Lady Liberty - Eva Weissweiler - E-Book

Lady Liberty E-Book

Eva Weissweiler

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Beschreibung

In den letzten 20 Jahren hat sich die politische Weltlage dramatisch verändert. Osteuropäische Archive haben sich für die Forschung geöffnet, und auch die Sicht auf Karl Marx ist eine andere geworden, seit durch wirtschaftliche und ökologische Krisen deutlich wurde, wie richtig viele seiner Prognosen gewesen sind – ob sie nun Globalisierung und Überproduktion oder Arbeitslosigkeit, Spekulationswut und Armutsrevolten betreffen. Von seinen drei Töchtern hatte Eleanor (1855–1898) die engste Bindung an ihn. Sie war auch die beste Kennerin seines Werkes, zu dessen Sachwalterin sie sich machte: Als Editorin und Übersetzerin seiner Schriften hat sie unser Marx-Bild entscheidend geprägt. Obwohl diese starke Frau sehr beliebt war und sogar von politischen Feinden respektiert wurde, litt sie unter schweren Depressionen, die sie mit 43 Jahren in den Selbstmord trieben. Die bekannte Biographin Eva Weissweiler hat für dieses Buch mehr als hundert unveröffentlichte Briefe aus russischen und holländischen Archiven konsultiert, die durch neue Forschungsergebnisse ergänzt wurden.

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Seitenzahl: 676

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Eva Weissweiler

Lady Liberty

Das Leben der jüngsten Marx-Tochter Eleanor

Hoffmann und Campe

Für meinen lieben Mann Klaus Kammerichs

Inhalt

1 Kindbett und Cholera 1850–1856

Exil in Soho

Hiobsbotschaften

Franziska

Das Cholera-Kind

Abschied von Musch

Emanzipation des Proletariats

An der Mosel

Grafton Terrace

2 Kapitän Tussy 1857–1869

Das Ende des Bohème-Lebens

Zauberer Röckle

Totgeburt

Masterman Ready

Marx und Lassalle

Zur Kritik der politischen Ökonomie

Schwarze Pocken

Zurück nach Preußen?

Zum letzten Mal Lassalle

Der amerikanische Bürgerkrieg

Zu frei erzogen?

Der Tod zweier Mädchen

Ein einsamer, trostloser Winter

Das neue Zuhause

Paul Lafargue

»Dear Miss Lilliput!«

Uncle Frederick und die Iren

3 Es lebe die Kommune! 1869–1873

Der »kleine Schnaps« und das Recht auf Faulheit

Sorgen bei den Lafargues

Krieg und Kommune

Schwestern in Gefahr

Kein Kind mehr

Charles Longuet

Tod eines Enkels

Bakunin versus Marx

Lafargue, Longuet, Lissagaray …

Im Seebad

Lehrerin Tussy

»Ich komme nicht!«

4 Von der Pflicht, für andere zu leben 1873–1877

Der kranke Marx

Ein weibliches Vorbild

Karlsbad

Neue jüdische Freunde

Bei den Liebknechts in Leipzig

Neue Chancen für Lissagaray?

Übersetzerin und Korrespondentin

Wieder Karlsbad …

The school-board

Shakespeare-Fieber und neuer Ehrgeiz

5 Zwischen Bühne und Sozialismus 1877–1881

George Bernard Shaw

Schüsse auf den Kaiser

Häusliche Katastrophen

Sozialistengesetze

Mein Herr!

Debüt als Rezitatorin

Irischer Protest

Politische Gegner

Geburten, Geburten

Tatendrang und neue Liebe

6 Das Geheimnis des Todes 1881–1883

Depressionen

»Nervous dejection«

Die Mutter stirbt

Die Zeit danach

Das Geheimnis des Todes

In Argenteuil

Hektische Aktivitäten

Als Ersatzmutter

Ende einer Illusion

Das Todesurteil

7 Der rächende Arm des Terrorismus 1883–1884

Ungebetene Helfer

Das Begräbnis

Edward Aveling

Der Nachlass

Das Kapital – Band II

Kampf der Schwestern

Aveling und die Freidenker

Tussy Marx über Karl Marx

Beatrice Potter

Die Mehrwerttheorie

Beginn einer Lebensliebe

Underground Russia

Pogrome

8 Liebe, Wahnsinn und Dynamit 1884–1885

Neues zur Frauenfrage

Charlotte Leffler-Erdgren

Olive Schreiner

Dementia paralytica

Irische Bombenleger

Das »Kapital« auf Englisch

Abgöttische Liebe

»Eine echte Ehe«

Honeymoon

Lendenstücke und Kartoffeln

9 Gute Nacht, kleines Mädchen 1884–1887

Eine neue Partei

Gegen den Kolonialismus

Keine Kinder

Jüdische Schneider

Fabrikhöllen

Alte Schatten

Madame Bovary

Die »Geschichte der Kommune« auf Englisch

Go west!

10 Bei den Yankees und in der Hölle von London 1886–1888

Agitation, Education, Organisation!

Chicago 1886

Sozialistischer Luxus

Obdachlos

Im East End

In der Heimat Shakespeares

The Working-Class-Movement in America

Die Hinrichtung der »Anarchisten«

Theater und Opium

Henrik Ibsen

Wieder in Amerika

11 Ich bin eine Jüdin! 1889–1891

»Brüder im Exil!«

Auf dem Pariser Kongress

Clara Zetkin

Anarchistische Abweichler

Die Docker streiken

Die Frauen von Silvertown

Verlust einer Freundin

I’m a Jewess

Parteitag in Halle

»Da mein Vater ein Jude war …«

Engels und der Antisemitismus

Lenchen und Freddy

Louise Kautsky

Tussy über Engels

12 Die Klassen-, die Frauen- und die Juden-Frage 1891–1893

Kongress in Brüssel

»Proletarier aller Länder und Rassen«

Frederick Demuth in Not

Louise Kautsky und die Wiener Arbeiterinnen-Zeitung

Intrigen im Hause Engels

August Bebel und die »Frauenfrage«

13 Das lange Sterben des Generals 1893–1895

Zwischen Partei und Fabrik

Der böse Maitag

Der General macht sein Testament

Zürich 1893

Heine- und Lassalle-Briefe

Hochzeit im Hause Engels

Bebel schäumt

»Meine lieben Mädels!«

Der General spottet

Die letzten Wochen des Generals

14 Sie ist bereit zu gehen 1895–1898

Abschied von Engels

»Eine schreckliche Verantwortung«

Marx und Heine

»Revolution und Konterrevolution«

Versöhnung mit einem Feind

Schikanen, Schikanen

Tussys Testament

Trautes Heim?

Das »Kapital«, Band vier

Liebknecht in London

Avelings Unwohlsein

Gertrude und Edith

Der letzte Kongress

Bekenntnis zu Frederick

The Eastern Question

Sie ist so allein

»Wie Milch und Honig«

Die Biographin

Sie ist bereit zu gehen

Der letzte Morgen

Avelings Ende

Anhang

Danksagung

Editorische Notiz

Werkverzeichnis Eleanor Marx

Schriften von Eleanor Marx-Aveling

Gemeinsame Schriften von Eleanor Marx-Aveling und Edward Aveling

Übersetzungen

Editionen von Marx-Schriften

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personenregister

Anmerkungen

Über Eva Weissweiler

Impressum

1Kindbett und Cholera 1850–1856

Exil in Soho

London, Soho, Dean Street Nr. 28. Seit 1850 Wohnsitz der Familie Marx. Ein typisches Emigrantenviertel ohne jeden Glamour und Chic, die Nachtseite des strahlenden, viktorianischen London mit seinen Parks, Schlössern und Brücken, seinen Alleen, Hafenanlagen und Konzerthallen, die Besucher wie Felix MendelssohnMendelssohn Bartholdy, Felix in Entzücken versetzten. Deutsche, französische, italienische und ostjüdische Emigranten, durch Verfolgung, Armut oder Antisemitismus aus ihren Ländern vertrieben, leben hier auf engstem Raum nebeneinander, in schmalen schwarz geräucherten Ziegelkaten, mit dem Ausblick auf winzige Hinterhöfe und enge, kotige Gassen, in denen Bettler verirrten Reisenden auflauern, Kramhändler Schuhe, Geigen und Töpfe feilbieten und kleine Mädchen schreiende Säuglinge in den Schlaf wiegen.

Viele Männer sind arbeitslos, Trunksucht und Prostitution an der Tagesordnung. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist immens. Ärzte verirren sich nur selten in diese Gegend. Es gibt Straßen, in denen sich die Bewohner von zwanzig Häusern einen Abort teilen. Infektionskrankheiten wie Scharlach und Keuchhusten grassieren, Seuchen wie Tuberkulose, Pocken, Typhus und Cholera. Noch dreißig Jahre später wird die englische Sozialreformerin Octavia HillHill, Octavia in ihrem Buch Homes of the London Poor schreiben: »Wer je des Abends … durch die … engen Gassen jener Quartiere gewandert ist, wird mit Schaudern an die vom Geruch von verdorbenem Fett verpestete Luft denken. … In dieser Luft bringen zahllose Kinder lange Jahre ihres Lebens zu. Die Häuser bieten keinen Schutz gegen die Witterung und sind … Seuchenherde, wie sie schlimmer kaum gedacht werden können.«[1]

London hat um diese Zeit zweieinhalb Millionen Einwohner, Tendenz: steigend. Die industrielle Revolution fährt fort, Menschen in die Stadt zu locken, die ihnen trotz ihres Überseehandels, ihrer Textilmanufakturen und ihrer Eisenbahn- und Dockgesellschaften oft weder Arbeit noch Wohnraum bieten kann. Auch die Familie Marx ist, aus Paris kommend, von Logierhaus zu Logierhaus geirrt, ehe sie Ende des Jahres 1850 in der Dean Street Nr. 28 notdürftig untergekommen ist. Ihr Vermieter ist keiner von den klassischen »Ausbeutern«, die Wucherpreise für ein Elendsquartier verlangen, sondern der irische Gelehrte Morgan KavanaghKavanagh, Morgan, Sympathisant sozialistischer Ideen und Autor von Büchern über den Ursprung von Mythos und Sprache.

Doch das nützt den Marxens nicht viel. Denn sie leben mit acht Personen in nur zwei Zimmern: den Eltern JennyMarx, Jenny und KarlMarx, Karl, den Kindern JennyMarx, Jenny CarolineLonguet, Jenny Caroline (1844), LauraMarx, LauraLafargue, Laura (1846), EdgarMarx, Edgar »Musch« (1847), GuidoMarx, Guido (1849) und FranziskaMarx, Franziska (1851) und dem Dienstmädchen Helene DemuthDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy«, genannt »Lehnchen«. Sie kommt aus einer Familie von Tagelöhnern, Bäckern und Bauern im Saarland, eine junge Frau mit strammem Haarknoten und forschem Auftreten, die erst als Erwachsene Lesen und Schreiben gelernt hat und seit ihrem achtzehnten Lebensjahr im Dienst der Familie ist. Mit Humor und Disziplin versucht sie, das häusliche Chaos zu ordnen, das ein im preußischen Auftrag agierender Spitzel so beschreibt:

In der ganzen Wohnung ist nicht ein reines und gutes Stück Möbel zu finden. Alles ist zerbrochen, zerfetzt und zerlumpt, überall klebt fingerdicker Staub, überall die größte Unordnung. In der Mitte des Salons steht ein altväterlicher großer Tisch, mit Wachsleinwand behangen. Auf diesem liegen seine Manuskripte, Bücher und Zeitungen, dann die Spielsachen der Kinder, das Fetzenwerk des Nähzeugs seiner Frau, dann einige Teetassen mit abgebrochenen Rändern, schmutzige Löffel, Messer, Gabeln, Leuchter, Tintenfass, Trinkgläser, holländische Tonpfeifen, Tabakasche … Alles dies bringt aber Marx und seine Gattin durchaus in keine Verlegenheit. Man empfängt auf das freundlichste, man trägt … was eben da ist mit Herzlichkeit an. Eine geistreiche angenehme Konversation ersetzt endlich die häuslichen Mängel, macht das Ungemach erst erträglich. Man söhnt sich mit der Gesellschaft sogar aus, findet diesen Zirkel interessant, ja originell. Das ist das getreue Bild von dem Familienleben des Kommunistenchefs Marx.[2]

Jenny MarxMarx, Jenny, eine geborene von WestphalenWestphalen, Bertha Julie Jenny vonMarx, Jenny, ist eine polyglotte, politisch engagierte Frau, die trotz aller äußeren Not elegant wirkt. Aber eine Hausfrau, eine Organisatorin des täglichen Lebens ist sie nicht. Als Tochter eines Trierer Regierungsrats ist sie von praktischen Arbeiten immer ferngehalten worden. Dafür hatte man Personal, junge Mädchen vom Land wie HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy«. Jenny von WestphalenMarx, Jenny war für Höheres, für die Ehe mit einem Mann ihres Standes bestimmt, nicht dafür, sich die Finger mit Spülwasser zu verderben.

Karl MarxMarx, Karl klagt oft über ihre Reizbarkeit, ihre schlechte Laune, den Mangel an innerer Gelassenheit, mit dem sie den chaotischen Verhältnissen begegne, Verhältnissen, die ihm selbst weniger auszumachen scheinen, da für ihn die politische Arbeit an erster Stelle steht. »Sehr oft bleibt er ganze Nächte auf, dann legt er sich wieder mittags, ganz angekleidet, aufs Kanapee und schläft bis abends, unbekümmert um die ganze Welt, die bei ihm frei ein- und ausgeht«, berichtet der preußische Spitzel. Wenn ihm das häusliche Durcheinander zu viel wird, geht er in den Reading Room des British Museum, um sich seinen ökonomischen Studien zu widmen, oder entspannt sich im deutschen Arbeiterbildungsverein in der Great Windmill Street.

MarxMarx, Karl’ Brotberuf ist der freie Journalismus. Er schreibt hauptsächlich für die New York Tribune, ein weltweit gelesenes amerikanisches Journal, und die Neue Oder-Zeitung in Breslau. Seine Ehefrau JennyMarx, Jenny liest seine Artikel Korrektur, schreibt sie ins Reine, korrespondiert mit den Redakteuren, bezeichnet sich scherzhaft als seinen »Stellvertreter«, seinen »secretaire intime«.[3] Diese Arbeiten bringen ihm zwar passable Honorare ein, ungefähr zweihundert englische Pfund im Jahr, mit denen auszukommen sein müsste, da die Jahresmiete für die kleine Wohnung nur zweiundzwanzig Pfund beträgt und HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« eine gute Wirtschafterin ist, die aus fast nichts moselländische Delikatessen zu zaubern weiß. Doch da die Eheleute ständig mehr ausgeben, als sie verdienen, steht dauernd der Gerichtsvollzieher vor der Tür, fordern Bäcker, Metzger, Schneider und Ärzte ihre Rechnungen ein, oft mit dramatischen Auftritten vor den Kindern.

Über die Realität dieses täglichen Lebens im Londoner Exil hat Jenny MarxMarx, Jenny wenige Monate nach der Geburt des kleinen GuidoMarx, Guido an einen Freund geschrieben:

Da die Ammen hier unerschwinglich sind, entschloss ich mich, trotz beständiger schrecklicher Schmerzen in Brust und Rücken, mein Kind selbst zu nähren. Der arme kleine Engel trank mir aber so viel Sorgen und stillen Kummer ab, dass er beständig kränkelte, Tag und Nacht in heftigen Schmerzen lag. Seit er auf der Welt ist, hat er noch keine Nacht geschlafen, höchstens zwei bis drei Stunden. In der letzten Zeit kamen noch heftige Krämpfe hinzu, sodass das Kind beständig zwischen Tod und elendem Leben schwankte. In diesen Schmerzen sog er so stark, dass meine Brust wund ward und aufbrach; oft strömte das Blut ihm in sein kleines, bebendes Mündchen.[4]

Nachdem sie mehrmals ihres Quartiers verwiesen worden sind, weil sie die Miete nicht zahlen konnten, haben sie endlich die Wohnung in der Dean Street gefunden, deren Besitzer ihnen immer wieder Aufschub gewährt. Doch an der sonstigen »Misère« ändert sich nicht viel. Schulden beim Apotheker, Bäcker oder Fleischer gehören zur Tagesordnung. Jenny MarxMarx, Jenny weiß sich manchmal nicht anders zu helfen, als ihr gesamtes Bettzeug zu verkaufen, Kissen, Decken, Matratzen, die Spielsachen der Mädchen, die Wiege des jeweils jüngsten Kindes usw. Oder der »Pfänder« kommt und klebt sein Siegel auf alles, was irgendeinen Wert hat.

JennysMarx, Jenny Briefe an ihre Freunde in Deutschland sind voll von solchen Geschichten, die aber fast immer ein »happy end« haben. Denn es gibt jemanden, der ihnen zuverlässig Geld schickt, der nicht zulässt, dass sie obdachlos werden oder verhungern: Friedrich EngelsEngels, Friedrich, auch »General« genannt, treuer Freund seit 1844, Gesinnungsgenosse und politisches Alter Ego von Karl MarxMarx, Karl, Mitinhaber der Baumwollspinnerei »Ermen & EngelsEngels, Friedrich« in Manchester, die er von seinem Vater übernommen hat. Er ist Kapitalist und Kommunist in Personalunion, Mitverfasser des Manifests der kommunistischen Partei, des »meistgedruckten politischen Œuvres in der Geschichte der Menschheit«,[5] das 1848 in London erschienen ist, fast synchron mit dem Ausbruch der Revolution. Es begann mit den epochemachenden Sätzen: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte … haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet.«

Der gelernte Kaufmann Friedrich EngelsEngels, Friedrich hat die Marxens auf allen Stationen ihres politischen Exils finanziell unterstützt, ob in Paris, Brüssel oder London, denn er ist sparsam und diszipliniert, hat den Sinn fürs Praktische, der den Marxens fehlt, stellt seine eigene Karriere als Schriftsteller und politischer Denker zurück, um die Rechnungen seines besten Freundes bezahlen zu können, JennysMarx, Jenny Garderobe, die Ärzte, die Lebensmittel, die vielen Reisen. Fast täglich, mindestens wöchentlich, bittet MarxMarx, Karl ihn um Hilfe, die er zuverlässig gewährt, obwohl er weiß, dass JennyMarx, Jenny ihn nicht mag, sei es aus Eifersucht auf seine symbiotische Freundschaft mit ihrem KarlMarx, Karl, oder weil er nicht »anständig« verheiratet ist, sondern mit einem rothaarigen irischen Fabrikmädchen, Mary BurnsBurns, Mary, in »wilder Ehe« lebt. Es wird ihr immer peinlich sein, ihn um Geld zu bitten, denn »Abhängigkeit« oder »dependence« ist für sie das größte denkbare Unglück.[6]

Friedrich Engels um 1845

© ullstein bild – Roger Viollet

Auch im August 1850, als sie ihr fünftes Kind erwartet, hat sie das Gefühl, sich nicht von ihm helfen lassen zu dürfen, sondern entschließt sich, lieber zu Lion PhilipsPhilips, Lion, einem entfernten Verwandten, nach Holland zu fahren. Er ist der Mann von Karl MarxMarx, Karl’ Tante SophiePhilips, Sophie (geb. Presburg), mit der er neun Kinder hat, sechsundfünfzig Jahre alt, Händler für Tabak, Tee und Kaffee, sehr wohlhabend, gebildet und humorvoll. JennyMarx, Jenny hofft, ihn erweichen zu können, will ihm sagen, dass sie wieder schwanger ist, um einen Vorschuss auf Erbschaften bitten, die Karl MarxMarx, Karl irgendwann zu erwarten hat. Aber PhilipsPhilips, Lion bleibt hart, weil er fürchtet, sonst immer wieder von ihr angepumpt zu werden. Als JennyMarx, Jenny ihm droht, dann müssten sie eben nach Amerika auswandern, sagt er, das sei doch eine gute Idee. JennyMarx, Jenny ist gekränkt über die Sturheit des »kleinen Mannes«, der bei allem Reden über »Revolution, Communismus, Socialismus u. dgl. Dinge mehr« doch immer den Juden und die »faule Schellfischseele« durchblicken lasse. Voller Sehnsucht schreibt sie an ihren KarlMarx, Karl und »die kleinen Engel«, an die sie nicht denken könne, ohne zu weinen, wenn sie sie auch bei HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« in guter Obhut wisse: »Ich weiß, wie Du u. LehnchenDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« für sie sorgen werden. Ohne LehnchenDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« hätt’ ich gar keine Ruhe hier. Sie hat es jetzt gar zu schwer – ach wie sehn ich mich in unser kleines Dasein zurück.«[7]

Hiobsbotschaften

Doch auch in London warten Hiobsbotschaften auf JennyMarx, Jenny. GuidoMarx, Guido, der kränkliche Säugling, hat Lungenentzündung, und HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy«, das Dienst- und Kindermädchen, ist schwanger – und zwar von MarxMarx, Karl, dem das Ganze unsagbar peinlich ist. Niemand weiß, was sich im Einzelnen abgespielt hat. »Ob sie einmal oder mehrmals Sex gehabt haben, er sie gezwungen oder sie ihn verführt hat … spielt dabei keine Rolle«, schreibt der Marx-Biograph Jürgen NeffeNeffe, Jürgen. Aber »der Vorgang« erfülle den Tatbestand »sexueller Ausbeutung«,[8] die MarxMarx, Karl ansonsten so heftig angeprangert habe, zum Beispiel im »Kommunistischen Manifest«, in dem es heißt, dass es typisch für den »Bourgeois« sei, mit den »Weiber(n)und Töchter(n)« der »Proletarier« zu schlafen oder von »offizieller und nichtoffizieller Prostitution« Gebrauch zu machen. Das alles werde es in einer kommunistischen Gesellschaft nicht mehr geben, da sie das »Weib« aus seiner Stellung als »bloßes Produktionsinstrument« befreien werde.[9]

MarxMarx, Karl versucht, die Vaterschaft auf Friedrich EngelsEngels, Friedrich zu schieben, denn die »Welt« darf von diesem Skandal nichts erfahren. EngelsEngels, Friedrich stimmt zu, allerdings ohne sich als Vater registrieren zu lassen, macht gute Miene zum bösen Spiel und zahlt Alimente, obwohl er HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« noch nie im Leben berührt hat. Was tut man nicht alles für den besten Freund? Außerdem ist es doch vollkommen glaubwürdig. Denn wer mit irischen Fabrikmädchen lebt, dem traut man auch zu, dass er die Magd seines besten Freundes schwängert.

Doch JennyMarx, Jenny, die nach außen hin mitspielt, weiß genau, was los ist. In ihren Erinnerungen wird sie später »ein Ereignis« erwähnen, das sie »nicht näher berühren« wolle, obwohl es »sehr zur Vermehrung« der familiären Sorgen beigetragen habe.[10]

GuidoMarx, Guido musste in ihrer Abwesenheit abgestillt werden. Wahrscheinlich sein Todesurteil. Denn die Milch, die es in London zu kaufen gibt, ist besonders im Sommer mit Bakterien verseucht und zur Ernährung von Säuglingen völlig ungeeignet. Im November 1850 stirbt das Kind, vermutlich an Lungenentzündung. Nichts Besonderes in der damaligen Zeit, in der die Säuglingssterblichkeit in London bei knapp zwanzig Prozent liegt, obwohl es seit 1816 ein »Royal Hospital for Women and Children« gibt, das aber von der Familie Marx nicht konsultiert wird.

Der Tod ihres Sohnes ist für JennyMarx, Jenny weniger ein persönliches Trauerspiel als eine »bürgerliche Misère«, die Schwangerschaft HelenesDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« kein Grund, MarxMarx, Karl zu verlassen. Von Streit oder gar Trennung ist nicht die Rede, jedenfalls nicht in Briefen an Freunde und Zeitgenossen, denn beide Partner denken in diesem Punkt durch und durch konservativ und fürchten, zum Gespött ihrer politischen Feinde zu werden. Dennoch muss die Stimmung furchtbar gewesen sein.

»Zu Hause immer alles im Belagerungszustand«, schreibt MarxMarx, Karl an EngelsEngels, Friedrich. »Tränenbäche ennuyieren mich ganze Nächte und machen mich wütend … Meine Frau tut mir leid. Auf sie fällt der Hauptdruck, und au fond hat sie recht.«[11]

Tag für Tag aus nächster Nähe mit ansehen zu müssen, wie die Schwangerschaft ihres Dienstmädchens fortschreitet: Eine schlimmere Erniedrigung seiner Frau hätte MarxMarx, Karl sich kaum ausdenken können, auch wenn es sich nur um die Folge eines kleinen »Unfalls« handelt, der die Beziehung zwischen JennyMarx, Jenny und HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« nicht auf Dauer belasten wird. Doch als ihr eigenes Kind, die Tochter FranziskaMarx, Franziska, am 28. März 1851 geboren wird, tut JennyMarx, Jenny etwas, was sie mit keinem ihrer älteren Kinder getan hat: Sie gibt es aus dem Haus, will es nicht bei sich behalten. »Das arme kleine Ding ward bei einer Amme untergebracht, da es unmöglich war, das Kind in den drei engen Räumen unterzubringen«, schreibt sie in ihren Erinnerungen.[12] Nicht einmal bei seinem Namen, FranziskaMarx, Franziska, nennt sie das »Ding«. War es wirklich nur die räumliche Enge, die sie zu diesem Schritt bewog? Oder musste das Kind aus dem Haus, weil JennyMarx, Jenny durch seinen Anblick immer wieder daran erinnert wurde, was ihr während dieser Schwangerschaft widerfahren war?

Etwa drei Monate später, am 23. Juni 1851, bringt auch Helene DemuthDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« ein Kind, einen Sohn, zur Welt, der nach seinem vermeintlichen Vater »FrederickDemuth, Frederick Lewis« genannt wird. Er hat große Ähnlichkeit mit MarxMarx, Karl, dessen olivfarbene Haut, dunkle Augen und schwarze Haare. MarxMarx, Karl wird durch diesen Sohn nicht nur an seine Untreue erinnert, sondern auch an seine jüdische Herkunft, die er am liebsten für immer vergessen möchte. Keines seiner anderen Kinder sieht ihm so ähnlich.

Nicht nur FranziskaMarx, Franziska, auch FrederickDemuth, Frederick Lewis muss fort. Seine Anwesenheit ist nicht tragbar in der Dean Street, nicht zuletzt, weil HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« für die Hausarbeit gebraucht wird und ihre Zeit nicht mit dem Baby vertun soll. Nach verschiedenen Versuchen werden endlich Pflegeeltern gefunden, die Familie Lewis im Londoner East End, ein Elendsviertel an den berüchtigten Docks, wo die Männer schon im Morgengrauen um Arbeit anstehen, die Frauen für Hungerlöhne in Schneidereien arbeiten und die Kinder häufig sich selbst überlassen bleiben. Ein Wunder, dass FrederickDemuth, Frederick Lewis unter diesen Umständen überlebt. Vielleicht, weil er die starke Physis seines Vaters geerbt hat und weil EngelsEngels, Friedrich mit regelmäßigen Geldsendungen dafür sorgt, dass er bei der Familie Lewis nicht verhungert. Doch der Junge darf nie nach Soho zu Besuch kommen. Auch nicht zu EngelsEngels, Friedrich nach Manchester, der in großzügigen Verhältnissen lebt. Ob man wenigstens seiner Mutter, Helene DemuthDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy«, gestattet hat, ihn manchmal zu sehen, ist bislang nicht bekannt, wird aber vielleicht durch neuere biographische Forschungen geklärt werden.[13]FrederickDemuth, Frederick Lewis selbst berichtet allerdings im Jahr 1912, dass er niemals mütterliche Fürsorge erfahren habe.[14]

FrederickDemuth, Frederick Lewis und sein VaterMarx, Karl – das Thema wird noch jahrzehntelang äußerst heikel bleiben, besonders für orthodoxe Marxisten und Leninisten. 1934 wird StalinStalin, Josef persönlich anordnen, dass in der Sowjetunion niemand darüber forschen dürfe. Erst 2011 wird eine von internationalen Experten erstellte Dokumentation erscheinen, in der alle verfügbaren Quellen schonungslos offengelegt werden.[15]

Franziska

FranziskaMarx, Franziska, dem »legalen« Kind der Familie Marx, das nur wenige Monate älter als FrederickDemuth, Frederick Lewis ist, geht es schlecht bei der Ziehamme, die wahrscheinlich eine ledige Mutter ist, denn verheiratete Ammen sind unbezahlbar in London.

Es ist kein Geheimnis, dass die Ziehammen sich nicht gut um die Kinder kümmern können. Die meisten von ihnen leben in feuchten Elendsquartieren, leiden selbst bittere Not und nehmen Kinder nur auf, um sich nicht prostituieren zu müssen. Viele sind geschlechtskrank. Fast immer spielt Alkohol eine Rolle, der sich schädigend auf die Qualität der Milch auswirkt und das zu stillende Kind schwächt oder gar süchtig macht. Reicht die Milch nicht aus, werden die Kinder mit Brei vollgestopft. Sind sie unruhig, gibt man ihnen Branntwein oder das opiumhaltige Schlafmittel »Godfrey’s Cordial«, das in London überall zu bekommen ist, beim Schuhmacher, beim Lebensmittelhändler und sogar bei Hauswirten, die »Ruhe« in ihren Wohnungen haben wollen.

»Es ist schon genug gesagt worden über die schier ungeheuerliche Verschwendung kindlichen Lebens, die uns in Stadt und Land seit langem umgibt«, wird ein englischer Kinderarzt später schreiben. »Es ist oft genug betont worden, dass nur eine wahre nationale Anstrengung helfen könnte, dieses Stigma von uns zu nehmen, den dauernden Vorwurf unbekümmerten Desinteresses an kindlichem Leben und Leiden.«[16]

Ostern 1852, knapp ein Jahr nach ihrer Geburt, hat sich FranziskasMarx, Franziska Zustand so dramatisch verschlechtert, dass sie wieder »nach Hause« geholt wird, allerdings nur, um dort an einer schweren Bronchitis zu sterben. »Drei Tage rang das arme Kind mit dem Tode. Es litt so viel. Sein kleiner entseelter Körper ruhte in dem kleinen hinteren Stübchen«, schreibt JennyMarx, Jenny in ihren Erinnerungen.[17]

MarxMarx, Karl hat kein Geld, einen Sarg zu kaufen. Und auch die Kosten für die Beerdigung kann er nicht aufbringen. Ein französischer Nachbar hat Mitleid und leiht ihm zwei Pfund. »Es hatte keine Wiege, als es zur Welt kam, und auch die letzte Behausung war ihm lange versagt«, fasst JennyMarx, JennyFranziskasMarx, Franziska Schicksal zusammen.[18]

Auch MarxMarx, Karl fühlt sich von der »Scheiße« bedeutend angegriffen, wie er in seiner ruppigen Art an EngelsEngels, Friedrich schreibt.[19] Das klingt schockierend, ja fast brutal. Doch es wäre falsch, daraus zu schließen, dass er seine Kinder nicht geliebt hätte, ganz im Gegenteil. Ihn, der selbst in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen ist – sein Vater, Heinrich, eigentlich Hirschel MarxMarx, Heinrich (Hirschel), war »Advokat« und konnte sich ein Haus mit großem Garten in Trier leisten –, quält wohl eher die bedrückende Enge, in der sie aufwachsen müssen, der Kampf um ihr Überleben, der Mangel an Freiheit und Spielmöglichkeiten, an Essen, ärztlicher Versorgung und Zukunftsperspektiven. Oft wird erzählt, MarxMarx, Karl sei ein regelrechter Kindernarr gewesen, der im Umgang mit Kindern jede Strenge abgelegt habe. Man müsse »MarxMarx, Karl mit seinen Kindern gesehen haben«, schreibt Wilhelm LiebknechtLiebknecht, Wilhelm, »um von der Gemütstiefe und Kindlichkeit dieses Helden der Wissenschaft eine volle Vorstellung zu bekommen«.[20] Seine jüngste Tochter Eleanor, genannt »Tussy«, wird ergänzen, dass der »Mohr«, so sein Spitzname in der Familie, ein »prächtiges Pferd« war und klaglos zuließ, dass seine Kinder, hinter ihm auf ein paar Stühlen sitzend, auf ihn eindroschen oder auf seinen Schultern hockten und die Hände in seiner schwarzen Mähne vergruben. Er habe öfter erklärt, man müsse »dem Christentum viel verzeihen«, weil Jesus, der »einfache Zimmermannssohn«, gesagt habe: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Wo immer er ging, schreibt Tochter Eleanor, sei er von Kindern umringt gewesen, sogar von ganz fremden auf der Straße. Über ihre eigenen Fragen und Unterbrechungen habe er nie geklagt, obwohl es bestimmt sehr anstrengend gewesen sein müsse, ein lebhaftes, »ewig plauschendes Kind um sich zu haben, während er an einem großen Werk arbeitete«.[21]

Der besondere Liebling des Vaters ist EdgarMarx, Edgar »Musch«, wegen seiner Zartheit nur »Musch« – von französisch »mouche«, »die Fliege« – genannt, ein begabtes, pfiffiges Kind mit viel Charme, dicken Pausbacken und schönen Gesichtszügen. Doch er kann auch ein Frechdachs sein, jemand, der den Bäcker mit seinen Geldforderungen an der Tür abfängt und die Chance nutzt, ihm schnell drei Brötchen zu stehlen.

Dieses Kind hat fast nie schlechte Laune, nimmt immer Rücksicht auf andere, besonders auf den »Mohr« und die »Möhme«, seine Eltern. Wenn er spürt, dass sie bedrückt sind, singt er mit lauter Stimme die Marseillaise, und die gute Laune ist bald wieder da.

Das Cholera-Kind

Im Juni 1854 ist es wieder so weit: Jenny MarxMarx, Jenny fühlt sich unwohl, weil sie ein Kind erwartet. Sie ist vierzig Jahre alt und freut sich gar nicht, sondern ist ständig schlecht gelaunt, magert ab, streitet mit MarxMarx, Karl, den vielen Besuchern, den Kindern, lässt keinen Arzt an sich heran und fühlt sich sogar außerstande, die Artikel ihres Mannes ins Reine zu schreiben, bevor er sie nach Amerika an die New York Daily Tribune schickt.

Im Juli 1854 – sie ist im dritten Monat schwanger – entschließt sie sich, zu ihrer Mutter Caroline von WestphalenWestphalen, Caroline von nach Trier zu reisen, um dem drückenden Londoner Klima zu entkommen. Ihr Vater, Ludwig von WestphalenWestphalen, Ludwig von, preußischer Regierungsrat, Inhaber des roten Adlerordens vierter Klasse, ist vor zwölf Jahren gestorben und hat seine Frau in guten Verhältnissen zurückgelassen. Für diese Reise brauche JennyMarx, Jenny »allerlei neue Equipierung«, schreibt MarxMarx, Karl an EngelsEngels, Friedrich,[22] da sie doch nicht abgerissen nach Trier fahren wolle, wo sie einst als schönstes Mädchen der Stadt galt. Da MarxMarx, Karl kein Geld hat, muss EngelsEngels, Friedrich wie üblich einspringen. »Beatus ille, der keine Familie hat«, meint Marx noch einmal betonen zu müssen.[23]EngelsEngels, Friedrich ist nämlich bis auf den ihm »zugeschriebenen« Sohn FrederickDemuth, Frederick Lewis kinderlos und wird die Institution »Ehe« lange aus Überzeugung ablehnen.

MarxMarx, Karl ist also mit EdgarMarx, Edgar »Musch« oder »Musch« und den beiden »Großen«, JennyLonguet, Jenny Caroline und LauraLafargue, Laura, allein. Die Mädchen schreiben bewusst lustige Briefe nach Trier, um der Mutter zu verbergen, dass sie Angst um sie haben. Ihre erste Antwort hat nämlich sehr lange auf sich warten lassen. Ist sie vielleicht ins Gefängnis gekommen, was bei der Frau eines polizeilich gesuchten Revolutionärs ja kein Wunder wäre?[24] Ist ihr auf der Reise etwas zugestoßen? Ist die Großmutter in Trier vielleicht krank?

In London ist es zu dieser Zeit glühend heiß, obwohl es zwischendurch immer wieder in Strömen gießt. MarxMarx, Karl hat Angst, die Cholera könnte wieder ausbrechen, was bald auch wirklich der Fall sein wird. »Dans ce moment«, schreibt er an EngelsEngels, Friedrich, »ist die gänzliche Entblösung von Geld um so ekliger … als Soho das auserlesne Quartier der Cholera, rechts und links der mob krepiert (z.B. in der Broad Street 3 Leute durchschnittlich auf das Haus) und der Scheiße mit ›Lebensmitteln‹ am besten Widerstand geleistet wird.«[25]

Nach sieben Wochen »Auszeit« in Trier kehrt JennyMarx, Jenny Marx wieder nach London zurück. Ein Wunder, dass sie sich nicht infiziert, was das Ende für sie und das Kind bedeutet hätte. Denn die Krankheit überträgt sich durch Darmkeime, das »Bacterium vibrio cholerae«, das erst Jahrzehnte später von Robert KochKoch, Robert entdeckt werden wird, überlebt in Exkrementen, Trinkwasser, Milch, Obst und Gemüse, ruft Taubheit, Erbrechen und Durchfall hervor und lässt seine Opfer unter Qualen sterben. JennyMarx, Jenny ist gerade wieder in London angekommen, als die Seuche ein Opfer nach dem anderen fordert, in zehn Tagen etwa fünfhundert Menschen in einer Straße.

»Meine Frau geht mit starken Schritten der Katastrophe entgegen«, schreibt MarxMarx, Karl am 12. Januar 1855 an Friedrich EngelsEngels, Friedrich.[26] Das ist das einzige Mal, dass er JennysMarx, Jenny Schwangerschaft schriftlich erwähnt. Kein Wort über die Lebensgefahr für Mutter und Kind, über die Besuche des »Juden« Dr. FreundFreund, Dr. (Hausarzt der Familie Marx) in der Dean Street, den JennyMarx, Jenny nun doch endlich an sich heranlässt, der aber droht, nicht mehr kommen zu wollen, solange seine Rechnungen unbezahlt bleiben.

Drei Tage später, am 15. Januar, kündigen sich die Wehen an. Es ist ein kalter, grauer Wintermorgen. Draußen schneit es, und das Zimmer der Wöchnerin kann nur mit Mühe beheizt werden. Die Kinder JennyLonguet, Jenny Caroline, LauraLafargue, Laura und EdgarMarx, Edgar »Musch« sind wahrscheinlich weggeschickt worden, damit sie in der winzigen Wohnung nicht stören. Ob der »Jude«, Dr. FreundFreund, Dr. (Hausarzt der Familie Marx), gerufen wird, ist nicht bekannt. Vielleicht holt man auch nur eine Hebamme. Diese sogenannten »midwives« sind beinahe genauso schlecht angesehen wie die Ziehammen, sind nirgendwo offiziell registriert und werden miserabel bezahlt. Ihr Gewerbe haben sie meist von den Müttern und Großmüttern übernommen. Bei den Entbindungen tragen sie normale Straßenkleidung, allenfalls eine Schürze darüber.

Ihr Koffer enthält Glasrohr, Katheter, Nabelschnurschere, Nadel, Faden und manchmal auch Chloroform. Da es in der Bibel heißt, dass die Frau »in Schmerzen Kinder gebären« solle, ist dieses Mittel erst nach langen Widerständen der Kirche zugelassen worden, vielleicht, weil auch Königin ViktoriaViktoria, Königin von England es bei ihren Geburten einsetzen lässt. Wird es allerdings falsch dosiert, können Mutter und Kind daran sterben. Aber auch sonst ist eine Entbindung in dieser Zeit lebensgefährlich. Oft muss die Nachgeburt mit der Schere entfernt werden. Für die Mutter besteht Verblutungsgefahr. Es ist also verständlich, dass MarxMarx, Karl von der zu erwartenden Niederkunft als einer »Katastrophe« spricht.

Doch alles geht gut, beinahe ein Wunder. JennyMarx, Jenny bringt ein zwar schwächliches, aber gesundes Kind zur Welt. Am 16. Januar 1855 meldet MarxMarx, Karl an EngelsEngels, Friedrich:

Ich konnte gestern of course nicht an die »Tribune« schreiben und auch heute für einige Zeit à venir nicht, weil gestern zwischen sechs und sieben Uhr morgens meine Frau von einem bona fide traveller – leider of the »sex par excellence« – genesen ist. Wäre es ein männliches Wesen, so ginge die Sache schon eher.[27]

»The sex par excellence«. Das klingt nicht gerade freundlich. Aber vielleicht doch realistisch? Denn die Chancen für Mädchen stehen um diese Zeit denkbar schlecht, ob in England oder in Deutschland. Sie können weder Ärzte noch Rechtsanwälte noch Politiker werden. Der Zutritt zu Universitäten ist ihnen versagt. Töchter der unteren Klassen können wenigstens noch in Fabriken arbeiten. Für eine junge Frau der Gesellschaft ist das unmöglich. Für sie gibt es eigentlich nur zwei Perspektiven: die Ehe oder die Arbeit als Gouvernante.

Bis dahin muss für ihre Erziehung gesorgt werden, muss sie Französisch, Klavierspielen, Tanzen und Handarbeiten lernen. Das kostet Geld, ebenso wie die standesgemäße Kleidung. Natürlich muss auch ein Sohn gut ausgebildet und gekleidet werden, aber er kann später immerhin in die Welt hinaus gehen und etwas verdienen, kann den Familiennamen vererben und dafür sorgen, dass die »Sippe« nicht ausstirbt.

Das Neugeborene wird »Jenny Julia Eleanor« genannt, Rufname: »Eleanor«. Den Spitz- und Kosenamen »Tussy« wird es erst später bekommen. Über die Wahl des Namens »Eleanor« kann man nur spekulieren. Die einen leiten ihn aus dem Provenzalischen, die anderen aus dem Griechischen, die dritten aus dem Arabischen ab. Der humanistisch gebildete MarxMarx, Karl hat wahrscheinlich an das griechische »eleos«: »Erbarmen«, »Barmherzigkeit« gedacht oder an ShakespearesShakespeare, William Historiendrama »König Johann«, in dem eine »Eleonore« vorkommt.

Während JennyMarx, Jenny sich schnell von den Strapazen der Niederkunft erholt, will das Baby nicht richtig gedeihen. Es schreit viel, hat keinen Appetit und »stört das ganze Haus«, schreibt MarxMarx, Karl an EngelsEngels, Friedrich.[28]JennyMarx, Jenny will oder kann auch dieses Kind nicht stillen. Eine irische Amme wird engagiert, dieses Mal streng beaufsichtigt von den beiden älteren Mädchen, die sich noch immer mit Entsetzen an den Tod von FranziskaMarx, Franziska und GuidoMarx, Guido erinnern. JennyMarx, Jenny schreibt an einen Bekannten, dass sie das Kind »Ellen« oder »Tussychen« nennen und es wie zwei kleine Mütter »ganz und gar« versorgen.[29]

Die häuslichen Verhältnisse in Soho sind immer noch denkbar ungeeignet für ein Baby. Kein ruhiges Zimmer, wo es ungestört schlafen könnte, kein sauberer Platz zum Waschen und Wickeln, statt frischer Luft abgestandener Zigarrenrauch, der sich in Möbeln, Kleidern und Bettwäsche festsetzt. MarxMarx, Karl klagt mehrmals über den »sehr bedenklichen Zustand des Babys«. Anfang Februar fürchtet er gar »Schlimmes« für das Kind,[30] seinen Tod also, was ihn diesmal stärker als sonst zu berühren scheint, denn Tussy, wie sie schon bald allgemein genannt wird, nach so vielen Katastrophen und Todesfällen wie durch ein Wunder glücklich zur Welt gekommen, hat vom ersten Tag an sein Herz gewonnen, obwohl sie dem »sex par excellence« angehört und wie FrederickDemuth, Frederick Lewis von dunklem, jüdischem Typus ist.

Abschied von Musch

MarxMarx, Karl geht es um diese Zeit gesundheitlich miserabel.

Seine Augen sind vom vielen Lesen bei schlechtem Licht chronisch entzündet. Im März stellt sich eine Bronchitis ein, die wegen der anhaltenden Kälte nicht abheilt und ihn zwingt, starke Medikamente zu nehmen. Das Schlimmste aber ist der Zustand des achtjährigen EdgarMarx, Edgar »Musch«, genannt »Musch«, der bald nach Tussys Geburt ein »gefährliches gastrisches Fieber« bekommen hat und täglich mehr austrocknet. Gegen Ende des Monats stellt der Arzt »Schwindsucht« fest. Auf eine Genesung sei kaum zu hoffen. MarxMarx, Karl lässt alle Arbeiten liegen und wacht Tag und Nacht am Bett seines Sohnes, der niemals klagt, nie seinen »originellen, gutmütigen und zugleich selbständigen Charakter«[31] verliert und sich bis zuletzt bemüht, lieb und artig zu sein, um seine Eltern nur ja nicht zu belasten.

EdgarMarx, Edgar »Musch« stirbt am 6. April 1855, einem Karfreitag, knapp drei Monate nach Tussys Geburt, in den Armen seines Vaters, während draußen die Glocken läuten. »Der arme Musch ist nicht mehr«, schreibt MarxMarx, Karl an EngelsEngels, Friedrich. »Er entschlief (im wörtlichen Sinne) in meinen Armen heute zwischen 5 und 6 Uhr. Ich werde nie vergessen, wie Deine Freundschaft diese schreckliche Zeit uns erleichtert hat.«[32]MarxMarx, Karl wird viele Monate lang über kaum etwas anderes sprechen und schreiben als über seinen Schmerz. In einem ihrer Briefe nach Deutschland schreibt JennyMarx, Jenny darüber:

Er war die ganze Freude, der ganze Stolz, die ganze Hoffnung meines lieben KarlsMarx, Karl, an dem das Kind mit besonderer inniger Zärtlichkeit hing, sodass er in seiner Krankheit immer bat, sein Charley … möge immer bei ihm sein, ihn tragen und heben und seine Hände auf seinen Kopf legen. Und wirklich hatte KarlMarx, Karl auch die Kraft, während den sechs bangen Wochen ihn nicht zu verlassen und Tag und Nacht bei ihm zu sein. LehnchenDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« stand treulich zur Seite. Ich selbst war zu angegriffen, um den schwereren Teil der Pflege zu teilen, auch oft meines Schmerzes nicht mächtig genug, sodass ich meine Tränen nicht stets zu unterdrücken vermochte. Er sagte darauf zu JennychenLonguet, Jenny Caroline, seiner kleinen Vertrauten: »Wenn das Möhmchen ans Bett kommt, deck immer meine Hände zu, dass sie nicht sieht, wie mager sie sind.« Selbst die schrecklichste aller Krankheiten vermochte nicht, diese rührende Herzensgüte, diese Zufriedenheit, diese strahlende Heiterkeit des Geistes zu brechen und zu trüben … Unsere kleinen Mädchen sahen nach dem Tode des Brüderchens so blass und elend und abgezehrt aus, dass ihr Anblick jeden erschütterte. Alle ihre lieblichen kleinen Spiele hatten aufgehört, ihre Gesänge waren verstummt … Die Mädchen erheitern und zerstreuen sich jetzt sehr an ihrem kleinen Schwesterchen Eleanor, kurzweg Ellen, von den Kindern auch Tussychen genannt, das sie mit rührender Liebe hegen und pflegen.[33]

MarxMarx, Karl erfährt in dieser Zeit viele Beweise der Freundschaft, besonders von politischen Genossen im Exil, die das Schicksal des kleinen MuschMarx, Edgar »Musch« für eine Folge des Flüchtlingslebens halten. »Ich vergesse die Szene nicht«, schreibt Wilhelm LiebknechtLiebknecht, Wilhelm, der am Todestag bei den Marxens zu Besuch war:

Die Mutter stumm weinend über das tote Kind gebeugt, LenchenDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« schluchzend daneben stehend, MarxMarx, Karl in schrecklicher Aufregung, jeden Zuspruch heftig, fast zornig zurückweisend … Und zwei Tage später das Begräbnis … Ich in dem Wagen mit MarxMarx, Karl – er saß stumm da, den Kopf in die Hände gestützt. Ich streichelte ihm die Stirn: ›Mohr, du hast ja deine Frau, die Mädchen und uns – und wir haben dich alle so lieb!‹ – ›Ihr könnt mir den Jungen nicht wiedergeben!‹ stöhnte er – und stumm fuhren wir weiter zum Kirchhof in der Tottenham Court Road … Als der Sarg in das Grab gesenkt werden sollte, war MarxMarx, Karl so aufgeregt, dass ich mich neben ihn stellte, weil ich fürchtete, er werde dem Sarg nach ins Grab springen.[34]

Wenigstens sind die finanziellen Sorgen in diesem Frühjahr 1855 nicht ganz so drückend. JennyMarx, Jenny hat eine kleine Erbschaft gemacht. Ihr Onkel Heinrich von WestphalenWestphalen, Heinrich von ist mit neunzig Jahren gestorben und hinterlässt ihr einhundert Pfund, genug, um demnächst einen Umzug ins Auge zu fassen. MarxMarx, Karl macht kein Hehl daraus, dass er über den Tod »des alten Hundes … very happy« ist,[35] denn er wünscht sich dringend eine Ortsveränderung, um Soho und der Erinnerung an EdgarsMarx, Edgar »Musch« Krankheit und Tod zu entkommen. Auch JennyMarx, Jenny ist geschwächt und erholungsbedürftig, so »durchsichtig wie eine Halb-Pence-Kerze und ausgedörrt wie ein Hering«, schreibt ihre älteste Tochter, die ebenfalls JennyLonguet, Jenny Caroline heißt.[36]

Zunächst ist die Familie froh, die Sommermonate des Jahres 1855 in Camberwell, einem dörflichen Vorort von London, verbringen zu können, wo ihnen ein alter Freund, Peter ImandtImandt, Peter, sein Cottage zur Verfügung gestellt hat, ein kleines Haus mit Blick auf den Crystal Palace, der, für die Weltausstellung von 1851 errichtet, als Wunderwerk der modernen Architektur gilt. In dieser neuen Umgebung blüht Tussy auf, bekommt rote Backen, findet nachts ihren Schlaf wieder und wird zum erklärten Liebling der ganzen Familie. Die beiden Schwestern bestehen darauf, sie eigenhändig zu baden. Mutter JennyMarx, Jenny geht mit ihr zum Daguerreotypisten und schickt die Bilder an die Verwandtschaft in Trier. Sie schreibt aller Welt, wie »wunderniedlich« und »bildhübsch« das neue Baby doch sei, berichtet voller Stolz über dessen erste Laute und Krabbelversuche. Auch MarxMarx, Karl ist vernarrt in die Kleine, die ihn mit ihrer guten Laune so für sich einnimmt, dass er seinen Schmerz über MuschMarx, Edgar »Musch« manchmal für Stunden vergessen kann. Sie lache und schwatze ihm die ganze Sorge weg, beobachtet JennyMarx, Jenny. Eines ihrer ersten Worte ist »Dada«, eine Mixtur aus »Papa« und »Daddy«. Keines der Marx-Kinder ist von den Eltern schon als Kleinkind so sehr beachtet und verwöhnt worden wie Eleanor, genannt »Tussy«, nicht einmal EdgarMarx, Edgar »Musch«.

Emanzipation des Proletariats

Ein Jahr nach EdgarsMarx, Edgar »Musch« Tod, im April 1856, scheint MarxMarx, Karl seine schlimmste Verzweiflung überwunden zu haben. Zwar schreibt er seltener für die New York Daily Tribune und die Neue Oder-Zeitung als früher, dafür wirken seine Artikel konzentrierter und engagierter, nicht mehr wie journalistische Tagesarbeit, sondern wie Grundsatzessays zur politischen und sozialen Lage. Zur Jahresfeier des Londoner People’s Paper hält er eine kurze, brillante Rede, in der er sich direkt an die englische Arbeiterschaft wendet und kritisch auf die Revolution von 1848 zurückblickt: »Die sogenannten Revolutionen von 1848 waren nur kümmerliche Episoden … kleine Brüche und Risse in der harten Kruste der europäischen Gesellschaft. Sie offenbarten jedoch einen Abgrund … Lärmend und verworren verkündeten sie die Emanzipation des Proletariats, d.h. das Geheimnis des 19. Jahrhunderts.«

England, das Land des Freihandels, der technischen Umwälzungen und der »erstgeborenen Söhne der modernen Industrie«, befinde sich in einer Epoche des Verfalls.

Nach jahrelanger Überproduktion seien die Märkte überfüllt, die Produkte der Kattundrucker, Seidenfabrikanten und Baumwollspinner kaum mehr verkäuflich. Konkurse und Arbeitslosigkeit seien die Folge, dazu die hoffnungslose Verelendung der Arbeiterviertel.

Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie der Mensch die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andere Menschen … unterjocht zu werden … Wir für unseren Teil verkennen nicht die Gestalt des arglistigen Geistes, der sich fortwährend in all diesen Widersprüchen offenbart. Wir wissen, dass die neuen Kräfte der Gesellschaft … nur neuer Menschen bedürfen, die ihrer Meister werden – und das sind die Arbeiter.[37]

Auch mit Preußen geht er hart ins Gericht, seiner alten Heimat, die so stolz auf ihre »philosophische Erleuchtung« sei, aber »die hervorragendsten Wissenschaftler von den Universitäten gejagt und die Erziehung der Jugend einer Bande von Dunkelmännern« anvertraut habe. »Krautjunker« regierten das Land, manipulierten den reformfreundlichen König Friedrich Wilhelm IV.Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, versuchten, Einfluss auf die Gerichtsbarkeit zu nehmen, die Gleichstellung der Konfessionen zu verhindern und vor allem: »die arbeitende Klasse« zu unterdrücken, die für Teilnahme an Streiks hart bestraft und vom politischen Leben ferngehalten werde, indem man ihr kein Wahlrecht erteile.[38]

An der Mosel

Während Marx selbst befürchten muss, sofort verhaftet zu werden, wenn er seinen Fuß auf preußischen Boden setzt, kann JennyMarx, Jenny im Mai 1856 gefahrlos mit Helene DemuthDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« und den drei Töchtern nach Trier fahren, wahrscheinlich, weil sie die Halbschwester des Innenministers Ferdinand von WestphalenWestphalen, Ferdinand von ist. JennyMarx, Jenny möchte ihre Mutter CarolineWestphalen, Caroline von besuchen, möchte Tussy, ihr jüngstes Kind, vorzeigen und vielleicht auch den Trierern, die sie noch kennen, beweisen, dass sie immer noch eine stolze, attraktive Frau ist.

Im Vergleich zu London ist Trier ein winziges Nest. Knapp über 20000 Einwohner, die meisten streng katholisch, enge Straßen, die in einen großen Bauernmarkt münden, Pferdefuhrwerke, Kopfsteinpflaster, ein jüdisches Getto in der Nähe der Porta Nigra, das noch den Geist des Mittelalters zu atmen scheint. Zwar herrscht in der Stadt ein antipreußischer Geist, die traditionelle rhein-moselländische Opposition gegen die Berliner Fremdherrscher und Bürokraten. Schließlich liegt Frankreich vor der Tür und hat in gut zwanzigjähriger Herrschaft seine Spuren hinterlassen, im Dialekt, in der heiteren Lebensart und der Vorliebe für gute Speisen und Weine. Doch Trier bleibt trotzdem ein Nest. Jeder kennt jeden. Die katholische Kirche hat alles fest im Griff. Die Protestanten sind fast genauso in der Minderheit wie die Juden. Seit dem 16. Jahrhundert wird der Heilige Rock als Reliquie verehrt. Gläubige aus aller Welt pilgern in die Stadt und praktizieren einen atavistisch anmutenden Götzenkult, über den sich die Marxens von Herzen lustig machen.[39] Im Umland gibt es Dörfer, die vom Verkehr abgeschnitten und bitter arm sind, die ganze Eifel, auch »Sibirien des Rheinlands« genannt, ist nahezu unberührt von der Zivilisation. Nur wenige können hier lesen und schreiben. Krankheiten werden noch von »weisen Frauen« behandelt. Sogar an die letzten Hexenverbrennungen meinen sich ältere Leute noch zu erinnern.

Jenny MarxMarx, Jenny hegt eine ausgesprochene Hassliebe zu diesem Ort. Als junge Frau hat sie hier oft unter Depressionen gelitten, manchmal sogar an Selbstmord gedacht. »Das kleinste, erbärmlichste Nest, voll von Klatsch und lächerlicher Lokalvergötterung«, hat sie damals an den jungen MarxMarx, Karl geschrieben.[40] Und trotzdem üben die Weinberge, die Mosellandschaft, die römischen Ruinen und klassizistischen Stadthäuser einen starken Reiz auf sie aus. In dieser Umgebung ist sie Prinzessin, Exotin gewesen, Tochter eines hohen adeligen Beamten, Ballkönigin, eine stadtbekannte Schönheit. Auch jetzt noch, mit zweiundvierzig Jahren, hat sie für Trierer Verhältnisse etwas ausgesprochen Interessantes, wenn sie, nach der neusten weltstädtischen Mode gekleidet, mit ihren drei hübschen kleinen Mädchen durch die Stadt spaziert.

Um ihren MannMarx, Karl braucht sie sich diesmal keine Sorgen zu machen, denn LenchenDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy«, seine einstige »Affäre«, ist mit ihr gekommen. Er ist also ganz allein in Soho. Obwohl er unter starkem Rückenrheumatismus leidet, scheint die Entfernung erotisierend auf ihn zu wirken. Immer wieder vertieft er sich in JennysMarx, Jenny Foto und schreibt ihr glühende Liebesbriefe:

Mein Herzensliebchen … ich habe Dich leibhaftig vor mir, und ich trage Dich auf Händen, und ich küsse Dich von Kopf bis Fuß, und ich falle vor Dir auf die Knie, und ich stöhne: »Madame, ich liebe Sie.« Und ich liebe Sie in der Tat mehr, als der Mohr von Venedig je geliebt hat … Meine Liebe zu Dir, sobald Du entfernt bist, erscheint als was sie ist, als ein Riese, in die sich alle Energie meines Geistes und aller Charakter meines Herzens zusammendrängt. Ich fühle mich wieder als Mann, weil ich eine große Leidenschaft fühle.[41]

Kein Wunder, dass JennyMarx, Jenny in Hochstimmung ist. Ihre gute Laune überträgt sich auf Tussy, die für ein anderthalbjähriges Mädchen ungewöhnlich aufgeweckt ist.

So erinnert sie sich noch nach mehreren Wochen an das Baby von Ernestine LiebknechtLiebknecht, Ernestine, das sie in London ein paarmal auf dem Schoß halten durfte. »Bei Ihrem Baby fällt mir eine kleine Anekdote Tussychens ein«, schreibt JennyMarx, Jenny an die junge Mutter. »Bei Nennung Ihres Namens sprang es auf, klatschte jubelnd in die Händchen, rief Baby, Baby, setzte sich breit auf der Erde nieder und zeigte auf den Schoß, wo es Ihr Baby gehabt hatte. Sie können sich den Jubel der entzückten Schwesterchen denken, die sich hier durch ihr freundliches, anmutiges Wesen allgemein beliebt machen … denn es laufen stets ganze Scharen hinter ihnen her und begaffen die kleinen, geputzten Engländerinnen.

Sie tummeln sich viel im Freien umher und sind heute früh schon in den Wald gezogen.«[42]

Doch trotz aller Bewunderung, die Tussy in Trier erfährt, hat sie große Sehnsucht nach Karl MarxMarx, Karl, ihrem »Dada«. Sie »spricht auffallend oft von ihm«, erzählt JennyMarx, Jenny weiter, »ruft ihn, lockt ihn mit den Händchen, und sagt dann traurig ›gone‹, und wenn er nicht zur Tür hereinkommt, fängt es an zu beaten und zu pinchen«, »zu schlagen und zu stampfen« also.[43]

Ihre Großmutter, Caroline von WestphalenWestphalen, Caroline von, geborene Hebel, lernt Tussy nur noch als alte, kranke Frau kennen, die im Juli 1856 sterben wird. Jenny MarxMarx, Jenny bleibt in diesen Tagen bei ihr und begleitet sie bis zum letzten Moment. Von einem Besuch bei HenrietteMarx, Henriette, der Mutter von KarlMarx, Karl, ist nicht die Rede, obwohl sie ebenfalls in Trier lebt und bei guter Gesundheit ist. Die Beziehung zwischen Schwiegermutter und -tochter scheint sehr gespannt zu sein, und auch Karl MarxMarx, Karl hat seine Probleme mit dieser Frau, die aus einer holländisch-ungarischen Familie von Rabbinern, Vorsängern, Textilhändlern und Geldwechslern stammt, ein Gemisch von Niederländisch und Jiddisch spricht, kaum lesen und schreiben kann, in elf Jahren neun Kinder zur Welt gebracht und sich nie von ihren jüdischen Wurzeln gelöst hat. Noch 1853, achtundzwanzig Jahre nach ihrer Taufe, hat sie an ihren niederländischen Schwager Lion PhilipsPhilips, Lion geschrieben:

»Und es scheint das es Loos des Volks Israel wieder bey mir in erfülung geht das meine Kinder in alle Welt sollen verstreyt werden.«[44]

Kaum anzunehmen, dass JennyMarx, Jenny es unter diesen Umständen für wichtig hält, mit ihren Töchtern den jüdischen Friedhof auf der Gilbertstraße zu besuchen, auf dem die Grabmäler der Vorfahren von Karl MarxMarx, Karl stehen, versehen mit langen hebräischen Inschriften. Über Mordechai HaleviHalevi, Mordechai, MarxMarx, Karl’ Großvater väterlicherseits, steht da zum Beispiel:

Hier hat man bestattet den gelehrten und universalen Herrn, unseren Lehrer und Meister, ein verehrter, heiligmäßiger Gelehrter war der Berühmte, ein Priester hoher Abkunft, Mordechai HaleviHalevi, Mordechai, der Sohn unseres Lehrers Samuel PostelburgPostelburg, Samuel, das Andenken an einen Gerechten gereiche zum Segen. Fünfunddreißig Jahre war er Gerichtsvorsitzender in Trier, und auf den Pfaden der Ewigkeit und einer, der wägt mit den Waagschalen der Gerechtigkeit von seiner Jugend an, und auch seine eigenen Taten von seinem Erwachen an bis zu diesem Tage, da er vollendet wurde nach himmlischem Ratschluss … hier in Trier.[45]

Grafton Terrace

Mit einem Erbe von 522 Talern und 20 Silbergroschen versehen, reist JennyMarx, Jenny mit LenchenDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy« und den drei Mädchen über Paris und die Insel Jersey zurück nach London, wo sie im September 1856 wieder eintrifft, endlich imstande, das finstere Loch in Soho zu verlassen und eine neue Wohnung zu suchen. Gegen Ende des Monats bezieht die Familie einen Neubau im Grünen, ein schmales neugotisches vierstöckiges Reihenhaus in Kentish Town, Grafton Terrace Nr. 9, weit entfernt vom städtischen Zentrum, aber nah am beliebten Ausflugsziel Hampstead Heath, dem großen Heidegebiet am Nordrand Londons.

Alle zeitgenössischen Reiseführer schwärmen von der wilden Schönheit der Heide, in der Berg und Tal miteinander abwechseln und von der man eine herrliche Aussicht hat: Im Süden bis zu den Häusermassen Londons, den grünen Hügeln von Surrey und dem schimmernden Dach des Kristallpalastes, im Osten bei klarem Wetter bis zur Themse und im Westen auf Schloss Windsor.

Die Miete ist relativ niedrig, sechsunddreißig Pfund im Jahr, nicht einmal das Doppelte des Preises für die Absteige in Soho, denn die Gegend ist verkehrsmäßig noch kaum erschlossen, ein einziger Bauplatz ohne Straßenbeleuchtung, Geschäfte und Pubs. Die stadtferne Lage wird sich später als Problem erweisen. Doch zunächst überwiegt die Freude, der Dean Street entkommen zu sein, besonders bei JennyMarx, Jenny, die kurz nach dem Einzug schreibt:

Wir haben endlich, nach langen, mühevollen Entdeckungswanderungen, ein ganz besonders schönes Haus gefunden. Es liegt in der schönsten und gesundesten Gegend von London … Das Haus hat die vier Eigenschaften, die Engländer an einem Hause lieben, es ist airy, sunny, dry und auf gravely soil gebaut. Es liegt rings von frischen grünen Wiesen und Triften umgeben, auf denen Kühe, Pferde, Schafe, Ziegen und Hühner in gemütlicher Eintracht weiden. Vor uns breitet sich die kolossale Riesenstadt London in nebelhaften Umrissen aus, jedoch können wir bei klarem Licht genau die Kuppel der St.-Pauls-Kirche unterscheiden. Die hinteren Stuben bieten eine wunderbar liebliche Aussicht dar. Ganz hügeliges Terrain bis hinauf zu den waldumkränzten Höhen von Hampstead und dem reizenden Highgate mit seiner sehr hoch auf einem Hügel thronenden Kirche.[46]

Es können Katzen angeschafft werden, die alle so ähnlich heißen wie Tussy, nämlich »Pussy«. Tussy wird später gern mit dieser Ähnlichkeit spielen und ihren Spitz- und Kosenamen darauf zurückführen, dass sie als Kind immer »Tussy« zu den Katzen sagte, weil sie »Pussy« nicht richtig aussprechen konnte. Auch ein »kleiner Wauwau« gehört zum Hausstand. Alle drei Mädchen sind glücklich, und Tussy küsst vor Entzücken die vielen Teppiche und den neuen Hund, der es sich gern auf dem Kaminvorleger gemütlich macht.[47]

2Kapitän Tussy 1857–1869

Das Ende des Bohème-Lebens

In den ersten Wochen im neuen Haus kommt JennyMarx, Jenny sich wie eine Schlossherrin vor. Ein eigener Garten, eine kleine Terrasse, acht helle Räume, einer davon ein »parlour«, ein Empfangsraum, kein Straßenlärm, kein »Mob« rechts und links, keine Cholerakranken, keine schlechte Luft, kein übler Essensgeruch aus den Küchen der Nachbarn. Noch nie, seitdem sie aus ihrem Elternhaus fort ist, hat sie so standesgemäß gewohnt. Nur die nötigen Möbel fehlen, denn das »Loch« in der Dean Street war bis auf Bettzeug, Spielsachen und Geschirr größtenteils mit gemietetem Mobiliar ausgestattet.

Zum Glück hat Peter ImandtImandt, Peter, der alte Schulfreund von MarxMarx, Karl, ihnen ein paar Tische und Stühle geschenkt, bevor er als Lehrer nach Schottland gegangen ist, »second hand furniture im rococo Styl«.[48] Für eine erste Möblierung reicht das. JennyMarx, Jenny hat einen guten Geschmack und fängt an, sich als Innenausstatterin zu betätigen, kauft Vasen für den Kaminsims, weiße Gardinen, ein Dutzend Rohrstühle, Körbe mit Schlingpflanzen und eine blaugraue Decke für den wackligen Teetisch.[49] Es ist der erste Schritt zu einem »honetten« bürgerlichen Ambiente, das ihrer Meinung nach sein muss, wenn ihre Töchter einmal standesgemäß heiraten sollen.

Dazu gehört auch, dass die Mädchen nun endlich eine höhere Schulbildung erhalten. Die beiden Älteren, JennyLonguet, Jenny Caroline und LauraLafargue, Laura, zwölf und elf Jahre alt, besuchen das Damen-College von South Hampstead und bekommen Privatunterricht in Französisch, Italienisch und Spanisch. MarxMarx, Karl persönlich liest DanteDante Alighieri, GoetheGoethe, Johann Wolfgang von und ShakespeareShakespeare, William mit ihnen, während die Mutter sie manchmal ins Theater führt.[50] Sie liebt die Bühne, besonders ShakespeareShakespeare, William, wäre selbst gern Schauspielerin geworden, was für ein Mädchen der »höheren Stände« aber unmöglich war, träumt aber davon, eines Tages wenigstens Theaterkritiken zu schreiben.

Leider wird die neue Idylle bald getrübt, denn schon kurz nach dem Einzug, im Herbst 1856, wird JennyMarx, Jenny wieder schwanger. Es ist jetzt das siebte Mal. Sie ist zweiundvierzig. Schlimme Aussichten, zumal das Geld, das sie von ihrer Mutter geerbt hat, schon fast wieder verbraucht ist. Auch MarxMarx, Karl freut sich nicht auf das Kind, selbst wenn es diesmal ein Sohn werden sollte. Dazu kommt der englische Herbst mit Dauerregen, Nebel und Dunkelheit. Der rote Lehm, auf dem das Viertel gebaut ist, verwandelt sich in Schlamm. Überall Pfützen und Schutthaufen, halbfertige Häuser. Kein Kontakt zu den Nachbarn, die sich feindselig gegen die politischen Emigranten abgrenzen.

»La vie de bohème hatte ein Ende«, schreibt JennyMarx, Jenny in ihren Erinnerungen. Fast trauert sie der guten, alten Armut wieder nach. »Statt dass man bisher frei und offen den Kampf … im Exil gekämpft hatte, galt es von neuem, den Schein der Ehrbarkeit wenigstens aufrechtzuerhalten. Wir segelten mit vollen Segeln ins Philistertum hinein.«[51]

Als es mit Beginn des Winters bitterkalt wird und der Kohlenhändler wieder einmal nicht bezahlt werden kann, wird dem Ehepaar klar, dass das neue Haus eine Art Luftschloss ist. Vor lauter Freude über die niedrige Miete haben sie den Faktor der Nebenkosten schlicht vergessen. »Ich sitze vollständig auf dem Sand in einer Wohnung, worin ich mein weniges Bares gesteckt, und worin es unmöglich ist, sich von Tag zu Tag durchzupissen wie in Dean Street«, schreibt MarxMarx, Karl an EngelsEngels, Friedrich, der entsetzt zurückfragt: »Ich dachte, jetzt sei endlich alles im schönsten Zuge, Dich in einer ordentlichen Wohnung und das business geregelt; und jetzt stellt sich heraus, dass alles infrage steht?«[52]

Zauberer Röckle

Tussy ahnt nichts von den Sorgen ihrer Eltern. Sie hat ein eigenes Zimmer, ein Stück Garten, ihre Katzen, den »Wauwau«. Auch mit den Nachbarn hat sie keine Probleme, denn sie ist keine Fremde, keine Emigrantin, keine Preußin, sondern eine echte, in London geborene Engländerin, deren Sprache man die deutsche Herkunft nicht anmerkt, während die Eltern ihren schweren moselländischen Akzent nie ganz verlieren werden. Schnell knüpft sie Freundschaft mit den Kindern der Nachbarschaft, die nicht von den »Marxens«, sondern von den »Tussies« sprechen, da überhaupt niemand sie »Eleanor« nennt, sondern eben nur »Tussy«.

Bei schönem Wetter lässt sie sich Tee auf der Terrasse servieren, befiehlt den Schwestern, Kastanien für sie zu rösten, kommandiert alle herum, auch HeleneDemuth, Helene »Lenchen/Nimmy«, ohne dass man ihr deshalb böse sein könnte, denn sie ist, wie MarxMarx, Karl halb besorgt, halb belustigt an EngelsEngels, Friedrich berichtet, ein »merkwürdiger Witzbold«, der von sich selber behaupte, »two brains«, zwei Gehirne, zu haben,[53] vielleicht, weil sie jetzt auch ein paar Brocken Deutsch kann und ihr »deutsches« Gehirn von ihrem »englischen« unterscheidet?

Um ihre deutschen Sprachkenntnisse zu fördern, lesen die Eltern ihr immer wieder aus Grimms Märchen vor. »Aber wehe uns«, schreibt Mutter JennyMarx, Jenny in ihren Erinnerungen, »wenn im Rumpelstilzchen oder im König Drosselbart oder im Schneewittchen auch nur eine Silbe ausgelassen wird. Durch diese Märchen hat das Kind neben dem Englischen, das in der Luft liegt, auch das Deutsche gelernt, das es mit besonderer Regelrichtigkeit … spricht.«[54]

MarxMarx, Karl hat für sie eine eigene Geschichte erfunden, die Geschichte von Hans Röckle, einem Zauberer mit einem großen, seltsam bestückten Kaufladen. »Es war eine lange, lange Geschichte und endete nie«, wird Tussy sich später erinnern. »In seinem Laden waren die wunderbarsten Dinge: hölzerne Männer und Frauen, Riesen und Zwerge, Könige und Königinnen, Meister und Gesellen, vierfüßige Tiere und Vögel so zahlreich wie in der Arche Noah, und Tische und Stühle, Equipagen und Schachteln groß und klein. Aber ach! – trotzdem er ein Zauberer war, stak er doch stets in Geldnöten, und so musste er sehr gegen seinen Willen alle seine hübschen Sachen … dem Teufel verkaufen. Nach vielen, vielen Abenteuern und Irrwegen kamen aber dann diese Dinge immer wieder in Hans Röckles Laden zurück.«[55]

Die Deutung dieser Geschichte liegt auf der Hand. Hans Röckle ist niemand anders als der Vater selbst, der über großes Genie, große Phantasie verfügt, über ein Imperium voller Zauber- und Lichtgestalten, doch der Teufel, das »Kapital«, versucht immer wieder alles zu zerstören. Ohne Erfolg. Denn die Gedanken und Visionen sind stärker. Die Ideen von Karl MarxMarx, Karl werden überleben.

Tussy genießt besonders das Frühjahr, in dem die Stimmung im Haus wieder freundlicher wird. Dann ist Picknickzeit. Dann geht es sonntags hinaus in die Hügel von Highgate. MarxMarx, Karl lässt seine Manuskripte liegen und wandert mit. Ein Wunder, dass der Picknickkorb immer gut gefüllt ist, mit Kalbsbraten, Brot, Käse, Shrimps, Bier und Wein, fast wie im Laden des Zauberers Röckle.

»Gewöhnlich wurde ein Lied angestimmt«, erinnert sich LiebknechtLiebknecht, Wilhelm, der manchmal mitgehen darf, »meist Volkslieder … Oder die Kinder sangen Niggerlieder vor und tanzten dazu … Von Politik durfte auf dem Marsch ebenso wenig gesprochen werden wie von der Flüchtlingsmisere. Dagegen sprach man viel von Literatur und Kunst, und da hatte Marx Gelegenheit, sein riesiges Gedächtnis zu zeigen. Er deklamierte lange Passagen aus der Divina Commedia, die er fast auswendig konnte, und Szenen aus ShakespeareShakespeare, William, wobei seine Frau, auch eine vorzügliche Shakespearekennerin, ihn oft ablöste.«[56]

Totgeburt

Irgendetwas stimmt nicht mit JennysMarx, Jenny Schwangerschaft. MarxMarx, Karl macht EngelsEngels, Friedrich gegenüber Andeutungen über unangenehme »circumstances«.[57] Hat sie vorzeitige Wehen? Blutungen? Oder gar versucht, das Kind abtreiben zu lassen, da sie Angst hat, eine siebte Niederkunft nicht zu verkraften? Um ihren Alltag mit Kindern, Gästen und Haustieren besser meistern zu können, nimmt sie »Batterien« von Medikamenten,[58] darunter wohl auch Chloral, ein hypnotisches Sedativum. Über dessen verhängnisvolle Wirkung auf den Fötus weiß man zu dieser Zeit noch nichts.

Am 6. Juli 1857 wird das Kind geboren, diesmal in erträglichen Wohnverhältnissen, vielleicht sogar in einem eigenen Wochenbettzimmer. Doch das Neugeborene, dessen Geschlecht nirgendwo erwähnt wird, ist nicht lebensfähig, kommt nur zur Welt, um einmal zu atmen und dann hinausgetragen zu werden.[59] Alles deutet darauf hin, dass es schwer behindert gewesen ist.

»Dies an und für sich kein Unglück«, schreibt MarxMarx, Karl einen Tag später an EngelsEngels, Friedrich, »jedoch teils Umstände unmittelbar damit verbunden, die furchtbaren Eindruck auf meine Phantasie gemacht … Brieflich nicht tubar, auf solche Materie einzugehen.«[60] Worauf EngelsEngels, Friedrich befremdet antwortet:

Den Tod des Kindes kannst Du stoisch hinnehmen, Deine Frau schwerlich. Wie es ihr geht, schreibst Du nicht. Ich schließe das Beste daraus, aber lass es mich doch positiv wissen, rechte Ruhe hab’ ich darüber sonst nicht. Deine mysteriösen Andeutungen lassen in dieser Beziehung zu vielen Vermutungen Raum.[61]

Um JennyMarx, Jenny aufzumuntern, schickt EngelsEngels, Friedrich sechs Flaschen Bordeaux, drei Flaschen Portwein und drei Flaschen Sherry. Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Töchter freuen sich darüber. Die Älteren dürfen schon ein Schlückchen mittrinken. Man kommt von der Mosel, wo das so üblich ist. Tussy aber bastelt sich aus dem Weinkorb ein Häuschen und versteckt sich darin.

Dieses Kind wird JennysMarx, Jenny letztes gewesen sein. Noch Jahre später wird sie sich mit Schaudern an die »große last instance« ihrer sieben Schwangerschaften erinnern. »Es ist doch immer eine halsbrecherische Affäre, und wohl dem, der der Gefahr nicht mehr ausgesetzt ist«, schreibt sie an Ernestine LiebknechtLiebknecht, Ernestine.[62] Wahrscheinlich ist sie froh, als sie endlich ins Klimakterium kommt und in dieser Hinsicht nichts mehr zu befürchten hat. Von Empfängnisverhütung hält man nämlich nichts im Hause Marx, obwohl es entsprechende Mittel durchaus gibt: Zervixkappen aus Kunstharz, Präservative aus Schafs- oder Fischhaut und vor allem das Wissen über »fakultative Sterilität«, das besonders in England verbreitet ist, während in Deutschland eher mechanische Methoden bevorzugt werden. MarxMarx, Karl