Das Evangelium der neuen Welt - Maryse Condé - E-Book

Das Evangelium der neuen Welt E-Book

Maryse Condé

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Beschreibung

Ein Findelkind auf einer Karibikinsel: Ist der Junge der neue, nicht-weiße Messias? Maryse Conde erzählt farbenprächtig und unvergesslich vom Traum einer toleranten, friedlichen Welt.

»Eine großartige Geschichtenerzählerin.« Bernardine Evaristo

»Heiter und hoffnungsfroh ... ein bestechend schöner Roman voller Weisheit, Großherzigkeit und Versöhnlichkeit.« Leïla Slimani

»Maryse Condé ist eine magische Erzählerin.« Jury des Alternativen Literaturnobelpreises

An einem Ostersonntag finden Monsieur und Madame Ballandra, ein älteres, kinderloses Ehepaar, ein Neugeborenes in ihrem Gartenschuppen. Pascal, der Säugling, ist überaus hübsch - dunkelhäutig, mit glatten, schwarzen Haaren und Augen, die so graugrün sind wie das Meer, das die Karibikinsel umgibt. Niemand kann sagen, woher der Junge kommt. Aus Europa? Aus Afrika? Aus Asien? Doch nicht nur sein Aussehen weckt die Neugier der Inselbewohner. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dieses Findelkind könnte ein ganz besonderes Geschenk an die Menschheit sein: Vielleicht hatte Gott der Vater ja zwei Söhne und den Jüngeren nun zu ihnen geschickt? Ein neuer Messias, der den Auftrag hat, die Welt so zu verändern, dass sie toleranter und friedlicher wird. Kaum erwachsen, zieht Pascal los, auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung. »Das Evangelium der neuen Welt« ist eine farbenprächtige, unvergessliche Geschichte der »Grande Dame der französischen Literatur« (BR).

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Seitenzahl: 333

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Zum Buch

Maryse Conde, die große Stimme der Karibik, erzählt farbenprächtig und unvergesslich vom Traum einer toleranten, friedlichen Welt.»Eine großartige Geschichtenerzählerin.« Bernardine Evaristo»Heiter und hoffnungsfroh … ein bestechend schöner Roman voller Weisheit, Großherzigkeit und Versöhnlichkeit.« Leïla SlimaniAn einem Ostersonntag finden Monsieur und Madame Ballandra, ein älteres, kinderloses Ehepaar, ein Neugeborenes in ihrem Gartenschuppen. Pascal, der Säugling, ist überaus hübsch - dunkelhäutig, mit glatten, schwarzen Haaren und Augen, die so graugrün sind wie das Meer, das die Karibikinsel umgibt. Niemand kann sagen, woher der Junge kommt. Aus Europa? Aus Afrika? Aus Asien? Doch nicht nur sein Aussehen weckt die Neugier der Inselbewohner. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dieses Findelkind könnte ein ganz besonderes Geschenk an die Menschheit sein: Vielleicht hatte Gott der Vater ja zwei Söhne und den Jüngeren nun zu ihnen geschickt? Ein neuer Messias, der den Auftrag hat, die Welt so zu verändern, dass sie toleranter und friedlicher wird. Kaum erwachsen, zieht Pascal los, auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung.

Zur Autorin

MARYSECONDÉ, 1937 in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe geboren, gilt als eine der großen Erzählstimmen unserer Zeit. Mit 16 Jahren ging sie zum Studium nach Paris und lebte später mehrere Jahre in Westafrika. Maryse Condé unterrichtete u.a. an der Sorbonne und war Professorin für französische Sprache und Literatur an der Columbia University in New York. Bekannt wurde Maryse Condé durch die Familiensaga »Segu«, in der sie die Geschichte der westafrikanischen Familie Traoré erzählt. Sie wurde u.a. mit dem Prix de l‘Académie Française, dem Prix Marguerite Yourcenar sowie dem Alternativen Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

MARYSE CONDÉ

DAS EVANGELIUM DER NEUEN WELT

Roman

Aus dem Französischen von Bettina Bach

Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »L’Évangile du Nouveau Monde« bei Éditions Buchet-Chastel, Paris.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Erstveröffentlichung Dezember 2023

Copyright © 2021 Éditions Buchet-Chastel, Paris

Copyright © der deutschen Ausgabe 2023 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einer Illustration von © Alice Peronnet

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

Klü · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29015-3V001

www.btb-verlag.de

https://www.facebook.com/penguinbuecher

Für Pascale – nie war eine Freundin eine bessere Assistentin.

Für Serina, für Mahily, für Fadel, für Leina, als Hommage an José Saramago.

ERSTER TEIL

1

Es ist ein ringsum von Wasser umgebenes Stück Land, eine Insel, wie man üblicherweise sagt, nicht so groß wie Australien, aber auch nicht eben klein. Sie ist weithin flach, hat aber ein Relief aus dichten Wäldern und zwei Vulkanen. Einer von ihnen, der Piton de la Grande Chaudière, machte bis 1820 Sperenzchen, dem Jahr, in dem er das hübsche Städtchen auf seinen Hängen zerstörte, ehe er gänzlich erlosch. Weil auf der Insel ewiger Sommer herrscht, wimmelt es von Touristen, die mit ihren todbringenden Apparaten auf alles Schöne zielen. Von manchen Bewohnern wird sie zärtlich »mein Land« genannt, aber es ist gar kein Land, es ist ein französisches Territorium jenseits des Meeres, kurz, ein Überseedepartement!

In der Nacht, in der Er geboren wurde, kämpften Zabulon und Zapata oben am Firmament miteinander und schleuderten bei jeder Geste mit Lichtstrahlen. Kein alltäglicher Anblick! Wer gern zum Himmel schaut, sieht oft den Kleinen und den Großen Bären, Kassiopeia, Venus, Orion, nicht aber zwei Konstellationen aus solchen Tiefen des Alls, das war unerhört. Ein Hinweis auf das außergewöhnliche Schicksal dessen, der in jener Nacht geboren wurde. Doch das ahnte in diesem Augenblick scheinbar niemand.

Das Neugeborene brachte die winzigen Fäustchen zum Mund und schmiegte sich zwischen die Hufe des Esels, der ihn wärmte. Soeben hatte Maya hier entbunden, in diesem Schuppen, in dem die Ballandras ihren Dünger, die Unkrautvernichtungsmittel und Gartengeräte lagerten. Nun wusch sie sich, so gut es ging, mit Wasser aus einer Kalebasse, die sie zum Glück mitgenommen hatte. Tränen kullerten ihr über das runde Gesicht.

Sie hätte nicht gedacht, dass es ihr so schwerfiele, das Kind zurückzulassen. Sie hatte nicht gewusst, dass der Schmerz ihr mit seinen scharfen Krallen den Bauch zerreißen würde. Aber es gab keine andere Lösung. Sie hatte es geschafft, ihren Zustand vor ihren Eltern zu verheimlichen, und besonders vor ihrer Mutter, die ununterbrochen von der strahlenden Zukunft schwärmte, die mit offenen Armen auf ihre Tochter wartete. Unmöglich konnte Maya mit einem unehelichen Kind nach Hause kommen.

Als ihre Blutung ausgeblieben war, hatte sie einen Schock bekommen. Ein Kind! Ein glitschiges kleines Etwas, das überallhin pinkelte und kackte – das sollte also das Ergebnis ihrer leidenschaftlichen, wildromantischen Nächte sein?

Sie hatte ihrem Liebhaber geschrieben, Corazón, spanisch für »Herz«, ein Wort, das nicht recht zu diesem hünenhaften Kerl passen wollte. Nachdem sie auch auf den dritten Brief keine Antwort bekommen hatte, ging sie zu dem Reiseveranstalter, der Kreuzfahrten auf der Empress of the Sea anbot, denn auf diesem Schiff hatte sie ihn bei der Jungfernfahrt von Insel zu Insel kennengelernt. In dem Reisebüro fuhr ihr eine aufgetakelte chabine* über den Mund: »Über unsere Passagiere geben wir keinerlei Auskünfte.«

Maya schrieb Corazón noch einmal. Immer noch keine Antwort. Sie hatte die schlimmsten Befürchtungen. Wäre auch sie eine der vielen verlassenen Frauen, der Frauen ohne Ehemann, ohne Geliebten, die sich abrackern mussten, um ihre Kinder großzuziehen? So hatten Corazóns Versprechen nicht geklungen. Im Gegenteil, er hatte ihr das Blaue vom Himmel versprochen, sie mit Küssen bedeckt, sie »mein Schatz« genannt und geschworen, nie eine andere so sehr geliebt zu haben wie sie.

Corazón und Maya stammten nicht aus derselben Schicht, er kam aus der mächtigen Familie der Tejara, die ihrem Land seit der Zeit des Menschenhandels Kaufleute, Grundbesitzer und Anwälte, Ärzte und Professoren geschenkt hatte. Corazón selbst lehrte Religionsgeschichte an der Universität von Asunción, wo er herkam. Ihm war die Arroganz eines Vatersöhnchens eigen, doch sein charmantes, sanftmütiges Lächeln milderte diesen Eindruck. Weil er vier Sprachen fließend beherrschte – Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Französisch –, hatte ihn die Schifffahrtsgesellschaft engagiert, um den Passagieren erster und zweiter Klasse Vorträge zu halten.

Am zermürbendsten war der Traum gewesen, der Maya während ihrer Schwangerschaft Nacht für Nacht verfolgt hatte. Sie hatte einen Engel in blauer Tunika vor sich gesehen, der eine Blüte in der Hand hielt, ein sogenanntes »Indisches Blumenrohr«. Der Engel teilte ihr mit, sie werde einen Sohn bekommen, der den Auftrag habe, das Antlitz der Welt zu ändern. Na ja, ein Engel … eine Art Engel jedenfalls, denn es war eines der merkwürdigsten Geschöpfe, die sie je gesehen hatte. Seine Füße steckten in hohen Stiefeln aus glänzendem Lackleder, lockiges graues Haar fiel ihm auf die Schultern. Am seltsamsten aber war der hinter seinem Rücken versteckte Auswuchs. Ein Buckel? Eines Nachts hatte sie ihn entnervt mit dem Besen davongejagt, aber in der nächsten Nacht war er zurück gewesen, als wäre nichts.

Das Neugeborene war eingeschlafen und stöhnte in regelmäßigen Abständen im Schlaf. Der Esel über ihm schnaubte unaufhörlich. Früher hatte Placida, die Kuh der Ballandras, nachts in diesem Schuppen gestanden. Doch eines Tages war der Armen Schaum vors Maul getreten, und sie war auf dem Boden zusammengebrochen. Maul- und Klauenseuche, hatte die Diagnose des eilends herbeigerufenen Tierarztes gelautet.

Maya kehrte dem Säugling den Rücken zu, schlüpfte hinaus und ging über einen gewundenen Pfad hinter dem Haus der Ballandras entlang zur Straße zurück. Sie hatte keine Angst, erwischt zu werden, weil sie wusste, dass das Ehepaar, selbst wenn es noch wach war, um diese Uhrzeit garantiert nicht auftauchen würde. Wie alle anderen auf der Insel, wo nicht viel geboten wurde, saßen sie vor dem Fernseher, einem riesigen, nagelneuen Ding. Der Mann, Jean-Pierre, schlief schon halb, weil er sich ausgiebig an altem Rum gütlich getan hatte, und seine Frau Eulalie strickte ein Babyjäckchen für eines ihrer vielen wohltätigen Werke.

Als Maya das Gartentor öffnete, hatte sie das Gefühl, eine Welt voller Einsamkeit und Schmerz zu betreten, die in Zukunft zweifellos ihr Leben beherrschen würde.

Sie wollte gerade den Fuß auf den Asphalt setzen, da wäre sie um ein Haar über Demeter gestolpert, der im ganzen Viertel bekannt war für seine Saufereien und oftmals blutig endenden Raufereien. Seine zwei Kompagnons, die genauso betrunken waren wie er, grölten, sie hätten einen fünfzackigen Stern über dem Haus gesehen. Die Trunkenbolde lagen in einem wüsten Durcheinander von Armen und Beinen in der Gosse, die alles Schmutzwasser der Stadt führte. Das schien sie nicht im Geringsten zu stören, und Demeter stimmte sogar lautstark ein altes Weihnachtslied an: »Oh du, mein holder Abendstern.« Maya würdigte die drei keines Blickes. Mit Tränen in den Augen setzte sie ihren Weg fort.

Wie wäre es wohl ohne Pompette weitergegangen, die Hündin von Madame Ballandra, ein hochnäsiges und verwöhntes kleines Biest, das regelmäßig verrückt spielte? An diesem Abend drehte sie völlig durch. Kaum war Maya weg, schnappte sie nach dem Kleid ihrer Herrin und zerrte sie zum Schuppen. Die Tür stand sperrangelweit offen, und Madame Ballandra wurde Zeugin einer vollkommen unerwarteten, ja biblischen Szene.

Im Stroh lag ein Neugeborenes zwischen den Hufen des Esels, der es mit seinem Atem wärmte. Und das an einem Ostersonntagabend! Madame Ballandra faltete die Hände, flüsterte: »Ein Wunder! Mit einem solchen Geschenk Gottes hätte ich nicht gerechnet. Ich will dir den Namen Pascal geben.«

Der Kleine war sehr hübsch, hatte einen braunen Teint, die glatten, schwarzen Haare eines Chinesen und einen zarten, wohlgeformten Mund. Sie drückte ihn an sich, und er öffnete die Augen – graugrün wie das Meer, das die Insel umspülte.

Madame Ballandra ging durch den Garten zurück zum Haus. Jean-Pierre sah seine Frau auf sich zukommen, einen Neugeborenen im Arm und die aufgeregte Pompette auf den Fersen.

»Was sehe ich da?«, rief er. »Ein Kind, ein Kind! Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Ich kann es nicht erkennen.«

Das mochte erstaunlich klingen, aber nicht, wenn man wusste, dass Jean-Pierre Ballandra eine Menge Rum gekippt hatte und obendrein stark kurzsichtig war. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr trug er eine Brille, weil er den Ast eines Guavenbaums ins Auge bekommen hatte.

»Ein Junge«, sagte Eulalie streng, nahm die Hand ihres Gatten und zwang ihn, mit ihr niederzuknien. Gemeinsam sprachen sie ein Dankgebet, denn sie waren beide sehr gläubig.

2

Jean-Pierre und Eulalie Ballandra waren ein auffälliges Paar, er hatte afrikanische Wurzeln, ihre Haut war hell, weil sie von einer felsigen kleinen Insel kam, deren Bewohner behaupteten, unter ihren Vorfahren wären Wikinger. Was sich aber in ihren Herzen zutrug, war eine ganz andere Geschichte. Sie lebten schon viele Jahre zusammen und liebten sich immer noch heiß und innig. Deshalb hatte Jean-Pierre nie eine Nebenfrau gehabt, eine Sitte, die alle anderen Männer auf der Insel hochhielten. Seit Jahren teilte er das Bett immer nur mit ein und derselben Frau. Eulalie wiederum lebte nur für ihn. Trotz zahlreicher Besuche beim Gynäkologen waren die beiden kinderlos geblieben. In jungen Jahren hatte Eulalie eine Fehlgeburt nach der anderen erlitten, dann hatten sich die Wechseljahre ihrer schließlich erbarmt.

Geldsorgen kannten Jean-Pierre und Eulalie nicht. Mit den Einnahmen ihrer Gärtnerei, der sie den wenig originellen Namen »Garten Eden« gegeben hatten, kamen sie gut über die Runden. Jean-Pierre war ein wahrer Künstler, unter anderem hatte er eine neue Cayenne-Rose erschaffen. Das war eigentlich keine besondere Rose, aber Jean-Pierres Sorte fiel durch ihre samtigen Blütenblätter auf und vor allem durch den zarten, aber lang anhaltenden Duft. Deshalb war seine Cayenne-Rose bei verschiedenen Auftraggebern beliebt: bei der Sozialversicherung, der Arbeitsagentur, den Tafeln. Jean-Pierre hatte seiner Sorte den Namen Elizabeth-Taylor-Rose gegeben, weil er in seiner Jugend, als er arbeitslos war und viel Zeit totzuschlagen hatte, gern ins Kino gegangen war, vor allem in amerikanische Filme. Er hatte seine Lieblingsschauspielerin in Kleopatra bewundert und die von ihm erschaffene Rose nach ihr benannt.

Pascals Ankunft in der Familie war ein Ereignis. Zwei Tage später zog Eulalie durch die Geschäfte und kaufte den größten Kinderwagen, den sie finden konnte. Sie polsterte ihn mit blauen Samtkissen aus, um den Säugling bequem darauf zu betten. Jeden Nachmittag um halb fünf brach sie in Richtung Place des Martyrs auf. Der Platz lag wie ein aus der barocken Architektur der Stadt ausgeschnittenes Fenster direkt am Meer.

Eulalie sog die Seeluft tief ein, ließ sich vom Graugrün des Wassers berauschen, das dieselbe Farbe hatte wie Pascals Augen und bis zum Horizont von Gischt gekrönt war. Sie hatte sich immer vor der See gefürchtet, dieser prachtvollen Hündin, die das ganze Land bewachte. Doch weil die Augen ihres Sohnes dieselbe Farbe hatten, stimmte sie dies nun versöhnlicher. Eulalie blieb lange Zeit stehen und schaute aufs Wasser und dankte ihm für seine Anwesenheit; dann lenkte sie ihre Schritte zum Platz.

Der Place des Martyrs, das lebendige Herz von Fond-Zombi, war von schönen Sandbüchsenbäumen gesäumt, die Victor Hugues gepflanzt hatte, als er auf Befehl von Napoleon Bonaparte die Sklaverei wieder einführte. Eulalie ging durch die gedrängt vollen Alleen und umrundete mehrmals den Platz, ehe sie sich schließlich unweit des Musikpavillons niederließ, wo das Stadtorchester dreimal die Woche beliebte Schlager zum Besten gab. Jedes Mal wurde das Baby von allen in ihrer Nähe bewundert, und Eulalies Herz strömte über vor Freude und Stolz.

Was für ein Getümmel! Jugendliche beiderlei Geschlechts, die die Schule schwänzten, oberlehrerhafte Arbeitslose, die Reden schwangen, Hausmädchen in vollem Ornat, die ihre Brut bewachten – von sabbernden und an ihren Fläschchen nuckelnden Babys bis hin zu kleinen Wildfängen, die überall herumwuselten.

Bewundernd kamen sie alle zu Eulalies Kinderwagen. Ihre Neugier hatte mehrere Gründe. Zum einen war Pascal auffällig schön. Unmöglich zu sagen, welcher Rasse er angehörte. Aber ich gebe es ja zu, das Wort Rasse ist veraltet, ersetzen wir es also schnell durch ein anderes. Abstammung zum Beispiel. Unmöglich zu sagen, welcher Abstammung er war. War er weiß? Schwarz? Asiatisch? Hatten seine Vorfahren in Europa Industriestädte hochgezogen? Kamen sie aus der afrikanischen Savanne? Oder aus einem Land von Schnee und Eis? All deren Eigenschaften vereinte er in sich. Doch nicht nur seine Schönheit weckte die allgemeine Neugier, sondern auch ein hartnäckiges Gerücht, das immer größere Kreise zog. Eine übernatürliche Geschichte. Der Herrgott selbst, hieß es, habe Eulalie, die sich seit Jahren bei Bußübungen die Knie wund scheuerte, einen Sohn geschickt, und zwar genau am Ostersonntag. Nein, das konnte kein Zufall sein, es war ein ganz besonderes Geschenk. Vielleicht hatte Gott der Vater ja zwei Söhne, und den Jüngeren hatte er zu ihr geschickt? Ein kleiner métis*, was für ein hübscher Gedanke!

Das Gerücht verbreitete sich nach und nach in Fond-Zombi und darüber hinaus. Die Leute in den Strohhütten sprachen darüber und die in den vornehmen, schicken Häusern. Als die Geschichte Eulalie zu Ohren kam, nahm sie sie ohne große Gegenwehr hin. Allein Jean-Pierre widersetzte sich standhaft, er hielt sie für blasphemisch.

3

Als Pascal vier Wochen alt war, beschloss seine Mutter, ihn taufen zu lassen. An einem schönen Sonntag verließ Bischof Altmayer seinen Sitz in der Don-Bosco-Stiftung, während alle Kirchenglocken läuteten, und die Waisenkinder, die in seiner Obhut standen, blieben allein zurück. Eulalie hatte den Säugling in weißes Leinen gekleidet, er trug ein zartes Flügelhemd mit einer gesmokten Hemdbrust. Seine kleinen Füße strampelten in Strickschühchen aus feinem Gold- und Silbergarn. Das Käppchen auf seinem Kopf schmeichelte seinem Engelsgesicht. Pascals Taufe wurde mit demselben Pomp gefeiert wie eine Hochzeit oder ein Festmahl. Dreihundert geladene Gäste, ganz in Weiß gekleidete Kinder vom Religionsunterricht, die Fähnchen in den Farben der Jungfrau Maria schwenkten. Männer und Frauen im Sonntagsstaat.

Kurz nach dem Eis in verschiedenen Sorten, das es zum Dessert gab, tauchte ein Unbekannter auf. Wer seine Anwesenheit bemerkte, staunte über seine Erscheinung. Er war in einen altmodisch geschnittenen, gestreiften Anzug aus Drillich gekleidet und hatte eine Halskrause um anstelle einer Krawatte. Dazu trug er Stiefel aus Lackleder mit großen Stulpen, die an Alexandre Dumas’ drei Musketiere erinnerten. Am seltsamsten jedoch war die unnatürlich wirkende Last, die sich in seinem Rücken verbarg: ein Buckel? Sein Kinnbart war von grauen Fäden durchzogen.

Er steuerte geradewegs auf Eulalie zu, die kokett einen Champagnerkelch in der Hand hielt. »Gegrüßet seist du, Eulalie voll der Gnade«, sagte er, »ich bringe eine Gabe für das Kind Pascal.«

Bei diesen Worten überreichte er ihr das Päckchen, das er behutsam in den Händen hielt. Es war ein Tontopf mit einer Rose darin, einer Rose, wie sie Eulalie, die Gärtnersfrau, noch nie gesehen hatte. Ihre Farbe, ein helles Braun wie bei einer câpresse*, war sehr ungewöhnlich, und die gewellten Blütenblätter um den zarten schwefelgelben Stempel sahen aus, als wären sie aus Samt.

»Was für eine hübsche Rose«, rief Eulalie, »und was für eine außergewöhnliche Farbe!«

»Es ist eine ›Tété Négresse‹«, erklärte der Neuankömmling, »sie soll das Hohelied vergessen machen. Denken Sie an die empörenden Worte: Ich bin schwarz, aber gar lieblich. Solche Worte sollen nie mehr ausgesprochen werden.«

Eulalie verstand nicht, worauf er hinauswollte. »Wieso nicht?«, fragte sie erstaunt.

Schweigen war die Antwort, der Mann hatte sich in Luft aufgelöst. Sie fand sich allein wieder, das Geschenk in der Hand, und glaubte, geträumt zu haben.

Verwirrt eilte sie zu Jean-Pierre, der ganz in der Nähe inmitten von Gästen stand, lachte und Champagner trank. Sie erzählte ihm die merkwürdige Begebenheit.

Er zuckte die Schultern. »Mach dir nichts draus«, sagte er, »das waren sicher nur die Schmeicheleien eines Verehrers, der es bei schönen Worten belassen hat. Ich habe eine gute Verwendung für sein Geschenk.«

Er hielt Wort: Bald gab es im »Garten Eden« zwei Wunder, die Cayenne-Rose und die Tété Négresse.

Als Pascal vier wurde, beschloss seine Mutter, ihn in die Schule zu schicken. Nicht etwa, weil sie es leid war, ihn jedes Mal abzuknutschen, wenn er vorbeikam, oder ihm zuzusehen, wie er durch die Gegend rannte, mit der Hündin Pompette herumstrolchte, in die Gärtnerei hereinschneite. Aber Bildung ist nun mal das höchste Gut. Je mehr Bildung, desto weiter bringt man es im Leben. Jean-Pierre und Eulalie bedauerten es sehr, dass sie ihnen verwehrt worden war.

Schon mit zwölf Jahren hatte Jean-Pierre bei einem Großgrundbesitzer Bananenstauden geschwefelt, während Eulalie, als sie in noch zarterem Alter war, neben ihrer Mutter gesessen und den Fisch verkauft hatte, den ihr Vater nach Hause brachte: blaue Katzenwelse, rosafarbene Mutton-Schnapper, Vivaneaux, Lippfische, Felsbarsche, Seehechte, Goldbrassen.

Kurz und gut, Pascal kam an die Schule der Schwestern Mara. Die Schwestern Mara waren Zwillinge, und alle kannten ihre Mutter, die Haushälterin des Pfarrers, weil sie jeden Karfreitag die Wundmale Christi an Händen und Füßen trug und das Bett hüten musste. Jeder wusste, dass Pater Robin, der lange Zeit Gemeindevorsteher gewesen war, ehe er sich auf seine alten Tage in ein Seniorenheim für Geistliche in der Nähe von Saint Malo zurückgezogen hatte, der Vater ihrer Töchter war. Zu jener Zeit sprach niemand schlecht über das Verhalten der Priester. Da gab es noch keine amerikanischen oder französischen Filme wie Spotlight oder Gelobt sei Gott. Alle wahrten Stillschweigen über solche Verstöße gegen die Gebote Gottes.

Die Schule der Schwestern Mara befand sich in einem vornehmen Gebäude in einem großen sandigen Hof, in dem die Schüler in der Pause tobten wie kleine Teufel. An seinem ersten Schultag trug Pascal eine blau-weiße Uniform und passende Söckchen. Den Schwestern war vollkommen klar, was für einen guten Fang sie da gemacht hatten, und sie hießen ihn überschwänglich willkommen. Doch bald mussten sie ihre Illusionen aufgeben.

Pascal war nicht der erhoffte Musterschüler. Im Unterricht träumte er vor sich hin, in den Pausen spielte er immer nur mit den Ärmsten der Armen. Oder er rannte in die Küche, wo zwei unterbezahlte Küchenkräfte das Schulessen kochten, und geizte nicht mit Lob und Liebkosungen. Sie verwöhnten ihn im Gegenzug mit Süßigkeiten. Wäre da nicht ihr gutes Verhältnis zu Eulalie gewesen, die Schwestern Mara hätten Pascal von der Schule geworfen.

Einen Tag nach seinem fünften Geburtstag nahm Eulalie Pascal zum Schuppen hinten im Garten mit, während Jean-Pierre ihnen, behäbig wie immer, mit schleppenden Schritten folgte. Der Schuppen war sehr ordentlich. Dünger und Unkrautvernichtungsmittel standen in einer Ecke, auf dem Boden lag weißer Kies.

Eulalie drehte sich zu Pascal um: »Ich muss dir etwas sagen: Ich liebe dich, das weißt du, aber ich habe dich nicht in meinem Bauch getragen.« Dann zeigte sie auf Jean-Pierre und fügte hinzu: »Und du bist auch nicht aus seinem Samen hervorgegangen.«

Pascal fiel aus allen Wolken. »Was heißt das?«, fragte er.

Er fand die Geschichte sehr ungewöhnlich. Die wenigsten Kinder hier kannten ihren Vater, aber alle wussten, wer ihre Mutter war. Es war die Frau, die sich schindete, sich kaputtmachte, um ihnen Kleidung kaufen und sie in die Schule schicken zu können.

»Was ich damit sagen will«, fuhr Eulalie fort, »ist, dass wir dich an einem Ostersonntag hier im Schuppen gefunden und dich als Sohn adoptiert haben.«

Mit tränenerstickter Stimme fragte Pascal: »Und wer sind meine richtigen Eltern?«

Da erzählte ihm Eulalie von dem Gerücht, er sei der Sohn Gottes.

Seltsamerweise kümmerte sich Pascal die ersten Jahre nicht um ihre Geschichte, genauso wenig wie um das Gerede der Leute. Er wusste, dass er in einem Land der mündlichen Überlieferung geboren war, wo Lügen mehr Macht hatten als die Wahrheit. Doch plötzlich und ohne jeden Grund änderte sich seine Einstellung, und es war ja auch spannender, der Sohn Gottes als der des Gärtners zu sein. Schließlich entwickelte es sich bei ihm zu einer Obsession.

Er blieb stehen und sah zum Himmel auf. Der hatte sich also erneut geöffnet und das Mysterium der Menschwerdung hatte sich ein zweites Mal ereignet. Aber diesmal hatte der Schöpfer achtgegeben. Er hatte seinen Sohn als métis geboren werden lassen, als Kind unterschiedlicher Abstammung, damit sich niemand für etwas Besseres hielt, wie es in der Vergangenheit geschehen war. Diesmal war der Schwachpunkt allerdings, dass der Schöpfer seinem Sprössling nicht erklärt hatte, was er eigentlich von ihm wollte. Was hatte er mit der von Anschlägen erschütterten und von Gewalt geprägten Welt vor?

Diese Frage trieb Pascal ohne Unterlass um, und das veränderte ihn. Phasen der Unruhe folgten auf lange Phasen der Stille. Er zerbrach sich den Kopf über seine Abstammung und ärgerte sich über Eulalies und Jean-Pierres erneutes Schweigen, als hätten sie dazu nichts weiter zu sagen.

Mit seinem Vater verstand sich Pascal besser als mit seiner Mutter, denn wie sie ihn erzog, mochte er nicht: vor allem nicht den Klavierunterricht bei Monsieur Démon, der von seiner Familie verstoßen worden war, weil er eine mulâtresse* geheiratet hatte. Außerdem warf Eulalie ihm vor, nicht genug zu lesen. Und seine Freunde trieben sie zur Weißglut, weil er die Gesellschaft anderer Kinder suchte, die ihren Vater gleichfalls nicht kannten.

4

Als Pascal sieben wurde, meldete ihn seine Mutter zum Religionsunterricht bei Pater Lebris an. Als Mann Gottes hätte der mit ihm über das immer lauter werdende Gerücht über seine Abstammung sprechen können. Bedauerlicherweise tat Pater Lebris nichts dergleichen. Stattdessen begnügte er sich damit, Pascal zu bevorzugen. An Christi Himmelfahrt setzte er ihn an die Spitze der Prozession, die von der Kathedrale zur Kirche von Massabielle hinaufging. Böse Zungen behaupteten, Pater Lebris fürchte, Eulalie zu enttäuschen, weil sie reich war und großzügig und nie ein wohltätiges Werk ausließ – eine Stütze für die Armen in der Gemeinde.

Mit achtzehn hatte Pascal das Abitur in der Tasche, aber kein sehr gutes, keines, zu dem man ihm ernsthaft gratuliert hätte, da er, ehrlich gesagt, nur ein mittelmäßiger Schüler war, ein Träumer. Er beschloss, einen Job zu suchen. Sein Weg war vorgezeichnet: Er brauchte nur eine Stelle im »Garten Eden« anzutreten. Leider mochte er aber weder Kübelpflanzen noch Blumen, nicht einmal die besonders schönen, wohlriechenden. Sein Traum war es, eine Krippe oder einen Kindergarten zu eröffnen. »Lasset die Kinder zu mir kommen«, von diesem Wort war er wie besessen – allerdings nicht, weil den Kindern das Reich Gottes gehörte, sondern weil sie jung und aufgeschlossen waren und sich nach einer friedlichen Welt sehnten. Doch er wagte nicht, Jean-Pierre, der Ausgaben scheute, davon zu erzählen. Also trat er am 1. April, dem Tag der Aprilscherze, seinen Dienst im »Garten Eden« an, in der Abteilung Sukkulenten: Aloe Vera, Echeveria, Bogenhanf, Pandanus, Weihnachtskaktus und Porzellanblume.

Damals veränderte sich sein Erscheinungsbild radikal. Aus dem kleinen Jungen mit dem Engelsgesicht und der rätselhaften Schönheit wurde ein Mann, den die Frauen gern in ihrem Bett gesehen hätten. Seine Baumwollhemden betonten die breite Brust. Sein Bauch war flach, und darunter verlängerte sich sein Penis derart, dass er kaum mehr in die niedliche Kinderunterwäsche von Petit Bateau passte, die Eulalie weiter für ihn kaufte. Die Veränderung war umso auffälliger, als sie sich auf sein Äußeres beschränkte. Pascal war immer noch verlegen, seine Stimme immer noch sanft, und manchmal lispelte er. Seine Augen waren unverändert groß und verträumt, als versuchte er die ganze Zeit, die rätselhafte Gleichung seines Lebens zu lösen.

Einige Zeit später ereignete sich etwas, das weitreichende Folgen haben sollte. In unseren Ländern sind die Menschen langsam und kleinmütig, übersehen Dinge, die ins Auge springen. Aus heiterem Himmel wurde Jean-Pierre, der auf die sechzig zuging und unter einer schweren Arthrose im rechten Knie litt, als außergewöhnlicher schöpferischer Geist entdeckt und sollte mit einer Medaille für herausragende künstlerische Leistungen ausgezeichnet werden. Die würde man ihm in Porte Océane, der zweitgrößten Stadt der Insel, übergeben.

Hatte er nicht zwei Blumen erschaffen, zwei Rosen, die Cayenne-Rose und die Tété Négresse, die unvergleichlich schön waren? Obwohl Kenia auf Blumenhandel spezialisiert war und sich etwas darauf zugutehielt, die schönsten Gärten der Welt zu besitzen, gingen bei Jean-Pierre Bestellungen aus den entlegensten Orten ein, aus Tripolis, Ankara und Istanbul. Eulalie wurde bei dieser Ehrung seltsamerweise übergangen. Dabei war allen bekannt, dass sie ab vier Uhr morgens auf den Beinen war und die Blumen zu Sträußen, Kränzen und Gestecken band. Sie war diejenige, die die passenden Verpackungen wählte und vor allem die Geschenkschleifen mit dem meisten Geschick band. Aber sie war eine Frau. Und als solche konnte sie ja nur die Gehilfin des Genies sein. Jean-Pierre stellte die Auszeichnung nicht infrage, sondern nahm sie dankbar an.

Für die Fahrt nach Porte Océane mietete er sich einen Wagen, den neuesten Mercedes. Es war ein weiter Weg von Fond-Zombi nach Porte Océane. Zu Anfang führte die Straße am Meer entlang, das wie ein mit Sternen gesprenkelter Samtteppich vor ihnen lag, dann ging es durch dichte Wälder, die den Blick auf den Horizont versperrten.

Pascal saß auf dem Beifahrersitz neben seinem Vater und sog die Landschaft in sich auf. Immer wenn er das Meer sah, betrübte es ihn, weil er nur selten ins Wasser ging, obwohl er sich am liebsten jeden Tag darin verloren hätte. Jean-Pierre und Eulalie waren zu alt zum Schwimmen, sie gingen kaum mehr ans Meer, nur am Ostermontag, wo sie traditionell Calalou de crabes, ein Gericht aus Krevetten und Spinat, am Strand aßen.

Porte Océane lag am Ende einer geschützten Bucht, in der früher zahlreiche Sklavenschiffe mit ihrer traurigen Fracht vor Anker gegangen waren. Heute hatten Kreuzfahrtschiffe sie ersetzt. Ab zehn Uhr morgens ergossen sich Touristen jeder Hautfarbe und jeder Herkunft – Chinesen, Japaner, Franzosen, Deutsche, Amerikaner – in die Straßen, auf die Plätze und Märkte. Es war ein großes Durcheinander von Sprachen und Farben, wenn sie um die lokalen Schätze feilschten.

Jean-Pierre sollte die Medaille in einem Palais bekommen, dem »Rialto«, einem Traum, einem Irrsinn, der 1943 von Massimo Coppini errichtet worden war, einem italienischen Milliardär. Coppini war ein großer Freund des Duce gewesen, hatte aber eindeutig einen besseren Riecher gehabt als Benito Mussolini, denn er war – samt seinem beachtlichen Vermögen – vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs aus Italien geflohen.

Das »Rialto« bestand aus einer Flucht von Salons, einer prachtvoller als der andere, in denen Gemälde der besten Künstler der Region hingen. Ein Bild von Nelson Amandras, einem venezolanischen Künstler, und die »Imaginäre Stadt« des Haitianers Préfète Duffaut stachen besonders heraus. Bekanntlich ist ja kein Mensch nur gut oder nur böse, und so war Massimo Coppini also zwar ein Antisemit, aber auch ein freigiebiger Mann, und er stellte immer wieder seine Güte unter Beweis. Er hatte zum Beispiel einige Krippen mit dem Namen »Der Milchtropfen« gegründet, in denen alleinstehende Mütter mit ihren Babys kostenlos wohnen konnten.

Nachdem Jean-Pierre, Eulalie und Pascal den großen gefliesten Hof, den ganzen Stolz des »Rialto«, durchquert hatten, standen sie zu ihrer Überraschung vor einer Einlasskontrolle. Männer in schwarzen Shirts, in Weiß mit dem Slogan »Gleichheit für alle« bedruckt, nahmen streng die Einladungen unter die Lupe. Den Pechvögeln, die keine hatten, knöpften sie umgehend zehn Euro ab. Das schockierte Pascal derart, dass er seine Eltern nicht ins Palais hineinbegleiten und sich dort zu den Gästen und ihrem hohlen Gerede gesellen wollte.

Er erblickte einen Gleichaltrigen, einen dünnen jungen Mann in einem viel zu weiten, ausgeblichenen Karohemd und einer knallengen, zerschlissenen Jeans. Sein wirres Haar fiel ihm bis auf die Schultern.

»Was ist hier los?«, fragte ihn Pascal. »Warum knöpfen sie den Leuten Eintritt ab? Warum machen sie das »Rialto« zu einer Räuberhöhle?«

Der Junge ließ sich nicht beirren: »Räuber? Den Namen haben sie nicht verdient. Das sind Arbeiter von ›Le Bon Kaffé‹, unserem staatseigenen Betrieb.«

»›Le Bon Kaffé‹?«, wiederholte Pascal verständnislos.

Der junge Mann griff sich vielsagend an die Stirn und sagte spöttisch: »Na, da ist ja einer gut informiert! Die Armen ziehen seit Wochen durchs ganze Land, wenn sie nicht gerade von der Polizei verprügelt und ins Gefängnis gesteckt werden. Und da fragst du noch, wer die Arbeiter von ›Le Bon Kaffé‹ sind?«

Jetzt dämmerte es Pascal, tatsächlich hatte er im Fernsehen Reportagen über den Arbeiteraufstand gesehen, aber nicht weiter darauf geachtet.

»Reg dich ab«, sagte er, »gehen wir was trinken, ich lade dich ein.«

Aber egal wie lange die beiden durch die größeren und kleineren Straßen zogen, überall hatten die Händler ihre metallenen Rollläden heruntergelassen. Schließlich fanden sie eine Bar in einer kleinen Gasse, die steil über dem Meer entlangführte. Es sah aus, als brauchte man nur die Arme auszubreiten und einen Kopfsprung zu machen, um in den Wellen unterzutauchen.

Der schmächtige Junge stellte sich vor: »Ich heiße José Dampierre. Mein Vater, Nelson Bouchara, ist der reichste Syrer auf dieser verdammten Insel. Als er hier ankam, besaß er nichts als das Hemd an seinem Leib. Heute schwimmt er im Geld. Aber wir haben nie was davon zu Gesicht bekommen. Er hat meiner Mutter ein Kind nach dem anderen gemacht, weiter nichts. Vier Jungen, und der Jüngste, Alexandre, ist auch noch stumm. Hast du gehört? Stumm ist er, taubstumm!«

Pascal hielt ihm schweigend seine Zigarettenschachtel hin.

»Lucky Strike, echte Lucky Strike!«, rief José. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nie eine amerikanische Zigarette geraucht.«

5

Bald waren die beiden unzertrennlich. José hatte es irgendwann nicht mehr ausgehalten, seine Mutter im Schmutzwasser knien und die Böden der Gutbetuchten schrubben zu sehen, während der reichste Syrer der Insel ihr ein Kind nach dem anderen machte, also hatte er mit siebzehn Jahren die Tür des Elendsquartiers der Familie hinter sich zugeknallt. Er hatte Fond-Zombi verlassen und war nach Bois Jolan gezogen, zu seinem Patenonkel, einem Halbbruder seiner Mutter, der bald darauf kinderlos starb.

Bois Jolan war einer der ärmsten Orte der Insel. Man konnte sich kaum etwas Hässlicheres vorstellen als seine windschiefen alten Hütten. Aber es war auch das Reich der See. Wenn sie guter Laune war, leckte sie sanft, sehr sanft am glitzernden Sand. Wenn sie wütend war, schleuderte sie ihre Wellen und grollte mit zorniger Stimme. Nachts beruhigte sie sich wieder und murmelte mit unnachahmlich kehligen Lauten.

Als José Fond-Zombi verließ, nahm er Alexandre mit, seinen jüngsten Bruder, denn seine Mutter konnte nicht einmal den kleinen Beitrag für das Mortimer-Institut aufbringen. Alexandre war zehn Jahre alt, mädchenhaft hübsch und zart. Er konnte zwar nicht sprechen, aber dafür lachte er die ganze Zeit. Nur worüber? Bestimmt über Hirngespinste, über wirres Zeug, das ihm durch den Kopf ging. Von morgens bis abends gurrte er wie eine Taube, stieß mehr oder weniger schrille, aber immer wohlklingende Laute aus. José liebte ihn über alles, und Pascal ging es bald genauso.

Er fühlte sich sofort wohl in Bois Jolan, das so anders war als alles, was er bisher kennengelernt hatte: Männer, die im Sand saßen, ihre Netze flickten und dabei Witze rissen, die selbst Tote zum Lachen gebracht hätten; Hausfrauen, die mit Bantu-Knoten im Haar herumschlurften; der Geruch nach Räuchersalz für die Fische. Schließlich zog Pascal dauerhaft zu José, doch seltsamerweise kam er nicht auf die Idee, ihm von seiner Abstammung zu erzählen oder ihm zu sagen, wer angeblich sein Vater war.

In der Nacht, in der er sich entschied, bei José zu leben, hatte er einen Traum: Ein Mann, dessen Gesicht er nicht erkennen konnte, flüsterte ihm mit starkem, vielleicht spanischem Akzent zu: »In Zukunft sollst du ein Menschenfischer sein.« Schaudernd erwachte er im Stockdunkeln. Ein Menschenfischer, was war das? Menschen sind doch keine Goldfische und auch keine hübsch blau gestreiften Fische, die man sich im Aquarium ansieht. Sie lassen sich nicht so leicht manipulieren, sind widerspenstig, jeder will seinen eigenen Willen durchsetzen.

José und Alexandre behandelten Pascal nicht wie einen Messias, sondern wie ihren heiß geliebten großen Bruder. Jeden Tag ließen die beiden Älteren Alexandre schlafend auf dem Haufen Lumpen zurück, der ihm als Bett diente, stiegen an Bord ihres Bootes und segelten in aller Frühe zum Fischen los. Es war wie am ersten Tag der Schöpfung. Überall dasselbe milchige Weiß. Kein Laut zu hören, nur das Murmeln derer, die zur Aufstehzeit in die Gänge kamen und ihren ersten Beschäftigungen nachgingen. Nur um eine Sache tat es Pascal leid: seine geringe Ausbeute. Sie genügte kaum, um den Boden des Bootes zu bedecken.

Das wollte er ändern und kam auf eine Idee: »Lass uns doch unsere Körbe beim Inselchen Bornéo auslegen. Dort könnten wir vielleicht mehr fangen, meinst du nicht?«, schlug er immer wieder vor.

José schüttelte den Kopf. »Auf Bornéo wächst nichts, kein Baum und kein Strauch, da gibt es nur Sand und ein paar Kakteen. Wenn wir unsere Körbe da auslegen, sind wir innerhalb kürzester Zeit verbrannt wie Fackeln.«

Eines Tages ließ sich José jedoch überraschend umstimmen. Auf den ersten Blick schien es, als wäre seine Ablehnung gerechtfertigt gewesen. Auf dem steinigen Boden des sonnenverbrannten Inselchens standen nur kümmerliche Kakteen und ein paar klapprige Hütten, in denen die Fischer früher ihren Fang getrocknet und geräuchert hatten. Aber als sie am nächsten Tag ihre Reusen holten, übertraf die Ausbeute ihre Erwartungen bei Weitem: In den Körben wimmelte es von Schleien, Trughechten, Lippfischen, Stachelmakrelen, Schnappern, Goldbrassen, Zackenbarschen und sogar kleinen Weißen Haien. Das Boot war so schwer beladen, dass sie es kaum steuern konnten und viele Stunden brauchten, um nach Bois Jolan zurückzukehren.

So viele Fische, so viele! Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und alle stürmten ans Meer.

Diese Aufregung ist nur zu verstehen, wenn man weiß, dass der Fisch hier früher König war, bevor die japanischen und chinesischen Boote ihr mörderisches Werk verrichteten. Manch einer erinnerte sich noch an die gute alte Zeit, als kein einziger Fisch unter Artenschutz gestanden hatte. Alles durfte gegessen werden. Überall machten sich Restaurants mit Eintöpfen und Spießen mit Fisch aus Bois Jolan einen Namen, und in allen Küchen duftete es nach würziger Court-bouillon vom Fisch mit oder ohne Bondamanjak-Chili. Auf ihrer Tafelwaage wogen die Fischer kiloweise Fleisch von Grünen Meeresschildkröten und Scheiben von Thunfisch, dessen Blut dem der Menschen ähnelt. Geschickt durchbohrten sie das Gehäuse der Großen Fechterschnecke und entnahmen das Fleisch. Auch das Entwirren der langen, mit Saugnäpfen behafteten Krakenarme war nicht vergessen worden.

Jener Fischzug war der erste von Pascals »wundersamen Fischzügen«, wie man sie im ganzen Land nannte. Ihretwegen brachen heftige Auseinandersetzungen aus, Raufereien, Schlägereien. Die hätten sogar in einen regelrechten Tumult umschlagen können, wenn nicht der Bürgermeister von Bois Jolan, Norbert Pacheco, eingegriffen hätte.

Ein seltsamer Knabe, dieser Norbert Pacheco, der neben seinem Amt als Bürgermeister auch einen wichtigen Posten in der Geschäftsführung von »Le Bon Kaffé« innehatte. Als die Arbeiter zu Protestmärschen und Demos im ganzen Land aufgerufen hatten, war er derjenige, der Polizeistaffeln auf sie hetzte, sie verprügeln und ins Gefängnis werfen ließ.

»Le Bon Kaffé« beschäftigte drei Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung der Insel. In den Tourismusbroschüren des staatlichen Betriebs wurde mit sozialen Errungenschaften geprahlt. Für einen kleinen Obolus würde man den Mitarbeitern großzügige Wohnungen in den Betonhochhäusern zur Verfügung stellen, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen. »Le Bon Kaffé« hätte auch drei weiterführende Schulen, auf die alle unbedingt ihre Kinder schicken wollten. Die Schüler bekämen dort schicke gestreifte Uniformen und einen Panamahut direkt aus Lateinamerika.

In Wirklichkeit sah es ganz anders aus. Die Arbeiter klagten über Ausbeutung und Hungerlöhne, das war der Grund für ihre Unzufriedenheit.

Bei den ersten Massenaufläufen am Strand von Bois Jolan griff Norbert Pacheco auf seine alte Gewohnheit zurück. Er schickte Polizeistaffeln, die die Käufer zwangen, sich kommentarlos und brav in die Schlange zu stellen. Das war künftig der Preis, damit wieder Ruhe einkehrte.

6

Nach dem vierten wundersamen Fischzug vertraute Pascal José seine vermeintlich göttliche Abstammung an. Der hörte ihm erst zu, dann unterbrach er ihn lachend: »Das weiß ich doch längst. Soll wohl ein Scherz sein, oder glaubst du im Ernst daran?«

Pascal wusste nicht, was er sagen sollte, und räumte nach einer Weile ein: »Keine Ahnung. Ich würde gern herausfinden, was es mit dieser Geschichte auf sich hat, die sich die Leute erzählen.«

Damit war das Thema für die beiden Freunde erledigt.

Die Monate verstrichen, und ein unerwarteter Besuch ließ sich blicken, es war Jean-Pierre. Zu diesem Zeitpunkt war Pascal allein, weil José seinen kleinen Bruder zum Institut Mortimer brachte. Vater und Sohn hatten sich über ein Jahr nicht gesehen. Feige hatte Pascal seine Eltern lediglich per Brief wissen lassen, dass er nicht mehr in den »Garten Eden« zurückkehren und endgültig nach Bois Jolan ziehen würde. Eigentlich hätte er ihnen schreiben wollen, dass er nicht ihr leiblicher Sohn war und die ganze Zeit versuchte herauszufinden, was es mit dem göttlichen Auftrag auf sich hatte, den manche ihm zuschrieben. Stattdessen hatte er es bei wirren, gekünstelten Argumenten belassen, die seine Zweifel und Schuldgefühle verrieten. Er sei fast zwanzig, schrieb er, und könne wunderbar allein über seine Zukunft entscheiden. Im Übrigen wüssten sie ja, dass er das bourgeoise Leben, das sie ihm aufgezwungen hatten, dessen Arroganz und egoistische Gleichgültigkeit allem gegenüber, was sie nicht unmittelbar selbst betraf, nie gemocht hatte.

Die Wahrheit war eine andere. Wie die Psychologen nach Herzenslust wiederholen, machen alle Adoptivkinder diese Phase durch. Die Fürsorge der Adoptiveltern wird kleingeredet, und das Adoptivkind entwickelt eine Obsession mit seiner wahren Abstammung. Nie würde Pascal seine leibliche Mutter in die Arme schließen können, nie würde er ihre Zärtlichkeit kennen, nie wissen, wie ihre Haut duftete. Manchmal ging er auf der Straße einer Wildfremden nach, ganz im Bann ihrer mütterlichen Ausstrahlung. Sein Leben spielte sich zwischen diesen zwei Polen ab, auf die er keinen Zugriff hatte: dem Wissen, wo er herkam, und dem, wo er hinging.

Jean-Pierre hatte seinen Pick-up vor Josés Hütte geparkt und war mühsam ausgestiegen. Bedrückt sah Pascal ihn näher kommen. Er hätte nie gedacht, dass sein Vater in so kurzer Zeit so stark altern würde. Jean-Pierre war glatzköpfig und dickbäuchig geworden, und vor allem konnte er sich kaum mehr bewegen, er kam nur mit Mühe voran und musste immer wieder Verschnaufpausen einlegen. Die beiden umarmten sich.

»Was ist mit dir? Was hast du?«, fragte Pascal beunruhigt.

»Arthrose, sagen die Ärzte«, beschwichtigte Jean-Pierre, »nichts Besonderes, das gibt es oft in meinem Alter, aber angenehm ist es nicht.« Schwer atmend, ließ er sich auf einen Stuhl fallen und erklärte: »Es sind meine Beine, ich frage mich, wie lange sie mich überhaupt noch tragen.«

Pascal krempelte die graue Stoffhose seines Vaters hoch und sah darunter gerötete und geschwollene Gliedmaßen, schuppige, fast durchscheinende und mit dunklen Flecken übersäte Haut. Er massierte ihm vorsichtig die Beine und befahl nach einer Weile: »Steh auf und geh.«

Sofort stand Jean-Pierre auf, machte ein paar Schritte und sagte erstaunt: »Hast du heilende Hände? Es tut schon viel weniger weh.«