Das Corpus Hermeticum - Manfred Ehmer - E-Book

Das Corpus Hermeticum E-Book

Manfred Ehmer

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Beschreibung

Der legendäre Thot Hermes, genannt Hermes Trismegistos, der 'Dreimal Größte', gilt als Begründer der Alchemie, die einen Weg spiritueller Natur- und Kosmos-Erkenntnis darstellt. Mit Zarathustra, Pythagoras und Platon zählt er zu den großen Geisteslehrern des Abendlandes. In zahlreichen Lehrgesprächen hat der Eingeweihte Hermes Trismegistos seine Schüler Tat und Asclepius in die Mysterien der Natur, des Kosmos und des Gottes-Wissens eingeführt. In diesem Buch wird die gnostische Lehre des Hermes Trismegistos dargestellt, die unter der Devise stehen könnte: "Wer sich selbst erkennt, der erkennt das All!" Nach einer Einführung in die Gedankenwelt der Hermetik bringt das Buch das gesamte Corpus Hermeticum in einer modernen deutschen Übersetzung, die dem esoterischen Charakter dieser Texte gerecht wird.

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Manfred Ehmer

Das Corpus Hermeticum

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt

© Manfred Ehmer

1. Auflage 2013

2. Auflage 2016

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Erschienen in der Buchreihe edition theophanie

Umschlagbild: Egyptian Sphinx

Bildquelle: WallpaperCave

ISBN: 978-3-7345-1579-8 (Paperback) ISBN: 978-3-7345-1578-1 (Hardcover) ISBN: 978-3-7345-1580-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besuchen Sie den Autor auf seiner Homepage:

Inhaltsverzeichnis

Der Gnostische Yoga des Westens

Erkenne Dich selbst!

Die hermetische Literatur

Grundgedanken der Hermetik

Der Mystagoge Hermes Trismegistos

Der Urgott Thot

Der griechische Hermes

Hermes – eine historische Person?

Hellenistische Theosophie und Gnosis

Das geistige Klima Alexandrias

Der antike Logosgedanke

Die frühchristliche Gnosis

Die gnostische Pistis Sophia

Die Chaldäischen Orakel

Der Mystiker Poseidonios

Hermetik, Alchemie und Theosophie

Von der Hermetik zur Alchemie

Mysterien der Tabula Smaragdina

Die Hermetik in der Renaissance

Die Hermetik in der Freimaurerei

Die Hermetik in der Theosophie

Die Bedeutung der Hermetik heute

Das Corpus Hermeticum

Poimandres

Der unbewegte Beweger

Das Heilige Wort

Das Kelchgefäß

Der verborgene Gott

Über das Gute

Gnostische Bußpredigt

Es gibt keinen Tod

Geist und Wahrnehmung

Ein Schlüssel für Tat

Worte des Weltgeistes

Über den Geist im Menschen

Über die Wiedergeburt

Ein Brief an Asclepius

Asclepius an König Ammon

Ein Gespräch mit dem König

Worte eines Harfenspielers

Der Dialog Asclepius

Prolog

Über den Menschen

Über den Ursprung des Bösen

Über den Kult der Götter

Epilog

Das Buch Kore Kosmou

Aus dem Buch Kore Kosmou

Aus demselben Buch

Worte der Isis an Horus

Über Wiederverkörperung

Hermetische Astrologie

Über die Dekanate

Über die Planeten

Aufstieg in die Achte Sphäre

Literaturverzeichnis

Kommentare

Der Gnostische Yoga des Westens

Erkenne Dich selbst!

Nach Prof. J. Quispel, Utrecht, sind die hermetischen Schriften nur verschiedene Variationen zu dem Thema „Wer sich selbst erkennt, der erkennt das All“. Die Weihinschrift des Apollotempels von Delphi – gnothi seauton, Erkenne Dich selbst – scheint auch der kategorische Imperativ der Hermetik gewesen zu sein.

Diese war nämlich, gleich dem Neuplatonismus und anderen spätantiken Gedankengebäuden, nicht intellektuelles Philosophieren, sondern ein Erlösungsweg, der die Befreiung der menschlichen Seele aus der irdischen Wandelwelt und ihre schlussendliche Vereinigung mit dem göttlichen All-Geist anstrebte. So kann man die Hermetik den Gnostischen Yoga des Westens nennen. Als ein Weg der Selbst-, All- und Gott-Erkenntnis ist sie fester Bestandteil einer geheimen abendländischen Mysterientradition.

Es mag vielleicht etwas verwundern, dass hier von einem Yoga des Abendlandes die Rede ist. Mit „Yoga“ meinen wir hier allerdings nichts spezifisch Indisches, überhaupt nichts Östliches, Orientalisches, auch nicht irgendein System von Sitzhaltungen, Atemübungen und Körperstellungen. Dies sind nur die äußerlichen, exoterischen Seiten des Yoga. In Wahrheit heißt Yoga das Einswerden mit Gott und ist insofern etwas durchaus Überzeitliches, Allgemeines, ein Gemeingut aller Völker und Kulturkreise. Das Sanskrit-Wort yoga ist verwandt mit dem lateinischen jugum und bedeutet „Joch“. Und „Joch“ heißt so viel wie „Verbindung“. Yoga möchte die unmittelbare, direkte Verbindung des Menschen zu Gott herstellen, und diese Verbindung ist ja der Kern und die Essenz jeder Religion überhaupt. Darum ist Yoga die Tiefendimension der Synthese, die allen Religionen zu eigen ist. Es hat schon immer einen abendländischen Weg des Yoga gegeben. Es war dies der Weg der Alchemisten, Mystiker, Rosenkreuzer; der Weg des heiligen Grals, des Gralsrittertums als esoterische Schulung. Auch der ägyptische Pfad der Einweihung war reinster, ursprünglicher Yoga.

Von den drei klassischen Yogawegen Indiens, dem Karma-yoga, Bhakti-yoga und Jnana-yoga ist es der letztere, der die Gottvereinigung durch Erkenntnis anstrebt. Jnana-yoga ist gewissermaßen der „Gnostische Yoga“, weil er das gnosein, das Erkennen höher stellt als die Werke oder die verehrungsvolle Hingabe. Die Bhagavad Gita hat diesen Weg wie folgt dargestellt:

„In dieser Welt gibt es nichts, was so erhaben und rein ist wie transzendentales Wissen. Solches Wissen ist die reife Frucht aller Mystik, und wer auf dem Pfad hingebungsvollen Dienstes fortgeschritten ist, genießt dieses Wissen schon bald in sich selbst.

Ein gläubiger Mensch, der sich dem transzendentalen Wissen gewidmet hat und der seine Sinne unter Kontrolle hat, ist befähigt, solches Wissen zu erlangen, und wenn er es erlangt hat, erreicht er sehr schnell den höchsten spirituellen Frieden.

Unwissende und ungläubige Menschen aber, die an den offenbarten Schriften zweifeln, erreichen kein Gottesbewusstsein; sie kommen zu Fall. Für die zweifelnde Seele gibt es Glück weder in dieser Welt noch in der nächsten.

Wer hingebungsvollen Dienst ausführt, indem er den Früchten seiner Tätigkeit entsagt, und wessen Zweifel durch transzendentales Wissen zerstört worden sind, ist tatsächlich im Selbst verankert. Deshalb wird er von den Reaktionen seiner Tätigkeiten nicht gebunden, o Eroberer von Reichtum. Daher sollten alle Zweifel, die in deinem Herzen entstanden sind, mit der Waffe des Wissens zerschlagen werden. Bewaffne dich mit yoga, o Bharata, steh auf und kämpfe“1

„Transzendentales Wissen“, das höchste zu erlangende Gut, ist nichts anderes als gnosis. Die westliche Hermetik weist nun ebenfalls einen Weg der Erkenntnis auf, und in diesem Sinne könnte man sie den „Gnostischen Yoga des Westens“ nennen. Spricht der indische Text vom gefahrvollen Zweifel, der mit der Waffe des Wissens zerschlagen werden soll, so stellt die Hermetik das Nicht-Wissen um Gott, die agnosis, als das größte aller Übel hin. „Gnosis“ im Sinne der Hermetik ist jedoch alles andere als intellektuelle Verstandes-Erkenntnis; sie geht im Gegenteil immer mit wahrer Herzens-Frömmigkeit einher und ist gleichbedeutend mit Gottseligkeit. Nur eine wahrhaft von Gott entflammte Seele kann solche Art der Gnosis erreichen.

Das Wort „Gnosis“ kommt im hermetischen Schrifttum häufig vor. Üblicherweise versteht man unter diesem Begriff eine bestimmte Anzahl frühchristlicher Mysterienschulen und Kultvereine, die etwa vom 2. bis 5. Jahrhundert n. Chr. am Rande der Großkirche existiert haben. Sie lehrten die Selbsterlösung des Menschen durch Erkenntnis, die Befreiung aus der Gefangenschaft wiederholter Erdenleben und den Aufstieg durch die Planetensphären in die geistige Welt des pleroma. Das besondere Kennzeichen der christlichen Gnosis war jedoch der Dualismus: die materielle Welt glaubte man nicht von Gott, sondern von einem Widersacher Gottes geschaffen, dem Demiurgen, dessen Herrschaftsgewalt man sich zu entziehen suchte.

Dieser Dualismus ist genau der Punkt, worin die hermetische Philosophie sich grundlegend von jeder christlichen Gnosis unterscheidet: die Hermetik betont immer wieder den All-Einheits-Gedanken, das hen to pan („Eins ist Alles“), das jeden Dualismus von vornhinein ausschließt. In einem hermetisch gedachten Uni versum ist Gottes-Erkenntnis immer auch Kosmos-Erkenntnis; denn der Kosmos stellt selbst etwas Göttliches dar und ist eine Widerspiegelung der oberen geistigen Welt. Die hermetische Theosophie will die geistigen Gesetzmäßigkeiten des Alls sichtbar machen, will aufzeigen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ – denn nur wer das All erkennt, wird eine Erkenntnis Gottes erlangen. Der Schlüssel zu beidem liegt in der Selbsterkenntnis, die von Novalis (1772–1801) als der wahre „Stein der Weisen“, das die Welt umwandelnde Elixier, gepriesen wird:

Glücklich, wer weise geworden und nicht die Welt mehr durchgrübelt,

Wer von sich selber den Stein ewiger Weisheit begehrt. Nur der vernünftige Mensch ist der wahre Adept – er verwandelt

Alles Leben in Gold – braucht Elixiere nicht mehr.

In ihm dampfet der heilige Kolben – der König ist in ihm – Delphos auch und er fasst endlich das: Kenne dich selbst.2

Der „Stein der Weisen“ ruht als das ewige Rätsel der Seele in uns selbst, und die hermetische Philosophie will dazu verhelfen, diesen lapis philosophorum zu gewinnen. Als ganzheitliches Weltbild möchte die Hermetik auf der Grundlage einer spirituellen Natur- und Kosmos-Erkenntnis den Aufstieg des Menschen zum Gott-Bewusstsein ermöglichen. Zugleich beinhaltet dieses Weltbild die Grundlagen aller okkulten Disziplinen, der Astrologie, der Alchemie und der Magie. Es wird aufgezeigt, wie sich der Mensch von den zwingenden Gestirnseinflüssen befreien kann, wie er sich zum Selbst-Schöpfer und zum Meister seines eigenen Schicksals erhebt. Indem der Mensch seinen Ursprung und seine wahre Menschennatur erkennt, gelangt er auf dem Durchgang durch die Sternensphären zu seinem überkosmischen Ursprung und erlangt damit die Meisterschaft über alle niedere Materie. Das ist der hermetische Pfad, der in der Alchemie das „Große Werk“ heißt und den Dante in seiner Göttlichen Komödie allegorisch als den Aufstieg des Menschen auf den Läuterungsberg und ins Paradies geschildert hat.

Die hermetische Literatur

Unter der hermetischen Literatur verstehen wir nicht, wie weithin üblich, das alchemistische Schrifttum des Mittelalters, sondern den Corpus der aus der Spätantike überlieferten griechischen, lateinischen, koptischen und arabischen Texte religiös-philosophischen und esoterischen Inhalts, die dem mystischen Universalgott Thot-Hermes, auch Hermes Trismegistos genannt, zugeschrieben werden. In diesen Schriften mischen sich orientalische Elemente mit platonischen, aristotelischen, pythagoreischen, stoischen, aber auch jüdischen und gnostischen Gedanken, ohne dass man dies ohne weiteres als bloßen Synkretismus all dieser Strömungen betrachten könnte. In der ausgehenden Antike und im Mittelalter galt Hermes als einer der größten Wissenden aller Zeiten. Seine Weisheit soll angeblich in vielen Büchern niedergelegt worden sein, doch die Angaben hierüber gehen stark ins Legendäre.

Ganz fabelhafte Angaben über die Schriften des Hermes Trismegistos finden sich bei Jamblichus, wonach Seleukos ihre Zahl auf 20.000, Manetho auf 36.525 angab3; letztere Zahl entspricht den Jahren von 25 Sothisperioden. Der Kirchenvater Clemens Alexandrinus spricht von insgesamt 42 Büchern, von denen 36 die gesamte ägyptische Philosophie enthielten und von den Priestern auswendig zu lernen wären; vier von den 36 Büchern seien astronomischen Inhalts und 6 weitere medizinischen Inhalts. Von drei der astronomischen Bücher gibt Clemens den Inhalt an: Beschreibung des Sternhimmels; Sonnen- und Mondphasen; Sternaufgänge. Alte Texte dieser Art mochte es in Ägypten tatsächlich gegeben haben; und sie wurden später auf Geheiß der Ptolemäer ins Griechische übersetzt.

Was immer die Legende über die Bücher des Hermes Trismegistos sagen mag – tatsächlich erhalten geblieben ist ein Corpus authentischer hermetischer Schriften religiös-philosophischen und esoterischen Inhalts in griechischer, lateinischer und koptischer Sprache. Dieses Schrifttum geht ganz offenkundig nicht auf einen Verfasser zurück, sondern wurde von mehreren unbekannten Autoren geschrieben, wenngleich Hermes Trismegistos dabei stets als Verfasser genannt wird. Zum Corpus der hermetischen Schriften zählen wir folgende Texte:

(1) Ein in griechischer Sprache abgefasster Corpus von 15, nach Reitzensteins Zählung 18 Dialogen, der mit dem Poimandres-Dialog beginnt und unter dem Namen Corpus Hermeticum bekannt geworden ist;

(2) Einen lateinisch abgefassten Dialog unter dem Titel Asclepius;

(3) Die von Stobaeus unter dem Titel Anthologia gesammelten Exzerpte, darunter als längstes und bedeutendstes das fragmentarische Buch mit dem Titel Kore Kosmou, ein fiktiver Dialog der Isis mit ihrem Sohn Horus;

(4) Die hermetischen Texte aus dem Papyrusfund gnostischer Originaltexte von Nag Hammadi, Mittelägypten, in koptischer Sprache abgefasst, darunter vor allem der Traktat Über die Achtheit;

(5) Die arabischen Hermetica, entstanden in der Frühzeit des Islam, vor allem das Schreiben An die menschliche Seele;

(6) Als früher alchemistischer Text, ursprünglich wohl auch in Arabisch geschrieben, die berühmte Tabula Smaragdina.

Das Corpus Hermeticum ist eine handschriftlich überlieferte Sammlung, oft nach der ersten darin enthaltenen Schrift auch Poimandres genannt, die wir vermutlich Michael Psellos zu verdanken haben; in diesem Zusammenhang verdient auch die Aussage des Kirchenlehrers Cyrill Beachtung, dass die Bücher des Hermes Trismegistos „in Athen geschrieben worden seien“. Das Corpus Hermeticum ist eine Sammlung von 15, nach Reitzensteins Zählung 18 kurzen Dialogen mystischphilosophischen Inhalts. Da der Alchemist Zosimos, der dem 4. Jahrhundert n. Chr. anzugehören scheint, das ganze Corpus unter dem Titel Poimandres kennt, so wurde es – wohl in neuplatonischen Kreisen – sicherlich schon gegen Ende des Altertums zusammengestellt. Von allen hermetischen Schriften ist das Corpus Hermeticum, das eindeutig den Geist einer spätantiken, alexandrinisch-hellenistischen Gnosis atmet, philosophisch das bedeutsamste; es dürfte nach E. Zeller keiner früheren Zeit als „den letzten Jahrzehnten des dritten Jahrhunderts n. Chr.“4 angehören.

Das Corpus Hermeticum enthält eine Kosmologie (vor allem im Poimandres-Dialog), eine Anthropologie und einen Seelen-Erlösungsweg, eine Bekehrungspredigt, zahlreiche Lehrgespräche, mehrere Hymnen mystisch-religiösen Inhalts, daneben aber auch eher philosophische Dialoge im Stil Platons. In den Dialogen treten als Gesprächspartner Hermes, That und Asclepius auf, die beiden letzteren aber bloß als Fragende; Tat (wohl hergeleitet von Thot) scheint der leibliche Sohn des Hermes Trismegistos zu sein, der von diesem in die Grundthemen der hermetischen Philosophie eingeweiht wird. Aber die stark an Platon erinnernde Sprache, auch die Übernahme einiger seiner Philosopheme, wie insbesondere der „Ideenlehre“, darf nicht den Eindruck aufkommen lassen, das Corpus Hermeticum sei ein philosophischer Text im schulmäßigen, akademischen Sinne. Wir haben es hier vielmehr mit einem nur äußer lich gesehen philosophischen (und auch das nur an einigen Stellen), im Wesenskern aber eindeutig „mystischen“ Text zu tun. Es handelt sich um die kanonische Schriftensammlung einer mystisch-gnostischen Geheimreligion. Obgleich im hellenistischen Ägypten des 3. nachchristlichen Jahrhunderts entstanden, trägt das Corpus Hermeticum doch nirgendwo Spuren ägyptischer Götterlehre; das Ägyptische dient fast nur als Einkleidung und symbolische Ausschmückung. Am ehesten findet man Ägyptisches im Dialog Asclepius, obwohl selbst dort die Götternamen hellenisiert werden.

Der hermetische Dialog mit dem Titel Asclepius liegt uns nur in einer lateinischen Fassung vor, die lange Zeit dem aus Nordafrika stammenden römischen Autor Apuleius (geb. um 125 n. Chr.) zugeschrieben wurde. Dem Kirchenlehrer Lactantius war jedoch um das Jahr 310 n. Chr. noch das griechische Original bekannt. Es ist zu vermuten, dass der ganze, in drei Teile gegliederte Dialog in den Jahren zwischen 270 und 300 n. Chr. entstanden sein muss. Der Verfasser ist unbekannt; es könnte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Ägypter – möglicherweise gar um einen Priester – mit hellenistischer Bildung und einigen Kenntnissen der griechischen Philosophie gehandelt haben. Der ganze Dialog gliedert sich in drei Teile: 1. Vom Menschen; 2. Vom Ursprung des Bösen; 3. Vom Kult der Götter. Der Dialog Asclepius war im Altertum auch unter dem Namen logos teleios – die „Krönungsrede“ des Hermes Trismegistos – bekannt; es handelt sich dabei um eine sehr vertrauliche Unterredung, die Hermes mit seinem Lieblingsschüler Asclepius sowie mit Ammon und Tat geführt hat. Die Reden des Asclepius-Dialoges verstehen sich also als geheime Tempellehren.

Zu nennen wäre noch das hermetische Buch Kore Kosmou, das in griechischer Sprache abgefasst und unter den Stobaeus-Fragmenten zu finden ist. Johannes Stobaios war ein Schriftsteller des 5. Jahrhunderts n. Chr. aus der Stadt Stoboi in Makedonien; seine Anthologie in 4 Büchern berücksichtigt nach Sachkapiteln die griechische Literatur von Homer bis zum 4. Jh. n. Chr. als Sammlung von Auszügen von etwa 500 Dichtern und Prosaikern. In dieser Sammlung befindet sich neben Texten von Neupythagoreern und Neuplatonikern eine stattliche Anzahl von hermetischen Fragmenten, die sonst nirgendwo erhalten geblieben sind. Die Anthologie des Stobaeus hat lange Zeit nachgewirkt, so auf den Patriarchen Photios und auf die führenden Geister der Renaissance. Unter den Texten dieser Sammlung sticht der Dialog Kore Kosmou besonders hervor. „Kore Kosmou“ bedeutet „kosmische Jungfrau“: die Allgöttin Isis ist damit gemeint, die ihren Sohn Horus in die Geheimlehren des Hermes einweist. Den Mittelpunkt des Textes bildet ein gnostisch oder orphisch anmutender Sündenfall-Mythos, der den Sturz der Seelen aus den Regionen des Himmels in die Elementarwelt veranschaulicht.

Unter den bahnbrechenden Papyrusfunden gnostischer Originaltexte nahe des Weilers Nag Hammadi finden sich im Kodex VI auch bisher unbekannte hermetische Texte, allesamt in koptischer Sprache: 1. ein Dialog zwischen Hermes und Tat über die Achte oder die Fixsternsphäre, Über die Achtheit; 2. ein hermetisches Gebet, das uns auch in griechischer Fassung vorliegt, bekannt als Papyrus Mimaut, und in lateinischer Übersetzung den Schlussteil des Asclepius bildet; 3. Schließlich ein in die koptische Sprache übersetzter Passus aus dem Asclepius. Die Funde von Nag Hammadi werfen ein völlig neues Licht auf die Hermetik. Sie weisen einen engeren Bezug zur Magie und zur kultisch-liturgischen Praxis auf und lassen insgesamt eine größere geistige Nähe zur Gnosis erkennen, als man bisher angenommen hatte.

Dass die Hermetik mehr ist als bloß eine rein hellenistische Erlösungsreligion, beweisen auch die weinigen uns bekannten Hermetica in arabischer Sprache. Obwohl sich im Corpus Hermeticum noch keine Anzeichen eines eigenen Kultes erkennen lassen, gab es in späterer Zeit offensichtlich organisierte Kultgemeinden gnostischen Charakters, die sich auf die Offenbarungen des Hermes Trismegistos beriefen und heilige Bücher unter seinem und des Agathos Daimon Namen besessen haben. Gemeint ist die mesopotamische Gemeinde der Sabier oder Harraniter, die bis tief in die islamische Zeit hinein bestanden hat. Eine große Rolle spielte Hermes Trismegistos bei den Arabern, die ihn als Verfasser philosophischer, astronomischer und medizinischer Bücher sahen; Masala (um 800 n. Chr.) behauptet, 24 astrologische Werke von ihm zu kennen. Die einzige nichtislamische arabische Handschrift der Leipziger Rats- und Stadtbibliothek enthält im zweiten Teil ein in der Grundtendenz stark asketisches Sendschreiben des Hermes An die menschliche Seele, das schon 1736 die Aufmerksamkeit Reiskes fesselte und 1870 von H.-L. Fleischer in deutscher Übertragung herausgegeben wurde. Als Verfasser vermutet Fleischer „einen mit Gnosticismus, Neuplatonismus, Manichäismus, oder überhaupt orientalischer Theosophie vertrauten Christen; Stil und Sprache bestätigen dies und deuten ausserdem auf Aegypten hin“.5

Einige der arabischen Hermetica wurden schon im Mittelalter ins Lateinische übertragen und z. B. von Albertus Magnus in seinem Speculum astronomicum benutzt, sodass der Name des Hermes als eines großen Weisen der Vorzeit dem Abendland übermittelt wurde. Der bekannteste aller hermetischen Texte arabischer Herkunft ist die sogenannte Tabula Smaragdina, die „Smaragdene Tafel“ des Hermes Trismegistos. Der Sage nach soll sie zuerst von dem Magier Apollonios von Tyana im 1. Jh. n. Chr. aufgefunden worden sein; später gelangte sie in die Hände des Priesterarztes Sergios von Ris-Aina (6. Jh. n. Chr.), der sie aus dem Altsyrischen ins Lateinische übersetzte. In lateinischer Fassung ist sie im Abendland mindestens seit dem 11./12. Jh. bekannt, denn aus dieser Zeit stammt ein in Lateinisch verfasster Kommentar dazu aus der Feder eines Mönchs namens Hortulanus. Die Tabula Smaragdina brachte Hermes den Ruf ein, Begründer der Alchemie zu sein und den magischen „Stein der Weisen“ zu besitzen.

Grundgedanken der Hermetik

Nach den Lehren der Hermetik ist „Gott“ keine von der Welt getrennte, über oder außerhalb der Welt schwebende Wesenheit, auch kein „Erster Beweger“, der die Schöpfung von außen her anstößt, sondern vielmehr eine der Welt immanente, schaffende und bewegende Urkraft, die Alles in sich beschließt und beständig am Sein erhält. Diese immanente Welten-Gottheit wird als das „Gute“ bezeichnet und zugleich als Strahlquelle allen geistigen Lichts. Selbst der Geist, eigentlich ja das höchste Prinzip im Universum, ist nur eine Abstrahlung jenes Gottes, der „Alles in Allem“ ist und insofern Schöpfer und Geschöpf zugleich.

In dieser pantheistischen Sicht des Weltganzen kann es keinen Dualismus zwischen „Gott“ und „Welt“ geben, die gleichsam nur zwei unterschiedliche Aggregatzustände derselben Wirklichkeit darstellen. Ähnlich wie in der Vedanta-Philosophie Indiens herrscht in der Hermetik ein nicht-dualistisches Denken vor; denn Gott ist ja das All in seiner Gesamtheit.

Der All-Einheitsgedanke der Hermetik kommt in einem Symbol zum Ausdruck, das sich in einer Handschrift der Cleopatra über die Goldmacherkunst findet: Ouroboros, der sich selbst in den Schwanz beißende Drache; und darunter steht die Aufschrift hen to pan – Eins ist Alles. Aus dem all-einen Gott ist das All hervorgegangen, und dorthin wird es dereinst wieder zurück kehren. Aller Vielheit, allem Wandel dieser trügerischen Sinnenwelt liegt eine letzte große Einheit zugrunde, in der Welt und Gott – nur scheinbar getrennt – zusammenschmelzen zu einer geisterfüllten Ganzheit. Alles Einzeldasein, in welchen Formen es sich auch kundgeben mag, ist enthalten im Netzwerk der göttlichen All-Einheit, die immer war und ist und sein wird.

Man kann die Hermetik im wahrsten Sinne als eine kosmische Religion bezeichnen; der Kosmos erscheint in ihr nicht nur als eine „Fülle des Lebens“, sondern als ein großes Lebewesen, ein zeitliches Abbild des Ewigen, ein Gott in der Materie. Da der Kosmos als Abbild Gottes ein „Zweiter Gott“ ist, so kann nichts im Kosmos je zugrunde gehen; es gibt keinen Tod, sondern nur ewige unaufhörliche Metamorphose. Alles im Kosmos zeigt sich dem Hermetiker als energie- und lebenerfüllt, ständig in Bewegung, ständig in Umwandlung begriffen. So ist der Kosmos, besonders insofern er ewig währt, selbst etwas Göttliches. Der Mensch nun, selbst wieder ein Abbild des Kosmos, tritt somit als ein Kosmos im Kleinen, als Mikrokosmos auf den Plan. Er ist, da vom Kosmos gezeugt und geboren, der „Dritte Gott“, der allein das Vermögen besitzt, sich Kraft seines Geistes zum Zweiten und zum Ersten Gott aufzuschwingen.

Der Kosmos wird von Hermes Trismegistos in den Gespächen oft als ein „unsterbliches Lebewesen“, ja als das „Erste unter allen Lebewesen“ bezeichnet, wie es wohl auch jener Naturphilosophie entspricht, die Platon in seinem Timaios-Dialog entfaltet. Man kann die Hermetik als Einheits-Mystik und zugleich als Kosmos-Mystik charakterisieren. Hier besteht ein Hauptunterschied gegenüber den zahlreichen in der Spätantike aufblühenden Richtungen und Schulen der Gnosis, die einem stark dualistischen und kosmosfeindlichen Denken verpflichtet waren. Die Gnostiker sahen den sinnlich in Erscheinung tretenden Kosmos als eine feindliche Macht an, die sie an ihrem Aufstieg zum Licht hinderte; der Hermetiker sieht umgekehrt den All-Einen als den Gott, der sich in Allem und besonders im Kosmos offenbart.

Der Mensch ist in der Sicht der Hermetik ein sterblicher Gott. Dem Agathos Daimon, auch er eine Geistwesenheit und ein Lehrer der Hermetik, wird der Ausspruch in den Mund gelegt: „Die Götter sind unsterbliche Menschen, und die Menschen sterbliche Götter“. Wenn der Mensch in der Hermetik als ein kosmisches Wesen gesehen wird, dann muss die Menschwerdung eng mit der Entwicklung des Kosmos verbunden sein. Schildert die hermetische Kosmogenesis die Entstehung des Kosmos aus dem uranfänglichen Geist-Wort, die Formung der vier Elemente, der Planeten und der Erde, bis zur Bildung tierischer Lebensformen, so behandelt die Anthropogenesis das Geheimnis der Menschwerdung. Es geht in ihr um die Erschaffung des urbildlichen Geistesmenschen, um seine Herabkunft in die stoffliche Erdenwelt, schließlich um die Bildung menschlicher Urtypen und die Geschlechtertrennung.

Die hermetische Anthropogenesis betont den übersinnlich-geistigen Ursprung des Menschenwesens. Die in höchster Schau gesehene Gottheit, der universale Nous, bildet sein eigenes Ebenbild zum Anthropos, zum kosmischen Universalmenschen. Der Anthropos als der urbildliche Geistes-Mensch weilt in der selben Sphäre wie der Demiurg, also oberhalb der Planetensphären; als er aber die aus feurigem Äther gebildeten Schöpfungen des Demiurgen sieht, erwacht in ihm der Wunsch, selbst schöpferisch tätig zu werden. Diesem Wunsch wird von Seiten des Nous stattgegeben; und als der Anthropos auf die weit unter ihm liegende Erde hinab sieht, erblickt er in der Natur ein Spiegelbild seiner eigenen göttlichen Gestalt. Von diesem Spiegelbilde wie magisch angezogen, stieg er – die Planetensphären durchbrechend – zur Natur hinab, mit der er sich innig vermählte. Daraufhin erschuf die Natur in Verbindung mit dem zur Erde hinab gestiegenen Anthropos die sieben menschlichen Urtypen, die als Hermaphroditen noch beide Geschlechter ungeschieden in sich trugen. Erst eine spätere Schöpfungsperiode bringt die Geschlechtertrennung mit sich; und seitdem vermehren sich die Menschen geschlechtlich.

So ist der Mensch in der hermetischen Philosophie ein in die Materie hinab gestiegener Gott; ein zutiefst zwiespältiges Wesen, das sowohl die irdische Stoffesnatur als auch die ewige Geistesnatur als Bestandteile seines Wesens in sich trägt.

Nach der Kosmo- und Anthropogenesis beschreibt die Hermetik den Aufstiegsweg des Menschen zu seinem Ursprung, zum Göttlich-Urbildlichen. Dieser Weg vollzieht sich in drei Stufen: zuerst die Ablegung des physischen Leibes, dann der schrittweise Aufstieg durch die Planetensphären und die Fixsternsphäre, zuletzt das Einswerden des Menschen mit Gott durch Erkenntnis: die Gottwerdung oder Theogenesis. Hermes Trismegistos sagt in den hier wiedergegebenen Gesprächen, es sei Gottes Wille, „dass alles Menschliche sich zum Göttlichen wandeln soll“– das Ziel der Hermetik liegt also in einer Alchemie der Seele, einer Transmutation des Menschen in eine Geistwesenheit. Der aus den vier Elementen gebildete Mensch bleibt zwar unabdingbar an den Schicksalsspruch der Planetengötter gebunden, doch gilt dies nur für diejenigen Menschen, die den „Geist“(im Sinne von Nous) nicht besitzen. „Geist“ im Sinne von „Logos“ – Verstand, Rede – ist zwar allen Menschen von Natur aus eigen, der Nous als das Göttlich-Geistige jedoch nicht. Der Nous ist ein Geschenk Gottes, das nur ganz Wenigen zukommt.

Anders als der Verstand ist der Geist wahrhaft göttlicher Natur; er befreit den Menschen vom Bann der planetaren Schicksalsgötter und öffnet ihm die Tore zum Gott-Wissen. Im IV. Buch des Corpus Hermeticum („Das Kelchgefäß„) ist von einem Kelchgefäß des Geistes die Rede, in dem die zur Gottwerdung Auserwählten getauft werden sollen. Im XIII. Buch („Eine Geheimrede des Hermes Trismegistos an seinen Sohn Tat: Über die Wiedergeburt„) erfahren wir, wie das Mysterium der Wiedergeburt im Geiste vor sich geht. Unter „Wiedergeburt“ verstehen wir in der Hermetik die Geburt aus dem physischen Körper hinaus und in einen unsterblichen Geistkörper hinein; ein so Wiedergeborener wird ein „Sohn Gottes“ genannt, und er trägt das All in sich.

Der Wiedergeborene, der in die Hermetik Eingeweihte, hat das mystische All-Einheits-Bewusstsein erlangt; er ist mit dem Kosmos und insofern auch mit Gott eins geworden. Im Besitz einer geläuterten Geistleiblichkeit steigt der hermetisch Eingeweihte durch die sieben Planetensphären empor, und indem er die Fixsternsphäre durchschreitet, wandelt er sich, wird selbst einer der Götter im All, bis er zuletzt eins wird mit jener Weltengottheit, die als das urewige hen to pan „Eins in Allem“ ist. Diese Selbstumwandlung, die Transmutation vom Menschen zum Gott und All-Einen, ist das Ziel der esoterischen Alchemie; dies bedeutet die Verwandlung von Blei in Gold. So ist die Aufforderung des Alchemisten Gerhard Dorn (16. Jh.) zu verstehen: Transmutemini in vivos lapides philosophicos! – „Verwandelt euch in lebendige Steine des Weisen“. Der vielgesuchte Stein des Weisen – das ist der Mensch selbst: der Nous als die wahre Geistnatur des Menschen!

Thot, Horus und Isis

Der Mystagoge Hermes Trismegistos

Der Urgott Thot

Hermes Trismegistos (der „Dreimalgrößte Hermes“) gehört ohne Zweifel zu den großen Weisheitslehrern des Abendlandes, Schöpfer einer heidnisch-gnostischen Geheimlehre, deren Wirkung sich auf das frühe Christentum, auf die jüdische Mystik, auf die Alchemie, die gesamte arabische Philosophie, Astronomie und Medizin ausdehnte. Im Mittelalter als Verfasser der Tabula Smaragdina verehrt, einer alchemistischen Rätselschrift mit 16 kurzen Aphorismen, berufen sich Albertus Magnus (1193–1280), Arnaldus von Villanova (1235–1311) und Trevisanus (1406–1490) auf ihn, den schon die antiken Kirchenväter, allen voran Augustinus (354–430), als einen der größten Weisen aller Zeiten gepriesen hatten. Doch erst die Übersetzung der Hermetica aus dem Griechischen ins Lateinische durch den Florentiner Platonisten Marsilio Ficino (1433–1499) löste eine wahre Welle der Hermes-Begeisterung in Europa aus. Von ihren ägyptischen Wurzeln weitgehend losgelöst, wirkte die Hermetik auf Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, die frühe Rosenkreuzerbewegung, die beginnende Freimaurerei sowie auf Pico della Mirandola, Giordano Bruno und Goethe, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der legendäre Begründer der hermetischen Philosophie wird zuweilen auch als Thot-Hermes bezeichnet. In diesem Namen werden gleich zwei Göttergestalten der antiken Welt synkretistisch miteinander verknüpft, der ägyptische Thot und der griechische Hermes. Hermopolis, der Kultort des Thot, heißt wörtlich „Stadt des Hermes“, aber nicht nur in diesem Namen kommt die Wesensverwandschaft zwischen Thot und Hermes zum Ausdruck. In Ägypten galt der ibisköpfige Gott Thot, auch Dschehuti genannt, der im Neuen Reich (1559–1200 v. Chr.) in Paviangestalt verehrt wurde, als Gott des Wissens, der Schrift und der Sprache. In einer Inschrift auf dem Sockel des Gütervorstehers Cheriuf, die aus der Zeit des Königs Amenophis III. stammt, wird er als Lehrer aller möglichen Künste und Handwerke dargestellt:

„So priesen Götter und Menschen seine Weisheit, mit der er die Gottesdienste und Opfer eingerichtet hatte. Er hatte die Menschen das Schreiben gelehrt und die Kunst der Rede. Er hatte die Beamten angewiesen, wie sie die Tempel und Paläste für Götter und Könige zu pflegen hätten. So wurde nichts von seiner Weisheit vergessen, auch nicht die Kunst des Handwerkes im Weben und Flechten, in Jagd und Ackerbau. Denn er war es, der die Menschen lehrte, wie die Grenzen der Äcker und der Lauf der Kanäle gezogen werden müssten, um die beiden Länder zu einem blühenden Garten zu machen. Endlich aber hatte er den Menschen auch den Weg nach Aminte, dem Land der Ewigkeit, gewiesen.“6

Thot war auch ein Gott des Maßes und der Zahl, der Schrift, der bildlichen Darstellung und der Bibliotheken, ein Künder des Verborgenen und Verfasser geheiligter Schriften. Man schrieb ihm nicht nur die Erfindung der Buchstaben, sondern auch des Gottesdienstes, der Astrologie und der Musik zu, außerdem die Einteilung des Tages in zwölf Stunden. Als Lehrer der Isis erschien er als der eigentliche Inhaber der gesamten uralten Weisheit der Ägypter, die den Griechen dadurch nahe gebracht wurde, dass sie ihn mit ihrem Hermes gleichsetzten. Thot war später durchaus ein Mysterien-Gott, der nicht nur weltpraktische Dinge, sondern auch esoterisches Wissen zu lehren wusste. Den Griechen war er, wie Platon bezeugt, unter dem Namen Theut bekannt:

„Ich habe also gehört, in Ägypten sei einer von den alten Göttern gewesen, dem auch der Vogel, welcher Ibis heißt, geheiligt war; der Gott aber habe Theut geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann die Messkunst und die Sternenkunde, ferner das Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als König in ganz Ägypten habe damals Thamuz geherrscht in der großen Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, den Gott selbst aber Ammon. Zu dem sei Theut gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen und begehrt, sie mögen den andern Ägyptern mitgeteilt werden.“7

In Thot sehen wir nicht nur den spezifisch ägyptischen Ausdruck der griechischen Hermesgestalt, sondern auch den unmittelbaren Vorläufer des Mystagogen Hermes Trismegistos. Ausgangspunkt der Verehrung des Thot war wohl Hermopolis, der Hauptort des 15. unterägyptischen Gaues im Sumpfgebiet des nordöstlichen Nildeltas. Diese Lage lässt ihn schon früh zum „Herrn der Fremdländer“ werden, was seine Funktion als Dolmetscher, Übersetzer, Deuter beinhalten mag. Daher unser heutiges Wort „Hermeneutik“. In erster Linie bleibt Thot aber der Wissensvermittler; die ihm zugeschriebene Ibisgestalt legt das für ihn so charakteristische „suchende“ und „findende“ Stochern im Schlamm nahe, was im übertragenen Sinne das Aufspüren verborgener Schätze bedeuten mag. Thot wurde nun irgendwann im Alten Reich – mit Sicherheit erst belegt durch die Sargtexte – nach Hermopolis übertragen und dort zum Hauptgott erhoben; die Paviangestalt hat er wohl von einem unbekannten Ort mitgenommen.

Als Gott des Wissens erhält Thot verschiedene Rollen in den ägyptischen Mythen: er ist es, der Seth und Horus im Streit voneinander trennt; er berechnet aus den Mondphasen die Zeit und erscheint daher als der jenige, der den Mond „füllt“, als Zeitgott und Mondgott gleichermaßen, der die Mondsichel mit der Dunkelmondscheibe auf dem Haupte trägt. So kommt zu seinem merkurischen Charakter eigentlich nur durch die Zeitrechnung noch etwas Lunares hinzu. Dies Lunare, Mondhafte bleibt für Thot aber immer nebensächlich; er ist eigentlich ganz Merkur, und zwar im umfassendsten Sinn des Wortes. Er berechnet die Lebensjahre des Königs und schneidet sie in einen Kerbstock ein; als Erfinder der Schrift und der Sprachen wurde er ganz selbstverständlich zum Schutzgott der Schreiber; andererseits prädestiniert ihn seine Tätigkeit als Zusammenfüger auch zum Restaurator der Leiche des Osiris. Von daher besteht auch eine Verbindung zur Heilkunst, und die enge Verbindung des Thot zum Heilgott Imhotep, dem Asklepios der Griechen, wird verständlich. Im Götterboot des Sonnengottes Re nimmt Thot die Stellung des Vesirs ein, und auf Grund seiner Schriftkenntnis wird er auch zum großen Zauberer, zum „Herrn der Gottesworte“. Im Totenreich hat er die Aufgabe, als Psychopompos die Seelen der Gestorbenen vor das Osirisgericht zu führen; manchmal sitzt er als Pavian auf der Seelenwaage, um deren rechten Gang zu gewährleisten.

Am 19. des 1. Monats wurde in Ägypten schon früh ein Thotfest begangen, an dem die Toten teilnahmen und das dem ersten Monat den Namen gab. Als Bild des Thot hat man in der Spätzeit Ibisse in unendlicher Zahl mumifiziert und beigesetzt, nicht nur in Saqqara, wo zwischen Thot-Hermes und Imuthes-Asklepios eine Identität hergestellt wurde, sondern auch in Hermopolis. In griechisch-römischer Zeit wandelte Thot sich zum allgewaltigen Hermes Trismegistos, dem Schöpfer einer Geheimlehre heidnischer Gnosis, der im Mittelalter gar als Begründer der Alchemie galt. Gab es im Alten Ägypten Thot-Mysterien, die in die spätere Hermetik einflossen? Gibt es eine ältere ägyptische Tradition, worauf die Hermetik der Spätzeit zurückgeht?

Gibt es eine ägyptische Urfassung, die dem Corpus Hermeticum zugrunde liegt – geheime, bisher unbekannte, vielleicht verschollene Texte, dem Gott Thot und seinen Mysten geweiht? Es mag zu irgendeinem Zeitpunkt ein okkultes Buch Thot gegeben haben, aus dem alle spätere Hermetik sich herleitet. Der Neuplatoniker Jamblichos (250–330 n. Chr.) kennt nach seiner eigenen Aussage eine Sammlung hermetischer Schriften, die von einem gewissen Bitys aus dem Ägyptischen ins Griechische übersetzt wurde (De Myst. VIII/5). Wenn die Urfassung des Corpus Hermeticum in der Tat eine ägyptische war, Geheimschriften des Gottes Thot vielleicht, dann könnte die Hermetik ein weitaus höheres Alter aufweisen als man bisher angenommen hat.

Einen Hinweis auf die ägyptische Herkunft der Hermetica finden wir im Sendschreiben des Asclepius an König Ammon. Dort wird über die hermetischen Schriften gesagt: „Und sie werden umso mehr in den zukünftigen Zeiten für verworren gehalten werden, insbesondere dann, wenn die Griechen darangehen werden, sie aus unserer Sprache in die ihrige zu übersetzen. Jede Übersetzung wird weithin den Sinn dieser Schriften zerstören und viel Verwirrung hervorrufen. In unserer Sprache ausgedrückt, wird die Lehre ihren klaren und eindeutigen Sinn beibehalten; und zwar auf Grund der eigenen Qualität der Laute. Wenn nämlich ägyptische Laute gesprochen werden, wirken die Energien der bezeichneten Dinge unmittelbar in ihnen. Daher, mein König, so es in Deiner Macht steht (und ich weiß, Du bist allmächtig), lasse diese Schriften unübersetzt, dass ihre Geheimnisse nicht den Griechen offenbart werden mögen; – und dass die griechische Art zu sprechen, die ebenso überheblich wie geistesschwach ist und ständig mit Wortspielereien aufprunkt, nicht die Sprachgewalt und zwingende Stärke unserer Worte bis zur völligen Nichtigkeit herabziehe. Denn die Sprache der Griechen, mein König, ist ohne jede Kraft der Überzeugung und die griechische Philosophie nicht mehr als bloßer Wortschwall. Aber unsere Sprache ist mehr als bloßes Reden; sie ist vielmehr eine mit Energien angefüllte Wesensäußerung.“

Das ursprüngliche Buch Thot aufzufinden, die ägyptischen Urfassungen der späteren Hermetica ans Licht des Tages zu ziehen, diese Arbeit muss wohl den Ägyptologen überlassen bleiben. In den Sargtexten des Mittleren Reiches – religiösen Sprüchen auf den Särgen von Beamten – hören wir zum ersten Mal von einem „Gottesbuch des Thot“; und ein gewisser Amenophis aus der Zeit Pharao Amenophis III., der die Aufstellung der Menonskolosse leitete, sagt auf einer seiner Statuen im Tempel von Karnak (um 1360 v. Chr.): „Ich wurde eingeführt in das Gottesbuch, ich sah die Verklärungen des Thot und wurde ausgerüstet mit ihren Geheimnissen.“ Das Gottesbuch des Thot könnte die hermetischen Urlehren enthalten haben. Aus Thot aber wurde Thot-Hermes und aus diesem Hermes Trismegistos. Somit ist anzunehmen, dass die Hermetik, obwohl das Produkt einer Spätzeit und deutlich unter dem Einfluss griechischer Philosophie entstanden, durchaus ein älteres Erbe esoterischen Wissens enthält.

Der griechische Hermes

Der griechische Gott Hermes zeigt sich als eine sehr komplexe, schillernde Gestalt – Wanderer, Magier, Kaufmann und Schelm zugleich. Der Mythos nennt ihn den Sohn des Zeus und der Nymphe Maia; ursprünglich war er wohl nur der Patron der Reisenden, worauf seine klassischen Attribute: Wanderstab, breitkrämpiger Hut und geflügelte Schuhe hinweisen sollen. Sein Name hängt etymologisch zusammen mit dem griechischen Wort hermaion, d. h. Steinhaufen. Solche Steinhaufen, die den Wanderern zur Orientierung überall aufgestellt waren, besonders an Wegkreuzungen, galten dem Hermes ebenso als geheiligt wie die vor den Häusern stehenden Hermen, pfeilerförmige Bilddenkmale mit menschlichem Kopf, die als Weg- und Grenzmale dienten, aber auch den Bewohnern der Häuser Schutz spenden sollten. Vermutlich entwickelte sich der Gott Hermes aus jenem Daimon, den man dem Steinhaufen innewohnen dachte; der spätere Hermes-Kult war wohl aus einem archaischen Steinkult hervorgegangen.

Hermes besitzt durchaus eine innere Zwiespältigkeit. Nach Homer ist es Hermes, der „den Werken aller Menschen Anmut und Glanz verleiht“8; die Homerischen Götterhymnen nennen ihn hingegen den „verschlagenen, listigen Schmeichler, ihn, den Rinderdieb und Räuber, den Lenker der Träume, Hermes, den mächtigen Späher und Pfortenhüter“9. Dies bezieht sich darauf, dass Hermes der Sage nach seinem Bruder Apollon eine Rinderherde raubte; als der Diebstahl herauskam, schenkte er dem Sonnengott als Entgeld jene Leier, die er auf den Bergen Arkadiens einst aus dem Panzer einer Schildkröte geformt hatte. Als Gott der Hirten besaß er die magische Fähigkeit, die Herden zu vermehren. Sein Wanderstab konnte auch als Zauberstab gelten; er konnte die Menschen damit einschläfern und wieder aufwecken, wurde aber auch als Heroldsstab gedeutet.

Neben den Einzelaufgaben, mit denen ihn die olympischen Götter betrauten – vor allem die Funktion des Götterboten – führte Hermes als Psychopompos die Seelen der Verstorbenen ins Totenreich. In diesen Zusammenhang gehört es, dass man ihm am dritten Tag der Anthesterien, die als Frühlings- und Totengedenkfest begangen wurde, Töpfe mit Speisen hinstellte: als Opfergabe und zugleich zum Gedächtnis an die Toten. Als Seelengeleiter der Gestorbenen verschmolz Hermes mit der Gestalt des Charon, jenes Fuhrmanns, der die Toten über die Unterweltsflüsse Styx, Acheron usw. setzte und sie zu den Gestaden des Hades brachte. Dies brachte ihm auch den Beinamen Chthonios ein. Seit der klassischen Zeit stellte man sich den Götterboten Hermes in jugendlicher Gestalt vor; er wurde auch zu einem besonderen Schutzherrn der Jugend, der über ihre Gymnasien und Palästren waltete. Außerdem konnte er in der von Homer geprägten Gestalt in der Spätzeit als Gott der Beredsamkeit angesehen werden, als Hermes Logios, und von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zur völligen Gleichsetzung mit dem Logos in den spätantiken Mysterienreligionen. Im Synkretismus der hellenistischen Epoche konnte insbesondere der Hermes Logios mit dem ägyptischen Thot verschmelzen, der ja mit Wort, Schrift, Zahl und Buchstabe zu tun hat; die Interpretatio Graeca war ohnehin seit Herodot geläufig. Die Verschmelzung mit ägyptischen Vorstellungen bewirkte eine Erhöhung des Hermes, sodass er in der Gnosis als Trismegistos zum mystischen Allgott werden konnte.

Der ägyptische Einfluss im Hellenismus veränderte das Bild des Hermes grundlegend: Hermes wuchs in den spätantiken Mysterienkulten zunehmend zu einer Universalgestalt heran, Sonnengott und Weltenherrscher, Logos und Nous zugleich. Als Seelenführer setzte ihn der antike Synkretismus mit dem persischen Mysteriengott Mithras gleich, wie auf dem Grabmonument des Antiochus aus Kommagene auf dem Nemrud-Dagh dargestellt. Daneben tritt Hermes zuweilen immer noch als menschliche Person auf, als ein Eingeweihter und Weiser. In der älteren hermetischen Literatur gilt Hermes Trismegistos noch als Mensch, Prophet und Eingeweihter, zuweilen auch als Gottmensch, in dem sich menschliche und göttliche Natur untrennbar miteinander vermischen, wie etwa im Dialog Asclepius, wo er sagt: „Ich habe Euch alles dies im einzelnen erklärt, soweit es meine Menschennatur vermochte, meine Gottesnatur es wollte und zuließ“. Eine bisher nie gekannte Steigerung seiner Gottnatur erfährt Hermes Trismegistos in dem hermetischen Nag-Hammadi-Text Über die Achtheit, wo Tat ihn als „göttliches Sein“ und „Herrn des Universums“ anspricht. Selbst zur Fixsternsphäre aufgestiegen, richtet Tat folgende Worte an Hermes: „Trismegistos, lass meine Seele nicht der Schau entbehren, göttliches Sein, denn Du hast Macht über Alles als Herr des ganzen Univerums“.

Damit ist Hermes nun endgültig zum gnostischen Universalgott, zur Personifizierung des Weltalls und erlösenden Heilsgestalt, aufgestiegen. In einem Zauberpapyrus aus der Spätzeit Ägyptens findet sich folgender Hymnus an den gnostischen Hermes:

Hermes, Dich rufe ich an,

der du das All umfassest,

mit jeglicher Stimme, in jeglicher Sprache,

dich besinge ich, wie dich zuerst besang

den du bestelltest und dem du bewährtest

all deine Kunde von dir.10

Hermes – eine historische Person?

Die frühesten Belege für die Existenz einer gnostischen Geheimlehre des Hermes Trismegistos finden sich erst in der Literatur der Kirchenväter, so bei Cyrill, Athenagoras, Tertullian, Laktanz und bei dem einflussreichsten Kirchenlehrer der ausgehenden Antike, Augustinus (354 –430). Sie alle kennen einen in Dialogform abgefassten Corpus von hermetischen Schriften, aus dem sie Bruchstücke zitieren; Augustinus geht indessen noch weiter, indem er uns einen mythischen Stammbaum des Hermes Trismegistos mitteilt, der Rückschlüsse auf seine historische Existenz erlaubt. In seinem Hauptwerk Der Gottesstaat schreibt Augustinus: „Denn was jene Philosophie betrifft, die angibt, etwas zu lehren, wodurch die Menschen selig werden [die hermetische Philosophie], so wurden ihre Studien in jenen Ländern [Ägypten] erst ungefähr zur Zeit des Mercurius, den sie Hermes Trismegistos nannten, berühmt. Das war zwar lange vor den Weisen oder Philosophen Griechenlands, aber doch nach Abraham, Isaak, Jakob und Joseph, ja sogar später als Moses. Denn man hat ermittelt, dass zur Zeit der Geburt Mosis Atlas gelebt hat, der Bruder des Prometheus und mütterlicher Großvater des älteren Mercurius, dessen Enkel jener Mercurius (Hermes) Trismegistos gewesen ist.“11

Hier haben wir zunächst einmal zwei Hermes, einen älteren und einen jüngeren; letzter ist der Enkel des älteren und zugleich der Begründer der hermetischen Philosophie. In seinem Dialog Asclepius sagt der Dreimalgrößte Hermes selbst, dass er einen Großvater habe, der auch Hermes hieß. Und dessen Großvater soll Atlas gewesen sein! Hier freilich geht der Stammbaum ins Mythische über; die Menschen erscheinen als mit den Göttern verschwistert, indem sie von diesen abstammen. Atlas galt bei den Griechen als der Sohn des Titanen Japetos und der Okeanide Klymene, auch als Bruder des Prometheus, und er hatte die Aufgabe, das Himmelsgewölbe zu stützen. Die Alten sahen in diesem Atlas bald die Personifizierung der Weltensäule, bald den legendären König von Atlantis, nach dem Bericht Platons, bald den großen Astronomen, Mathematiker und Philosophen. Seine zahlreichen Töchter teilen sich in drei Gruppen: die Plejaden, die Hyaden und die Hesperiden. Zu den Töchtern des Atlas gehört auch Maia („Mutter“), die Mutter des Götterboten Hermes, dessen Vater Zeus ist. Anfänglich war Maia nur eine lokale Spielart der Muttergottheit, dann die erste der Nymphen des arkadischen Kyllene-Gebirges, in dessen Höhle sie ihren Sohn Hermes empfing und gebar. Indes lässt der Hermes-Mythos die Gestalt der Maia wenig hervortreten; Züge einer Schatzhüterin sind ihr wohl erhalten geblieben. Seit Hesiod und Simonides wurde die Berggöttin Maia unter die Plejaden eingereiht. Wir können nun folgenden Stammbaum aufstellen: Atlas —> Maia & Zeus —> Hermes der Ältere —> Hermes Trismegistos.

Somit steht Hermes Trismegistos in einer illustren Ahnenreihe, die bis auf Atlas, den himmelstützenden Titanen, zurückgeht. Und nun sagt Augustinus, dass eben dieser Atlas (oder vielleicht ein König gleichen Namens?) „zur Zeit der Geburt Mosis“ gelebt habe. Das Wirken des Hermes Trismegistos in Ägypten glaubt er, wie wir gehört haben, „lange vor den Weisen oder Philosophen Griechenlands“, aber „nach Abraham, Isaak, Jakob und Joseph, ja sogar später als Moses“ ansetzen zu können. Diese Worte des Kirchenvaters beinhalten eine recht konkrete Zeitangabe: Die historische Lebenszeit des israelitischen Stammesführers Moses dürfte im Neuen Reich, wohl zwischen der 19. und 21. Dynastie liegen; der Auszug israelitischer Stämme aus Ägypten dürfte sich um 1250 v. Chr. zugetragen haben. Die „Philosophen Griechenlands“ beginnen in der kleinasiatischen Landschaft Ionien ab ca. 600 v. Chr. öffentlich aufzutreten: von Thales (624–546), Anaximander (611–546) und Anaximenes (586–525) bis zu Pythagoras (580–500) und Heraklit (535–470).

Es bleibt also ein Zeitraum, der sich ganz grob zwischen 1250 und 600 v. Chr. aufspannt: hier könnte sich die Lebenszeit des Hermes Trismegistos abgespielt haben, falls er denn je mehr gewesen ist als eine bloße Legende. Er wäre sodann ein Zeitgenosse der israelitischen Könige Saul (um 1010), David (1006–969) und Salomo (966–926) gewesen, ein Zeitgenosse auch der Religionsstifter Konfutsius und Lao-Tse im Alten China. Er wäre der Zeuge einer Zeit gewesen, da im Industal die spätvedische Kultur, in Griechenland die mykenische Kultur sich ihrem Ende entgegenneigte. Einer Zeit auch, da in Hellas das Mysterienwesen noch in hoher Blüte stand: man denke etwa an das Orakel von Delphi, an die Kultstätten von Eleusis und Samothrake – lange vor dem Auftreten der ersten Philosophen, Jahrhunder te vor dem Weisen Solon (640–561), und noch mehr Jahrhunderte vor Pythagoras, Heraklit und Platon.

Die historische Lebenszeit des Hermes Trismegistos würde demnach in einen größeren Zeitraum hineinfallen, der sich in etwa zwischen dem 13. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. aufspannt. Dieser Zeitabschnitt ist in der Geschichte Ägyptens politisch und kulturell eine Zeit des Niedergangs und des Verfalls gewesen. In der Spätzeit, von der 25. Dynastie an, ist Ägypten nur noch von Fremdvölkern beherrscht worden: ab 662 v. Chr. von dem Assyrerkönig Assurbanipal, ab 525 vom Perserkönig Kambyses, ab 332 von Alexander dem Großen und seinen Diadochen, ab 30 v. Chr. schließlich von den Römern.

Und diese Niedergangszeit ist von Hermes Trismegistos schon vorhergesehen worden, sagt er doch in der Schrift Asclepius eine Zeit voraus, „wo die Ägypter umsonst frommen Sinnes die Götter anbeten werden; und all unsere heilige Andacht wird nutzlos und unwirksam gefunden werden. Denn die Götter werden von der Erde zum Himmel zurückkehren; Ägypten wird dann verlassen sein; jenes Land, das einst die Heimstatt der Religion genannt wurde, wird leer zurückbleiben, der Anwesenheit der Götter beraubt. Fremde werden sodann dieses Land und diese Region anfüllen (….).“12

Wenn Thot-Hermes nun tatsächlich ein „Zeitgenosse des Moses“ war, der den Niedergang Ägyptens in der Spätzeit voraussagte – wie passt es denn damit zusammen, dass die ihm zugeschriebenen Schriften, vor allem das Corpus Hermeticum, eindeutig aus einer hellenistisch geprägten spätantiken Zeit stammen? Sind sie nicht ganz zweifelsfrei ein Produkt der so genannten Alexandrinischen Schule, der auch Philon, Ammonios Sakkas und Plotin entstammen, aus der Zeit zwischen 250 und 350 n. Chr.? Klafft da nicht eine Lücke von mehr als einem Jahrtausend zwischen dem Leben des Hermes Trismegistos und seinen Schriften?

Gewiss, eine solche Lücke ist vorhanden, aber wäre es nicht denkbar, dass es mehrere Personen mit dem Namen Hermes gegeben hat, Ältere und Jüngere, Frühere und Spätere, Götter und Menschen? Vielleicht kann man Edouard Schure beistimmen, der in seinem Buch Die Großen Eingeweihten (1909) die Ansicht äußert, dass der Name Thot-Hermes eine Sammelbezeichnung darstellt: „Hermes ist ein genereller Name wie Manu oder Buddha. Er bezeichnet zugleich einen Menschen, eine Kaste und einen Gott. Als Mensch ist Hermes der erste, große Eingeweihte Ägyptens; als Kaste ist er die Priesterschaft der okkulten Tradition; als Gott ist er der Planet Merkur, dessen Sphäre mit einer Kategorie von Geistern, von göttlichen Eingeweihten assimiliert ist.“13

Wer war also dieser Thot-Hermes, der auch der Dreimalgrößte genannt wird, als historische Persönlichkeit? Wer war dieser Schöpfer einer gnostischen Geheimlehre, deren Wirkung sich auf das frühe Christentum, die jüdische Mystik, die Alchemie, die gesamte arabische Philosophie, Astronomie und Medizin erstreckte? War er überhaupt ein Mensch, oder nicht vielmehr ein Gott – oder ein aus eigener Kraft zu den Göttern Aufgestiegener? Lehrt nicht die Hermetik selbst, dass der Mensch ein seinem Ursprung nach göttliches Wesen ist, das sich aus Unwissenheit und Irrtum an diese Welt der Materie gekettet hat, aus der es sich aber durch echte Gott-Erkenntnis wieder befreien kann? Zeigt die Hermetik nicht einen Weg der Selbst-Gottwerdung? In diesem Sinne schrieb auch Novalis, damit Wesen und Hauptziel der hermetischen Einweihung zusammenfassend: „Wir werden die Welt verstehn, wenn wir uns selbst verstehn, weil wir und sie integrante Hälften sind. Gottekinder, göttliche Keime sind wir. Einst werden wir sein, was unser Vater ist.“14

Hellenistische Theosophie und Gnosis

Das geistige Klima Alexandrias

Bei der Betrachtung des geistigen Umfeldes der hermetischen Literatur, die sowohl Vorgänger und Nachfolger als auch verwandte Strömungen einbezieht, spielt das geistige Klima der oberägyptischen Metropole Alexandria eine entscheidende Rolle. Ägypten erlebte in der Epoche des Hellenismus eine Zeit der kulturellen Hochblüte, gerade durch die Verschmelzung von griechischem, jüdischem und orientalischem Kulturerbe, das auf die eine oder andere Weise auch in die Hermetik einfloss. Unter den Ptolemäerkönigen wurde als Sprache des Hofes, der Literatur und der Wissenschaft anstelle des Ägyptischen die Koine verwendet, die griechische Weltverkehrssprache der damaligen Zeit. Alexandria, in den fruchtbaren Ländern Oberägyptens und nahe der Mittelmeerküste gelegen, war ein wahrer Schmelztiegel spiritueller Ideen und Kulte, wo westliche und östliche Geistigkeit aufeinander trafen und sich gegenseitig befruchteten. Hier wirkten einst Plotin und Ammonios Sakkas; hier befanden sich die großen Zentren antiker Gelehrsamkeit; hier vor allem wurden wohl zwischen dem 2. und dem 4. Jh. n. Chr. jene „synkretistischen“ Gedankensysteme entwickelt, die in den Hermetica ihren literarischen Niederschlag gefunden haben.

Versetzen wir uns in Gedanken einmal in das Alexandria der ausgehenden Antike, stellen wir uns diese Stadt vor mit all ihren Palästen und Häfen, den von Säulen aus weißem Marmor flankierten Prachtstraßen, dem Sonnen- und dem Mondtor, den Tempeln der Isis, des Serapis und des Saturnus und seinem der Hafenbucht vorgelagerten, alles überragenden Leuchtturm auf der Halbinsel Pharos, der nicht umsonst im Altertum als eines der „sieben Weltwunder“ galt! Lassen wir es vor unserem Auge auferstehen, das Alexandria der Philosophenschulen, der gnostischen Kulte, der wild blühenden orientalischen Mysterienreligionen, aber auch das Alexandria der Wissenschaft mit seinem großen Universitätskomplex, dem Museion, sowie der Großen und Kleinen Bibliothek, die mit ihrem Bücherbestand in der damaligen Welt einzigartig dastand. Dieses Alexandria ist auch das Alexandria der Hermetik. Hier lebten noch zu Anfang des 4. Jahrhunderts Geweihte des Hermes Trismegistos, die sich der griechischen Sprache bedienten, um ihre Lehren in schriftliche Form zu bringen und zu verbreiten.

Schon um die Zeitenwende war Alexandreia, wie der griechische Name lautete, der Schnittpunkt der Zivilisationen, eine Perle der Kultur und der Wissenschaften, deren Ruhm weit über die Grenzen des Ptolemäerreichs ausstrahlte. Diese Hafenstadt am Mittelmeer war das große kosmopolitische Zentrum des Nahen Ostens, wo Handel, Kunst und Philosophie von drei Kontinenten – Europa, Asien und Afrika – aufeinander trafen, ein einziger großer Umschlagplatz für Ideen und Güter. Von Alexander dem Großen 332 v. Chr. gegründet und nach dem Plan seines Baumeisters Deinokrates erbaut, besaß es in seiner Blütezeit eine Bevölkerung von rund 300.000 Freien, mit Sklaven und Fremden jedoch mehr als 600.000 Einwohnern, die sich hauptsächlich aus griechischen Kolonisten, aber auch aus Ägyptern und Juden, später auch Römern zusammensetzte. Von den fünf Stadtteilen Alexandriens waren zwei ausschließlich jüdisch; aber es handelte sich um ein tolerantes weltoffenes Judentum, das sich gegenüber der Philosophie und fremden religiösen Ideen wie denen des Christentums aufgeschlossen zeigte.

Versuchen wir auch, uns einmal den Stadtplan Alexandrias zu vergegenwärtigen. Seit ihrer Gründung war die Stadt ein langes schmales Rechteck, rund 6 km lang und 1,5 km breit, von West nach Ost von einer etwa 30 Meter breiten Prachtstraße durchzogen, dem Dromos („Laufbahn“) und rechtwinklig dazu von einer anderen, nordsüdlichen Hauptstraße geschnitten; andere Straße liefen zu diesen stets parallel. Die ganze Stadt war von einer großen Ringmauer umzogen, und an beiden Enden des Dromos standen zwei Tore, später als Sonnen- und Mondtor bezeichnet. Der Stadt gegenüber im Meer lag die kleine, von dem berühmten Leuchtturm gekrönte Insel Pharos, durch einen künstlichen, 7 Stadien oder 1300 Meter langen Steindamm mit dem Festland verbunden. Dieser Damm, Heptastadion genannt, schied die beiden Haupthäfen, den großen im Osten und den „Hafen der guten Heimkehr“ im Westen, in dem es noch einen kleinen Kriegshafen gab. Am Osthafen lag die Königsburg mit ihren Palastanlagen, auch Gärten, Verwaltungsgebäude, die Kasernen der Leibgarde, das Museion, die Große Bibliothek, das Dionysostheater sowie die Begräbnisstätten Alexanders des Großen und der Ptolemäerkönige.

Die Große Bibliothek – so heißt die größere der beiden von Ptolemaios II. Philadelphos (283–246 v. Chr.) gegründete Büchersammlung in Alexandria, die für die Pflege griechischen Geistes und die Entwicklung der antiken Wissenschaft von entscheidender Bedeutung war. Im Bezirk Brucheion gelegen und dem Museion angegliedert, umfasste sie nicht weniger als 700.000 Buchrollen; bedeutende Gelehrte wirkten hier als Bibliothekare. Die Kleine Bibliothek, dem Serapisheiligtum angegliedert, zählte mehr als 40.000 Buchrollen. In dem von Ptolemaios I. gegründeten Museion, einer Universität im heutigen Sinne, erhielt die hellenistische Wissenschaft eine ideale Forschungs- und Lehrstätte. Hier wirkte der Geograph Eratosthenes (285–205 v. Chr.), der als erster Umfang und Durchmesser der Erde berechnete, ferner die Ärzte Herophilos und Erasistratos, die Philologen Zenodot und Aristophanes sowie der Dichter Kallimachos; für andere hellenistische Gelehrte wie Euklid, Archimedes, Theokrit und Polybios ist ein Aufenthalt in Alexandria bezeugt. Das Museion konnte auf eine über 400jährige wissenschaftliche Tradition zurückblicken: die Entstehung der christlichen Katechetenschule unter Clemens Alexandrinus ist ebenso mit ihr verbunden wie die der neuplatonischen Philosophie eines Ammonios Sakkas und Plotinos. Erst die arabische Eroberung Ägyptens 641 n. Chr. zog einen Schlussstrich unter diese Entwicklung; doch konnte die griechische Wissenschaft in den neuen großen Kulturzentren des Ostens wie Konstantinopel und Bagdad weiterleben. Wie keine andere Stadt der Alten Welt war Alexandria dazu geeignet, die Synthese von Wissenschaft und Religion zustande zu bringen, die in unmittelbarer Nachbarschaft und regem gegenseitigen Austausch beisammen lebten.

Doch diesem Geist der Synthese, diesem universalen und toleranten Geist Alexandrias erwuchs schon früh ein unerbittlicher Gegner – das Christentum. Die alexandrinische Urchristengemeinde ist spätestens seit dem Jahr 52 bezeugt; mit der berühmten Katechetenschule bestand praktisch die erste theologische Universität. Die jüngere Schule mit Athanasius und Cyrill im 4. und 5. Jahrhundert stellte im trinitarischen und christologischen Streit die geistigen Führer im Kampf gegen die „Ketzer“ und die Antiochenische Schule. Der Druck des eindringenden Christentums hat in Alexandria zu blutigen Kämpfen geführt. Die Erstürmung des Serapeums, des letzten Sitzes heidnischer Theologie und Gelehrsamkeit, durch Theodosius im Jahre 389 und seine Verwandlung in eine Kirche des heiligen Arcadius bereitete dem Heidentum das Ende. Alexandria war schon lange vorher der Sitz eines Patriarchen und ein Haupt sitz christlicher Theologie. Auch die Vernichtung der Großen Bibliothek durch Feuersbrunst geht auf das Schuldkonto nicht etwa der Araber, sondern der Christen, frommen ungebildeten Mönchen, angestachelt von fanatischen Wüstenvätern, und wilden Volksmassen koptischen Glaubens, die in den großen Siedlungen am Nildelta eine Art Proletariat bildeten.

Unter den Christen bildeten indes die Gnostiker eine Sonderströmung, die bis zu ihrer Ausmerzung durch die Kirche in Form zahlreicher kleiner Kultvereine bestanden, esoterische Zirkel, in denen Christentum, hellenistische Philosophie und alte orientalische Mysterienweisheit miteinander verschmolzen. Zentrum der christlichen Gnosis war ebenfalls schon recht früh Alexandria, dieses Forum für West-Ost-Synthese seit jeher, wobei die gnostischen Schulen des Basilides und des Valentinianus besonders hervorstechen. Bestimmend für die Hermetik war jedoch weniger diese christliche Gnostik mit ihrem dualistischen Geist, sondern eher der Neuplatonismus und die Logoslehre Philos, ja überhaupt die abendländische Logoslehre.

Der antike Logosgedanke

Der Begriff Logos – zu übersetzen mit Wort, Geist, Sinn – ist seit Heraklit eines der Grundworte der abendländischen, speziell der hellenistischen und hermetischen Philosophie. Es besaß ursprünglich eine ganze Fülle von unterschiedlichen, jedoch zu einer inneren Einheit zusammengefassten Bedeutungen. Einerseits bedeutet „Logos“ soviel wie „Erzählung“, so bei Homer, dann auch „Rede“, „Wort“; andererseits hat es aber auch die Bedeutung von „Zählung“, „Rechnung“, in der Mathematik auch „Proportion“. Insofern darin alles Erforderliche berücksichtigt werden muss, nimmt Logos schließlich auch die Bedeutung von „Rücksicht“, „Wertschätzung“, „Überlegung“, „Grund“ und „Sinn“ an.

In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. gewinnt Logos über die vorgenannten Bedeutungen hinaus noch einen zusätzlichen, charakteristischen Inhalt: es bezeichnet nun auch die Fähigkeit zum Ergründen des Sinnes, also den Verstand, und wird damit gleichbedeutend mit dem griechischen nous, der „Vernunft“. Die Doppelbedeutung von Verstand und Vernunft wird im Griechischen weiterhin beibehalten; so meinen die Sophisten mit Logos eher das rein verstandesmäßige Vermögen des Menschen, Sokrates und Platon hingegen verstehen eher das höhere Prinzip der Vernunft darunter. In der abendländischen Philosophie ist Heraklit von Ephesos um 500 v. Chr. der Erste, der den Logos in den Rang einer allgemeinen, über alles regierenden Weltvernunft erhebt. Er sagt in einem seiner Fragmente: „Diesem Logos gegenüber, der doch ewig ist, verhalten sich die meisten Menschen ohne Verständnis, gleichgültig, ob sie es noch nicht erfahren haben oder ob sie es wirklich vernommen haben. Alles geschieht gemäß dem Weltgesetz. Sie aber gleichen Unkundigen, auch wenn sie es mit solchen Reden und Taten versuchen, über die ich mich verbreite, jedes nach seiner Natur erklärend, und indem ich darlege, wie es sich damit verhält. Die anderen Menschen aber wissen nicht, was sie im Wachen tun, genauso wie sie vergessen, was sie im Schlafe tun.“15