Weisheit, die aus dem Ewigen fließt - Manfred Ehmer - E-Book

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt E-Book

Manfred Ehmer

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Beschreibung

Hier wird eine Sammlung von Weisheitstexten vorgelegt, vom Weltschöpfungslied des Rigveda, ausgewählten Upanishaden und den Hymnen Zarathustras über gnostische und hermetische Texte bis hin zu Gedichten von Goethe, Schiller und der Großen Invokation von Alice Bailey. Damit wird eine rund 4000jährige Einweihungs-Tradition dokumentiert, mit Zeugnissen aus Europa und Indien, die sich durch Gedankentiefe und poetische Schönheit gleichermaßen auszeichnen. Die zum Teil sehr seltenen Texte des Bandes werden vom Autor reichhaltig kommentiert und somit dem Verständnis des modernen Menschen neu erschlossen. So entsteht das Panorama einer esoterischen Weisheitsreligion, die als die 'Religion der Wissenden' einen unverzichtbaren Bestandteil der abendländischen Kulturgeschichte darstellt.

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Manfred Ehmer

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt

Heilige Texte aus vier Jahrtausenden

E-Book

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt

Copyright © 2023 Dr. Manfred Ehmer

Band 16 der Reihe edition theophanie

Druck und Distribution: tredition GmbH, An der Strusbek 10,

22926 Ahrensburg, Germany

ISBN Softcover:

978-3-347-52473-6

ISBN Hardcover:

978-3-347-52477-4

ISBN E-Book:

978-3-347-52458-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheber-rechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Besuchen Sie den Autor auf seiner Homepage:

https://www.manfred-ehmer.net

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Uralte Weisheit – neu entdeckt

Goldene Worte der Esoterik

Das Weltschöpfungslied des Rigveda

Die Isha-Upanishad

Die Mundaka-Upanishad

Das Gayatri-Mantra

Die Shiva-Sankalpa-Upanishad

Das Tao-teh-king des Lao-Tse

Der Weg der Boddhisattvas

Der Sonnengesang Echnatons

Die Gathas des Zarathustra

Das Hohelied Salomos

Die Orphischen Fragmente

Rätselworte der Vorsokratiker

Die Goldenen Verse des Pythagoras

Das Reinigungslied des Empedokles

Platons Höhlengleichnis

Das gnostische Perlenlied

Die Tabula Smaragdina

Das Lied des Barden Taliesin

Brans Meerfahrt

Die Genesis der Bibel

Die hermetische Kosmogenesis

Die Isis-Mysterien nach Apuleius

Das Mul Mantra

Aus Rumis Mathnawi

Der Sonnengesang des Franz von Assisi

Der Cherubinische Wandersmann

Das verschleierte Bild zu Sais

Goethes Gedicht 'Die Geheimnisse'

Die Stanzen des Buchs Dzyan

Die Große Invokation

Der Prolog des Johannes-Evangeliums

Quellenverzeichnis

Zitatnachweis

Dr. Manfred Ehmer

Was ist Theophanie?

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt

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Titelblatt

Urheberrechte

Uralte Weisheit – neu entdeckt

Der Prolog des Johannes-Evangeliums

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt

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Uralte Weisheit – neu entdeckt

Würde man aber die Spuren der Weisheit bei den Alten (….) sichtbar machen, so zöge man das Gold aus dem Schlamm, den Diamanten aus dem Berg und das Licht aus der Finsternis, und das wäre in der Tat perennis quaedam philosophia (eine gleichsam ewige Philosophie). Gottfried Leibniz

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt – sie hat keinen Begründer oder Stifter; anfangslos präexistiert sie seit dem Urbeginn aller Zeiten, und sie wird fortdauern bis an das Ende aller Tage. Dabei wird sie wohl ihre Form ändern, die konkrete Art ihrer Ausformulierung, aber ihre wesenhafte Essenz wird unverändert bleiben – denn sie ist nicht menschliches, sondern göttliches Wissen, das einst in gottgeeinter Schau »gesehen« wurde.

Das »Wissen« der Ewigen Weisheit gründet auf geistige Schau; es kann nicht durch Intellektdenken, sondern nur dadurch erworben werden, dass des Menschen Geist aus den Beschränkungen von Raum und Zeit heraustritt und sich mit dem ewigen und überzeitlichen Sein Gottes vereint. Er wird dann in den Rang von Gottwesenheiten aufsteigen und selbst, zumindest ansatzweise, das Wissen dieser »Götter« besitzen.

Die Ewige Weisheit heißt nicht deshalb so, weil sie etwa selber ewig wäre – sondern deshalb, weil sie den Ewigkeitsgedanken konsequent in den Mittelpunkt stellt. Sie betrachtet schlechthin alles sub specie aeternitatis, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, sieht alles Irdische im Licht des Überzeitlich-Göttlichen. Es geht hier also um die Schau des Ewigen – des göttlichen All-Einen, des menschlichen Selbst und der ewig sich selbst erneuernden Schöpfung.

Im Sinne einer solchen Geistesschau wollen wir hier nun eine Sammlung von Weisheitstexten vorlegen, vom Weltschöpfungslied des Rigveda, ausgewählten Upanishaden und den Hymnen Zarathustras über gnostische und hermetische Texte bis hin zu Gedichten von Goethe, Schiller und der Großen Invokation von Alice Bailey. Damit wird eine rund 4000jährige Einweihungs-Tradition dokumentiert, mit Zeugnissen aus Europa und Indien, die sich durch Gedankentiefe und poetische Schönheit gleichermaßen auszeichnen. Die zum Teil sehr seltenen Texte des Bandes werden ausführlich kommentiert und somit dem Verständnis des modernen Menschen neu erschlossen. So entsteht das Panorama einer esoterschen Weisheitsreligion, die als die »Religion der Wissenden« einen unverzichtbaren Bestandteil der menschheitlichen Kulturgeschichte darstellt.

Im folgenden Teil werden sieben Axiome gegeben, die wesentliche Grundlagen der Ewigen Weisheit bilden, die Goldenen Worte der Esoterik. Diese Axiome sind der Menschheit nicht deshalb übergeben worden, damit Verstandesmenschen ihre philosophische Neugier daran befriedigen und Anlass zu mehr Spekulationen bekommen. Sie wenden sich vielmehr an alle wahrhaft spirituell Suchenden, damit sie Einblick in die Prozesse der Schöpfung bekommen und dadurch die Natur Gottes besser zu verstehen lernen.

Goldene Worte der Esoterik

Eins ist Alles;

Wie oben, so unten;

Wie Innen, so Außen;

Stirb und Werde!

Erkenne Dich selbst!

Das bist Du;

Die Welt ist Klang.

Die Goldenen Worte der Esoterik sind Wahrworte, Perlen des Geistes, die zur Selbst- und Gott-Erkenntnis anregen wollen. Wenn man diese Merksätze in der Tiefenmeditation durchdenkt, wird man vor dem geistigen Auge eine große lebendige Einheit erschauen, in der alles ineinandergreift, alles miteinander zusammenhängt, die von der Gottheit durchdrungene Schöpfung. Es gibt sieben solcher Goldenen Sätze der Esoterik, die wie die sieben Farben des Spektrums erscheinen, nämlich fließend ineinander übergehend.

Eins ist Alles

Eins ist Alles – denn aus dem Schoß des göttlichen All-Einen ist die Welt hervorgegangen, und dorthin wird sie dereinst wieder zurückkehren. Aller Vielheit, allem Wandel, allem Sinnentrug dieser Wirklichkeit liegt eine letzte, große, lichterfüllte Einheit zugrunde, in der Welt und Gott – nur scheinbar getrennt! – zusammenschmelzen zu einer geisterfüllten Ganzheit. Alles Einzeldasein, in welchen und wie vielen Formen es sich kundgeben mag, ist enthalten im Netzwerk der Schöpfung und somit Teil der göttlichen All-Einheit, die immer war und ist und sein wird. Das Bewusstsein des Einzeldaseins ist Illusion; es gibt nur All-Bewusstsein, All-Dasein, All-Einheit; und das Göttliche – namenlos, gestaltlos, reines Sein – ist das einheitsstiftende Band, das alle Dinge dieser wandelbaren Welt der Vielheit inwendig und geheim zusammenhält. Das Eins ist Alles ist ein Mysterienwort aus uralter Zeit. Noch bei Heraklit von Ephesos (535-470 v. Chr.) klingt es an, wenn er sagt: »Verbindungen gehen ein: Ganzes und Nichtganzes, Übereinstimmendes und Verschiedenes, Akkorde und Dissonanzen; und aus Allem wird Eines und aus Einem Alles.«1

Kraft der All-Einheit des Seins ist nichts in der Welt zufällig; alles hängt mit allem zusammen: vor allem jene beiden Seinsbereiche, die bisher immer als getrennt gegolten haben – Natur und Geist, Welt und Gott, Immanenz und Transzendenz, die nur zwei Seiten derselben Münze bilden. Alle Dualitäten sind eigentlich nur Polaritäten; und das Gesetz der Bipolarität durchwaltet die ganze Schöpfung. Das Göttliche als das All-Eine ist jene allumfassende, alle Wirklichkeit begründende Über-Realität, die Allem innewohnt und so die Ganzheit allen Seins in sich beschließt.

Ein treffendes Sinnbild für den Gedanken der All-Einheit ist das Gleichnis vom Netz Indras. Der Gott Indra besaß in seinem himmlischen Palast ein wundersames, mit sich gegenseitig reflektierenden Perlen besetztes Netz. In jeder einzelnen Perle spiegeln sich alle übrigen Perlen; und eine Perle erscheint auch in allen anderen. So ergibt sich eine ins Unendliche fortgehende Reflexion einer jeden Perle in allen übrigen und damit wieder in sich selbst. Was auf einer Perle erscheint, das erscheint gleichzeitig auf allen anderen; und wird eine Perle in ihrem So-Sein verändert, so verändern sich alle übrigen. Jede Perle befindet sich in einer Situation universeller Verantwortung; denn keine besteht außerhalb dieses Netzes. Man könnte es auch so ausdrücken: Das göttliche All-Eine spiegelt sich in allen Dingen; da diese sich gegenseitig spiegeln, so reflektieren sie nicht nur sich selbst, sondern auch das Göttliche.

Wie oben, so unten

Es gibt ein allwaltendes Weltgesetz, dem wir alle unterstehen: das Gesetz der Analogie von Oben und Unten, der wechselseitigen Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos. Stets ist das Kleine ein Abbild des Großen, das Untere ein Abbild des Oberen, der Mensch als geistbeseeltes Wesen ein Abbild des Universums. So ist es einerlei, ob man sagt: Der Mensch ist ein Universum im Kleinen, ein Abbild des Welten-Organismus, oder ob man sagt: Das Universum ist ein Mensch im Großen, das Urbild des Menschenwesens. Der Mensch ist ein kosmisches Wesen, und umgekehrt der Kosmos ein dem Menschen analoges Wesen.

Man nennt diesen Satz auch den »Hermetischen Satz« oder das Analogieprinzip. Die niedere Welt der Stofflichkeit, gebildet aus den vier Elementen und dem feurigen Äther, und die höhere Welt, d. h. die astrale und geistig-göttliche Welt mit allen ihren Sphären, Hierarchien und Bewohnern – sie bilden einen engen Zusammenhang. Es besteht ein enger, unauflöslicher Wechselbezug zwischen den oberen und den unteren Welten, denn überall waltet das Prinzip, der Analogie, der Entsprechung. Den physischen Naturgesetzen entsprechen geistige Schöpfungsgesetze; dem sinnlich Wahrnehmbaren liegen geistige Urbilder zugrunde. In der Erkenntnis dieser geistigen Urbilder, der geistigen Schöpfungsgesetze, die das All durchwalten, besteht die eigentliche Aufgabe der Esoterik, die sich nicht damit begnügen darf, bloß die niedrigsten Verdichtungsstufen des Schöpfungsganzen geistig zu durchdringen.

Statt Wie oben, so unten kann man auch sagen: Wie im Himmel, so auf Erden. Mit der Erde ist hier das Reich der grobstofflichen Materie gemeint, mit dem Himmel jene höheren, unsichtbaren, »okkulten« Seins- und Wirklichkeits-Ebenen, die für den Verstandesmenschen bloße Phantasieprodukte, für den Esoteriker aber lebendige Geist-Realitäten sind. Alles Irdische ist vor- und urgebildet im Himmlischen.

Der Satz »Wie oben, so unten« lässt sich gut nachweisen am Beispiel der Analogie zwischen Mensch und Kosmos. Der Kosmos, esoterisch aufgefasst als Makroanthropos [Großer Mensch], besitzt Weltkörper, Weltseele und Weltgeist – alle drei aber innig miteinander verwoben und ein geist-lebendiges Ganzes bildend. Der Weltkörper des Kosmos zunächst ist angefüllt von den zahlreichen Himmelskörpern, die das physisch sichtbare Universum bevölkern, wobei jeder davon selbst wieder einen Makroanthropos oder »vergrößerten Menschen« darstellt. Denn auch das verlangt das Gesetz der Analogie, dass die Himmelskörper im All menschenähnliche Wesen sind: nicht ihrer Gestalt, aber wohl ihrer Wesenszusammensetzung nach. Die Weltseele des Kosmos umfasst ebenfalls unzählige Welten, nur eben feinstoffliche, astrale, die unser physisches Auge nicht wahrzunehmen vermag. Der Weltgeist schließlich ist jenes denkende Universalbewusstsein, das den Kosmos und alles Belebte darin durchdringt.

Wie Innen, so Außen

Alles, was außen ist, befindet sich in Wahrheit in den Tiefen des Inneren; und alles Innere wird wiederum außen wahrgenommen; denn Innen und Außen sind Eins. Auch für Gott ist es kein Widerspruch, Innen und Außen zugleich zu sein; denn der Immanente Gott, der Gott in uns, von dem die Heiligen Schriften der Hindus ebenso künden wie die Zeugnisse der westlichen Mystiker, ist ungeschieden von dem Kosmischen Gott, der die Welt mit seinen schöpferischen Energien durchdringt; Innenwelt und Außenwelt bedingen einander, entsprechen einander. Unter »Außen« wird üblicherweise die Welt von Materie, Raum und Zeit verstanden, unter »Innen« unser eigenes Bewusstsein. Aber gibt es überhaupt Materie, Raum und Zeit außerhalb unseres Bewusstseins? Sind sie nicht vielmehr nur nach außen projizierte Muster unserer inneren Strukturen? Novalis schrieb einmal in einem seiner Fragmente: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall; ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft.«2

Stirb und Werde!

Zu den ewigen Schöpfungsgesetzen, die das sichtbare wie auch das unsichtbare All durchwalten, gehört auch das Gesetz des Stirb und Werde. Es gibt kein Leben ohne Tod, aber auch kein Sterben ohne Neugebären; alles im All ist nur Metamorphose, Gestaltenwandel, wobei ein und dasselbe unauslöschliche Leben in unendlichen Ketten der Verwandlung durch alle nur denkbaren Seinsformen hindurchgeht.

Die Betrachtung der Natur lässt nur allzu deutlich erkennen, dass der Tod nichts Endgültiges, Absolutes ist; Tod, Regeneration und Geburt sind im Grunde genommen eines. Alles in der Natur bewegt sich in dem großen Zyklus des Stirb und Werde, so wie Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf, Frühling und Winter aufeinander folgen im ewigen Wechselschritt. Nur scheinbar ist der Winter eine öde und kalte Welt des Todes und der Vernichtung; in Wahrheit sind auch zu Winterszeiten unterirdisch mächtige Regenerationskräfte am Werk, die das Kommen des neuen Frühlings vorbereiten. Nur scheinbar ist der Schlaf eine Zeit der Bewusstseinstrübung; in Wahrheit dauert auch im Schlaf ein unterschwelliges Bewusstseinsleben fort, das Gewesenes verarbeitet und sich vorbereitet für den neuen Tag. Alles in der Natur besteht in bipolarer Gestalt, wie Hell und Dunkel, Männlich und Weiblich, Tag und Nacht. Es ist dies die grundlegende Bipolarität allen Seins, welche die alten Chinesen ausdrückten im Symbol des Ineinandergreifens von Yin und Yang. Leben und Tod sind zwei Seiten derselben Münze! Wie es schon Goethe sagte:

Und solang du das nicht hast,

dieses: Stirb und Werde!

Bist Du nur ein trüber Gast

auf der dunklen Erde.3

Erkenne Dich selbst!

Über den Pforten des Tempels zu Delphi stand der Satz: Erkenne Dich selbst! In den alten Mysterientempeln musste das Antlitz der Götter immer verhüllt bleiben; kein Sterblicher durfte es wagen, den Schleier zu heben. Wer aber wirklich den Schleier hinwegzieht, der wird in dem unverhüllten Antlitz des Gottes das Spiegelbild seines eigenen höheren Selbst erkennen. Denn die höchste Form der Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis des Ewigen in uns, die plötzlich in einem mystischen Erlebnis in uns auffluten oder nach langer Einübung in eine meditative Geisteshaltung erreicht werden kann. Der göttliche Urfunke, der sich selbst erkennt, sieht sich als gottgeeint und Teil des großen Welten-Allgeistes.

Das bist Du!

Aus uralter Zeit klingt uns ein Mysterienwort entgegen, gesprochen in Sanskrit, der heiligen Priestersprache Indiens, und dies Wort lautet: tat twam asi – zu deutsch: Das bist Du! Es bedeutet das Gefühl der All-Einheit als höchsten Grad der Erleuchtung, das Einssein mit allem Lebendigen. Dies Wort ist das Grund-Mantra des kosmischen Bewusstseins. Der Dichter Hölderlin hat es einmal so ausgedrückt: »Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und der Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.«4

Das Wahrwort Tat twam asi stammt aus der Chandogya-Upanishad, wo dargestellt wird, wie der Brahmane Aruni seinen Sohn Svetaketu in Gleichnissen über den Urgrund der Welt belehrt. Da lesen wir folgendes: »Uddalaka Aruni belehrte seinen Sohn Svetaketu. ‚Bringe mir eine Frucht von dem Feigenbaum dort.‘ ‚Hier ist sie, Erhabener.‘ ‚Spalte sie.‘ ‚Sie ist gespalten, Erhabener.‘ ‚Was siehst du dort?‘ ‚Diese fast atomgroßen Kerne.‘ Spalte einen von diesen.‘ ‚Er ist gespalten, Erhabener.‘ ‚Was siehst du darin?‘ ‚Gar nichts, Erhabener.‘ Da sagte (der Vater) weiter zu ihm: ‚Dieses ganz Feine, das du nicht mehr wahrnimmst, mein Lieber, aus diesem (erwachsen) steht der große Feigenbaum da. Glaube mir, mein Lieber, aus diesem Feinen besteht die ganze Welt. Das ist das Wahre, dies ist der atman, das bist du (tat tvam asi), o Svetaketu.‘«5

Die mystische All-Einheitserfahrung des tat twan asi wird in der Vedanta-Philosophie des klassischen Indien in virtuoser Weise entfaltet. Die Lehre des Vedanta stellt den Gedanken der Identität von Ich, Welt und Gott in den Mittelpunkt. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, das »Ich« sei eine isolierte, von der Welt losgelöste Bewusstseinsblase. Eigentlich sind Ich und Welt eines; nur Irrtum und Verstrickung hindert das Ich daran, dies zu erkennen. Und wenn das Ich sein Einssein mit der Welt erkannt hat, dann hat es auch die Einigung mit dem All-Gott vollzogen, der nicht als ein transzendenter Schöpfergott, sondern als ein immanenter Weltengott aufgefasst wird. Wahre Selbsterkenntnis geschieht nur durch All- und Kosmos-Erkenntnis, die zugleich wahre Gott-Erkenntnis bedeutet, im Sinne einer wesensmäßigen Einswerdung mit Gott.

Das All-Einheits-Bewusstsein des tat twam asi ereignet sich nur auf jenen Ebenen des Seins, die noch jenseits der Mentalebene liegen; dort entfällt endgültig jede Illusion der Getrenntheit. Annie Besant schreibt hierüber: »Die Bruderschaft der Menschheit, nein, die Bruderschaft aller Dinge hat ihre feste Grundlage in den geistigen Ebenen, der atmischen und der buddhischen, denn hier allein besteht Einheit, und nur hier ist vollkommenes Mitgefühl zu finden. Der Verstand ist das trennende Prinzip im Menschen, das scharf zwischen 'Ich' und 'Nicht-Ich' unterscheidet; er ist sich seiner selbst bewusst und sieht alles andere als außer ihm stehend und fremd an. [….] Mit dem Eintritt in die buddhische Welt wird sofort Einheit fühlbar.«6

Die Welt ist Klang

Dieser Satz, der die Essenz aller Esoterik in sich trägt, bedeutet: Die Welt ist Ton, Musik, Schwingung. Sowohl »Energie« als auch »Materie« sind nichts anderes als »Schwingung«. Die Welt ist ein von Harmonie erfülltes Ganzes, in dem jedes Einzelwesen auf seiner Schwingungsfrequenz tönt, ganz auf seine Weise, aber zugleich sich mit allen anderen Wesen im All zu einem universalen Weltengesang vereint. In der überirdischen Macht der Musik offenbaren sich geistige Urgesetze; denn in der Musik wirken dieselben harmonikalen Schwingungsgesetze, die überall im Kosmos anzutreffen sind. Musik ist ein Bestandteil der Schöpfungsordnung. Die Musik, die hier im Irdischen unser Ohr erreicht, kündet von einer noch schöneren, geistigen oder überirdischen Musik. In der Tat: Die Welt ist Klang – ein tönendes, klingendes, in unerreichbaren Harmonien schwingendes Organ: ein Instrument, dessen Saiten mitschwingen zum Klang jener Weltenmelodie, die der eine große Tonkünstler – der göttliche Harfner – seit Ewigkeit immer neu variierend darauf spielt.

In gewisser Weise könnte der Kosmos auch mit einem Lied verglichen werden, das der Schöpfer allen Seins seit Urzeiten komponiert und singt, ohne dass es dabei jemals einen Anfang oder ein Ende gäbe. Es ist ein ewiges Lied, und sein Rhythmus entspricht dem Zyklus des Entstehens, Vergehens und Neugebärens; seine Strophen entsprechen den großen Schöpfungszyklen; seine Verse den zahlreichen Zyklen und Runden; seine Zeilen den augenfälligen Rhythmen der Natur, etwa den vier Jahreszeiten oder den Mondphasen. Wer wollte abstreiten, dass Rhythmus immer mit Melodie zusammengeht? So könnte es sein, dass hinter allen Naturrhythmen ein großer Weltengesang stehen mag, den wir freilich mit bloß materiellen Ohren nicht wahrzunehmen vermögen.

Die Melodie der Welt ist indes eine Musik der Seele; und mit den Ohren der Seele hören wir auch jene Sphärenharmonie, die uns überall in der Natur entgegenklingt. In der Natur ist ein Zaubergesang; den können wir erwecken und zum Ertönen bringen, wenn wir selbst aus dem irdischen Traumschlafe zu jener unsterblichen Seele erwachen, die wir in jedem Moment unseres Seins tatsächlich sind. Die unsterbliche Seele ist nämlich selbst ein Instrument – ein Resonanzboden, der den Gesang des Kosmos aufnimmt und in sich widerhallen lässt; oder vielleicht auch eine Harfe, die von allein zum Klingen kommt, wenn ein geisterfüllter Wind darüberstreicht. »Wenn immer du fähig bist, dein Bewusstsein mit einer der sieben Saiten des 'universalen Bewusstseins' harmonisch zu stimmen, mit jenen Saiten, die über das Schallbrett des Kosmos laufen, schwingend von einer Ewigkeit zur anderen, wenn du vollkommen die 'Harmonie der Sphären' studiert hast, dann erst wirst du die volle Freiheit haben, dein Wissen mit jenen zu teilen, bei denen es mit Sicherheit geschehen kann.«7

Das Weltschöpfungslied des Rigveda

Es war kein Nichtsein damals, und es war kein Sein;

Es war kein Luftraum auch, kein Himmel über ihm.

Was webte damals? Wo? Wer hielt in Schutz die Welt?

Wo war das Meer, der Abgrund unermesslich tief?

Nicht Tod war damals, auch das Leben gab es nicht;

Es gab kein Unterschied noch zwischen Tag und Nacht;

Doch Dieses atmete, auf seine Weise, ohne Hauch:

Das Eine, außer dem es sonst nichts gab.

In Dunkel war die Welt im Anfang eingehüllt;

Und alles 'dieses' war nur unkenntliche Flut.

Durch Leere war das wundersame Eine zugedeckt:

Da brachte es durch Glutes Kraft sich selbst hervor.

Da ward das Eine gleich von Liebeskraft durchwallt,

Die, aus dem Geist geboren, aller Dinge Same ist:

Das Herz erforschend, taten es die Weisen kund,

Wie alles Sein im Nichtsein seine Wurzel hat.

Und als die Denker querdurch spannten eine Schnur,

da gab es 'Oben' plötzlich, und ein 'Unten' auch;

Und keimesmächt'ge Kräfte traten auf den Plan:

Begehren unten, oben der Gewährung Kraft.

Wer hat es ausgeforscht, und weiß es, tut es kund,

Woher die Schöpfung kam, und wie die Welt entstand?

Die Götter traten nach dem Einen erst ins Sein.

Wer also weiß, woher sie ausgegangen sind?

Woher die Schöpfung ist, und ob der Eine sie gemacht,

Das weiß, der über diese Welt die Oberaufsicht hat,

Und aus dem höchsten Himmel auf sie niederblickt:

Der weiß es wohl? Vielleicht weiß er es selber nicht.

Der Rigveda – Hymnen an die Götter

Unter den Veden, den heiligen Schriften Indiens, sticht der Rigveda als das älteste und literarisch weitaus bedeutsamste Zeugnis altindischer Götterdichtung besonders hervor8. Wie ein Urmonument steht der Rigveda im Strom der Weltliteratur, einmalig in der Wucht seiner sprachlichen Ausdruckskraft, unnachahmlich in seinem Bilderreichtum und der Vielfalt seiner Metaphorik, dabei von einer religiösen Inbrunst getragen, die noch einem magisch-mythischen Bewusstsein entspringt. Der Rigveda ist die Morgenröte der spirituellen Gotterkenntnis im Alten Indien, der glanzvolle Sonnenaufgang einer paradiesischen, von der Göttergegenwart durchdrungenen Frühphase der Menschheit9.

Seine 1028 Hymnen sind an die verschiedenen Gottheiten des altindischen Pantheons gerichtet, besonders an Agni, den Herrn des Opferfeuers und himmlisches Vorbild aller Priester, sowie an Indra, den Schirmherrn aller Krieger, der über Blitz und Donner gebietet und das erquickende Gewitter herbeiführt, indem er Vritra – den Drachen der Dürre – tötet. Andere Hymnen wenden sich an Varuna, den Allgott im Himmel, an die Ashwins, das göttliche Zwillingspaar, sowie an die Maruts, Sturmdämonen im Gefolge Indras. Besondere Schönheit besitzt der Hymnus an Ushas, die Göttin der Morgenröte, die erstrahlend zum Sonnengott hinaufsteigt. Daneben enthält der Rigveda Weisheitshymnen und Rätsellieder, die in grüblerischer Meditation den Ursprung der Welt zu ergründen suchen. Zu den jüngeren Liedern des Rigveda gehört das an den gewaltigen Urmenschen Purusha10, der dem Weltganzen zugrunde liegt und aus dessen Opferung alles erst entstanden ist, die Menschen, Tiere, die Welt der Elemente. Vereinzelt sind weltliche Gedichte eingefügt, wie etwa das eines Spielers, der – vom Spiel besessen – sein Elend besingt11. Moralische Warnungen finden sich am Schluss. Ein gutes Duzend Lieder sind als Wechselgesänge konzipiert, darunter das, welches von der Liebe Pururavas zu der Nymphe Urvasi kündet12.

Die ganzen, dichterisch übrigens nicht gleichwertigen 1028 Lieder zu je 1–58 Zeilen gliedern sich in 10.600 Strophen zu meist 4 Versen, das alles in wohlgesetzter Metrik, meist im Gayatri-Versmaß13 gedichtet. Der Inhalt teilt sich insgesamt in 10 Bücher oder Liederkreise, wie man das ursprüngliche Wort mandala meist übersetzt, wobei der 9. Liederkreis ausschließlich Lieder an das göttliche Rauschgetränk Soma enthält (die Soma-Pavamana-Lieder), eine Art Unsterblichkeitstrank. Der 10. Liederkreis, weitaus der interessanteste, gilt als das Buch der Nachträge und Ergänzungen, in dem sich neben Balladen, epischen Stücken und Dialogliedern eine Reihe von religionsphilosophisch höchst bedeutsamen mystischen, spekulativen und kosmogonischen Liedern findet, wie insbesondere das berühmte, oft zitierte Weltschöpfungslied14, in dem sich bereits die philosophische Frage nach dem Einen Welt-Urprinzip eröffnet, der später in den Upanishaden größter Raum gegeben wird. Hier geht die religiöse Hymnendichtung in philosophische Mystik über. Andererseits gibt es im Zehnten Liederkreis Dichtungen des häuslichen Ritus, die Hochzeits- und Totenlieder, Segnungen, Beschwörungen, Preisungen, die oft eine magische Handlung begleiten, sodass hier der Rigveda nahtlos in den Atharvaveda überzugehen scheint.

Der Rigveda ist also äußerst vielschichtig, denn er beinhaltet Hymnisches, Liturgisches, Philosophisches, Mystisches, Magisches – das ganze breite Spektrum religiöser und dichterischer Ausdruckskraft. Der Rigveda gleicht einem Labyrinth, in dem man sich verlaufen kann, verlieren kann, in dem es aber immer wieder Neues zu entdecken gibt. Man kann den Rigveda mit einem Ozean vergleichen, einem Ozean göttlichen Wissens, den man befährt, ohne je sein Ende abzusehen – der Horizont verliert sich in der Unendlichkeit.

In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage nach dem Alter der rigvedischen Dichtungen. In welche historische Epoche mögen diese Götterlieder wohl zurückgehen? Da die Hymnen in einem sehr archaischen Indoarisch gedichtet sind, in dem sogenannten vedischen Sanskrit, eigentlich einer Vorstufe des Sanskrit, so dürfen wir annehmen, dass die uns vorliegenden Texte auf die Zeit etwa um 1500–1000 v. Chr. datieren, in Einzelfällen sogar auf die gemeinindogermanische Zeit um 2000 v. Chr., das heißt auf die Zeit der ersten indogermanischen Einwanderungswelle. Aus einem Ursprungsgebiet, das nur ungefähr als zwischen Zentralasien und dem Punjab liegend bestimmt werden kann – nach heutigen geographischen Begriffen: Tadschikistan, Afghanistan, Usbekistan – wanderten die sich selbst als Aryas (»Arier«)15 bezeichnenden Stämme in Nordwestindien ein, zur gleichen Zeit etwa, als in Europa die Achäer und Ionier, später die Dorer auf der griechischen Halbinsel allmählich sesshaft werden. Das geographische Terrain jedenfalls, auf dem sich die Texte des Rigveda abspielen, erstreckt sich vom östlichen Afghanistan über den Punjab bis in die Gegend von Delhi, stellt also ein relativ begrenztes Gebiet dar; die zentralindische Hochebene, das Arabische Meer und die Bucht von Bengalen waren noch nicht bekannt.

Auf diesem sehr beschränkten nordwestindischen Mikrokosmos siedelten die fünf Hauptstämme der Aryas, die sich aber in über 30 Stammesverbände gliederten, von denen die Purus und die Bharatas bei weitem die bedeutendsten waren. Die Bharatas siedelten in der Nähe des heutigen Delhi und hatten als ihren Hauptplatz das berühmte Kurukŝetra-Feld, auf dem sich später die große Schlacht zwischen den Pandus und den Kurus abspielte; das Heldenepos Mahabharata berichtet ja darüber. Als politisches Hauptereignis der damaligen Zeit wird im Rigveda die »Zehnkönigsschlacht«16 erwähnt, bei der Sudas, ein König der Bharatas, von 10 feindlichen Königen eingezingelt war und trotzdem – mit Hilfe Indras – den Sieg davontrug. Vermutlich gehen diese Ereignisse, ähnlich wie der Kampf um Troja in Europa, in eine mythische Vorzeit zurück, die historisch der Bronzezeit entspricht.

Zumal da Eisen erstmals in nachrigvedischen Textdokumenten erwähnt wird, dürfen wir als historischen Rahmen für den Rigveda die Bronzezeit annehmen, die in Indien bis etwa 1000 v. Chr. andauerte.

Somit wäre der Rigveda in seinen ersten Ursprüngen älter als der Hinduismus und der Buddhismus, älter als die drei anderen Veden und die Upanishaden, älter als Homers Ilias und Odyssee. Er lässt sich nur mit den ältesten Textdokumenten Mesopotamiens, etwa mit den frühesten Fassungen des Gilgamesch-Epos vergleichen. Rund 1000 Jahre vor den ältesten Fragmenten der Vorsokratiker entstanden hier, im nordwestindschen Arierland, zwischen den Ufern des Indus und denen des Ganges die ersten philosophischen Spekulationen über den Ursprung der Natur und des Kosmos.

Dabei war die Lebensform jener Ur-Arier eine denkbar einfache. Sie waren Halbnomaden, immer in großen Wagentrecks unterwegs, dabei stets auf der Suche nach neuen Weideplätzen, bis auf die wenigen Wintermonate, in denen man in provisorischen Siedlungen hauste. Die ökonomische Lebensgrundlage bildeten die riesigen Rinderherden, die den ganzen Reichtum dieses Volkes darstellten, daneben auch die Pferdezucht17. Dies schlägt sich in einigen Texten des Rigveda nieder, wo Rinder, Rosse und Kühe geradezu als ein Synomym für Reichtum gelten. Und wie oft wird Indra in den Hymnen als ein kraftstrotzender Stier geschildert, wie sehr die von den Kühen gegebene Milch gelobt! Dies verweist auf eine archaische Viehzüchtergesellschaft, die sicherlich den historisch-soziologischen Hintergrund des Rigveda bildet.

Trotz ihres hohen Alters ist die Poesie des Rigveda eine Kunstdichtung mit stark höfischem Gepräge; die Lieder sind von priesterlichen Sängern im Dienste von Fürsten geschaffen worden, die ihnen ihre Werke durch reichliche Gaben, durch Rinder, Rosse und Gold lohnten. Die rigvedischen Dichter wurden in späterer Zeit als Rishis – Seher und Weise – bezeichnet, doch sind sie durchaus historisch greifbare Personen, allesamt namentlich bekannt, die sicherlich schon dem Brahmanenstand angehörten. Zumeist stammten sie aus angesehenen und bekannten Dichterfamilien, unter denen die Kanvas und die Angiras besonders hervorstechen. Es handelte sich bei ihnen offensichtlich um berufsmäßig arbeitende Priester-Barden, etwa den nordischen Druiden und Skalden vergleichbar. Überhaupt galt doch in ältester Zeit das Dichten als ein priesterlicher Akt, der in seinem Vollzug auch etwas mit Magie zu tun hatte. Mit anderen Worten: Der Priester, der Dichter und der Magier waren ursprünglich ein und derselbe, und diese Einheit eines gottesdienstlichen Wirkens bleibt in den über 1000 Hymnen des Rigveda durchweg gewahrt. Erst in späterer Zeit wurde die Dichtkunst weltlich, löste sich aus dem alten Götterhorizont heraus, diente nur noch der Unterhaltung, wie dies heute noch bei jeder Art von »Literatur« der Fall ist.

Den liturgischen Texten des Rigveda lag ein Ritual zugrunde, das heute nicht mehr in allen Einzelheiten rekonstruiert werden kann18, aber auf jeden Fall eine Mischung aus Feuer- und Sonnenzauber darstellte. Das Entzünden des heiligen Opferfeuers stand im Mittelpunkt dieses Rituals. Dabei dachte man sich das Feuer als eine Art Vermittler, dem die Aufgabe zukam, die Opfergaben von den Menschen zu den Göttern zu transportieren. Das Feuer hat, indem es die geopferten Gegenstände verbrannte, diese in den Bereich des Unsichtbaren hinübergetragen, es hat sie auf ihre unsichtbar-ätherische Kernsubstanz reduziert und sie somit den Göttern genießbar gemacht. So fungierte das Feuer gleichsam als ein Bote zwischen den Welten. Der vollziehende Akteur dieses altvedischen Opfer- oder Feuerrituals war der Hotar, worunter man den Hauptpriester der indoarischen Urzeit verstand; das Ritual selbst hieß Agnihotra, wobei man sich den Gott Agni – das personifizierte Feuer – als den obersten Hotar vorstellte, und somit als das Urbild allen menschlichen Priestertums. In enger Verwandtschaft hierzu steht der Feuerkult der alten Indoiranier: der Hauptpriester hieß dort der Zaotar, und ein solcher Feuerpriester ist auch der legendäre Zarathustra gewesen.

Götter und halbgöttliche Wesen

Götter und halbgöttliche Wesen haben stets als ein Mysterium gegolten. Das vedische Wort hierfür ist deva, das heißt »himmlisch, im Himmel befindlich«, abgeleitet von der urindogermanischen Bildung für Himmel dyaus, verwandt auch mit dem lateinischen deus und Zeus. Werfen wir nun einmal einen Blick auf die Götter, die im Rigveda angerufen werden. Das vedische Pantheon ist wesentlich älter als die Götter des Hinduismus; es stellt gleichsam eine ältere Religionsschicht dar, die dem Hinduismus sowie allen späteren Religionen und Kulten zugrunde liegt, noch sehr archaisch und naturreligiös ausgerichtet. Man kann sie mit den heidnischen Göttern Europas vergleichen, mit den Herrschern des Olymp oder mit den germanischen Asen, diese altvedischen Götter, die wie jene zumeist mit den Naturphänomenen, etwa Blitz und Donner, Sonne, Wind, Regen und Gewitter, Tag und Nacht, Morgendämmerung und Abenddunkel eng verbunden sind.

Im altvedischen Pantheon heißen die Götter Adityas19, das heißt Kinder der Aditi, die als Himmelsmutter so viel bedeutet wie grenzenloser Raum, Unendlichkeit, unendliches Bewusstsein; die Götter sind also Kinder der Unendlichkeit. Personifiziert wurde Aditi als Deva-Matri, als Göttermutter verehrt, und im allgemeinen wurden ihr 12 Kinder zugeschrieben, zu denen Götter wie Indra, Agni, Mitra, Varuna, Savitar, Aryaman, Bhaga und andere gehören.

Indra