Das Buch der Schurken - Martin Thomas Pesl - E-Book

Das Buch der Schurken E-Book

Martin Thomas Pesl

4,8

Beschreibung

Die genialsten Schurken der Weltliteratur Was wäre die Welt ohne Schurken? Unfassbar langweilig: Sherlock Holmes ohne Moriarty, Paris ohne Fantômas oder gar das Monster ohne Frankenstein? Im Herrn der Ringe würde vermutlich ununterbrochen gepicknickt, Alice würde den lieben langen Tag nur durchs Wunderland hopsen und Hannibal Lecter an Sojawürstchen knabbern. Schurken machen das Leben erst spannend, das unserer Helden und natürlich auch unseres. Martin Thomas Pesl hat die 100 genialsten und coolsten Bösewichte der Weltliteratur zur verschmitzten Schurkenparade versammelt. Mit Schurkenskala.

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Die 100 genialstenBösewichte der Weltliteratur

ausgewählt, entlarvt und vorgestellt von Martin Thomas Pesl

illustriert von Kristof Kepler

VORWORT

Von 2008 bis 2015 hatte ich den Auftrag des Magazins WIENER, in jeder Ausgabe einen Klassiker der Weltliteratur in einem unterhaltsamen Kurztext für Menschen zu behandeln, die das Werk nicht gelesen, wahrscheinlich aber davon gehört haben. Ich – ein leidenschaftlicher Leser, der nicht versteht, warum manche Leute sich nicht für Bücher interessieren, und umgekehrt keine Begründung braucht, wenn jemand Bücher mag – war also jahraus, jahrein mit der Frage beschäftigt, was einen Romanklassiker ausmacht und warum man ihn auch eine signifikante Zeit nach seinem Erscheinen noch genießen kann.

Sarah Legler und Jorghi Poll vom Verlag Edition Atelier luden mich daraufhin ein, dieser Frage auch in Buchform nachzugehen, und zwar mit Blick auf ein ganz bestimmtes Detail: der Figur des Schurken in der Weltliteratur. Was das ist, fanden wir in weiterer Folge für uns heraus. Die Definition von Schurke umfasst natürlich Schurken und Schurkinnen, Bösewichte, Unsympathen, Antagonistinnen, Fieslinge, Gauner, Egomanen, üble Hunde und sonstige widrige Mächte. Sie wollen jemandem Böses oder sich selbst – und nur sich selbst – Gutes. Sie richten Schaden an und entschuldigen sich nicht sofort ehrlich dafür. Sie begehen Verbrechen und wissen dabei genau, was sie tun. Viele wünschen sich einfach, sie wären nicht da – bis auf die Leserinnen und Leser, die diese Figuren meistens am spannendsten finden und daher zum Kult erhoben haben.

Meine Vorgehensweise war ähnlich wie bei der WIENER-Klassikerrubrik: Lektüre von und zu den entsprechenden Werken (wir beschränkten uns auf Romane, weil die Schurkenflut sonst allein schon dank Shakespeare nicht zu bewältigen gewesen wäre) und Verfassen eines Textes – so entstanden genau 100 Lexikoneinträge zu den nicht so netten Figuren aus Büchern.

Wer schafft es auf die Liste?

Bis es so weit war, machte unsere Liste mehrere Fassungen durch: Manche Schurken disqualifizierten sich nach erfolgter Lektüre; auf andere stieß man erst durch zwanglose Plaudereien (danke, Crowd!). Das finale Verzeichnis ist natürlich nicht vollständig und kann es niemals sein, und doch erhebt die Liste Anspruch auf 1.) absolute Subjektivität und 2.) den Versuch einer Ausgewogenheit zwischen bekannten und unbekannten Figuren, männlichen und weiblichen, den Regionen und Sprachen der Welt und den Epochen. Vor allem aber: 1.) absolute Subjektivität, die beispielsweise zuließ, dass aus dem Harry-Potter-Universum nicht der Dunkle Lord selbst unter die Lupe genommen wurde, sondern die kitschige Mitläuferin Dolores Umbridge. Eine weitere selbst auferlegte Regel im Sinne der Diversität: nur ein Schurke / eine Schurkin bzw. nur ein Artikel pro Autor bzw. Autorin.

Schurke ist nicht gleich Schurke

Die 100 Schurken fallen in zwölf Kategorien. Diese Kategorien wurden der Liste im Nachhinein auferlegt; denn die Gründe, die jemanden oder etwas schurkisch sein lassen, sind natürlich noch mannigfaltiger. Bücher, die wir verschlingen und die zu Klassikern werden, leben von Handlungen. Handlungen leben von Konflikten. Konflikte kann es auch geben, wenn alle es gut meinen. Konflikte können innere Konflikte sein. Und doch kommt es oft genug vor – im anglophonen mehr noch als im deutschsprachigen Raum –, dass uns Schreibende mit Figuren locken, die dagegen sind, die es zu bekämpfen gilt, mit denen wir uns nicht identifizieren können oder wollen. Oder mit denen wir uns durchaus identifizieren, obwohl sie gegen das Gesetz, die Moral oder die nervige Hauptfigur agieren.

Zivilisation als Gradmesser

Der älteste Schurke aus unserem Pool stammt aus einer Zeit, als die Bewertungsmechanismen der Menschen für lebende Wesen noch in den Kinderschuhen steckten – ganz zu schweigen von der Abstraktion in fiktive Sphären. Enkidu aus dem 4000 Jahre alten Gilgamesch-Epos wird erst allmählich zum Menschen, sein impliziertes Schurkentum ist das der noch fehlenden Zivilisation. Auf der anderen Seite des Zeitstrahls tobt Adam Stensen aus T. C. Boyles 2015 erschienenem Roman Hart auf Hart. Er läuft nackt durch die Wohnung seiner Freundin und barfuß durch den Wald, voller Sehnsucht nach einem pureren, raueren Leben mit weniger sinnloser, verderbter Zivilisation.

Auf den ersten Blick scheint sich also nicht viel verändert zu haben in Tausenden von Jahren der Menschheits- und Kulturgeschichte. Der Bogen ist aber denkbar weit gespannt. Auf wütende Wilde wie Enkidu oder auch Grendel aus der Beowulf-Saga folgten in den Epen und Sagen von mythologischen Götterwelten die Trickster (englisch für »Gauner, Betrüger«, aber irgendwie liebevoller), die mit kindischen Scherzen die bestehende Ordnung durcheinanderbringen – Loki aus der Edda ist das perfekte Beispiel. Je menschlicher die Helden wurden, desto mehr galt das auch für ihre Gegner. Die Trennlinien zwischen Gut und Böse wurden dabei besonders durch christliche Moralvorstellungen geprägt.

Der Moralapostel als Schurke

Das tun sie auch heute noch, wenn auch gelegentlich unter umgekehrten Vorzeichen. Nicht selten stehen seit der Aufklärung die Klerikalen und Moralapostel am literarischen Pranger: der Baron von Innstetten etwa mit seiner letztlich tödlichen Überreaktion auf das Affärchen seiner Effi Briest oder der mörderische Mönch aus Der Name der Rose auf seinem Kreuzzug gegen das Lachen.

Und es müssen nicht gleich Mord und Totschlag sein (dass die nicht grundsätzlich wünschenswert sind, diese Haltung hält sich übrigens recht konstant in der Weltliteratur). Die negative Energie kann mit zunehmender Schärfung des möglichen Autorenweltblicks auch einfach von den Erwachsengewordenen, den Angepassten, eben den übermäßig Zivilisierten ausgehen. Das Fräulein Rottenmeier zum Beispiel meint es gewiss nicht böse mit der strengen Frisur und dem Unverständnis für Menschen, deren Welt nun einmal die Berge sind.

Die Industrialisierung

Die Schurken des 19. Jahrhunderts sind oft solche, die entweder im Kleinen gesellschaftliche Idyllen stören (etwa der Holländer Michel in Das kalte Herz) oder eben gesellschaftliche Zwänge etablieren (neben Heidis Fräulein Rottenmeier auch Paule Rezeau, die Viper im Würgegriff) oder in einer Ära, als die Industrialisierung bei vielen ohnehin schon Paranoia und Existenzängste weckt, »wahnsinnige« Ideen zu Fortschritt und Technik propagieren (nicht zuletzt Frankenstein mit seiner monströsen Schöpfung). Im 20. Jahrhundert war in Europa zuerst eher Schluss mit schurkisch – beziehungsweise lenkten die Weltkriege den Fokus der geschockten Menschheit eine Zeit lang auf das allzu reale Schurkentum, dem sie ausgesetzt war. Umgekehrt haben sich die Fiktionen der Nazis darüber, was ein Schurke ist, zum Glück nicht auf breiter Basis gehalten.

Weltherrschaft & Psychopathen

Zwischen den Kriegen hatte Freuds frischer, tiefer Blick in die menschliche Seele die literarischen Figuren zudem so nachvollziehbar gemacht, dass man ihnen nicht recht böse sein durfte. Erst als die Psychoanalyse schon längst Standard war, kam ein neuer Lieblingsschurke hinzu, bis heute einer der Stars auf dem fiktionalen Antagonistenparkett: der fasziniert wie ein Held begutachtete Psychopath im Spannungsverhältnis zur zivilisierten westlichen Gesellschaft. Ab dem Kalten Krieg spannen die Schurken auch noch Weltherrschaftsfantasien (siehe so ungefähr alle James-Bond-Romane von Ian Fleming). Auch die, die schon an der Macht sind, kriegen in den Büchern ihr meist grotesk überhöhtes Schurkenfett weg: Herrschende von Lateinamerika (Der Herbst des Patriarchen) über die britische Countryside(Farm der Tiere) bis Afrika (Der Herr der Krähen).

Reiche Schnösel & arme Schlucker

Womit wir bei einem neueren Feindbild wären, das mit dem Weltherrschaftsebenso eng verknüpft ist wie mit dem Psychopathenfaktor: der Schurke Kapitalismus. Ob reicher Schnösel (Der große Gatsby) oder armer Gauner (Die Elenden): Wer zu viel Geld und / oder Macht hat und / oder will, wird vom eigenen Autor zumindest kritisch beäugt (Ayn Rand bildet da die monströse Ausnahme) und gerät schnell auf dieSchurkenbahn. Patrick Bateman tickt in American Psycho sicherlich auch deshalb aus, um die ihm durch Anzug und Visitenkarten geebnete Wall Street zum gemainstreamten Reichtum zu verlassen.

Weltliteratur & Ausnahmen

Die Genreliteratur im Detail habe ich außen vor gelassen – ich würde gerne behaupten: nur aus Platzgründen, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht das Geringste von den beeindruckenden Fantasy-, Rollenspiel- und Vampirbisswelten verstehe, die sich vor mir aufgetürmt hätten, hätte ich mich darauf eingelassen. Einige der Paradeschurken, die – oft stark überzeichnet und von Grund auf böse – in erster Linie dem Unterhaltungsprinzip unterliegen, sind jedoch so legendär, dass man nicht über sie hinwegsehen konnte: Sauron etwa oder der Baron Harkonnen.

Andere haben schlichtweg Morde begangen und sind ihrer zu überführen. Obwohl mir das Genre des Whodunits deutlich näher liegt als jene von Game of Thrones und Fifty Shades of Grey, habe ich auch hier nur Mordende ausgewählt, die sich durch Besonderheiten auszeichnen – Raffinesse, Grausamkeit oder philosophische Unterfütterung: Glavinics Kameramörder zum Beispiel, oder den bei Agatha Christie, der es schafft, alle zehn Personen auf einer Insel zu töten.

Bösewichte kommen gerne auch in Büchern für junge Leser vor; je schärfer Autoren hier die Grenze zum Übel ziehen, desto erfolgreicher werden ihre Werke. Und gar nicht wenige davon bleiben in Erinnerung und haben auch in dieses Buch Eingang gefunden: vom hungrigen Tiger Schir Khan zu den Vertretern der dunklen Magie in Hogwarts und Umgebung.

Männer sind Schurken

Der Versuch eines geschlechtergerechten Blicks ist dabei zum Scheitern verurteilt. Historisch betrachtet war der Club der Weltautoren immer männlich dominiert und hat sich bevorzugt auch männliche Gegenfiguren erschrieben, während er die Frauen, wenn schon als starke, dann besonders gerne entweder als Mütter oder als erotisch vernichtende Femme fatales herbeifantasierte. Eine 50:50-Quote ist uns also nicht gelungen, bei den Autorinnen schon gar nicht, bei den Schurkinnen leider auch nicht. Die Liste beruht auf Werken von zehn Autorinnen, 83 Autoren, zwei männlichen Autorenpaaren und fünf unbekannten Verfassern. Von den 100 besprochenen Schurken sind 62 eher ein Mann, 21 eher eine Frau, acht sind Paare oder Personengruppen (jeweils unterschiedlichen Geschlechts, aber mehr Männer), fünf lassen sich als Tiere einstufen und vier passen endgültig in keine dieser Kategorien.

Schurken gibt es überall

Die Bücher stammen zu einem überraschenden Großteil aus dem englischsprachigen, gefolgt vom deutschsprachigen Raum, aber ich habe mich bemüht, auch Schurken aus kleineren Ländern Europas sowie aus Asien, Afrika und Südamerika zu Wort kommen zu lassen: Aus dem alten Arabien, aus Argentinien, China, Island, Kenia, Kolumbien, Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, der Türkei und Ungarn ist jeweils nur genau ein Buch dabei.

Der Reiz des Bösen

Mit allen schurkischen Fiktionen ist eine gewisse Lust verbunden. Es geht uns gut, also genießen wir das Böse. Gleichzeitig sagen Schurken oft mehr über die Gesellschaft ihrer Zeit aus als Helden, weil sie einerseits Feindbilder verkörpern, auf die sich alle einigen können, und andererseits eine gewisse Sehnsucht widerspiegeln, aus den bestehenden Systemen auszubrechen, unartig zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen. Ein reales Problem, das wir selbst nicht angehen können oder wollen, bleibt so, verlagert in die Lektüre, dennoch auf wohlige Art bei uns.

Oft lieben wir diese Bösen daher mehr als wir sie hassen. Oft brummen wir auch befriedigt, wenn sie ums Leben kommen. Aber selten vergessen wir sie als Erste, wenn die Lektüre länger zurückliegt – weil sie einen Nerv getroffen, uns in eine Geschichte hineingezogen und den Akt des Lesens von einem rein geistigen auch zu einem emotionalen Erlebnis gemacht haben. Den Reiz des Bösen – auch bzw. gerade weil es »nur« in einer Geschichte lebt – möchte diese Arbeit betonen und erkunden. Die launigen Illustrationen stammen aus der talentierten Hand des durchaus belesenen Kristof Kepler, der nur in einigen Fällen einzig meinen Artikel als Inspirationsquelle zur Verfügung hatte.

(K)ein Lexikon

Dieses Buch ist ein Lexikon. Das heißt, man muss es nicht von vorne bis hinten lesen. Man darf sich morgens zum Kaffee oder auf eine Zigarettenlänge ein, zwei Schurken des Tages zuführen. Man kann im Buch der Schurken blättern und überlegen, welche Romanentdeckung mit einer Prise Fiesem man als Nächstes erkunden möchte. Wer der schurkischere Hochstapler ist: Felix Krull oder der mit dem lustigen Namen, Lafcadio Wluiki? Wer zuerst böse war: Frankenstein oder sein Monster; Moby Dick oder Captain Ahab? Oder wem aus der Liste der Konzernchef XY oder die Schwester des Exfreundes eigentlich am ehesten gleicht?

Der britische Guardian hatte 2014 / 5 eine kleine Serie zum Thema Baddies in Books. Im Internet steht ein Schurken-Wiki zur Verfügung. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema in Form eines erschöpfenden Lexikons blieb bisher erstaunlicherweise aus. Auch mein Buch – ein Hochstapler wäre ich, würde ich das behaupten! – ist keine solche. Aber es macht hoffentlich Spaß. So wie geschriebene Schurken.

Martin Thomas Pesl

 

DIE VIERZIG RÄUBER

AUTOR:womöglich Antoine Galland TITEL:Tausendundeine Nacht(aus dem Arabischen von Gustav Weil)ORIGINALFASSUNG:1709

»Kameraden, jetzt kann uns nichts mehr hindern, volle Rache für die Bosheit zu nehmen, die an uns verübt worden ist. Ich kenne das Haus des Schurken, den sie treffen soll, ganz genau und habe unterwegs auf Mittel gedacht, die Sache so schlau anzugreifen, dass niemand weder von unserer Höhle, noch von unserm Schatze etwas ahnen soll; denn dies ist der Hauptzweck, den wir bei unserm Unternehmen vor Augen haben müssen, sonst würde es uns ins Verderben stürzen.

 

Da reden die Richtigen! Schurke, Bosheit, Verderben – davon müssten diese Männer eigentlich am meisten verstehen, haben sie sich doch mit der Zeit einen ordentlichen Haufen an Reichtümern erbeutet, die sie in ihrem Geheimversteck lagern. Ein frei stehender Felsen ist es, der praktischerweise eine Tür hat, die – noch praktischer – auf die Worte »Sesam, öffne dich!« reagiert. Warum das so ist, das ist nicht aus dem alten Indien über Persien und Syrien zum französischen »Entdecker« (oder gar Verfasser?) der Geschichte, Antoine Galland, durchgedrungen. Profiräuber muss man sein, oder Glück muss man haben.

Ganz unrecht hat der Räuberhauptmann aber nicht mit seiner Anschuldigung. Denn die zwei bis 40 lebendigen Räuber dieses Märchens, ob es nun vielfach überliefert oder einfach erfunden ist, sind zwar ein stattliches Schurkenkollektiv (besonders wenn man bedenkt, dass im Orient »vierzig« ein Symbol für »viele« war), aber bei Weitem nicht die einzigen Gauner: Ali Baba, seine ganze Familie und seine Dienerschaft haben es faustdick hinter den Ohren. Willkommen im wilden Schurkistan, wo ein Satz wie »Sei ruhig, liebes Weib, und mach dir keine Sorge darob, ich bin kein Dieb, denn ich habe dies alles nur Dieben genommen« alle moralischen Skrupel so gründlich ausräumt wie Ali Babas Bruder Casim die Felsenhöhle der Räuber.

Alles ist hier erlaubt und irgendwie selbstverständlich, denn es geht ja um glänzendes Gold: Eine gevierteilte Leiche wird wieder zusammengeflickt, und eine gerissene Sklavin namens Morgiane oder Mardschana wird ohne Skrupel für ihren Herren zur Massenmörderin. 37 der 40 Räuber verstecken sich in Ölschläuchen und lassen sich über einen sozusagen trojanischen Esel in Ali Babas Haus einschleusen. Ganz schön viele für einen einzigen Meuchelmord. Wären nur mehr von ihnen zu Hause geblieben, betrüge die Räuberreduktion durch Morgianes Attacke mit – wie passend! – heißem Öl nicht ganze 92,5 Prozent. Später versucht der Hauptmann selbst unter dem Decknamen Chogia Husein einen weiteren Racheakt, doch Morgianes Dolch ist schneller gezückt. Wer also ist hier der größte Schurke? Die 40 Räuber gewinnen zumindest nach Quantität.

Eine ziemliche Halunkin ist auch Scheherazade, laut Tausendundeine Nacht die Erzählerin dieser und unzähliger weiterer Geschichten. Sie erzählt buchstäblich um Kopf und Kragen. Denn um die ihr bevorstehende Hinrichtung durch den Sultan von Indien immer weiter hinauszuzögern, wendet sie einen Trick an, der heute das wichtigste Mittel jeder Fernsehserie ist: den Cliffhanger. Sie bricht einfach immer dann ab, wenn es am spannendsten ist. ■

HAUPTMANN:Chogia Husein (Deckname) HERKUNFT:ArabienNACHT:270.STÄRKE:SesamSCHWÄCHE:Öl REICHENINDEX:ÜBERLEBENDE:ERZFEINDE:Ali Baba, Morgiane

 

CAROLINE BINGLEY

AUTOR:Jane AustenTITEL:Stolz und Vorurteil(aus dem Englischen von Margarete Rauchenberger)ORIGINALFASSUNG:1813

» Ich für meinen Teil«, sprudelte sie weiter, »habe sie ja nie besonders schön gefunden. Ihr Gesicht ist zu mager, ihre Haut hat nichts Strahlendes, ihre Züge sind ganz und gar nicht hübsch, und ihre Nase hat keinen Charakter. Es liegt nichts Bemerkenswertes an ihren Zügen. Ihre Zähne sind ganz nett, aber nichts Besonderes. Und was ihre Augen anbelangt, die als so besonders schön bezeichnet wurden, so habe ich nie etwas Außerordentliches an ihnen finden können, es sei denn einen scharfen, zänkischen Blick, den ich gar nicht mag.«

 

Willkommen im viktorianischen Zickenkrieg! Caroline Bingley, die noch unverheiratete Schwester des gutaussehenden Mr. Bingley (Aussteuer: 20.000 Pfund), lebt hier voller Stolz ihre Vorurteile aus, vor allem gegenüber Elizabeth Bennet, die ihr ihren heimlichen Schwarm, den unzugänglichen Mr. Darcy, abspenstig machen will. Diese Frau ist die Intrigantin schlechthin im Universum der herzzerreißenden marriage plots aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Solange sie noch denkt, die Rivalin habe keine Chance, setzt sie ein gequältes Lächeln auf und mimt die verständnisvolle Freundin. Hinter ihrem Rücken zieht sie jedoch ungeniert über sie her wie ein gut gecoachter C-Promi im Junggesellenverkupplungsfernsehen.

Und je mehr sich der anfangs noch über allem stehende Darcy für die lebensfrohe Elizabeth zu interessieren beginnt, desto stärker engagiert sich Caroline Bingley gegen die Rivalin. Dabei bleibt sie richtig feige: Denn auf die Idee, dem Mann ihre eigenen Vorzüge vorzuführen, anstatt die Nachteile der anderen überdeutlich hervorzustreichen, kommt sie nicht. Vielleicht hat sie ja keine … Ich meine ja nur … Oh je, das steckt schon an, dieses fiese Gezwitscher.

Und doch schießt Caroline Bingley den Vogel ab. Sie geht die intrigative Extrameile. Leider konnte vor Fertigstellung dieses Lexikons nicht eruiert werden, ob sie es, gespielt von Emma Greenwell, in der 2016 erscheinenden Verfilmung der Parodie Stolz und Vorurteil und Zombies mit der verschärften Grausamkeitskonkurrenz durch die Zombies aufnehmen kann oder ob sie vielleicht selbst zu einem wird. ■

HERKUNFT: Großbritannien POSITION: Oberzicke INTRIGENSCHLEUDERGEFAHR: hoch TAKTGEFÜHL: niedrigGEHEIMNIS: steht total auf Mr. Darcy MITGIFT:Oh ja, mit Gift!ERZFEINDIN:Elizabeth Bennet CHARMANTESTER KOMMENTAR ÜBERELIZA BETH:»Ihre Zähne sind ganz nett.«

 

HOLLÄNDER MICHEL

AUTOR:Wilhelm Hauff TITEL:Das kalte Herz ORIGINALFASSUNG:1827

» Auf mehreren Gesimsen von Holz standen Gläser mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt und in jedem dieser Gläser lag ein Herz, auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf geschrieben, die Peter neugierig las; da war des Herz des Amtmanns in F., das Herz des dicken Ezechiel, das Herz des Tanzbodenkönigs, das Herz des Oberförsters; da waren sechs Herzen von Kornwucherern, acht von Werboffizieren, drei von Geldmäklern – kurz, es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgebung von zwanzig Stunden.

»Auf dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien«, heißt es bei Oscar Wilde, »wenn Wünsche enttäuscht werden und wenn sie in Erfüllung gehen. Die zweite ist viel schlimmer.« Dem Holländer Michel ist im Hauff-Märchen Das kalte Herz eine dritte einschlägige Tragödie zu verdanken: wenn man sich nämlich an der Wunscherfüllung nicht mehr erfreuen kann.

Der Holländer Michel – eigentlich müsste es ja heißen: der Holländer-Michel, denn er ist kein Holländer, sondern erlangte seinen Ruhm nur durch höchst erfolgreichen Holzexporthandel in Rotterdam – dieser Michel also, ein Berg von einem Kerl, ist ein Finanzhai, wie er im Märchenbuche steht. Nunmehr zum mythologischen Waldgeist Marke (gigantisches) »Teufelchen« geworden, agiert er als Mephisto der kühlen Berechnung und macht mit naiven Seelen – basierend auf einer zugegeben genialen Marketingidee – ein Geschäft, das nur zu deren Ungunsten ausgehen kann: Er ermöglicht ihnen Reichtum und Reisen und behält dafür ihr Herz als Pfand ein, notdürftig ersetzt durch eine steinerne Attrappe, hart und kalt, zu keinerlei Empfindung fähig.

Kurzfristig ein Vorteil, weil Skrupel und Barmherzigkeit dem unmittelbaren Gewinnmaximierungsstreben nicht mehr im Wege stehen. Auf lange Sicht aber macht das ebenso umfassende Fehlen aller positiven Gefühle das Ganze zu einem Nullsummenspiel. Symptome: Stumpfheit, Langeweile, Sinnentleerung. Nebenwirkung: Erschlagen der eigenen Frau, weil diese einem Bettler Almosen zusteckt. Hauptfigur Peter Munk hat da nur Glück, dass er beim anderen Waldgeist Marke »Engelchen«, dem Glasmännchen, noch einen Wunsch frei hat und erfährt, wie er dem Michel – bei dem das Gold das Einzige ist, was glänzt – sein richtiges Herz wieder abluchsen kann.

Antipathieverschärfend kommt noch eine gewisse Pädophilenmanier hinzu, mit der Michel gewohnt ist, sich seinen Opfern anzunähern: im Wald tiefstimmig eine zwanglose Konversation anleiern und verlockende Geschenkangebote machen. Wenn das nicht funktioniert, hinter dem armen Kinde herlaufen und ihm drohen. Es mit Schlagstöcken attackieren, die sich dann in Schlangen verwandeln, welche von kreischenden Auerhähnen gerissen werden – nun gut, das geht dann schon in eine eher romantischfantastische Ausformung des turbokapitalistischen Kinderschänders über.

Und was können jetzt also die Holländer dafür? Rein gar nichts! Auch so eine Herzlosigkeit. ■

HERKUNFT: SchwarzwaldBERUF: HolzhändlerFUNKTION: WaldgeistHOBBY:Steinmetz spielenTALENT: MarketingGRÖSSE: einen guten Kopf höher als alle BEKLEIDUNG: Wams von Leinwand, ungeheure StiefelERZFEIND: das Glasmännchen

 

URIAH HEEP

AUTOR:Charles Dickens TITEL:David Copperfield(aus dem Englischen von Gustav Meyrink) ORIGINALFASSUNG:1850

» Er folgte mir auf dem Fuße, als ich die Treppe hinabging. Er schlich dicht neben mir, als ich mich vom Hause entfernte, und schob zögernd seine langen Knochenfinger in die noch längeren Finger seiner Handschuhe.

Ich fühlte gar keine Neigung für seine Gesellschaft, aber ich mußte an Agnes’ Bitte denken und lud ihn ein, mit mir zu kommen und eine Tasse Kaffee zu trinken.

»Ach, Master Copperfield, ich bitte vielmals um Entschuldigung, Mister Copperfield, – das Master kommt mir immer so auf die Lippen – ich möchte nicht, daß Sie sich Ungelegenheiten machen, indem Sie eine so niedrige Person wie mich in Ihr Haus laden.«

»Es macht mir gar keine Ungelegenheiten«, sagte ich. »Wollen Sie?«

»Es würde mich sehr, sehr freuen«, entgegnete Uriah mit einer kriecherischen Verbeugung.

Uriah Heep, sind das nicht langhaarige Altrocker aus England? Lady in Black? … Very ’Eavy … Very ’Umble? Genau, und Letzteres hat natürlich mit ihrem Namensgeber zu tun: dem kleinen, gierigen Kriecher aus David Copperfield, für den das ’Umble-Sein, also die Demut und Unterwürfigkeit, nichts weiter ist als eine Masche.

»Master Copperfield«, redet er ihn immer an, als sie noch beide Teenager sind, aber auch später. Das ist so, wie in Wien jemandem mit »g’schamster Diener« zu begrüßen und dabei genau durchklingen zu lassen, wer hier der Diener und wer der Herr sein sollte.

Bei Charles Dickens kommen die Bösen immer als Rundumgesamtpaket daher: Sie sind gemein (oft einfach deshalb, weil sie arm sind), trickreich und obendrein auch noch hässlich und übelriechend. Es ist sehr leicht, sie nicht zu mögen, und sehr schwierig, sie loszuwerden. In Uriah Heeps Fall erlaubte sich Dickens gar einen kollegialen Seitenhieb: Vorbild für die Figur war niemand geringerer als der dänische »Märchenonkel« Hans Christian Andersen.

Uriah Heep Unlimited,das könnte doch auch eine Klebstoffmarke sein? Tatsächlich kann sich David bei aller Antipathie dem Kerl nicht entziehen. Vielleicht das Autounfallphänomen? Vielleicht der Ehrgeiz: Der muss doch irgendwo zu knacken, zu entlarven sein in seiner Schleimigkeit?

»Sehr unvorsichtig, Mister Copperfield«, würde Uriah Heep selbst es formulieren. Denn durch seine Annäherung an Uriah ist er Teil von dessen intrigantem Spiel geworden, dessen Ziel ganz straight – straighter als jede heepsche Verhaltensregung – die Entehrung des Mädchens und die Einheimsung ihres väterlichen Vermögens ist. Dabei hat sein Vater doch immer Bescheidenheit gepredigt. Und die Mutter plappert das nach: »Ury! Ury!«, und demütig solle er sein.

Und das ist das Problem: Denn natürlich wären wir nicht bei Dickens, wenn dem elendigen Uriah Heep nicht durch die Schuld des Systems einzig die Gauneroption offengeblieben wäre: »(…) wie man uns in der Schule von neun bis elf lehrte, die Arbeit sei ein Fluch, und von elf bis eins, daß sie ein Segen, eine Freude und eine Ehre sei, und ich weiß nicht, was sonst noch, was?«, sagt er mit einem höhnischen Grinsen. Wie soll man sich da auch auskennen? Eine allzu brave Welt bringt böse Menschen hervor. ■

BERUF:SchreiberFINGER:lang MERKMAL:Unterwürfigkeit VERGEHEN:Betrug INTRIGANTENFAKTOR:ERZFEINDE: Wilkins Micawber, David Copperfield VORBILD:Hans Christian Andersen

 

DIE THÉNARDIERS

AUTOR:Victor HugoTITEL:Die Elenden(aus dem Französischen von Edmund Th. Kauer)ORIGINALFASSUNG:1862

» Thénardier war ein kleiner, magerer, schwächlich aussehender Mann, der krank zu sein schien; dabei fühlte er sich glänzend, sogar seine Krankheit war nur Betrug. Er pflegte vorsichtshalber immer zu lächeln und war zu fast allen Leuten höflich, sogar zu dem Bettler, dem er einen Pfennig verweigerte. (…)

Sie sah aus wie ein Schwerathlet, der sich als Mädchen verkleidet hat. Fluchen konnte sie prachtvoll, und sie rühmte sich, daß sie eine Nuss mit der Faust sprengen konnte. Wenn sie nicht ihre Romane gelesen hätte – wovon eine gewisse Gerührtheit und Zimperlichkeit ihres Wesens herrührte –, wäre wohl niemand darauf verfallen, sie für ein Weib zu halten.

Eines muss man ihnen lassen: Sie sind ein Traumpaar. Natürlich streiten sie und gehen recht rüde miteinander um, aber sie passen unbestritten perfekt zusammen, schon deshalb, weil niemand sonst einen der beiden würde haben wollen. Wer denkt, Victor Hugos Les Misérables müsste als Die Miserablen übersetzt werden, für den sind die Thénardiers die Hauptfiguren.

Betrug und Niedertracht sind ihnen derart ins Blut übergegangen (oder waren dort immer schon drin? – durchaus eine Schwerpunktfrage dieses Romans), dass sie sogar ihren eigenen Kindern gegenüber reflexartig eine skrupellose Ausbeutungshaltung an den Tag legen. Nachdem Thénardier bei Waterloo einem General zufällig das Leben gerettet hat, hält er ihm das lange, lange vor. Und als das Gastwirtepaar das arme Mädchen Cosette in Pflege nimmt, hat es dabei natürlich auch einen goldenen Glanz in den Augen. Monatlich sieben Francs soll Cosettes Mutter Fantine ihnen schicken. Als sie erfahren, dass es sich um ein uneheliches Kind handelt, sind es plötzlich erpresserische fünfzehn, und als sie schreiben, das Kind friere, und daraufhin statt weiteren Münzen ein Wolljäckchen zugeschickt bekommen, geraten sie so sehr in Wut, dass sie Cosette die Jacke erst recht vorenthalten.

Es braucht einen durch und durch gütigen Retter, um die Kleine aus dieser Situation zu befreien: Jean Valjean, Hauptfigur und haarscharf am Jesus mit Heiligenschein vorbeigeschrammt, ist charakterlich das krasse Gegenteil der widerwärtigen Wirte. »ExtremGebing« trifft auf »Extrem-Nehming«, sodass es geradezu amüsant ist, zu sehen, mit welchem heiligen Ernst Victor Hugo an den äußersten Enden des Schwarz-Weiß-Spektrums balanciert.

Aber die Thénardiers sind nicht nur gierig, sondern auch nachtragend, insofern, als dass sie es dir nicht verzeihen, wenn du ihnen eine sichere Einkommensquelle entziehst. Und so kommt es dann noch Jahrzehnte später, als die anderen Elenden (auch Mme. Thénardier) verstorben, verhaftet, verheiratet oder sonst irgendwie in ihrem Frieden angelangt sind, zu einem Aufeinandertreffen nach dem Motto: »Wenn zwei Menschen in der Kloake sind, müssen sie einander notwendigerweise begegnen.« Ein neuerlicher Erpressungsversuch geht jedoch schief, und Thénardier fliegt in seiner gesamten erbärmlichen Habgier auf. Trotzdem kommt er davon – schluchz! –, und zwar, weil die anderen einfach so gute Menschen sind. ■

HERKUNFT: FrankreichBERUF: Gastronomiebetreiber, später BittschreiberHOBBY:GeldSCHULD:die GesellschaftFLÜSSIGKEIT: SchleimLIEB ZU KINDERN: neinERZFEIND: Jean Valjean FILMDARSTELLER: Sacha Baron Cohen und Helena Bonham Carter

 

INDIANER JOE

AUTOR:Mark TwainTITEL:Die Abenteuer des Tom Sawyer(aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl)ORIGINALFASSUNG:1876

»Das Halbblut murmelte: »Jetzt sind wir quitt, verfluchter Hund.« Er raubte die Leiche aus, und danach steckte er das Mordmesser in Potters offene rechte Hand und setzte sich auf den leeren Sarg.

 

Schwierig. Diesen Übeltäter kann man kaum mögen. Er soll fünf Leute auf dem Gewissen haben, und den Mord an Doktor Robinson, den Tom Sawyer und seine Freunde aus einem Versteck beobachten, schiebt er ganz ungeniert dem bewusstlosen Muff Potter in die Schuhe, der sich dann auch noch einbildet, es wirklich gewesen zu sein. Er geht, ohne mit der Wimper zu zucken, auf wehrlose Witwen los. Er begeht Raubzüge ohne schlechtes Gewissen.

Und doch ist da dieser Beigeschmack von Rassismus. Nicht auf Injun Joes Seite (dieser eher unfreundliche Beiname haftet ihm im Original an), sondern auf jener des Autors, der ihn schuf. Mark Twain, der als großer, humanistischer Geist gilt – hier verpackt er in einen gefürchteten, unbarmherzigen Gauner, den das ganze Dorf am Mississippi River fürchtet und hängen sehen will, seinen jugendlichen Hass auf die Indianer, die amerikanischen Ureinwohner. Dieses »Halbblut« ist klischeebeladen und karikiert, dem Leserhass ohne Umschweife zum Fraß vorgeworfen. Joe ist ein Krimineller, klar, aber »Indianer Joe« ist ein krimineller Indianer. Und das in einem der populärsten Jugendromane der Geschichte.

Als 2011 eine Debatte über die Verwendung des »N-Worts« für Schwarze in Tom Sawyers Nachfolgegeschichte Huckleberry Finns Abenteuer in den Feuilletons entbrannte, wurde argumentiert, mit dem Ausdruck sei in Mark Twains Sichtweise keinerlei abwertende Konnotation verbunden gewesen. Dass er mit dem Gauner Joe, der am Ende elendig in einer Höhle zugrunde geht, deutlich weniger behutsam umging, wurde dabei eher außer Acht gelassen. Der amerikanische Autor und Wissenschaftler Carter Revard verfasste dazu einen eigenen Artikel mit dem Titel Warum Mark Twain Indianer Joe getötet hat – und nie dafür angeklagt werden wird. Darin argumentiert er, es sei weithin bekannt, was den Schwarzen angetan worden sei, für die Ureinwohner gelte das aber nicht, also käme bei der Leserschaft und beim Autor zu Unrecht kein Mitleid mit Joe auf.

Immerhin darf er seine Rache an Doktor Robinson argumentieren, bevor er ihn ersticht: »Vor fünf Jahren hast du mich abends aus der Küche deines Vaters vertrieben, als ich kam und was zu essen wollte, und du hast gesagt, ich hätte da nix zu suchen. Und als ich geschworen hab, dass ich’s dir heimzahle, auch wenn’s hundert Jahre dauert, hat mich dein Vater wegen Landstreicherei ins Gefängnis stecken lassen. Hast du geglaubt, dass ich das vergesse?« Aber dann die Draufgabe: »Nicht umsonst fließt Indianerblut in mir.«

Mit Bauchweh also verzichten wir auf Mitleid und jubeln, als Tom den Täter überführt, jubeln auch, als er den Flüchtigen später sichtet. Jubeln, als das ganze Dorf zum Begräbnis zusammenkommt und befindet, das sei fast so schön, wie die Hinrichtung gewesen wäre. Jubeln und schlucken etwas. ■

HERKUNFT:USAKORREKTE BEZEICHNUNG:Angehöriger der Indigenen in AmerikaBERUF:GaunerTODESOPFER:NACHTRAGEND:DREIST:BELIEBT:NEMESIS:Tom Sawyer

 

JOHN SILVER

AUTOR:Robert Louis Stevenson TITEL:Die Schatzinsel(aus dem Englischen von Heinrich Conrad) ORIGINALFASSUNG: 1881

»Mit einem wilden Schrei griff John nach einem Baumast, riß die Krücke aus seiner Achselhöhle heraus und wirbelte das Wurfgeschoß durch die Luft. Es traf den armen Tom mit der Spitze mitten auf den Rücken zwischen die Schulterblätter. Seine Hände flogen in die Luft, er stöhnte kurz auf und fiel auf sein Gesicht.

 

Was für ein perfekter Bösewicht, was für ein archetypischer Pirat! Der Lange John Silver, oder Long John, wie er auch in der Übersetzung genannt wird, hat alle Schrullen, die man sich für einen sinistren Seemann so vorstellt, und wahrscheinlich ist er überhaupt der Grund dafür, dass man sich die Seeleute so vorstellt.

Da wären einmal die schiere Muskelkraft, die Holzkrücke und das fehlende Bein, der angeblich 200 Jahre alte Papagei auf der Schulter, der immer wieder »Piaster! Piaster!« krächzt, der im englischen Original ziemlich ausgeprägte Slang und das oft umständliche Philosophieren – hier haben wir einen Schurken, der seine Bösartigkeit keineswegs eingesteht, sondern immer politisch herumlaviert, um sein Handeln im Lichte der Gerechtigkeit darzustellen. Dass man ihn zum Kapitän gewählt habe, nachdem Smollett »desertiert« sei, klingt auch besser als das hässliche Wort »Meuterei«, und »Glücksgentlemen« ist ein milder Euphemismus für »Pirat«.

Dank seiner rhetorischen Fähigkeiten gelingt es John auch immer wieder, trotz seines furchterregenden Rufes – den sogar der legendäre Captain Flint fürchtete –, auf Schiffen anzuheuern, in diesem Fall als Koch des Expeditionsschiffs Hispaniola zur titelgebenden Schatzinsel, die er längst kennt, weil er dabei war, als der Schatz dort vergraben wurde. Ein Teil der Männer schließt sich ihm bereitwillig an, weil er ihnen ein gutes Gefühl gibt: John Silver, der Populist.

Seine dunkle Seite kommt auch nur sehr zweckgebunden zum Vorschein. Zwischendurch aber führt der gnadenlose Räuber und Mörder ein geradezu bürgerliches Leben und mit seiner Frau eine Gastwirtschaft. Als Ich-Erzähler Jim ihn zum ersten Mal sieht, meint er: »(…) und ich glaubte zu wissen, wie ein Pirat aussähe – jedenfalls nach meiner Meinung ganz anders als dieser reinliche freundliche Schankwirt.« Dass Silver intelligenter ist als der gewöhnliche Matrose, zeigt sich auch daran, dass er mehr verträgt: Er trinkt gut und gerne, aber nie so maßlos, dass ihm der Rum den Verstand raubt.

Robert Louis Stevenson wollte eine reine Männergeschichte schreiben, mit einem genialischen Fiesling im Zentrum. Die Figur des Long John gelang ihm, indem er einen guten Freund (den Dichter William Ernest Henley) zum Vorbild nahm und all dessen positive Eigenschaften abzog. Das kam so gut an, dass Long John Silver seither ein Eigenleben entwickelt hat. In über 20  Verfilmungen (nicht immer eindeutig als Antagonist) und Popsongs wurde er porträtiert, und sogar eigene literarische Fortsetzungen und Spinoffs schrieb man ihm. In den USA ist sogar eine Fast-Food-Kette nach ihm benannt. ■

BEINAME:Der LangeBERUFE:Schiffskoch, Wirt FAMILIENSTAND:verheiratetSTÄRKE:Trinkfestigkeit, RhetorikSCHWÄCHE:Gier ANZAHL DER BEINE:INTELLIGENZ:FILMDARSTELLER:Orson Welles, Tobias Moretti

 

SANTER

AUTOR:Karl May TITEL: