzugleiten oder vollständig zusammenzubrechen. Beides wäre unvorteilhaft für die Vereinigten Staaten, und Castilla hatte sich geschworen, dass es zumindest während seiner Amtszeit nicht passieren würde.

Gegen den erheblichen Widerstand einiger eingefleischter Befürworter des Kalten Krieges und Budgetbeschneider unter den Kongressabgeordneten hatte Castilla eine Reihe von nur notdürftig verschleierten Gesetzesvorlagen zur Auslandshilfe im Kongress durchgepaukt und arbeitete gemeinsam mit dem Föderationspräsidenten Potrenko daran, einige der kritischeren Lecks im russischen Staatsschiff zu stopfen. Ein weiterer derartiger Gesetzesentwurf stand gerade zur Debatte, und der Ausgang war reichlich ungewiss.

Das Letzte, was die Castilla-Regierung gebrauchen konnte, war eine weitere Komplikation von russischer Seite. Dennoch hatte am Vorabend ein russisches Diplomatenflugzeug in der Andrews Air Force Base aufgesetzt. Baranov war an Bord gewesen, als Überbringer eines versiegelten Briefs von Präsident Potrenko, der den General als seinen persönlichen Repräsentanten auswies und ihn ermächtigte, über »ein dringliches gemeinsames Anliegen beider Nationen« mit Präsident Castilla zu verhandeln.

Castilla fürchtete, dieses Szenario könnte nur Ärger bedeuten. Baranov bestätigte seine Befürchtungen

»Ich bedauere, dass die Information, deren Überbringer ich bin, Ihnen nicht allzu genehm sein dürfte, Mr. President.« Der Blick des Generals senkte sich einen Moment lang auf den abgeschlossenen Aktenkoffer, den er bei sich trug.

»Ich verstehe, General. Wenn Sie nichts dagegen haben, mich zu begleiten, können wir es uns wenigstens gemütlich machen, während wir darüber reden.«

Die Secret-Service-Teams verlagerten unauffällig ihren Beobachtungsposten, als Castilla seinen Gast um den von Steinen gesäumten Fischteich zur Aspen Lodge führte, dem Wohnsitz des Präsidenten in Camp David.

Ein paar Minuten später saßen beide Männer auf der breiten Veranda der Lodge an einem rustikalen Tisch, und ein tüchtiger Proviantmeister der Marine servierte unaufdringlich heißen Tee nach russischer Art in hohen Gläsern mit filigranen Silberverzierungen.

Baranov trank aus Höflichkeit einen Schluck. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Mr. President.«

Castilla, der an einem warmen Herbsttag wahrscheinlich ein kaltes Coors bevorzugt hätte, nickte anerkennend. »Ich vermute, General, es handelt sich um eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet. Wie können wir Ihnen und der Föderation behilflich sein?«

Baranov zog einen kleinen Schlüssel aus seiner Westentasche. Er legte den Aktenkoffer auf den Tisch, öffnete die Schlösser, ließ die Schnappriegel aufspringen und zog einen Ordner heraus. Bedächtig breitete er eine Serie von Abzügen auf der Tischplatte aus. »Ich glaube, Mr. President, es könnte gut sein, dass Sie diese Fotos erkennen.«

Castilla nahm einen der Abzüge in die Hand. Mit einem Stirnrunzeln rückte er das Titangestell seiner Brille zurecht und musterte ihn.

Es war eine grobkörnige Vergrößerung, ein Standbild in Schwarz-Weiß von einem Video. Vor dem kargen, mit Eis bedeckten Hintergrund, möglicherweise einem Gletscher, war in der Bildmitte das Wrack eines großen viermotorigen Flugzeugs zu sehen. Größtenteils schien es intakt zu sein, nur eine der langen, geraden Tragflächen war durch den Aufprall beim Absturz verbogen und gekrümmt. Castilla verstand genug von Flugzeugen, um in dem Wrack eine Boeing B-29 zu erkennen, ein leistungsfähiger Bomber, derselbe Flugzeugtyp, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt worden war, um das Kaiserliche Japan zu bombardieren, und von dem aus die ersten Atomwaffen auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden.

Oder so schien es zumindest.

»Das mysteriöse Flugzeug«, so wurde es von manchen Sendern genannt. Andere sprachen von »der polaren Lady-Be-Good«. Eine Expedition von Wissenschaftlern auf einer abgelegenen Insel des Kanadisch-Arktischen Archipels hatte das Wrack auf einem Berg über ihrem Stützpunkt entdeckt und diese Aufnahmen, mit einem starken Teleobjektiv gemacht, waren über das Internet und die globalen Nachrichtenagenturen blitzschnell um die Welt gegangen.

Das sorgte für Schlagzeilen und Reportagen, und über das Flugzeug und seine Besatzung grassierten zahllose Spekulationen.

»Ich erkenne das Foto«, sagte Castilla vorsichtig. »Aber ich bin gespannt darauf, zu erfahren, wie dieses uralte Flugzeug unseren beiden Nationen Anlass zur Sorge geben könnte.«

Castilla wusste bereits, dass dieses mysteriöse Flugzeug den Russen große Sorgen bereitete. Erst kürzlich war es in seinen Briefings zur Staatssicherheit erwähnt worden, ein eigentümlicher Echoimpuls auf den Überwachungsschirmen der National Security Agency, kurz NSA.

Im Lauf der letzten Tage hatte das Flugzeug die russische Regierung in Panik versetzt. Schnelle Superrechner der NSA, die das Internet permanent überwachten, hatten einen massiven Anstieg an Aktivitäten seitens gewisser nachrichtendienstlicher Terminals innerhalb der Russischen Föderation protokolliert. Diese hatten verstärkt globale News-Sites aufgerufen, auf denen über den Absturz berichtet wurde. Es wurde hundertfach auf Seiten zugegriffen, deren Thema die multinationale Expedition von Wissenschaftlern war, die das Wrack entdeckt hatte. Ebenso hatte man verstärkte Aufrufe von Seiten registriert, die historische Tabellen der Organisation der US Air Force und deren Unterlagen über Operationen in der Arktis enthielten.

Castilla würde die Russen ihre eigene Erklärung dafür abgeben lassen, obgleich sowohl er als auch seine Berater vom Nachrichtendienst einen Verdacht hatten.

Der Russe hielt seinen Blick starr auf die Fotografien gerichtet, die auf dem Tisch lagen. »Bevor ich das beantworte, Mr. President, muss ich Ihnen erst noch eine Frage stellen.«

Castilla griff nach seinem Teeglas. »Bitte. Gern.«

Baranov tippte auf einen der Abzüge. »Was hat die Regierung der Vereinigten Staaten über dieses Flugzeug in Erfahrung gebracht?«

»Wir haben zu unserem großen Erstaunen festgestellt, dass es sich dabei nicht um eine amerikanische Superfortress handelt«, erwiderte Castilla und trank einen Schluck Tee. »Die Archive der US Army Air Force sowie der US Air Force sind sorgsam überprüft worden. Wir haben zwar eine geringe Anzahl Flugzeuge vom Typ B-29 und dem daraus entwickelten Typ B-50 über der Arktis verloren, aber all diese abgeschossenen Bomber sind aufgespürt worden. Tatsächlich kann über jede B-29, die in den Inventaren des amerikanischen Militärs gelistet ist, Rechenschaft abgelegt werden.«

Castilla stellte sein Teeglas ab. »Etwa siebenundachtzig Superfortresses sind außerdem im Jahr 1950 Großbritannien übergeben worden. Die Royal Air Force hat sie die ›Washington‹ genannt. Wir haben Erkundigungen beim britischen Luftfahrtministerium eingezogen. Keine ihrer Washingtons ist jemals verschollen gegangen oder auch nur über die kanadische Arktis geflogen, und sämtliche Flugzeuge wurden später an die Vereinigten Staaten zurückgegeben.«

Castilla sah mit festem Blick über den Tisch. »Ist Ihre Frage damit beantwortet, General?«

Baranov blickte lange Zeit nicht auf. »Ja, zu meinem Bedauern, Mr. President. Ich muss Ihnen jetzt, ebenfalls zu meinem Bedauern, mitteilen, dass dieses Flugzeug durchaus uns gehören könnte. Es könnte ein russisches Flugzeug sein. Und wenn das der Fall ist, dann könnte es möglicherweise eine entschiedene Bedrohung für unsere beiden Nationen und die Welt im Allgemeinen darstellen.«

»Wie das, General?«

»Es könnte ein Atomwaffenbomber Tupolew Tu-4 sein, der von der NATO den Codenamen ›Bull‹ erhalten hat. Dieses Flugzeug ist Ihrer B-29 sehr … ähnlich. Es wurde während der frühen Jahre des Kalten Krieges von unserer strategischen Bomberflotte benutzt oder, besser gesagt, von den Fernfliegerkräften der Luftstreitkräfte der Sowjetunion. Am 5. März 1953 ist ein solches Flugzeug mit dem Funkrufnamen Misha 124 bei einem Übungseinsatz über dem Nordpol verschwunden. Das Schicksal dieses Flugzeugs war uns unbekannt. Sämtliche Funk- und Radarkontakte mit dem Bomber waren abgerissen, und das Wrack wurde nie gefunden.«

Baranov holte tief und bedächtig Atem. »Wir fürchten, dieses mysteriöse Flugzeug könnte die Misha 124 sein.«

Castilla zog die Stirn in Falten. »Und warum sollte ein sowjetischer Bomber, der bei einem Übungseinsatz vor mehr als fünfzig Jahren verschollen ist, als etwas anderes angesehen werden als ein bloßes Relikt des Kalten Krieges?«

»Weil die Misha 124 nicht einfach nur ein Bomber war; sie war eine strategische Plattform für biologische Waffen und zum Zeitpunkt ihres Verschwindens voll aufgerüstet.«

Trotz der Wärme des Nachmittags und dem heißen Tee, den er getrunken hatte, lief Castilla ein kalter Schauer über den Rücken. »Mit welchem Kampfstoff?«, fragte er barsch.

»Anthrax, Mr. President. Waffenfähiges Anthrax. Wenn man bedenkt, welche Probleme Ihre Nation in letzter Zeit auf diesem Gebiet hatte, bin ich sicher, dass Sie sich über das Katastrophenpotential im Klaren sind.«

»Nur zu gut, General.« Castilla blickte finster. Ein Größenwahnsinniger mit einem elementar ausgestatteten Labor und der Wahnvorstellung, Gott zu spielen; weißes Pulver, das aus einem geöffneten Briefumschlag rieselte – das waren Bilder, die einen Präsidenten nicht mehr losließen.

»Die Misha 124 war mit einem Sprühsystem ausgerüstet«, fuhr Baranov fort. »Die biologische Substanz wurde in einem versiegelten Behälter aus rostfreiem Stahl transportiert, der im vorderen Bombenschacht des Flugzeugs montiert war. Sollte sich während des Flugs eine unabwendbare Gefahr ergeben, dann hätte die Standardorder der Piloten ›Notabwurf‹ gelautet. Sie hätten den Behälter mit der biologischen Substanz über dem offenen Meer ausgeklinkt oder, in diesem speziellen Fall, über dem polaren Packeis. Aber auf den Fotografien, die uns zur Verfügung stehen, können wir unmöglich erkennen, ob diese Prozedur erfolgreich durchgeführt worden ist. Es wäre ohne weiteres denkbar, dass sich der Behälter und die darin enthaltene Substanz noch in dem Wrack befinden.«

»Und dass sie immer noch gefährlich ist?«

Baranov hob frustriert die Hände. »Das ist sehr gut möglich, Mr. President. Wenn man bedenkt, dass die Temperaturen im Polargebiet unter dem Gefrierpunkt liegen, ist es durchaus vorstellbar, dass die Sporen heute noch genauso tödlich sein könnten wie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie an Bord des Flugzeugs gebracht wurden.«

»Gütiger Himmel.«

»Wir erbitten in dieser Angelegenheit dringend die Unterstützung der Vereinigten Staaten, Mr. President. Zuerst einmal, um festzustellen, ob dieses … Problem tatsächlich existiert, und falls dem so sein sollte, um anschließend eine Lösung zu finden.«

Die Hände des Russen wanderten zwischen den Fotografien auf dem Tisch umher. »Ich verlasse mich darauf, Mr. President, dass Sie verstehen, warum meine Regierung diese Angelegenheit unbedingt geheim halten will. Die Enthüllung, dass ein aktives und gefährliches Biowaffensystem der ehemaligen Sowjetunion auf dem nordamerikanischen Kontinent entdeckt worden ist, könnte die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten in diesem kritischen Moment zusätzlich belasten.«

»Und das ist noch gelinde ausgedrückt«, sagte Castilla grimmig. »Der gemeinschaftliche russisch-amerikanische Beschluss zur Terrorismusbekämpfung wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus würde sich jede Terroristengruppe und jede skrupellose Nation auf dem Planeten, die von dem Absturz der Misha erfährt, um die Gelegenheit reißen, dieses Arsenal zur biologischen Kriegsführung an sich zu bringen, indem sie es schlicht und einfach dort aufsammelt. Ganz nebenbei, General, von welcher Menge Kampfstoff reden wir hier überhaupt? Von wie vielen Pfund oder, besser gesagt, Kilogramm?«

»Tonnen, Mr. President.« Der Gesichtsausdruck des Russen war versteinert. »Die Misha 124 hatte zwei Tonnen waffenfähiges Anthrax an Bord.«

Der Marinehubschrauber entfernte sich knatternd über den Baumwipfeln und brachte General Baranov wieder nach Washington, D.C., und in die russische Botschaft, während Samuel Adams Castilla langsam zur Aspen Lodge zurückging. Seine Wachen vom Secret Service gaben ihm aus der Ferne Deckung. Für den Leiter des Teams lag es auf der Hand, dass der Präsident keine andere Gesellschaft als die seiner eigenen Gedanken wünschte.

Auf der Veranda der Lodge hatte eine neue Gestalt am Tisch Platz genommen: ein relativ kleiner Mann in seinen Sechzigern, mit grauem Haar und hängenden Schultern. Nathaniel Frederic Klein wies keinerlei Ähnlichkeit mit der klischeehaften Vorstellung auf, die man sich gemeinhin vom Chef eines Spionagerings macht. Er war eine ausgesprochen unauffällige Person, ein Mensch, der hart an seiner Anonymität arbeitete. Man hätte ihn bestenfalls für einen pensionierten Geschäftsmann oder Lehrer gehalten. Und doch war er ein vom Dienst abgehärteter Veteran der CIA und Leiter der streng geheimen Einheit für das Zusammentragen von nachrichtendienstlichen Informationen und für verdeckte Aktionen in der westlichen Hemisphäre.

Nicht lange nach Antritt seiner ersten Amtsperiode war Präsident Castilla mit einem Problem konfrontiert worden, das unter dem Namen »Hades-Programm« Bekanntheit erlangt hatte. Dabei handelte es sich um eine Serie von skrupellosen Terroranschlägen mit biologischen Waffen, die weltweit Tausende von Todesfällen hervorgerufen hatten und um Haaresbreite Millionen von Menschen getötet hätten. Nachdem die Krise ausgestanden war, hatte sich Castilla in der Rückschau zu gewissen unheilvollen Schlussfolgerungen gezwungen gesehen, was die Fähigkeit Amerikas im Umgang mit derlei Bedrohungen betraf.

Die amerikanischen Nachrichten- und Spionageabwehrdienste wurden allein schon durch ihre Größe und die Bandbreite ihrer Aufgabenbereiche zunehmend schwerfälliger und von ihrer eigenen Bürokratie behindert. Kritische Informationen wurden unter Verschluss gehalten und erreichten nicht den Bestimmungsort, an dem sie dringend benötigt wurden. Kleinliche Eifersüchteleien zwischen den Abteilungen führten zu überflüssigen Reibereien, und eine wachsende Anzahl von hauptberuflichen Drückebergern und Ausbremsern würgte jede Initiative innerhalb ihrer Organisationen ab und beeinträchtigte Amerikas Reaktionsvermögen auf die im raschen Wandel begriffene globale Situation enorm.

Castillas Verwaltung war schon immer unkonventionell gewesen, und seine Reaktion auf den Hades-Vorfall war es ebenfalls. Er hatte Fred Klein, einen zuverlässigen alten Freund der Familie, damit betraut, um eine handverlesene kleine Kerntruppe von Spezialisten in militärischen und zivilen Bereichen herum eine ganz neue Organisation ins Leben zu rufen, deren Mitarbeiter nicht den regulären Nachrichtendiensten des Landes entstammten.

Diese »frei verfügbaren« Agenten wurden sowohl aufgrund ihrer außerordentlichen Fähigkeiten als auch aufgrund ihres Mangels an persönlichen Bindungen und Verpflichtungen ausgewählt. Sie hatten sich nur gegenüber Klein und Castilla zu verantworten. Covert One wurde durch staatliche »schwarze« Vermögenswerte finanziert und stand somit außerhalb der herkömmlichen Endlosschleife von Haushaltsdebatten im Kongress. Diese als streng geheim eingestufte Nachrichteneinheit war der starke Arm des Präsidenten der Vereinigten Staaten, ein ihm persönlich unterstelltes ausführendes Organ.

Aus diesem Grund hatte Castilla Klein, während seiner Besprechung mit dem russischen General, auf Abruf bereitstehen gehabt.

Ein Getränkewagen war neben den Tisch geschoben worden, und vor jedem Platz standen zwei Schnapsgläser, eines davon mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt, das andere mit Wasser.

»Bourbon und Leitungswasser, Sam«, sagte Klein und hob sein Whiskeyglas. »Es ist zwar noch ein wenig früh am Tag, aber ich dachte mir, du könntest einen gebrauchen.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Castilla, als er sich auf seinen Stuhl sinken ließ. »Du hast alles mit angehört?«

Klein nickte. »Ich hatte einen klaren Empfang auf dem Richtmikrofon.«

»Was meinst du dazu?«

Klein lächelte ohne jede Spur von Humor. »Sie haben die oberste Befehlsgewalt, Mr. President. Sag du mir, was du davon hältst.«

Castilla schnitt eine Grimasse und hob sein Glas. »So, wie die Dinge im Moment stehen, sind sie verfahren. Und wenn wir nicht außerordentlich vorsichtig sind und extremes Glück haben, dann wird sich das Ganze noch weiter auswachsen. Fest steht, dass der Beschluss zur Terrorismusbekämpfung nicht die geringste Chance hat, wenn Senator Grenbower Wind davon bekommt. Verdammt nochmal, Fred, die Russen brauchen unsere Hilfe, und wir können sie ihnen nicht abschlagen.«

Klein zog eine Augenbraue hoch. »Im Wesentlichen reden wir von Militärhilfe, die Amerika der ehemaligen Sowjetunion zukommen lässt, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in beratender Funktion. Das geht vielen Leuten nach wie vor gegen den Strich.«

»Ein balkanisiertes Russland würde ihnen aber auch nicht passen! Wenn die Russische Föderation in die Brüche geht, und diese Gefahr besteht, dann könnten wir es mit Jugoslawien hoch zwei zu tun bekommen!«

Klein trank einen Schluck Whiskey. »Du rennst offene Türen ein, Sam. Das russische Übel, das wir bereits kennen, ist besser als Dutzende von Möglichkeiten, die wir bisher noch nicht kennen. Die Frage ist auch hier wieder einmal, wie wir vorgehen wollen.«

Castilla zuckte die Achseln. »Ich weiß, wie ich gern vorgehen würde, und ich wünschte, wir könnten es tun: mit einem Geschwader von Strike Eagles, die mit präzisionsgesteuerten Thermitbomben ausgerüstet sind. Wir verbrennen das verdammte Ding an Ort und Stelle und mit ihm alles, was es geladen hat. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Die Medien wissen weltweit von der Existenz des Flugzeugs. Wenn wir es ohne eine stichhaltige Erklärung zerstören, wird jeder Auslandsberichterstatter Nachforschungen anstellen. Und ehe wir uns versehen, steht uns eine Untersuchung durch den Kongress ins Haus – genau das, was wir und die Russen unter gar keinen Umständen wollen.«

Klein nippte an seinem Whiskey und trank dann einen Schluck Leitungswasser. »Ich glaube, der erste Schritt könnte in einer Überprüfung bestehen, Sam. Darin, dass wir selbst die Fakten überprüfen. Vielleicht sind wir alle zu voreilig – du, ich, die Russen –, und es gibt gar kein Problem.«

Castilla zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommst du darauf?«

»Die sowjetische Flugzeugbesatzung hatte den Befehl, im Notfall den Behälter mit dem Kampfstoff abzuwerfen. Wir wissen noch nicht einmal mit Sicherheit, ob diese Ladung Anthrax nicht schon seit einem halben Jahrhundert auf dem Grund des Nordpolarmeers vor sich hin modert.

Das Wrack eines fünfzig Jahre alten sowjetischen Bombers auf einer arktischen Insel wäre an und für sich noch keine unüberwindliche Schwierigkeit, selbst dann nicht, wenn er zum Einsatz von Biowaffen aufgerüstet worden wäre. Wie du bereits hervorgehoben hast, wäre das Flugzeug allein nichts weiter als eine Anekdote aus den Zeiten des Kalten Krieges. Was dem Problem die eigentliche Brisanz gibt und es politisch schwer verdaulich macht, ist das mögliche Vorhandensein von Anthrax. Wir müssen herausfinden, ob die Substanz noch an Bord ist, und zwar bevor irgendein übereifriger Liebhaber von alten Kriegsflugzeugen oder ein Extremtourist beschließt, sich im Innern dieses Wracks umzuschauen. Wenn sich kein Kampfstoff im Flugzeug befindet, dann können sich alle entspannt zurücklehnen, und wir können die ganze Frage dem Smithsonian Air and Space Museum übergeben.«

»Wie lautet Ihr Vorschlag, Direktor?« Sam Castilla war jetzt nicht mehr Sam Castilla. Er war der Präsident der Vereinigten Staaten.

Klein öffnete eine dünne Dokumentenmappe, die neben ihm auf dem Tisch gelegen hatte. Sie enthielt Ausdrucke aus der Covert-One-Datenbank, die in den ersten Minuten nach Baranovs Aufbruch angefertigt worden waren. »Laut den Berichten des Leiters der wissenschaftlichen Expedition auf der Insel hat bisher noch niemand den Unfallort betreten. Sie haben das abgestürzte Flugzeug nur aus der Ferne fotografiert. Das könnte sich sowohl für die Expeditionsmitglieder als auch für uns als ein außerordentlicher Glücksfall erweisen.

Mr. President, ich schlage vor, wir entsenden ein kleines Team von Covert One, das für Gebirgs- und Arktisoperationen ausgerüstet wird, bestehend aus einem Spezialisten für biologische Kriegsführung, einem Experten für die Waffensysteme der Sowjet-Ära und genügend Verstärkung. Dieses Team soll die Lage sondieren und uns Bericht erstatten. Wenn wir erst einmal zuverlässige Informationen haben, können wir auf dieser Grundlage ein stichhaltiges Szenario für unsere Reaktion entwickeln.«

Castilla nickte. »Das leuchtet mir ein. Wann geben wir Ottawa Bescheid? Diese Insel – Wednesday heißt sie, glaube ich – liegt in der kanadischen Arktis. Das ist deren Hoheitsgebiet. Kanada hat ein Recht darauf, zu erfahren, was vorgeht.«

Klein schob nachdenklich seine Lippen vor. »Du kennst ja den alten Spruch, Sam: ›Zwei Männer können ein Geheimnis bewahren, vorausgesetzt, einer von beiden lebt nicht mehr.‹ Wenn wir die Sicherheitsmaßnahmen in dieser Angelegenheit ernst nehmen wollen, dann müssen wir die Ausbreitung von Informationen einschränken.«

»Das ist ein verdammt fieses Benehmen gegenüber einem Nachbarn, Fred. Wir hatten zwar schon unsere Meinungsverschiedenheiten mit den Herren im Norden, aber sie sind trotzdem ein alter und wertvoller Verbündeter. Ich möchte nicht riskieren, dass diese Beziehung weiter beschädigt wird.«

»Dann probieren wir eben Folgendes«, erwiderte Klein. »Wir informieren Ottawa darüber, dass die Russen an uns herangetreten sind, weil es sich bei diesem mysteriösen abgestürzten Flugzeug um eine sowjetische Maschine handeln könnte. Wir sagen, wir seien uns keineswegs sicher. Es bestünde immer noch die Möglichkeit, dass es sich um eines unserer Flugzeuge handeln könnte, und daher wollten wir ein gemeinsames Untersuchungsteam aus Amerikanern und Russen hinschicken, das lediglich feststellen soll, wem das Flugzeug gehört. Wir werden sie darüber unterrichten, was wir dort in Erfahrung bringen.«

Klein zog einen weiteren Ausdruck aus der Mappe. »Hier steht, dass unsere Wetter- und Ozeanographiebehörde NOAA und die amerikanische Küstenwache der multinationalen Expedition von Wissenschaftlern auf der Insel logistische Unterstützung zukommen lassen. Der Teamleiter ist Kanadier und betätigt sich ohnehin schon als Bevollmächtigter der kanadischen Regierung vor Ort. Wir können vorschlagen, ihn ebenfalls als Verbindungsmann zu nutzen. Wir können außerdem darum bitten, dass der Leiter der Expedition seine Leute bis zum Eintreffen unseres Teams möglichst weit von dem abgestürzten Flugzeug fern hält, um eine Zerstörung von … sagen wir mal … Zeugnissen der Vergangenheit und forensischen Indizien zu verhindern.«

»Damit könnten wir mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen«, stimmte Castilla ihm zu.

»Die Einsatzkräfte der kanadischen Regierung sind an der arktischen Grenze recht spärlich«, fuhr Klein fort. »Ich habe den Verdacht, man wird es uns gern überlassen, ihnen die Klärung dieser unwesentlichen Frage abzunehmen. Wenn es kein Problem mit dem Anthrax gibt, dann kann es uns nicht schaden, wenn die kanadische Regierung nichts weiß. Falls es tatsächlich ein Problem gibt, können wir den kanadischen Premierminister immer noch hinzuziehen.«

Castilla nickte. »Ich glaube, das ist ein akzeptabler Kompromiss. Du sprachst von einem russisch-amerikanischen Team. Hältst du das für ratsam?«

»Ich habe den Verdacht, es wird sich nicht vermeiden lassen, Sam. Bei allem, was ihre Staatssicherheit betrifft, ob in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft, werden die Russen dabei sein und mitmischen wollen. Ich wette darauf, dass Baranov, sowie wir ihm mitteilen, dass wir eine Untersuchung des Absturzes in die Wege leiten, darauf bestehen wird, einen russischen Bevollmächtigten mitzuschicken.«

Castilla leerte sein Whiskeyglas und verzog das Gesicht, als der Schnaps in seiner Kehle brannte. »Das führt uns zur nächsten wichtigen Frage. Reden die Russen offen mit uns? Bei dem Bioaparat-Vorfall haben sie es jedenfalls mit Sicherheit nicht getan.«

Klein zögerte seine Antwort hinaus. »Sam«, sagte er schließlich, »ob er sich gegenüber einem Zaren, einem Premierminister oder einem Präsidenten verantwortet – ein Russe ist und bleibt nun mal ein Russe. Auch nach dem Fall der Berliner Mauer haben wir es immer noch mit einer Nation zu tun, in der Komplotte automatisch geschmiedet werden und Paranoia als ein Selbsterhaltungsmechanismus gilt. Ich wette mit dir um eine Flasche von diesem guten Bourbon, dass sie uns in dieser Angelegenheit nicht die ganze Geschichte erzählen.«

Castilla lachte leise in sich hinein. »Die Wette ist abgelehnt. Wir werden also davon ausgehen, dass sie Hintergedanken haben und in Wirklichkeit einen ganz anderen Plan verfolgen. Deinen Leuten fällt die Aufgabe zu, intuitiv zu erfassen, worum es sich dabei handelt.«

»Ich habe bereits zwei hervorragende altgediente Agenten im Sinn, aber es kann sein, dass ich mindestens einen Spezialisten von außen zu ihrer Verstärkung heranziehen muss.«

Der Präsident nickte. »Du hast den üblichen Blankoscheck, Fred. Stell dein Team zusammen.«

Kapitel vier

Huckleberry Ridge,Trainingslager für Gebirgsjäger

Den ganzen Vormittag über hatte ein heftiger Krieg zwischen kleinen Einheiten auf den Hochgebirgswiesen und den bewaldeten Hängen der Cascade Range getobt. Die Männer waren von Felsen zerschrammt und von den Stacheln der Araliengewächse zerkratzt, und der Schweiß hinterließ Spuren in der Tarnfarbe auf ihren Gesichtern, als Jon Smith und die drei anderen Mitglieder seines Übungstrupps sich hinter den vermoderten Stamm einer Fichte fallen ließen, um Deckung zu suchen.

Der Gebirgsgrat lag vielleicht fünfzig Meter vor und über ihrer Stellung an der Baumgrenze, am oberen Ende eines ungeschützten Hangs, der mit geisterhaft bleichen Baumstümpfen gesprenkelt war und den niedriges Gestrüpp verwahrlost wirken ließ. Auf der anderen Seite des Kamms lag bestimmt ein weiterer ungeschützter Hang und darunter eine weitere Baumgrenze, und möglicherweise befand sich dort ein weiterer Übungstrupp, der ihrem eigenen ganz ähnlich war. Eine andere Gruppe von Kursteilnehmern, die für den heutigen Tag den »Roten Streitkräften« zugeteilt worden waren, dem Feind.

Bis auf ein paar vertrocknete Grashalme, die in der sanften Brise schwankten, rührte sich nichts. Smith, der den Blick auf den Bergkamm gerichtet hatte, streifte mühsam die Gurte seines Rucksacks ab. »Ich bin gleich wieder da, Corporal. Ich will nur schnell nachsehen, ob wir vielleicht auf der anderen Seite des Gipfels Gesellschaft haben.«

»Was sollen wir solange tun, Sir?«, erkundigte sich sein stellvertretender Teamleiter, ein schlaksiger junger Fallschirmjäger von der 82sten Luftlandetruppe. Er und die beiden anderen Mitglieder des Stoßtrupps lagen in gleichmäßigen Abständen auf dem Waldboden hinter dem Baumstamm.

»Rühren Sie sich nicht vom Fleck«, erwiderte Smith unwirsch. »Es ist sinnlos, dass außer mir noch jemand aus der Deckung hervorkommt.«

»Wie Sie meinen, Sir.«

Smith schlängelte sich über den Baumstamm. Er hatte sein Gewehr quer auf den Unterarmen liegen, als er sich bäuchlings den Hang zum Kamm hinaufzuwinden begann. Den Pfad, auf dem er durch das offene Gelände kriechen würde, hatte er sich bereits genau zurecht gelegt, einen gewundenen Weg, der die dichtesten Büsche und die dicksten umgestürzten Baumstämme für einen maximalen Sichtschutz nutzen würde.

Smith ließ sich Zeit und plante genau, wie er sich kriechend Zentimeter um Zentimeter vorantasten würde, bis hin zu den Auswirkungen, die seine Bewegungen auf jeden einzelnen der abstehenden kleinen Zweige des Gestrüpps haben würden. Eine Python auf der Jagd wäre auffälliger gewesen.

Vorhaben ausgeführt. Er bezog Stellung auf dem Gipfel, und die andere Seite des Berghangs erstreckte sich unter ihm. Weiteres wirres Gestrüpp, weitere umgestürzte Baumstämme, von denen der Sturm die Rinde abgeschält hatte, und eine weitere Baumgrenze. Die tief angesetzten Äste der Nadelbäume warfen im Sonnenlicht dichte Schatten. Smith presste sich flach auf den Boden und schob die SR-25 behutsam nach vorn. Er schnippte die Schutzkappen vom Zielfernrohr, robbte noch einen letzten halben Meter voran und machte sein Gewehr gefechtsklar.

Seine Waffe war eine Neuheit, die bei seinem letzten Sondereinsatz noch nicht auf dem Markt gewesen war. Die SR-25 war von Eugene Stoner entwickelt worden, einem meisterlichen Waffenschmied. Es handelte sich um ein taktisches Scharfschützengewehr, eine halbautomatische Waffe, die mit einem Zielfernrohr ausgerüstet war und der aus einem 20-Patronen-Stangenmagazin NATO-Patronen vom Kaliber 7.62 zugeführt wurden. Die SR besaß nicht nur eine beträchtlich größere Reichweite, Treffsicherheit und Feuerkraft als das herkömmliche Sturmgewehr, sondern sie war auch noch leicht und handlich genug, um sie als Primärwaffe mit sich herumzutragen, zumindest dann, wenn man ein Mann von Jon Smiths Statur war.

Im Lauf der vergangenen zwei Wochen hatte Smith das leistungsfähige Ungetüm ins Herz geschlossen und war bereit gewesen, die zusätzliche Last zu tragen und sich bei Manövern mit der Länge des sperrigen Laufs abzufinden. Gemeinsam mit den anderen Kursteilnehmern hatte er die Feinheiten der SR erörtert und ihre Vorzüge gepriesen. Jetzt hatte er die Absicht, sich ihre Qualitäten zunutze zu machen.

Langsam ließ Smith das Fadenkreuz im Zielfernrohr über die Baumgrenze am unteren Ende des Hangs gleiten. Jedes potentielle Ziel würde vermutlich ebenso großen Wert wie er darauf legen, in Deckung zu bleiben und sich verborgen zu halten.

In ritterlicheren Zeiten, die längst der Vergangenheit angehörten, waren Krankenträger, Sanitäter und Militärärzte als Zivilisten eingestuft worden. Das Tragen von Waffen und die Teilnahme am aktiven Kampfgeschehen war ihnen untersagt gewesen, doch sie waren auch durch die Richtlinien der Kriegsführung geschützt, die sie auf dem Schlachtfeld zu unzulässigen Zielen erklärten. Aber mit dem Aufkommen der asymmetrischen Kriegsführung hatten sich auch die Feinde verändert; sie gehorchten nur den Gesetzen der Barbarei. In jemandem, der die Armbinde des Roten Kreuzes trug, sahen sie lediglich ein hervorragendes Ziel. In einer solchen Umgebung wurde das Motto der Marine »Jeder Mann ein Schütze« zur Notwendigkeit und zu einer Frage des gesunden Menschenverstands.

Smith schloss die erste Peilung mit dem Zielfernrohr ergebnislos ab. Irgendwo dort unten mussten diese Mistkerle doch stecken.

Da! Eine kaum wahrnehmbare Bewegung unter dieser Zeder. Jemand hatte seinen Kopf zurückgeworfen, vielleicht um eine der allgegenwärtigen Wespen zu verscheuchen. Jetzt konnte Smith mit Mühe und Not eine Gesichtshälfte mit Tarnfarbe erkennen, die um den Baumstamm herum lugte.

Wenige Meter entfernt trat ihm plötzlich der Umriss einer zweiten gut getarnten Gestalt, die sich im Unterholz flach ausgestreckt hatte, klar vor Augen. Dort mussten sich mehrere Mitglieder des Stoßtrupps verbergen, aber er würde sich mit diesen beiden begnügen. Er hatte sich ohnehin schon zu lange nicht vom Fleck gerührt. Sie würden Jagd auf ihn machen, wie er Jagd auf sie gemacht hatte. Höchste Zeit, zuzuschlagen und zu verduften!

Der Mann hinter der Zeder war schwerer zu treffen. Smith würde ihn als Ersten ausschalten. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs richtete sich abrupt wieder auf die Stirn des rettungslos verlorenen Soldaten, und Smiths Finger spannte sich um den Abzug.

Die Stoner gab einen einzelnen lautstarken Schuss ab, aber nur ein fast unsichtbarer Lichtimpuls raste auf sein Ziel zu. Ausgelöst von dem Knall und dem Rückstoß der Platzpatrone schoss der Strahl aus der Laserröhre hervor, die unter dem schmalen Lauf des Scharfschützengewehrs klemmte, und aktivierte die Sensoren auf der MILES-Rüstung des Mannes, auf den er gezielt hatte.

Das Multiple Integrated Laser Exercise System, kurz MILES genannt, war die Vorrichtung, mit der die US Army bei ihren erschreckend realistischen Manövern die Trefferzahl ermittelte. Ein blendend blaues Strobelight begann, unter der Zeder zu blinken, um aller Welt mitzuteilen, dass gerade jemand »gestorben« war.

Unter dem angrenzenden Gestrüpp war eine ruckartige Bewegung zu erkennen, ein reflexhaftes Zusammenzucken, das sich nicht unterdrücken ließ, und Smith visierte die Stelle an und feuerte schnell hintereinander eine Salve von drei Schüssen ab. Ein zweites Strobelight gab einen weiteren tödlichen Treffer bekannt.

Smith rollte sich hinter den Bergkamm zurück. Für einen Regierungsjob war das gut genug. Jetzt musste er nur noch sehen, wie er von hier verschwand …

Der Waldrand unter ihm flammte unter dem Feuer von Automatikwaffen auf, gefolgt von blauen MILES-Strobelights, die im Schatten der Bäume blinkten.

Er hatte sich zu lange Zeit gelassen! Jemand hatte sich von hinten an den Rest seines Trupps herangeschlichen. Smith zog sich in eine kauernde Haltung hoch und versuchte, die veränderte Situation zu erfassen. Der Kampf schien im Wald direkt unter ihm zu toben. Er konnte sich seitlich am Kamm entlang vorarbeiten und sich absetzen … Nein, verdammt nochmal! Das da unten war sein Team!

Mit dem Gewehr im Anschlag kam er aus der Deckung und rannte den Hang hinunter auf die Baumgrenze zu, schlug Haken und bemühte sich, kein leichtes Ziel zu bieten. Eine Automatikwaffe feuerte knatternd eine lange Salve ab, und das Licht auf Smiths MILES-Rüstung leuchtete hell auf; der Warnton erklärte ihn für tot.

Smith richtete sich auf und ärgerte sich über sich selbst.

Der Platzpatronenbeschuss endete, und ein Mann tauchte zwischen den Bäumen auf, derselbe Unteroffizier, der mit Smith das Abseilen aus großer Höhe geübt hatte. Er war einer der Ausbilder und Beobachter dieser Phase der heutigen Übung. »Sie sind mausetot, Colonel«, rief er. »Lassen Sie uns jetzt Mittagspause machen.«

Das typische Mittagessen der Ranger stand ihnen bevor: für jeden ein Energieriegel und ein großer Schluck lauwarmes Wasser aus einem Trinkrucksack; die erfolgreichen Schützen und die Erschossenen würden gemeinsam zusammenbrechen und sich Seite an Seite unter den Bäumen ausruhen.

Es würde aber keine echte Ruhepause sein. Ein solches Konzept war dem Programm fremd. Waffen und Gerätschaften mussten gereinigt werden, Munitionstaschen mit neuen Platzpatronen aufgefüllt, Landkarten studiert und Kritik an den morgendlichen Übungen entgegengenommen werden. Aber es war eine Chance, Helm und Rüstung abzulegen und im Schatten zu sitzen, eine Gelegenheit, die brennende Lunge kurz zu schonen und die schmerzenden Muskeln für ein paar kostbare Minuten zu lockern. Ein Genuss, doch Smith weigerte sich, ihn auszukosten.

Grimmig breitete er einen Poncho auf dem Waldboden aus, nicht etwa für sich, sondern für die SR-25. Er packte seine Utensilien zur Waffenreinigung aus und begann, das Gewehr auseinanderzunehmen und die Pulverrückstände zu entfernen. Er hatte zwar nur zwei Schüsse abgegeben, aber er brauchte etwas, womit er sich beschäftigen konnte, während er innerlich gegen sich selbst wütete.

Der ehemalige Ranger und jetzige Ausbilder kam auf Smith zu, der im Schneidersitz auf dem Poncho saß, und ließ sich auf einem Baumstamm in der Nähe nieder.

»Möchte mir der Colonel vielleicht sagen, wie er diesen Einsatz verpatzt hat, Sir?«

Smith schob den Putzstock in die SR. »Ich habe nicht im Auge behalten, was sich hinter mir getan hat, Sergeant. Während ich auf das Ziel auf der anderen Seite des Gipfels fixiert war, habe ich zugelassen, dass Teile der Roten Streitkräfte hinter mich gelangen. Das war eine Dummheit, eine bodenlose Dummheit.«

Der Unteroffizier sah ihn finster an und schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Ihnen entgeht das Wesentliche. Es war ein noch dümmerer Fehler. Sie haben Ihre Leute weder Ihren noch den eigenen Rücken decken lassen.«

Smith blickte auf. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass Sie Ihr Team nicht genutzt haben, Sir. Sie haben die Männer nicht auf Überwachungsposten stationiert, sondern ihnen lediglich gesagt, sie sollten sich nicht von der Stelle rühren. Vielleicht wären sie sogar damit durchgekommen, wenn ihr stellvertretender Teamleiter ein erfahrener Unteroffizier gewesen wäre. Dann hätte er von sich aus Verteidigungsmaßnahmen ergriffen. Man hätte es ihm gar nicht erst befehlen müssen. Aber Sie hatten einen grünen Jungen zugeteilt bekommen, der das Denken seinen Vorgesetzten überlässt. Sie haben die Fähigkeiten Ihrer Leute nicht berücksichtigt. Das war Ihr zweiter Fehler.«

Smith nickte zustimmend. »Was noch?«

»Auf dem Berggrat hätten Sie ein weiteres Augenpaar gut gebrauchen können. Dann hätten Sie Ihre Ziele unter Umständen schneller erfasst und hätten eher wieder von dort verschwinden können.«

Smith zog gar nicht erst in Betracht, ihm zu widersprechen. Man erhob keine Einwände, wenn man selbst wusste, dass man im Unrecht war. »Verstanden. Ich gebe Ihnen in allen Punkten Recht, Sergeant. Ich habe es vermasselt.«

»Ja, Sir. Das ist wahr. Aber die Art und Weise, auf die Sie es vermasselt haben …« Der Sergeant zögerte. »Ich bitte um Verzeihung, Colonel, aber darf ich Ihnen inoffiziell etwas sagen?«

In die Stimme des Rangers hatte sich jetzt eine Förmlichkeit eingeschlichen, die häufig zum Vorschein kam, wenn ein Unteroffizier gegenüber einem Vorgesetzten ein potentiell heikles Thema anschnitt.

»Ich bin hier, um etwas dazuzulernen, Sergeant.«

Der Ausbilder kniff die Augen zusammen und sah Smith nachdenklich an. »Sie sind Agent, nicht wahr, Colonel? Ein echter Agent, nicht nur ein Pillendreher, der eine Bestätigung für seine Teilnahme am Kurs braucht.«

Smith wollte Zeit gewinnen. Er ölte den abmontierten Bolzen seines Gewehrs sorgfältig ein, während er über seine Antwort nachdachte.

Covert One existierte nicht. Smith gehörte keiner derartigen Organisation an. Dabei musste er bleiben. Und doch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass dieser angegraute Mann mit seiner Erfahrung bei Sondereinsatzkommandos ihn durchschauen würde, wenn er ihm Blödsinn erzählte. Außerdem war Smith hierher gekommen, um etwas zu lernen, vor allem über sich selbst.

Die Originalausgabe THE ARCTIC EVENT erschien bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2009

Copyright © 2007 by Myn Pyn, LLC Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © shutterstock / Stephen Strathdee Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design, München Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

eISBN: 978-3-641-09385-3

www.heyne.de

www.randomhouse.de

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