Das Echo deiner Frage - Eva Weissweiler - E-Book

Das Echo deiner Frage E-Book

Eva Weissweiler

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Beschreibung

Sie schrieb genauso fundiert über Giftgas wie über die Diskriminierung der Frauen oder Musik im Stummfilm. Und das zu einer Zeit, in der der Holocaust nicht mehr als eine Ahnung war und Männer alle Bereiches des gesellschaftlichen Lebens zu dominieren schienen. Dora Benjamin war einmalig, auch wenn ihr Genie stets von dem ihres Ehemanns Walter Benjamin verdeckt blieb. Trotz ihrer ungewöhnlichen Selbstständigkeit war sie ihm verfallen und verzieh ihm seine zahllosen Affären. Das Echo deiner Frage thematisiert erstmals ausführlich die dramatische Beziehung des Paares zueinander, zweier Menschen, die aufgrund ihrer Unangepasstheit und ihrer jüdischen Abstammung stets heimatlos blieben, damit jedoch höchst unterschiedlich umgingen. Eine spannende Paarbiographie, in deren Mittelpunkt eine Frau steht, deren von Selbstverwirklichung, aufopfernder Liebe, Flucht und Verfolgung geprägtes Leben auch heute noch brandaktuell ist.

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Seitenzahl: 631

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Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage

Dora und Walter Benjamin – Biographie einer Beziehung

Hoffmann und Campe

Für Mickie, Chantal, Mona und Kim,

die Enkelinnen von Dora und Walter Benjamin

© Archiv Dina Draper, London

Dora Sophie Morser, ca. 1960 in London

Prolog»Ich erinnere mich an nichts Dunkles«

Februar 1941. Dora Sophie Morser, geborene Kellner, geschiedene Pollak und geschiedene Benjamin, hat sich ein Häuschen in der Grafschaft Surrey gemietet, um sich vor dem »Blitz«, den deutschen Luftangriffen auf London, zu schützen. Sie ist gerade noch rechtzeitig gekommen. Denn schon bald gibt es neue Bombardierungen, denen in jeder Nacht Hunderte zum Opfer fallen, wenn sie nicht Zuflucht in den U-Bahn-Schächten gefunden haben. Niemand kann schlafen, weil die Stadt von neun Uhr abends bis fünf Uhr früh attackiert wird. Man hat Pappsärge und Leichensäcke verteilt, um die Toten rasch bergen zu können. Wer irgend kann, flieht aufs Land. Um die 650000 Kinder sind in diesen Wochen verschickt worden.

Dora, die seit 1938 in London lebt, betreibt dort das Camborne Hotel, wo vor allem junge Leute und Studenten wohnen, zum Teil auf Dauer, eine Art »boarding-house«. Doch jetzt steht es leer, denn im Krieg kommen keine Touristen. Dora ist eine ausgezeichnete Köchin. Sie hat jahrelang eine Pension in Sanremo geführt. Deshalb meldet sie sich freiwillig beim District Council im Städtchen Farnham, um die öffentliche Essensausgabe zu leiten.[1] Es ist anstrengend, aber es macht ihr Freude. Der Ernährungsminister schreibt ihr Dankesbriefe.[2] »Sie würden sich wundern zu sehen, wie viele ausgezeichnete und unterschiedliche Gerichte wir zu niedrigen Preisen herausbringen in einer Zeit, in der die meisten hungern«, schreibt sie an den amerikanischen Schriftsteller Henry Louis MenckenMencken, Henry Louis.[3]

Diese Arbeit lenkt sie ein wenig von den Sorgen um ihren Sohn StefanBenjamin, Stefan Rafael ab. Er ist dreiundzwanzig, ein »guter Junge«, wie sie MenckenMencken, Henry Louis immer wieder versichert, groß, stark, fleißig und polyglott. Im Juni 1940 ist er jedoch in London verhaftet worden, als »feindlicher Ausländer«. Winston ChurchillChurchill, Winston persönlich hat angeordnet, dass alle Personen, die weder britische Staatsbürger seien noch unter britischem Schutz ständen, sondern »die Nationalität eines Staates« besäßen, »der sich im Kriegszustand mit Seiner Majestät« befinde, »hinter Stacheldraht« in sichere Lager zu bringen seien,[4] egal, ob es sich um Juden, Nazis oder Nazi-Gegner handle. Zu diesen »Personen« zählt man auch StefanBenjamin, Stefan Rafael.

Am 10. Juli 1940 hat man ihn an Bord der Dunera gebracht, zusammen mit über 2500 Deutschen, Österreichern und Italienern, darunter Juden, Faschisten und Nazis. Im September sind sie in Australien gelandet. Bis dahin waren sie in qualvoller Enge unterwegs. Es gab wenig Essen, aber viel Prügel. Die hygienischen Zustände waren entsetzlich. Nazis gingen auf Juden und Juden auf Nazis los. Korrupte englische Wachleute machten sich über das Gepäck der Häftlinge her und teilten die Wertsachen unter sich auf.

StefanBenjamin, Stefan Rafael schickt verzweifelte Briefe aus der australischen Wüste, wo er mit tausend anderen Juden in einem Lager, dem Camp Hay, einsitzt. Es ist heiß. Es ist staubig. Aber das Schlimmste ist die Angst und die Ungewissheit. Dora schreibt an Walter Benjamins Cousin Egon WissingWissing, Egon, der als Radiologe in Amerika arbeitet:

Was StefanBenjamin, Stefan Rafael nun befürchtet, ist, dass sie ihn nach Deutschland bringen, wenn der Krieg bald zu Ende geht, und von dort nach Lublin. Er sagt, darauf werde er nicht warten, sondern selber ein Ende machen. Das ist natürlich Unsinn, sie werden dort ganz fair behandelt und unsere Regierung wird so etwas nicht zulassen. Aber unglücklicherweise leidet der Junge unter Neurosen und Depressionen, und wenn seine Hoffnung einmal gesunken ist, könnte er alles tun.[5]

Ob WissingWissing, Egon ihm kein Visum, keine Bürgschaft beschaffen könne? Die Möglichkeit einer Ausreise nach Amerika? Diese Frage stellt Dora immer und immer wieder, an jeden, den sie für gut und einflussreich hält, an MenckenMencken, Henry Louis, an entfernte Verwandte, an diverse Flüchtlingskomitees, den Exil-PEN, jüdische Freunde in den Staaten. Wenn sie ihre Arbeit in der öffentlichen Küche getan hat, sitzt sie Stunde um Stunde an der Schreibmaschine und hackt immer wieder dieselben Worte in die Tasten:

Er ist im Landesinneren, in diesem höllischen Klima, und ich bin sicher, ich werde ihn nie wiedersehen, wenn ich ihn jetzt nicht herausholen kann.[6]

Natürlich, alle wollen ihr helfen, auch MenckenMencken, Henry Louis, der sie allerdings für etwas überspannt hält, typisch Mutter eben. Aber eine Bürgschaft koste Geld. Viel Geld. Und die Bedingungen würden ständig verschärft. Soll er 10000 Dollar ausgeben für einen Jungen, den er gar nicht kenne, der nur ein einfacher Student der Philologie, weder Arzt noch Handwerker oder Ingenieur sei, also keinen nützlichen Beruf habe und in Amerika ohne jede Perspektive sein würde?

Aus all diesen Gründen rate ich Ihnen dringend, Ihren Sohn in Australien zu lassen. Er ist dort sicher und die Unannehmlichkeiten sind sicher nicht größer als sie in den Vereinigten Staaten sein würden.[7]

Je öfter er dieses Argument wiederholt, umso mehr schämt Dora sich, ihm zu sagen, dass es noch eine zweite Person gibt, um die sie sich Sorgen macht: Walter Benjamin. MenckenMencken, Henry Louis würde sie wahrscheinlich für komplett verrückt halten, denn Dora und Benjamin sind seit 1930 geschieden, nach einer schrecklichen Schlammschlacht, über die er genau Bescheid weiß, weil er um diese Zeit ständig mit ihr in Kontakt war. Sie hat doch immer wieder gesagt, dass sie diesen Mann nie mehr wiedersehen, nie mehr ein Wort mit ihm wechseln wolle, hat sogar ihren Mädchennamen »Kellner« wieder angenommen, um nichts mehr mit ihm zu tun zu haben.

Allerdings hat sie MenckenMencken, Henry Louis verschwiegen, dass sie sich bald wieder angenähert haben, schon 1931, ein gutes Jahr nach der Scheidung, dass sie seitdem immer in Korrespondenz standen, weil sie einfach nicht voneinander loskamen, dass Benjamin Dora oft in Sanremo besucht hat, wo sie sich gemeinsam um ihren Sohn StefanBenjamin, Stefan Rafael gekümmert haben, dem es im italienischen Exil zeitweise nicht gut ging, weil er Berlin, seine Schule und seine Kameraden so sehr vermisste. Benjamin, der zu jener Zeit meistens in Paris lebte, war oft krank und hatte wenig Geld. Dora hat ihm immer wieder geholfen, moralisch und finanziell. Sie hat sich um seine Papiere gekümmert, versucht, ihm Pässe zu beschaffen, hat beim deutschen Konsul für ihn gelogen, sich um amerikanische Aufträge für ihn bemüht.

Jetzt hat sie seit Januar 1940 nichts mehr von ihm gehört. Sie hat sich ans Rote Kreuz gewandt. Ohne Erfolg. Was sie MenckenMencken, Henry Louis schamhaft verschweigt, schreibt sie im Februar 1941 an Egon WissingWissing, Egon:

Wir haben Angst, dass er den Nazis in die Hände gefallen ist und nach Lublin gebracht wurde. Ich habe Walter zuletzt Weihnachten vor einem Jahr in Paris gesehen, als ich von Sanremo zurückkehrte. Er war aus dem Internierungslager entlassen worden und sah viel besser aus als drei Wochen vorher, als ich ihn auf meinem Weg dorthin sah. Wenn du irgendwelche Neuigkeiten hast, lass es mich wissen, ich bin furchtbar besorgt um ihn.[8]

WissingsWissing, Egon Antwort kommt im April 1941. Er schreibt ihr, dass Walter Benjamin sich am 26. September 1940 im spanischen Grenzort Portbou umgebracht hat, mit einer Überdosis Morphium, die er für Notfälle bei sich trug, obwohl er bereits ein amerikanisches Visum hatte. Wenig später, am 26. Mai 1941, schreibt ein alter Freund, Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard), ihr dasselbe, wenn auch mit anderen Worten:

Liebe Dora,

Ich habe mit deiner Schwester PaulaKellner, Paula gesprochen, die wegen StefanBenjamin, Stefan Rafael zu mir kam und mir deinen Brief vom 13. März brachte. Ich brauche dir nicht zu sagen, dass ich zu glücklich wäre, wenn ich StefanBenjamin, Stefan Rafael helfen könnte, nach Amerika zu kommen. Um die Wahrheit zu sagen, hat es mich bei der Lektüre deines Briefes weniger schockiert, was du über StefansBenjamin, Stefan Rafael Schwierigkeiten schreibst […] als dass Du offenbar nichts über Walters tragisches Schicksal weißt. Ich nehme an, dass keiner deiner Freunde Genaueres darüber wusste, oder dass diejenigen, die es wussten […] deine Adresse nicht hatten. Darum mag es sein, dass ich der Erste bin, der Dir sagt, dass StefansBenjamin, Stefan Rafael Vater einen höchst tragischen Tod in Portbou (Spanien) gestorben ist am 26. September 1940, nachdem er Frankreich verlassen hatte, mit einem amerikanischen Visum und nachdem alles für seine Zukunft dort geregelt war. In einem nervösen Kollaps hat er Morphium genommen. Walters Freund Theodor Wiesengrund AdornoAdorno, Theodor W. – der sich nunmehr AdornoAdorno, Theodor W. nennt – hat die exakten Daten. […] Ich bin sehr traurig, dass ich dir keine besseren Nachrichten als diese bringen kann. Deine Mutter, die sehr krank war, starb an dem Tag, als deine Schwester […] zu mir kam. Ich bin in meinen Gefühlen bei dir. Walter hat einen Brief für StefanBenjamin, Stefan Rafael hinterlassen. Er muss von der Frau, der er ihn übergab, bevor er ins Koma fiel, vernichtet worden sein. Ich kenne die Gründe nicht, aber ich nehme an, dass sie schwerwiegend waren. Diese Frau ist nun wahrscheinlich schon in New York, und AdornoAdorno, Theodor W. wird sicherlich in der Lage sein, dir nähere Einzelheiten zu nennen. Dasselbe geschah mit einem Brief an seine Freunde, den er ihr ebenfalls hinterlassen hatte. Dies ist eine schreckliche Zeit, und ich werde mich nicht weiter über Dinge auslassen, die wir beide besser kennen, als mit Worten auszudrücken ist. Wenn nach diesem Krieg noch etwas von menschlichen Werten zurückbleibt, worauf wir nicht aufhören sollten zu hoffen, wird die Zeit kommen, in der wir den Menschen erzählen werden, was Walter uns bedeutet hat. In der Zwischenzeit müssen wir bleiben, wo wir sind, und weitermachen. Mein Bruder WernerScholem, Werner ist ungefähr zur selben Zeit wie Walter gestorben, in Buchenwald.

Grüße Stefan von mir. Dein GerhardScholem, Gershom (Gerhard).[9]

Auch wenn sie die Botschaft schon kannte, musste sie weinen, als sie ScholemsScholem, Gershom (Gerhard) Handschrift auf dem Umschlag sah, denn er war einer ihrer ältesten Freunde und hatte ihre Beziehung zu Walter Benjamin von Anfang an miterlebt, von den glücklichen ersten Monaten bis zur Scheidung. Am 15. Juli 1941 schreibt sie zurück:

Lieber GerhardScholem, Gershom (Gerhard),

Walters Tod hat ein Vakuum hinterlassen, das langsam aber sicher alle meine Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft aufsaugt. Ich weiß, dass ich ihn nicht lange überleben werde. Du wirst darüber überrascht sein, weil ich nicht länger Teil seines Lebens war, aber er war ein Teil des meinigen. Und das nicht so sehr durch seine regelmäßigen Besuche und die Hilfe, die ich ihm (wenig genug) geben konnte, sondern mehr als alles andere durch den einfachen Umstand, dass er lebte. Ich dachte und fühlte, dass eine Welt, die imstande sei, einen Menschen von seinem Wert und seiner Gefühlstiefe am Leben zu erhalten, trotz allem anderen keine so schlimme sein könne. Es scheint, dass ich mich geirrt habe.

Heute ist sein Geburtstag. Mehr muss ich Dir nicht sagen. EgonsWissing, Egon Nachricht, dass Du noch lebst, war tröstlich für mich. Und dass die Vergangenheit, die in Deiner Erinnerung so wie in meiner lebte, noch nicht tot war. Ich erinnere mich an nichts Dunkles, an kein Leid, das er mir zugefügt hat. Ich denke an ihn wie ich es in Bern […] tat, als Du mich fragtest, was der Sinn des Lebens für mich sei und ich Dir sagte: ihn zu schützen und ihn fähig zum Leben zu machen.

Er wäre nicht gestorben, wenn ich bei ihm gewesen wäre […].

StefansBenjamin, Stefan Rafael Repatriation ist nun beantragt worden, und ich hoffe, dass er bald zurückkommen wird, obwohl die Reise sehr gefährlich ist und lange dauern wird. […] Bitte sage StefanBenjamin, Stefan Rafael oder irgendjemandem, der es ihm sagen könnte, nichts von Walters Tod. Er ist nicht in der Verfassung, es zu hören […].[10]

Als ich ihn zuletzt gesehen habe, flehte ich ihn an, nach London zu kommen, wo schon ein Zimmer für ihn fertig war, und auf sein Visum und alles andere dort zu warten. Nach seiner Entlassung aus dem Lager schien er mehr geneigt, das zu tun. Ich bin mir sicher, dass die Adornos alles Mögliche getan hätten, um ihn dorthin zu bringen.

Alles Liebe, auch für Deine Frau, die ich nicht kenne. Wie immer, Deine Dora.

1Dora Kellner: Wiener Kindheit um 1900

Großmutter Klara

Am 6. Januar 1890 war es in Wien bitterkalt. Seit Tagen jagten Schneestürme über die Stadt. Die Straßen waren kaum passierbar, sämtliche Schulen geschlossen, die Hospitäler hoffnungslos überfüllt mit Patienten, die an Lungenentzündung oder Influenza litten. »Mit Ausschluss der Vororte« starben pro Tag etwa 40 bis 50 Wienerinnen und Wiener, darunter hauptsächlich Frauen, Alte und Kinder. Zeitweise seien es aber auch schon über 100 gewesen, und zwar ausgerechnet während der Weihnachtstage, schreibt die Neue Freie Presse.[11] Ein Ende der Grippe war nicht in Sicht, weder in Wien noch in anderen Metropolen Europas.

Trotzdem hatte sich Klara WeißWeiß, Klara, geborene Schwarzberg, aus Bielitz im österreichischen Oberschlesien aufgemacht, um ihrer Tochter Anna bei ihrer zweiten Niederkunft beizustehen. KlaraWeiß, Klara war 50 Jahre alt, eine große, schlanke Erscheinung, obwohl sie zwölf Kinder bekommen hatte: Leopold, MoritzWeiß, Moritz, AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), Hermine, Sidonie, Jenny, RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß), HenrietteWeiß, Henriette, Leo, Laura, Cilly und Hugo. Sie hatte bisher allen Töchtern geholfen, wenn sie Kinder bekamen, und wollte es auch diesmal, trotz Grippe und Schnee, wieder tun. Die »richtige« Hebamme, Klara DreikursDreikurs, Klara,[12] die sich mit Mühe durch die verschneiten Straßen gekämpft hatte, war beinahe umsonst gekommen.

Klara WeißWeiß, Klara sah sich in der Wohnung um, die AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) und ihr Mann Leon KellnerKellner, Leon erst vor kurzem bezogen hatten. Es gefiel ihr gar nicht hier. Viele Räume, aber sehr ungemütlich. Hetzgasse 8, dritter Bezirk. Schon der Name klang scheußlich. Ein Mietshaus, das wie ein riesiger Eckzahn in die Straße ragte. Alles grau. Nirgendwo Farbe an den feuchten Wänden. Dauernd raste die Pferde-Tramway, die sogenannte »Glöckerlbahn«, vorbei. Außerdem hörte man jedes Geräusch aus den Nachbarwohnungen. Die Toiletten, draußen, auf halber Treppe, waren ständig verstopft und verschmutzt. Nicht einmal einen Garten gab es, nur einen traurigen Hof ohne ein Fleckchen Grün, der zum Wäscheaufhängen benutzt wurde.

Klara WeißWeiß, Klara war lange dagegen, dass ihr »AnneleKellner, Anna (geb. Weiß)« diesen brotlosen Gelehrten heiratete, diesen aus Tarnów in Galizien stammenden Leon KellnerKellner, Leon, der zwar seinen Doktor in englischer Philologie gemacht hatte, nun aber Knaben an einer Oberrealschule unterrichten und sich ein Zubrot als Hilfslehrer für israelitische Religion verdienen musste. »Ein Hungerleider, mein Gott, ein Schulmeister!«[13] Doch AnneleKellner, Anna (geb. Weiß) blieb stur:

Ich liebe ihn und er liebt mich wieder, und wenn er fertig ist, werden wir heiraten![14]

Früher wurden die Ehen noch vom Vater, vom Rabbiner oder vom Schadchen arrangiert, ihre eigene mit dem Wollhändler Salomon WeißWeiß, Salomon zum Beispiel, als sie erst 16 war. Sie war viel jünger als er und hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen, denn er lebte im oberschlesischen Bielitz und sie im russischen Berdyczew,[15] mehrere Tagereisen entfernt. Doch ihr Vater, ein reicher Kaufmann namens Moses Meier SchwarzbergSchwarzberg, Moses Meier, war der Ansicht, dass sie nun heiraten müsse. Denn er war zum zweiten Mal verwitwet und fand es unpassend, mit einer hübschen 16-jährigen Tochter unter einem Dach zu leben. Nach der Hochzeit sollte sie ihn nie wiedersehen. Er starb kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes.[16]

Die ersten Jahre mit Salomon WeißWeiß, Salomon waren nicht einfach für sie. Sie hatte Heimweh und wusste ja nicht, was das ist: Liebe und Ehe. Vom Haushalten verstand sie schon gar nichts, denn als Liebling des Vaters war sie wie eine Prinzessin aufgewachsen, hatte stets nur Seidenkleider getragen und noch nie Kaffee oder Tee gekocht. Anfangs konnte sie nur Sticken, ein paar Brocken Französisch sprechen und Apfelstrudel backen. Letzteres allerdings so grandios, dass ihre Kinder und Enkel später gar nicht genug davon bekommen konnten.

Ja, manchmal ist sie ihm davongelaufen bis zum Bahnhof von Bielitz oder ans Ufer der Bialka, die zwar »die Weiße« hieß, aber doch schmutzig und trübe war, weil sie sich zwischen Maschinen- und Tuchfabriken dahinschlängelte, die ihr Abwasser in den Fluss laufen ließen. Doch wohin sollte sie gehen? Zu ihrer Familie? Oder nach Wien? Unmöglich. Also weinte sie ein paar Stunden und ging zurück zu Salomon WeißWeiß, Salomon, der zwar selten lachte, aber sehr fromm, fleißig und pflichtbewusst war, sparsam mit Geld umging und viel von Wolle verstand, die er in Ungarn persönlich einkaufte, wenn sein Geschäft auch keine großen Reichtümer abwarf, da die Textilindustrie billige Baumwolle aus Indien oder Amerika bevorzugte.

Mit 17 bekam KlaraWeiß, Klara ihr erstes Kind, dem noch elf weitere folgen sollten. Über 20 Jahre lang war sie entweder schwanger oder hatte ein Kind an der Brust. Zwar lernte sie nie akzentfrei die Sprache des Landes, aber das taten die wenigsten in Bielitz, wo ein Gemisch aus Deutsch, Polnisch, Tschechisch, Slowenisch und Jiddisch auf den Straßen zu hören war. Mit der Zeit wurde sie aber eine perfekte Haus- und Geschäftsfrau, die das Kommando über Mann, Kinder und Dienstboten hatte. Sie fand, dass die Frau nur eine Aufgabe habe: Gattin und Mutter zu sein. An die romantische Liebe glaubte sie nicht. Eine Ehe müsse auf gegenseitiger Achtung begründet sein, weiter nichts, schrieb sie einmal an ihre Tochter AnnaKellner, Anna (geb. Weiß).

In dieser Welt muss man ein wenig nüchtern sein und von vornherein auf mancherlei verzichten. In meinen Augen ist die Notdurft des Lebens das Wochentagskleid, der Idealismus der Schmuck, der es verschönt. Ich kann aber eher auf diesen Schmuck, als auf dieses Kleid verzichten, eher also auf die Erfüllung meiner Ideale, wenn sie auch das Leben verschönern und einem viel Freude machen.[17]

Leon und Anna

Bei AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), ihrer Tochter, war alles anders. Sie war jung und modern, hatte eine Höhere Töchterschule besucht, spielte sehr gut Klavier und sprach als eines der ersten Mädchen der 15000-Seelen-Stadt Bielitz Englisch, Französisch und Italienisch, ja sogar Hebräisch, das sie bei einem Herrn Löwy, einem klugen, »nur etwas jähzornigen Mann«, gelernt hatte.[18] Ihrem Vater, Salomon WeißWeiß, Salomon, der aus einer berühmten Rabbiner-Familie stammte, immer ein schwarzes Samtkäppchen trug und ganze Tage in der »Schul« verbrachte, war es wichtig, dass auch die Töchter »die herrliche Sprache der Bibel« lesen konnten, um später vielleicht einmal Rabbinerinnen werden zu können, sei es in Amsterdam oder in Breslau![19]

Als AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) ihren späteren Mann Leon (eigentlich Chaim Leib) KellnerKellner, Leon kennenlernte, war sie nicht einmal 16. Er war nur ein einfacher Gymnasiast, der ihr zufällig über den Weg lief, weil er in Bielitz, wo er Verwandte hatte, seine Matura machen wollte. Er stammte aus dem galizischen Tarnów und war als einziger Sohn streng chassidischer Getreidehändler ebenfalls zum Rabbiner bestimmt worden. Schon mit drei Jahren hatte er den Cheder, die jüdische Elementarschule, besucht, wo er bei einem »Belfer«, einem Hilfslehrer, Lesen und Schreiben gelernt hatte, begleitet von Schlägen und Grausamkeiten, deren Sinn er niemals verstand, hatte sich morgens um vier durch den Wald auf den Weg gemacht, bei Eis und Schnee, auch an Sonntagen, wobei ihm manchmal christliche Kirch- oder Wirtshausgänger begegneten, ihn an den Pejes, den Schläfenlocken, rissen und ihm die schwarze Pelzmütze über die Augen zogen.[20] Trotzdem hatte er niemals aufgehört, ein frommes Kind zu sein, das sich auf jeden Sabbat und jedes Pessach freute und im »Meschiah« die »Krone seines Lebens« sah. Er war fest davon überzeugt, dass dieser »Meschiah« eines Tages auf dem Martinsberg stehen und den Schofar blasen würde. Man musste es nur glauben und wollen.[21]

AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) sprach als Kind ein Gemisch aus Hochdeutsch, Jiddisch und Schlesisch, »das rührende verschlampte Deutsch […] der österreichisch-ungarischen Monarchie«, das »Esperanto« des Vielvölkerstaates, wie Dora es später einmal nennen würde.[22] Sie selbst wurde nur »AnneleKellner, Anna (geb. Weiß)«, ihre Mutter nur »Mutterle« genannt. KellnersKellner, Leon Muttersprache dagegen war Jiddisch, ausschließlich Jiddisch, versetzt mit ein paar polnischen Brocken, die er auf der Straße gehört hatte. Niemand dachte daran, ihn Hochdeutsch lernen zu lassen. Warum auch? Hochdeutsch war die Sprache der Ungläubigen, der Gojim. Doch eines Tages war er aus dieser Welt ausgebrochen. Sie war ihm zu klein und zu eng.

Er […] sparte die Kreuzer, die er für sein Mittagsbrot bekam, und kaufte eine lateinische Grammatik, mittels derer er sich im Geheimen auf die Prüfung für die dritte Gymnasialklasse vorbereitete. Eines Tages fand ihn ein christlicher Lehrer […] am Schabbat im hohen Mais versteckt schlafend, die lateinische Grammatik neben sich. […] Er bestand darauf, mit dem erschrockenen Kinde zu den Eltern zu gehen – er werde durchsetzen, dass es ins Gymnasium komme.[23]

Nach vielen Auseinandersetzungen mit seinem Vater, Rafael KellnerKellner, Rafael, erlaubte man ihm, auf das jüdisch-theologische Seminar in Breslau zu gehen, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch noch Rabbiner werden würde. Seine Mutter LeaKellner, Lea schickte ihn zum Friseur, ließ ihm die Pejes abschneiden und vertauschte seinen Kaftan mit einem schwarzen Rock. Doch vorher ließ sie ihn noch einmal in der gewohnten Tracht fotografieren. Seine Tochter PaulaKellner, Paula hat das Bild aufbewahrt.

Es zeigt einen schmächtigen Jungen mit ganz hellen Locken, einem ganz leichten Schnurrbartanflug, verträumten Augen und schlanken Händen.[24]

Aber Chaim Leib, der sich nunmehr »Leon« KellnerKellner, Leon nannte,[25] weil das europäischer und weniger jiddisch klang, konnte sich in Breslau nicht einleben. Die Stadt war ihm viel zu preußisch und viel zu groß. Das Seminargebäude erschien ihm wie eine Kaserne. Die Lehrer gefielen ihm nicht. Er geriet in Konflikte, in eine »Nervenkrise«, bekam Heimweh nach dem engen, kleinen Tarnów, aber auch nach der Welt der Literatur, die er immer mehr kennen- und schätzen lernte, LessingLessing, Gotthold Ephraim, SchillerSchiller, Friedrich, Moses MendelssohnMendelssohn, Moses, Daniel DefoeDefoe, Daniel. Zweifel an seiner Berufung kamen in ihm auf. Wollte er wirklich ganz in der Welt des Judentums leben oder nicht doch lieber Literat, Gelehrter, vielleicht gar Anglist werden, denn das Englische, das er sich im Selbststudium beibrachte, fiel ihm merkwürdig leicht und lag ihm gut auf der Zunge?

Einer seiner Lehrer verstand seinen Zwiespalt. Er riet ihm, auf ein normales »Obergymnasium« zu gehen, und zwar in Bielitz, das »schön gelegene Städtchen an der Grenze von Galizien zu Preußisch-Schlesien«.[26] Eine Freundin machte ihn mit »AnneleKellner, Anna (geb. Weiß)« bekannt, einer jungen Schönheit, die ihn als »furchtbar gescheiten Menschen« empfand, der wie ein Buch redete und »etwas übermittelgroß, hochblond, von blühender Gesichtsfarbe« war, »mit auffallend schönen Händen«. Sie waren noch keine Viertelstunde zusammen und schon verliebt. AnnasKellner, Anna (geb. Weiß)MutterWeiß, Klara sah das mit größter Skepsis. Sie selbst hatte zwar im gleichen Alter geheiratet. Aber er war doch noch ein Schüler und außerdem viel zu jung! Romantische Ausflüge zu zweit kamen nicht infrage. Aber immerhin ließ sie es zu, dass er AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) »die herrlichsten deutschen Bücher« ins Haus brachte: AuerbachAuerbach, Berthold, FreytagFreytag, Gustav, StormStorm, Theodor, FontaneFontane, Theodor, Jean PaulJean Paul.[27] Manchmal saßen sie auch alle zusammen im Wohnzimmer und sangen, vor allem MendelssohnMendelssohn Bartholdy, Felix und MeyerbeerMeyerbeer, Giacomo. Denn AnnasKellner, Anna (geb. Weiß)VaterWeiß, Salomon hatte eine schöne Tenorstimme, die er gern in der Schul zum Vorbeten einsetzte. Er lehnte es ab, in den Tempel zu gehen, in dem Orgel gespielt wurde und ein gemischter Chor sang, aber gegen Lieder und Arien zum Klavier hatte er nichts einzuwenden, besonders nicht, wenn sie noch so entfernt mit dem Judentum zu tun hatten.

»Das war ihm der Kern jeder Sache«, meinte Tochter AnnaKellner, Anna (geb. Weiß).[28]

Im Herbst 1880 ging KellnerKellner, Leon auf die Universität Wien, »ohne Geld und ohne Gönner«,[29] studierte Englisch, Französisch, Germanistik, Sanskrit, Lautphysiologie, Orientalistik und vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Er war fleißig und konsequent, gab sich mit den einfachsten Quartieren zufrieden und arbeitete als Hausschullehrer bei einem Pfeifenfabrikanten, um seinen Eltern nicht auf der Tasche zu liegen. Diese hatten noch vier Töchter, die versorgt werden mussten: Feige, Chane Mindel, Dwora und Fryderyka.[30] Mit 24 war er bereits promoviert über »Die genera verbi bei Shakespeare«.[31]

Danach, 1884, durften sie endlich heiraten. Ganz schlicht, in der jüdischen Volksschule von Bielitz. Zwei große Schulzimmer waren in Weiß und Rot – den Farben der Monarchie – drapiert worden. Es gab eine kleine Bühne und einen Hochzeitshimmel, der mit grünen Blattpflanzen dekoriert war. Ein befreundeter Lehrer spielte Harmonium. Dazu sangen AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) jüngere Geschwister mehrstimmig jiddische Lieder.[32]

Zwölf Monate später wurde ihr erstes Kind PaulaKellner, Paula geboren, und jetzt, im Januar 1890, das zweite. Es war gesund und fing sofort an zu schreien. Nur die MutterKellner, Anna (geb. Weiß), 28 Jahre alt, war ein wenig enttäuscht, dass es schon wieder ein Mädchen war und schämte sich fast, ihren Mann zu rufen, um es ihm zu zeigen. Doch Leon KellnerKellner, Leon beruhigte sie:

Ein Kind ist ein Kind, ob Bub oder Mädel ist egal. Und dann – was wäre aus mir geworden, wenn du nicht auch ein Mädel gewesen wärest?[33]

Sie nannten es Dora, nach KellnersKellner, Deborah jüngerer Schwester »Dwora«, die 1887 mit erst 2 Jahren verstorben war. Eigentlich hieß sie Deborah, hebräisch für »Biene«. Aber Deborah war auch der Name einer Richterin aus dem Alten Testament, die prophetische Gaben hatte und den Ausgang von Kriegen voraussehen konnte. Wenn das Volk Israel eine Schlacht gewonnen hatte, sang sie ein Lied, das Deborah-Lied, in dem es hieß:

Lobet den Herrn, dass man sich in Israel zum Kampfe rüstete und das Volk willig dazu gewesen ist.

Höret zu, ihr Könige, und merket auf, ihr Fürsten:

Ich will singen, dem Herrn will ich singen, dem Herrn, dem Gott Israels, will ich spielen.[34]

Und noch einen zweiten Namen bekam das Kind: Sophie, »die Tugend« oder »göttliche Weisheit«. Ihre Schwester PaulaKellner, Paula, die nur einen Namen trug, war ein wenig neidisch. »Ich litt schwer unter Eifersucht«, wird sie später schreiben, »ein hässlicher Zug in meinem Charakter, der mir auch später noch viel Leid verursacht hat. Aber sie war eben doch das Nesthäkchen, und vielleicht war auch der tiefste Grund für meine kindliche Eifersucht, dass sie mein Bett usurpierte! Ich war doch schon ein großes Mädel, aber ich schlief immer noch in einem hohen hölzernen Gitterbett. […] Jetzt wurde die Kleine dahinein gelegt, und ich schlief in einer Art Lade […], die abends aufgezogen wurde.«[35]

Das »Stiefkind«

PaulaKellner, Paula war noch kein halbes Jahr alt, als ihr VaterKellner, Leon seinen ersten England-Besuch machte, der mehrere Monate dauern sollte. Er wollte dort forschen und Land und Leute kennenlernen, vielleicht, um für immer zu bleiben, weil er glaubte, in England sei »Antisemitismus« ein Fremdwort, während man in Wien Petitionen des »Österreichischen Reformvereins« abdruckte, in denen man forderte, alle nicht aus Wien stammenden Juden auszuweisen und jede weitere Einwanderung zu verhindern, »damit unser schönes Vaterland nicht zum Ablagerungsplatze jener staats- und gesellschaftsgefährdenden Elemente werde, deren sich andere Staaten […] zu entledigen trachten.«[36]

Anna KellnerKellner, Anna (geb. Weiß) blieb in Wien bei dem Baby, aber nur für kurze Zeit. Nach ein paar Monaten hielt sie es nicht mehr aus, engagierte eine Amme und fuhr zu ihrem Mann. Sie blieb zehn Wochen, die ihr wie ein Honeymoon vorkamen. Nur widerwillig kehrte sie zurück zu ihrem Kind.

Erst Monate später war KellnerKellner, Leon wieder in Wien, wo er sofort die Lehramtsprüfung für Deutsch, Englisch und Französisch ablegte. Er erhielt eine Stellung an einer k.u.k. Staatsoberrealschule, schrieb Feuilletons über literarische und anglistische Themen und bereitete sich nebenbei auf seine Habilitation vor, sodass er zu Hause eigentlich nur noch physisch präsent war. Die Beziehung zwischen MutterKellner, Anna (geb. Weiß) und Tochter wurde derweil immer schlechter. In ihren Memoiren wird PaulaKellner, Paula später schreiben:

Ein kleines Mädchen liegt im Bett – und weint. Sie erstickt wohl das Schluchzen im Kissen, so gut sie kann, aber ihr Vater hört sie. Sie liegt auf dem Sofa im Studierzimmer des Vaters, weil das Kinderzimmer von Gästen besetzt ist. Der Vater kommt zu ihr und setzt sich neben sie.

»Was hast du, Kind?«

»Mama – Mama!«

»Hör mich an, mein Kind. Deine Mutter hat das beste Herz der Welt. Es gibt nichts, das sie nicht für dich täte. Aber sie ist jähzornig – verdammt jähzornig … Diese Ausbrüche machen ihr mehr zu schaffen als uns. – Bist du alt genug, um das zu verstehen? Um ihr nicht übelzunehmen was sie schwer hindern kann? Ja?«

Das runde Gesicht wendet sich ihm zu. Runde blaue Augen starren ihn an. Schließlich lächelt sie unter Tränen und nickt, nicht ganz überzeugt. Der Vater gibt ihr zum zweiten Mal den Gutenacht-Kuss und setzt sich an den Schreibtisch. Sie hört noch seinen schweren Seufzer, ehe sie einschläft.[37]

Manchmal redete sie sich ein, gar nicht AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) leibliche Tochter zu sein, sondern nur ihr »Stiefkind«, was man ihr aber verschwiegen habe. Dieser Gedanke machte alles etwas tröstlicher. Es war ja kein Wunder, dass die Mutter sie nicht liebte. Sie gehörte ja gar nicht hierher. Sie war nur zu Gast.

Prinzessin im Käfig

Im Juli 1890, sechs Monate nach Doras Geburt, schloss KellnerKellner, Leon sein Habilitationsverfahren ab und hielt seine ersten Vorlesungen in Anglistik. Er war nun »Privatdozent« und hoffte auf eine Professur. Doch just in diesem Moment kam die Nachricht, dass er versetzt werden sollte, als »k.u.k. wirklicher Lehrer« und »Ordinarius« an die Staats-Oberrealschule im mährisch-schlesischen Troppau.[38] Er hatte nun den Status eines Beamten mit Anspruch auf lebenslange Pension. Seine wirtschaftliche Zukunft war – wenn auch dürftig – gesichert, seine akademische Laufbahn aber beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Wollte man ihn abschieben, weil er Jude war?

Troppau, die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Schlesien, hatte knapp 23000 Einwohner und war fast sieben Eisenbahnstunden von Wien entfernt. Es gab dort hübsche Barockhäuser, eine Garnison, eine spätgotische Kirche, mehrere deutsche und böhmische Schulen, einige Kaffeehäuser, eine Synagoge, ein Stadttheater, eine Landesirrenanstalt und viel Industrie, hauptsächlich Tuch-, Zucker-, Maschinen- und Papierfabriken. Eigentlich war es ganz hübsch in diesem »schlesischen Wien«, das in einem Tal am Ufer der Oppa lag und von einem dichten Grüngürtel umgeben wurde.[39]

Für die Kellners muss es sich trotzdem als eine Art Strafversetzung angefühlt haben, ein grandioser Abstieg nach Wien und London. Da sie hofften, nicht lange bleiben zu müssen, behielten sie die Wohnung in der Hetzgasse 8 und mieteten sich nur provisorisch ein, in der Centralbahnstraße 4, heute »Husova«.[40] Wieder an der Straßenbahn, wieder ohne Grün, obwohl es wahrscheinlich ein Leichtes gewesen wäre, etwas Hübsches mit Garten zu bekommen. Aber sie hatten nun einmal kein Geschick bei der Wohnungssuche.

Trotzdem war PaulaKellner, Paula hier zum ersten Mal richtig glücklich, denn jetzt kam endlich Leben ins Haus. Sie wohnten nicht mehr allein, sondern zusammen mit Tante RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß), einer früh verwitweten Schwester von AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), die den Haushalt führte. Nebenbei betrieb sie ein kleines Konfektionsgeschäft. Ihre Tochter ElseWeiss, Else Elserle war genauso alt wie PaulaKellner, Paula, also sechs, ihr Sohn MaxSchanzer, Max neun. Die drei Kinder bildeten ein eingeschworenes Team. Dora stand draußen.

PaulaKellner, Paula ging nicht zur Schule, obwohl es in Troppau mehrere Elementarschulen gab, darunter sogar eine für Mädchen und eine für jüdische Kinder. Aber KellnerKellner, Leon war wohl der Meinung, dass sie sich gar nicht erst richtig eingewöhnen sollte, weil sie ja sowieso bald wieder wegziehen würden. Vielleicht hatte er auch Angst, sie könnte sich Krankheiten und schlechte Manieren »einfangen«, denn es waren hauptsächlich Arbeiterkinder, die in Troppau zur Schule gingen und ein wildes Gemisch aus Deutsch, Tschechisch, Jiddisch und Polnisch sprachen. Um die Schulpflicht nicht zu verletzen, holte er sich eine amtliche Erlaubnis zum Hausunterricht.

1893 erkrankte RosasSchanzer, Rosa (geb. Weiß) Tochter »ElserleWeiss, Else Elserle« an Diphtherie und starb wie damals etwa 60 Prozent aller Kinder. PaulaKellner, Paula war verzweifelt.

Ich haderte mit Gott. Warum hatte er dies Elserle zu sich genommen und nicht lieber mich?[41]

Auch RosaWeiß, RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß)Schanzer, Rosa (geb. Weiß), die Mutter, die schon mit 28 ihren Mann verloren hatte, war tief deprimiert, weinte viel und konnte sich kaum noch um den Haushalt, ihr Geschäft, ihren Sohn und die Nichten PaulaKellner, Paula und Dora kümmern. KlaraWeiß, Klara, die strenge Mutter, machte ihr Vorwürfe, dass sie disziplinlos und ungläubig sei:

Wüsstest Du, wieviel Deine Mutter schon um Dich gelitten hat und noch leidet, Du würdest Dich hüten, noch mehr Unglück über sie zu bringen. Ich halte nur viel aus und bin unverwüstlich, aber nicht etwa unempfindlich. Hätte ich ein Tagebuch geführt, man würde staunen, dass eine Frau so viel Kraft hat. Du, meine arme Rosa, wirst nicht so viel ertragen können, denn Du bist viel schwächer als ich. […] An ein Wiedersehen im Jenseits glaubst Du ja auch nicht, warum willst Du also um ein Nichts aufgeben, was Du hast? Ich hoffe, die Worte Deiner alten Mutter werden Dir heilig sein wie ein letzter Wille, und Du wirst Dich zusammennehmen.[42]

Wenn die Großen am Tisch saßen und lernten, schlich Dora herum und hörte zu. Oder sie ging an den Bücherschrank und zog sich heraus, was dort gerade stand: Märchen von Ludwig BechsteinBechstein, Ludwig oder Dramen von SchillerSchiller, Friedrich zum Beispiel, die sie bald vollständig nacherzählen konnte. Ihre Eltern waren bass erstaunt, als sie über SchillersSchiller, Friedrich Fiesco sagte: Nein, er sei nicht böse, er sei gut, sie müssten das Stück nur einmal richtig zu Ende lesen, und wenn sie einmal ein Brüderchen haben sollte, wolle sie, dass es »Fiesco« genannt werde.[43]

Die heiligen Pflichten des Weibes

KellnerKellner, Leon war Ordinarius einer siebten Klasse an der »k.u.k. Oberrealschule am Schulring« und unterrichtete außerdem in vier weiteren Klassen Englisch, Deutsch und Französisch.[44] Die Stimmung an der Schule war gespannt, denn die Tschechen bzw. Böhmen strebten nach mehr Autonomie und wollten ihre eigenen Lehrpläne haben.[45] Außerdem gab es Antisemiten im Kollegium, die KellnerKellner, Leon und den jüdischen Schülern das Leben schwer machten. AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) schreibt, ansonsten sei KellnersKellner, Leon Herkunft in Troppau kein Thema gewesen. Besonders die Söhne »armer schlesischer Weber und Bauern« hätten ihn geschätzt und geliebt, weil er sich um ihre sozialen Nöte gekümmert habe.[46]

In den Ferien fuhr KellnerKellner, Leon so oft wie möglich nach England. Er sah dort viel Kinderelend, sah Armen- und Arbeitshäuser für Straßenkinder, aber auch Kinder mit runden Gliedern und rosigen Gesichtern, die an den Stränden der Seebäder spielten, denn in England gab es »Ferienkolonien«, in denen sie »kostenlos Landluft« genießen konnten. An jeder Ecke wurde dafür gesammelt, von der Heilsarmee oder anderen Wohltätigkeitsvereinen. Viertausend Kindern sei auf diese Weise schon geholfen worden, schreibt er im Neuen Wiener Tagblatt.[47]

Das englische Kind sei insgesamt freier und glücklicher als das österreichische, lautete sein Fazit. Doch welche Konsequenzen zog er daraus? Keine. Er fuhr fort, PaulaKellner, Paula und Dora wie im Käfig zu halten. Kein Sport, keine Freundschaften, keine Schule, kein Kindergarten, nicht einmal Haustiere. Sie sollten auf den »Beruf des Weibes« vorbereitet werden, der darin bestand, Kinder zur Welt zu bringen und dem Mann eine treue, kultivierte Gefährtin zu sein. Dazu genügten ein paar oberflächliche Fähigkeiten, die man problemlos zu Hause erwerben konnte: Geographie, Geschichte, ein oder zwei fremde Sprachen, ein wenig Literatur, Handarbeit, gutes Benehmen und vor allem Klavierspielen, vielleicht auch Gesang. Diese Haltung teilte er mit vielen Männern seiner Zeit, zum Beispiel mit Sigmund FreudFreud, Sigmund, der sich auch kategorisch dagegen wehrte, seine Töchter am Leben teilnehmen zu lassen. Ob Lesen, Stricken, Tanzen oder der Besuch von Kursen: Alles war zu anstrengend für sie, machte sie »neurasthenisch«. Er meinte, dass die Frau »nicht zugleich erwerben und Kinder erziehen« könne. Von der »modernen Frauenbewegung« profitierten »die Frauen als Gruppe gar nichts, höchstens einzelne«.[48]

Es war die Zeit, in der auch KellnerKellner, Leon dieses Thema für sich entdeckte: den Kampf gegen die Emanzipation, ein Übel, das seiner Ansicht nach seine Wurzeln in England hatte, wo die »Frauenbewegung« schon seit Jahrzehnten diskutiert wurde. Immer wieder tauchte es in seinen journalistischen Arbeiten auf, ob er nun gegen den neuen englischen Frauenroman[49] wetterte oder die jüngste Marx-Tochter, Eleanor Marx-AvelingMarx-Aveling, Eleanor, angriff, die im Verein mit IbsenIbsen, Henrik und George Bernard ShawShaw, George Bernard die heiligen Pflichten des Weibes abzuschaffen gedenke.[50]

So lange die Frau nicht ihre Weiblichkeit, die Pflicht gegen ihren Mann, gegen ihre Kinder, gegen das Gesetz, gegen Jedermann außer ihrer eigenen Person, mit Füßen tritt, ist sie nicht frei. […] Deswegen fort mit der Pflicht! In der Verwerfung der Pflicht liegt die Freiheit der Frau! […] Ganze Körbe voller Ideale der heiligsten Art werden im Kampfe um die Gleichheit zwischen Mann und Weib in Trümmer gehen. […] So ungefähr denken auch Ibsens Nora und Frau AvelinghMarx-Aveling, Eleanor, nur mit etwas anderen Worten.[51]

In solchen Kommentaren verlor KellnerKellner, Leon jede Distanz. Er schrieb nur noch mit Schaum vor dem Mund. Seiner Meinung nach steckten die »Rothen« hinter der Bewegung. Doch das Schlimmste war: Sie griff auch auf Österreich über. Es gab einen »Allgemeinen Österreichischen Frauenverein«, einen »Frauenerwerbsverein«, einen »Verein für erweiterte Frauenbildung«, eine Wiener »Arbeiterinnen-Zeitung«, es gab Frauen wie Bertha von SuttnerSuttner, Bertha von, Rosa MayrederMayreder, Rosa oder Irma von TrollTroll, Irma von, die das Wahlrecht für Frauen, die Vereinfachung der Scheidung und die Reform der Mädchenbildung forderten, das Recht auf Matura und Zugang zu allen akademischen Berufen. Was wäre, wenn diese Bewegung auch PaulaKellner, Paula und Dora, seine Töchter, erreichte? Und wenn AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) sie vielleicht dabei unterstützen würde? Sie verhielt sich bereits jetzt ziemlich aufmüpfig, las viel, besonders englische Frauenliteratur und äußerte manchmal die Absicht, literarische Übersetzerin werden zu wollen. Sie führte auch ihren Haushalt nicht »rituell«, also streng jüdisch, anders als ihre Mutter, Klara WeißWeiß, Klara, die noch den Barches- oder Challe-Teig selber anrührte, den Segen über die Sabbat-Kerzen sprach, ihren Söhnen befahl, Gebetsriemen zu tragen und alle über zwölfjährigen Kinder an Jom Kippur fasten ließ, nachdem sie sich vorher den »Kappores« in Gestalt eines lebenden Huhns um die Köpfe geschlagen und dazu gesagt hatten: »Das ist mein Stellvertreter. Das ist mein Auslöser. Das ist meine Sühne. Dieses Huhn geht dem Tode entgegen, ich aber gehe einem guten Leben und Frieden entgegen.«[52] Das alles war AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) zuwider, obwohl sie sehr gläubig war. Aber sie wollte sich durch die Religion ebenso wenig versklaven lassen wie durch ihren Mann.

Großstadtnomaden

Im Sommer 1894 kam die erlösende Nachricht: Leon KellnerKellner, Leon wurde wieder nach Wien versetzt, an eine Knabenoberrealschule im 18. Bezirk. Zunächst wohnten sie wieder in ihrem alten Quartier in der Hetzgasse. Doch in den nächsten sechs Jahren würden nicht weniger als vier Umzüge folgen: Alserbachstr. 11, Hofzeile 17, Kutschergasse 44 und Gersthofstr. 84. Waren die Mieten zu hoch? Die Nachbarn zu unfreundlich? Oder war es die tief sitzende Angst, eines Tages doch wieder vertrieben zu werden, die Angst des »Juden auf Wanderschaft«, um mit Joseph RothRoth, Joseph zu sprechen? Jedenfalls waren die Kinder »überall und nirgends zu Hause«, sondern genau das, was KellnerKellner, Leon selbst später schärfstens anprangern würde:

Nomaden oder – wenn es schöner klingt – Kosmopoliten. [53]

1895 schien sich das Schicksal von ElserleWeiss, Else Elserle wiederholen zu wollen. Auch Dora, fünf Jahre alt, erkrankte an Diphtherie.[54] Die Krankheit war lange als »Würgeengel der Kleinen« bezeichnet worden. Oft trat sie zusammen mit Scharlach auf und griff auf Herz, Nieren und Leber über. Sie galt als unheilbar, bis Ernst von BehringBehring, Ernst von ein Serum aus Pferde- und Schafspräparaten entwickelte, das »Behring’sche Gold«. Das »ElserleWeiss, Else Elserle« hatte offenbar nichts mehr davon. Ob Dora damit behandelt wurde oder aufgrund ihrer kräftigen Konstitution überlebte, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass Anna KellnerKellner, Anna (geb. Weiß) mit ihr nach Meran fuhr, wovon man sich Heilung versprach. Ihr Bruder, Dr. Moritz WeißWeiß, Moritz, der gutverdienende Generalsekretär einer Kohlenwerksgesellschaft, begleitete sie auf der langen Zugfahrt und übernahm die Kosten.[55] Wieder stand Dora im Mittelpunkt. Wieder war sie der »Star«. Für PaulaKellner, Paula, die mit dem Vater in Wien blieb und an Dienstboten delegiert wurde, eine erneute Kränkung.

Doch kaum war die Krankheit überstanden, braute sich neues Unheil zusammen. Für den Herbst 1895 waren Stadtratswahlen angesetzt worden. Nach großen Erfolgen der Christlich-Sozialen Partei stand zu befürchten, dass deren Führer, Rechtsanwalt Dr. Karl LuegerLueger, Karl, Bürgermeister von Wien werden würde. Er zog bereits durch die Wirtshäuser und hielt flammende Reden, die vor allem ein Thema hatten: die Juden!

Ja, in Wien gibt es doch Juden wie Sand am Meere, wohin man geht, nichts als Juden, geht man auf die Ringstraße, nichts als Juden, geht man ins Theater, nichts als Juden, geht man in den Stadtpark, nichts als Juden, geht man ins Concert, nichts als Juden, geht man auf den Ball, nichts als Juden, geht man auf die Universität, wieder nichts als Juden. […] Meine Herren, ich kann ja nichts dafür, dass beinahe alle Journalisten Juden sind und nur hie und da in der Redaktion ein Redaktionschrist gehalten wird, den sie allenfalls vorführen können.[56]

LuegerLueger, Karl sah sehr gut aus und hatte viel Charme, der besonders die kleinen Leute, aber auch viele Beamte und Lehrer ansprach. Seine Reden hielt er in breitestem Wienerisch. Auch der katholische Klerus liebte ihn und blickte zu ihm auf wie zu einem Herrgott. Für KellnerKellner, Leon, der bisher jede politische Einmischung vermieden hatte, wurde es höchste Zeit, sein Studierstübchen zu verlassen und Position zu beziehen.

»Mit Leib und Seele Zionist«

Am 9. April 1896 wurde das dritte und letzte Kind der Kellners geboren, diesmal ein Junge: ViktorKellner, Viktor. Dora beharrte auf ihrem Lieblingsnamen »Fiesco«, aber leider konnte man ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. Mit ViktorKellner, Viktor war sie aber auch ganz zufrieden. Denn sie sprach ständig von einer Märchenfigur namens »Vickerich«, die sie sehr liebte.[57] Angeblich soll sie von Ludwig BechsteinBechstein, Ludwig stammen, in dessen Texten sie aber nicht nachweisbar ist.

Eines Abends – es war gegen elf, die Eltern waren ausgegangen – klingelte es an der Tür. Dora, ViktorKellner, Viktor und die Hausmädchen schliefen schon. Aber PaulaKellner, Paula sprang mit nackten Füßen aus dem Bett und schaute nach, wer da war. Sie hatte gerade »einen verbotenen Roman« gelesen, wahrscheinlich eine »Empfehlung« der Hausmädchen. Der Vater konnte ihr zwar verbieten, zur Schule zu gehen. Doch die Neugier konnte er ihr nicht nehmen.

PaulaKellner, Paula stellte sich also auf die Zehenspitzen und sah durch das Guckloch in der Wohnungstür. Draußen standen zwei Herren. Der eine hatte ein »Mopsgesicht« mit »hängendem Schnurrbart«. Der andere war »groß und unwahrscheinlich schön, mit schwarzem Bart und blitzenden Augen«. Er trug einen Pelzmantel und eine Melone. Als sie öffnete, gab er ihr die Hand und stellte sich vor:

»Gestatten! Doktor Theodor HerzlHerzl, Theodor! Ist es möglich, deinen Herrn VaterKellner, Leon zu sprechen?«

PaulaKellner, Paula verneinte, ging wieder ins Bett und spürte: Sie hatte sich verliebt! Er hatte einen so schönen Bariton, dieser HerzlHerzl, Theodor! Und er war überhaupt so anziehend und elegant, tausendmal mehr als ihr VaterKellner, Leon, der immer zerschlissene Röcke trug und leicht vierschrötig und provinziell wirkte. Ihr Leben lang sollte HerzlHerzl, Theodor ihr Schwarm, ihr Idol bleiben. »Die Bewegung, die er geschmiedet hatte«, habe »ihr ganzes Wesen« erfüllt, schreibt sie in ihren Erinnerungen.[58]

HerzlHerzl, Theodor hatte KellnerKellner, Leon gerade sein neu erschienenes Buch geschickt, Der Judenstaat,[59] seine erste politisch-programmatische Schrift nach einigen mäßig erfolgreichen Theaterstücken. Es kam genau im richtigen Moment, auf einem Höhepunkt der deutsch-österreichischen Judenhetze. HerzlHerzl, Theodor schrieb darin:

Die Angriffe in Parlamenten, Versammlungen, Presse, auf Kirchenkanzeln, auf der Straße, auf Reisen – Ausschließung aus gewissen Hotels – und selbst an Unterhaltungsorten mehren sich von Tag zu Tag. […] Tatsache ist es, dass es überall auf dasselbe hinausgeht, und es lässt sich im klassischen […] Rufe zusammenfassen: Juden raus! – Ich werde nun die Judenfrage in ihrer knappsten Form ausdrücken: Müssen wir schon ›raus‹? Und wohin? Oder können wir noch bleiben? Und wie lange?[60]

HerzlHerzl, Theodor entwickelte ein Modell, auf das in dieser Konsequenz noch niemand gekommen war: ein eigenes Land für die Juden, am besten in Argentinien oder Palästina. Er wollte eine »Jewish Company« gründen, die Land kaufen, Häuser bauen und Juden in verschiedenen Handwerken unterweisen sollte. Die gemeinsame Sprache sollte Deutsch sein, die Verfassung eine »aristokratische Republik«. Füge es sich, dass auch Andersgläubige in dieser Republik wohnten, solle ihnen Schutz und Respekt gewährt werden.

Die »Bewegung«, die HerzlHerzl, Theodor »geschmiedet« hatte, hieß: Zionismus. KellnerKellner, Leon ließ sich sofort davon anstecken. Schon im Juni 1896 schrieb er an einen Freund in Troppau:

Ich bin mit Leib und Seele Zionist. […] Wir wollen so viele arme Juden […] als nur möglich nach den fruchtbaren Teilen von Palästina und Syrien bringen und ihnen dort eine Selbstverwaltung sichern – das ist alles. […] Ich bin ein guter Österreicher in jeder Beziehung, bereit, mit dem Vaterlande Freud und Leid zu teilen […]. Ich lebe mit Christen, arbeite mit ihnen, erziehe christliche Kinder […]. Die deutsche Sprache ist mir zum zweiten Vaterlande, zur geistigen Heimat geworden, und ich bin ein deutscher Schriftsteller […]. Aber wie viele meiner Stammes- und Glaubensgenossen haben eine […] solche Gegenwart? […] Und weiß ich, was meinen Kindern bevorsteht?[61]

Neue Heimat London

Als Dora ins schulpflichtige Alter kam, war von Schulbesuch so wenig die Rede wie bei PaulaKellner, Paula, zumal auch HerzlHerzl, Theodor beschlossen hatte, seine Kinder PaulineHerzl, Pauline, TrudeHerzl, Margarethe Trude und HansHerzl, Hans nicht zur Schule zu schicken. Stattdessen hielt er sie vollkommen von der Außenwelt fern, was er mit seiner extremen politischen Position erklärte. Selbst PaulaKellner, Paula, die ihm sonst treu ergeben war, fand das seltsam. Mit seinen Kindern habe man überhaupt nicht spielen, nicht einmal reden können, sie hätten alle »einen Knacks« gehabt, schreibt sie in ihren Erinnerungen.[62]

KellnerKellner, Leon erwähnt in seinem Brief an den Freund aus Troppau, dass er sich Sorgen um seine Kinder mache. Dazu bestand in der Tat sehr viel Anlass, nachdem Karl LuegerLueger, Karl im April 1897 Bürgermeister von Wien geworden war. Damit war dem Judenhass Tür und Tor geöffnet. Wenn jüdische Kinder von Mitschülern schikaniert wurden, konnten sie nicht mehr mit dem Schutz der Lehrer rechnen. Sie erhielten keine Schulgeldbefreiung und wurden bei der Notenvergabe oft stark benachteiligt.

Kurz nach dem Amtsantritt LuegersLueger, Karl muss KellnerKellner, Leon sich entschlossen haben, seine Vorgesetzten um ein Jahr Urlaub zu bitten, den er mit seiner Familie in England zu verbringen gedachte. Als Grund gab er an, ein deutsch-englisches Lexikon neu bearbeiten zu wollen, aber in Wahrheit brauchte er wohl Abstand von Wien, von dem Regime LuegersLueger, Karl und vielleicht auch von HerzlHerzl, Theodor, dessen Eitelkeit und Dominanz schon nach kurzer Zeit offenkundig wurden.

Anna berichtet, dass sie sich zunächst in einem Boardinghouse einmieteten, wo aber den Kindern das Essen nicht schmeckte. Hammelbraten, Erbsen, Bohnen, Brotpudding – das war nichts für Wiener Kinderzungen. Sie verlangten nach Gulasch, Apfelstrudel und Buchteln. Es war schwer, das Richtige zu finden. Mal gab es keinen Garten, mal keine Küche, mal wollten die Vermieter keine Kinder im Haus. Am Ende fanden sie aber doch ein paar Räume im Häuschen einer sympathischen Malerin.[63]

PaulaKellner, Paula konnte schon ganz gut Englisch, Dora ein bisschen, doch der kleine ViktorKellner, Viktor, zwei Jahre alt, verstand kein Wort. Anna berichtet, dass er immer zu weinen begann, wenn er Englisch hörte. Englisch habe auf ihn »wie Zanken« gewirkt. Für einige Zeit sei er ganz verstummt, aber dann habe er plötzlich den kleinen Mund aufgemacht und vollständige englische Sätze gesprochen.[64]

Da der Aufenthalt ohne AnnasKellner, Anna (geb. Weiß) Mithilfe nicht zu finanzieren war, konnte sie sich endlich ihren Traum erfüllen und als Übersetzerin arbeiten. Für den Verlag Engelhorn in Stuttgart übertrug sie den gerade erschienenen Roman One man’s view von Leonard MerrickMerrick, Leonard unter dem Titel Eine persönliche Ansicht ins Deutsche.[65]MerrickMerrick, Leonard, eigentlich Miller, ist heute so gut wie vergessen, galt aber damals als »Novellist der Novellisten« und Hauptvertreter des englischen psychologischen Romans. Für AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) war es der Beginn einer großen Karriere in diesem Beruf, den sie ausüben würde, solange die politischen Verhältnisse es zuließen. Für die größten deutschen Verlage, darunter Ullstein, Drei Masken, Reclam und Goldschmidt, übersetzte sie Bücher von Mary CholmondeleyCholmondeley, Mary, Cicely HamiltonHamilton, Cicely, Elizabeth RussellRussell, Elisabeth, Ludwig LewisohnLewisohn, Ludwig und Somerset MaughamSomerset Maugham, William. Sie galt als Meisterin ihres Faches und war stolz, KellnersKellner, Leon Gehalt etwas aufbessern zu können.

PaulaKellner, Paula und Dora gingen auch in London nicht zur Schule, bekamen aber eine englische Erzieherin, die sie sehr liebten. Weil die Eltern meistens im British Museum waren, konnte sie mit ihnen kleine Ausflüge machen, in die Stadt, in den Hyde Park oder nach Hampstead Heath. So lernten sie etwas vom Londoner Leben kennen. Für Dora und PaulaKellner, Paula war es der Beginn einer lebenslangen Liebe zu England und zur englischen Sprache. Da Dora sehr gut Klavier spielte und eine schöne Stimme hatte, durfte sie das Royal College of Music besuchen. Dort fand sie endlich ein paar Freundinnen, die ersten ihres Lebens. Sie war acht Jahre alt.

»Dialekt der Kindheit«

Noch vor der Jahrhundertwende waren die Kellners wieder in Wien. Der Traum von der Niederlassung in London hatte sich nicht erfüllt. Leon KellnerKellner, Leon hatte zwar viele Freunde gefunden, aber keine ihm angemessene Position. London sei »eine wogende, stürmische, erbarmungslose See, auf der Tausende und Abertausende um ihr Leben ringen«, schreibt er in seinem Buch Ein Jahr in England.[66] Seine Bewunderung für das Land und dessen Literatur blieb bestehen. Doch er sah auch Seiten, die ihm gar nicht gefielen, die gnadenlose Ausbeutung von Menschen durch die »Magnaten des Bodens, des Handels, des Gewerbes und des Heeres« zum Beispiel,[67] ein fragwürdiges Verhältnis zur Demokratie[68] und eine enorme Selbstgerechtigkeit:

Ein Engländer tut alles, das Beste wie das Schlechteste, aber er tut nie Unrecht. Er tut alles aus Grundsatz. Er führt Krieg aus patriotischen Grundsätzen, betrügt aus geschäftlichen Grundsätzen, hält zu seinem König aus royalen und schlägt ihm den Kopf ab aus republikanischen Grundsätzen – dabei aber tut er immer nur seine Pflicht.[69] […] Wenn er für seine Pofelware einen neuen Markt braucht, so schickt er seine Missionare aus, um den Wilden das Evangelium des Friedens zu verkünden. Die Wilden fressen den Missionar. Da greift er zu den Waffen, um für das Christentum zu kämpfen. Er ist siegreich, erobert das Land, und nimmt es als eine Belohnung des Himmels in Besitz.[70]

Die englischen Juden – jedenfalls die reichen – erschienen ihm angepasst, ungläubig und arrogant:

Sie haben zu essen und zu trinken, eine Loge im Theater, ein Boot auf dem Flusse oder gar eine Yacht auf der See, einen Sitz im Tempel und einen liebenswürdigen Rabbiner, der nicht alles sieht und gelegentlich krumm gerade sein lässt – was kann ein Jude mehr vom Leben und von seinem Gotte verlangen?

Dem Zionismus ständen sie komplett ablehnend gegenüber, da sie seinen Sinn, seine Notwendigkeit nicht sähen: »Ich bitte Sie! Ich will nicht unhöflich sein! Aber wie kann ein gescheiter Mensch wie Sie solchen Unsinn mitmachen?«, zitiert er einen jüdischen Zeitgenossen aus England.[71]

Kein Wunder, dass es ihn selbst immer mehr in die Arme des Zionismus trieb. Im Februar 1899 übernahm er die Redaktion der Welt, des von HerzlHerzl, Theodor herausgegebenen »Zentralorgans der zionistischen Bewegung«. Dafür legte er sich das Pseudonym »Leo RafaelsKellner, LeonRafaels, Leo (Pseudonym) #i#Siehe#ie# Kellner, Leo« zu, um den Wiener Schulbehörden nicht unangenehm aufzufallen. Er schrieb Artikel über den hypothetischen Staat »Palästina«,[72] wurde Beirat eines »allgemeinen hebräischen Sprachvereins«[73] und gründete eine jüdische Bildungshalle in Wien-Brigittenau, die großen Zulauf fand.[74] Doch zugleich erlitt er einen »nervösen Zusammenbruch« wegen Überarbeitung und dauernder Streitigkeiten mit HerzlHerzl, Theodor, den er mit der Zeit immer kritischer sah.[75] Was hatte dieser verwöhnte ungarische Bankierssohn überhaupt mit der jüdischen Religion zu tun? Hatte er sein Judentum nicht jahrelang verleugnet, ja gehasst? Trug er nicht die feinsten Tailleurs, um nicht als Jude aufzufallen? Hatte er sich nicht nur aus Berechnung der »Judenfrage« zugewandt, weil er als dramatischer Autor gescheitert war, weil seinen Stücken die »mimetische Treibkraft«, seinen Figuren »Seele« und »Herz« fehlten?

Es gab schwere Zerwürfnisse, in deren Verlauf KellnerKellner, Leon sein Redaktionsamt aufgab. Von »enger Freundschaft« konnte bald keine Rede mehr sein. HerzlHerzl, Theodor suchte Politiker und Finanzleute in aller Welt auf, um sie für seine Idee eines »Judenstaates« zu gewinnen. KellnerKellner, Leon dagegen versah seinen Dienst an der Oberrealschule und sehnte sich nach den alten jüdischen Ritualen seiner Kindheit, dem Kol Nidre, dem Sabbat oder dem hebräischen Synagogengesang.

Die Kinder warten mit geheimer Angst und doch auch mit Sehnsucht auf den großen, den unvergesslichen Augenblick: Jetzt ist er da! Der Vater legt die rechte Hand dem Knaben, die linke dem Mädchen aufs Haupt und segnet sie mit den uralten Worten des Erzvaters, während die Mutter eine Träne um die andere in den geschlossenen Augen zerdrückt. Wir gehen zu Kol Nidre. […] Die Außenwelt mit ihren […] lärmenden Geschäften versinkt, wie wir die Schwelle des Gotteshauses betreten, das Schicksal […] hält still in seinem Laufe, unsere eigenen Leidenschaften […] weichen für die Dauer von Nacht und Tag ehrerbietig zurück und lassen uns unangefochten allein mit unserem Gemüte, unserem Gott. […] Wunderbare Töne aus einer […] verschollenen Welt schlagen an unser Ohr, und das letzte Stäubchen Alltäglichkeit wird durch die himmlische Melodie von unserer Seele genommen.[76]

In diesem Zustand religiöser Euphorie hatte er wohl wenig Augen für Dora, die allmählich in die Pubertät kam und gar nicht mehr wusste, wohin sie gehörte: Wien, Troppau, Wien, London, wieder Wien, demnächst vielleicht Syrien, Palästina oder gar Uganda? Sie hatte nie Zeit, irgendwo sesshaft zu werden. Kaum eingelebt, musste sie schon wieder fort. Sie war wissbegierig und lernte schnell, aber viel zu unsystematisch, weil alles dem Gutdünken ihres Vaters überlassen war. Das Einzige, was ihr in diesen Jahren blieb, war der »weiche, verträumte Dialekt ihrer Kindheit«.[77] Doch selbst den hatte sie in London schon fast verlernt.

HerzlsHerzl, Theodor Tod

Im Juli 1904 starb Theodor HerzlHerzl, Theodor. Er wurde nur 44 Jahre alt. Als offizielle Todesursache wurde Herzschwäche angegeben. Aber KellnerKellner, Leon meinte, er sei schon lange in einem Zustand von Verzückung, Verzweiflung, ja Besessenheit gewesen, der an Irrsinn gegrenzt habe.[78]PaulaKellner, Paula, inzwischen 19, hatte ihn zuletzt beim Chanukka-Ball einer jüdischen Studentenverbindung gesehen – »blass, still, gelb und erschöpft«.[79] In ihren Erinnerungen deutet sie an, dass ihr VaterKellner, Leon eine Mitschuld an seinem Tod gehabt haben könnte, weil er nicht loyal genug gewesen sei:

Kurz vor seinem Tod hatte HerzlHerzl, Theodor die Idee, seinen Judenstaat auf der Sinai-Halbinsel zu gründen. Kellner hielt diese Idee für undurchführbar, weil diese Halbinsel eine reine Wüste war. HerzlHerzl, Theodor fuhr auf und bezichtigte KellnerKellner, Leon des Verrats. Trauriger Abschied. Die Idee wurde dann aber auch vom britischen Hochkommissar Ägyptens, Lord CromerBaring, Evelyn 1. Earl of Cromer, abgelehnt.[80]

HerzlHerzl, Theodor wurde in seinen letzten Jahren aber nicht nur von KellnerKellner, Leon, sondern auch von vielen anderen kritisch gesehen, besonders seit dem sechsten zionistischen Kongress in Basel 1903, der im Zeichen der Pogrome im russischen Kischinew stand, bei denen Tausende von Juden misshandelt oder getötet worden waren. Sowohl die »assimilierten« als auch die sozialistischen und orthodoxen Teilnehmer sprachen über kaum etwas anderes und fühlten sich durch den selbstherrlich agierenden HerzlHerzl, Theodor nicht vertreten. Immer mehr drängte sich das Gefühl auf, dass den Juden im Hier und Jetzt geholfen werden müsse anstatt in einem hypothetischen Zion. In Wien lebten um diese Zeit etwa 147000 Juden, von denen nur 872 Mitglieder der zionistischen Weltorganisation waren und den Mitgliedsbeitrag, den »Schekel«, zahlten, ein denkbar schlechtes Ergebnis.[81] Bei so viel Kritik aus allen Lagern scheint HerzlHerzl, TheodorKellnerKellner, Leon noch am meisten vertraut zu haben, sonst hätte er ihn nicht zum Herausgeber seines Nachlasses bestimmt, was KellnerKellner, Leon offenbar selbst überrascht, ja schockiert hat, denn es waren ungeheure Materialmengen aufzuarbeiten: »Eindrücke, Einfälle, Lesefrüchte, Dialogfetzen, geflügelte Worte, Keime zu Feuilletons, Erzählungen, Entwürfe zu Theaterstücken« und eine Korrespondenz, die sich über ein Vierteljahrhundert erstreckte.[82]

Die Zeit um HerzlsHerzl, Theodor Krankheit und Tod fiel zusammen mit einer Zeit großer Umbrüche in der Familie Kellner. PaulaKellner, Paula ertrotzte sich die Erlaubnis, eine Schule besuchen zu dürfen, das relativ neu eröffnete Mädchenlyzeum am Kohlmarkt Ecke Wallnerstraße. Es gehörte einer Germanistin namens Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie, auch »Genia« oder »Frau Doktor« genannt, weil sie in Zürich über Berthold von Regensburg promoviert hatte. Wie KellnerKellner, Leon stammte sie aus einer jüdischen Familie in Galizien, war aber in Czernowitz aufgewachsen, wo ihr Vater ein Büro für Reklame und Arbeitsvermittlung betrieb. Nach der Heirat mit dem Juristen Hermann SchwarzwaldSchwarzwald, Hermann kaufte sie ein altes Schulgebäude und verkündete mit großer Emphase ihr Programm, das für eine gewaltfreie Pädagogik stehen sollte, für Förderung von Weltoffenheit, Phantasie und Gestaltungskraft:

Ich habe ein System der individualisierenden […] Behandlung eingebürgert und dadurch die Schule für alle Schülerinnen zu einem Heim gemacht, in das sie mit Freude kommen und das sie ungern verlassen – eine Gemütsverfassung, welche die Hauptquelle der hohen Lernerfolge ist. […] Den hygienischen Bedürfnissen ist durch einen rationellen Turnunterricht und die zahlreichen Klassenausflüge im Frühling und Sommer genügt.[83]

Das Institut von Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie war nur eins von mindestens sieben Mädchenlyzeen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien eröffnet worden waren. Sie alle verdankten ihre Entstehung den »Kämpfe(n) um die Mädchenbildungsreform«, die in einem »Trommelfeuer von Pamphleten und Petitionen« ausgetragen wurden, nicht nur seitens der Frauenbewegung, sondern auch von den »liberalen und sozialistischen Parteien«.[84] Oft wurde dabei der Vergleich mit Deutschland bemüht: Sogar in Preußen, einem Hort der Reaktion, gebe es weiterführende Schulen für Mädchen, in Österreich aber so gut wie gar nicht.

Das Prinzip war überall dasselbe: in sechs sogenannten Lyzealklassen wurden die üblichen Fächer wie Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik, Naturwissenschaften, Religion und Geschichte gelehrt. Danach konnte eine »Lyzeal-Matura« abgelegt werden, die zum Besuch eines Lehrerinnenseminars oder zur Gasthörerschaft an der Universität berechtigte. Schülerinnen, die »richtig« studieren wollten, was seit 1897 gesetztlich möglich war, mussten darüber hinaus Latein und Griechisch lernen und das Abitur als Externe an einem Jungengymnasium machen.

Die neue Schulform des »Mädchen-Lyzeums« war so beliebt wie umstritten. Viele, besonders jüdische Eltern freuten sich, dass ihre Töchter endlich etwas anderes lernen konnten als Zeichnen, Singen und Sticken. Es gab aber auch Pädagogen, die strikt dagegen waren, weil »das weibliche Nervensystem […] zarter (und) reizbarer« sei als das männliche. Da Mädchen in der Regel langsamer lernten als Jungen, müssten sie sich doppelt so stark anstrengen. Sie müssten Tag und Nacht über ihren Büchern sitzen, anstatt sich an der frischen Luft zu bewegen oder zu schlafen. Die »Rosen« auf ihren Wangen würden erbleichen, und an die Stelle von Frohsinn träten »Mattigkeit, Missmut und Verdrossenheit«.[85]

PaulaKellner, Paula spürte davon allerdings nichts. Ganz im Gegenteil. Sie war glücklich auf dem Lyzeum.

Mein gedrücktes Selbstvertrauen richtete sich auf, […] ich wurde ein ganz normales Mädel, wenn auch noch immer ein wenig prüde. Ich freundete mich zum ersten Male mit Menschen an.[86]

Im Sommer 1903 machte PaulaKellner, Paula die »Lyzeal-Matura« und hielt in der Prüfung einen Vortrag über »Die Bühne Shakespeares«, der sogar in den Jahresberichten der Schule erwähnt wurde.[87] Sie wollte nun Schriftstellerin oder Übersetzerin werden wie ihre MutterKellner, Anna (geb. Weiß). Doch ihr VaterKellner, Leon