Das ungeschminkte Leben - Maryse Condé - E-Book

Das ungeschminkte Leben E-Book

Maryse Condé

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Beschreibung

Ein Leben fernab der üblichen Pfade

»Ich blickte hinauf zum sternenübersäten Himmel und wünschte mir leidenschaftlich ein neues Leben.«

Maryse Condé wird als jüngstes von acht Kindern auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe geboren und gilt heute als »Weltbürgerin und Grande Dame der frankophonen Literatur« (BR 2). In ihrer Autobiographie lässt sie ihre frühen Lebensjahre wiederaufleben. Die Zeit als junge Studentin im Paris der 1950er-Jahre, als alleinerziehende, mittellose Mutter, die wagemutig nach Westafrika geht und als Lehrerin miterlebt, wie der Kontinent von politischen Auseinandersetzungen erschüttert wird.

Mit entwaffnender Offenheit schildert Maryse Condé ein Leben fernab der üblichen Pfade und zeichnet das Bild einer unerschrockenen Frau, die die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche ihrer Zeit erkannte und sich »nie scheute, gegen den Strom zu schwimmen« (Neue Zürcher Zeitung).

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Seitenzahl: 311

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Zum Buch

Der Lebensrückblick einer der großartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Ausgezeichnet mit dem Alternativen Literaturnobelpreis.

Sie wird als jüngstes von acht Kindern auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe geboren und 2018 mit dem Alternativen Literaturnobelpreis ausgezeichnet: Maryse Condé, die »Weltbürgerin und Grande Dame der frankophonen Literatur« (BR 2). In ihrer Autobiographie lässt sie ihre frühen Lebensjahre wiederaufleben. Die Zeit als junge Studentin in Paris, als Mutter von vier Kindern, als Lehrerin in Westafrika zu einer Zeit, als der Kontinent von politischen Auseinandersetzungen erschüttert wird. Offen und ohne Beschönigungen schildert sie ihren unkonventionellen Lebensweg und zeichnet das Bild einer unerschrockenen Frau, die ihren Traum vom Schreiben nicht aus den Augen verliert. Die Lebenserinnerungen einer selbstbewussten Frau und einer der großartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit.

Zur Autorin

Maryse Condé wurde 1937 in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe geboren, als jüngstes von acht Kindern. Sie studierte in Paris und lehrte unter anderem in Ghana, im Senegal, in Frankreich und in den USA. Bis 2002 war sie Professorin für französische Sprache und Literatur an der Columbia University in New York. Bekannt wurde sie vor allem durch die Familiensaga »Segu«, in der sie die Geschichte der westafrikanischen Familie Traoré erzählt. Maryse Condé wurde u. a. mit dem Prix de l’Académie Française, dem Prix Marguerite Yourcenar sowie 2018 mit dem Alternativen Literaturnobelpreis ausgezeichnet. 2020 wurde ihr in Frankreich der nationale Verdienstorden verliehen.

Maryse Condé

Das ungeschminkte Leben

Autobiographie

Aus dem Französischenvon Beate Thill

Luchterhand

Die französische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

»La vie sans fards« bei Éditions Jean-Claude Lattès, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2012 Éditions Jean-Claude Lattès, Paris

Copyright © der deutschen Ausgabe 2020 Luchterhand Literaturverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

nach einem Entwurf von Éditions Jean-Claude Lattès

Covermotiv: © Maryse Condé Privatarchiv (U1),

© unsplash (Palmen U1), Bridgeman Images (U4)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-24982-3V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

Für Hazel Joan Rowley, die die Tür so hinter sich zugeschlagen hat, dass wir noch immer erschüttert sind.

»Leben oder schreiben – für eins muss man sich entscheiden.«

Jean-Paul Sartre

Warum endet der Versuch, von sich zu erzählen, jedes Mal in einem Gewirr von Unwahrheiten? Woher kommt es, dass Autobiographien oder Memoiren häufig zu einem Phantasiegebilde werden, in dem die schlichte Wahrheit verblasst und dann verschwindet? Warum ist der Mensch bestrebt, sich ein Leben auszumalen, fern von dem, was er wirklich erlebt hat? Da lese ich zum Beispiel in Verlagsbroschüren Dinge, die ich selbst so weitergegeben habe: »1958 heiratete sie Mamadou Condé, einen guineischen Schauspieler, den sie am Odéon-Theater in Jean Genets Die Neger in der Inszenierung von Roger Blin gesehen hatte. Danach ging sie mit ihrem Mann nach Guinea, dem einzigen afrikanischen Land, das bei de Gaulles Referendum zur frankophonen Gemeinschaft mit Nein gestimmt hatte.«

Diese Sätze vermitteln ein verführerisches Bild. Das Bild einer Liebe, die vom gemeinsamen Kampf verklärt wird. Sie enthalten aber gleich mehrere Unwahrheiten. Ich habe Condé nie in Die Neger gesehen. Als ich mit ihm in Paris lebte, trat er nur in zwielichtigen Theatern »mit Negereien« auf, wie er das selbst spöttisch nannte. Den Archibald aus besagtem Stück spielte er am Odéon-Theater erst im Jahr 1959, als wir gerade zum ersten Mal in Trennung lebten, nachdem unsere Ehe alles andere als ein Erfolg war. Ich unterrichtete zu jener Zeit in Bingerville an der Elfenbeinküste, wo auch unsere erste Tochter Sylvie-Anne geboren wurde.

In Anlehnung an die Bekenntnisse von Jean-Jacques Rousseau erkläre ich daher:

»Ich will der Welt eine Frau in ihrer ganzen Naturwahrheit zeigen, und diese Frau werde ich sein.«

In gewisser Weise hatte ich immer eine Leidenschaft für die Wahrheit, mit der ich mir privat wie in der Öffentlichkeit häufig geschadet habe. In meinem Erinnerungsband Le Cœur à rire et à pleurer, Contes vrais de mon enfance1 berichte ich davon, wie meine »Berufung zur Schriftstellerin« entstanden sein soll, falls man überhaupt davon sprechen kann. Ich muss ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein. Es war angeblich an einem 28. April, dem Geburtstag meiner Mutter, die ich anbetete, wobei mich ihr äußerst eigenes, kompliziertes und unberechenbares Wesen häufig verunsicherte. Ich soll einen kleinen Aufsatz ausgearbeitet haben, halb Gedicht und halb Sketch, in dem ich die vielen Facetten ihrer Persönlichkeit darzustellen versuchte, denn mal war sie zärtlich und heiter wie eine Meeresbrise, dann wieder voll Spott und beißender Kritik. Meine Mutter hat angeblich wortlos zugehört, während ich vor ihr in einem blauen Kleid umherstolzierte, und mich dann, zu meiner Verblüffung, mit tränenerfüllten Augen angeblickt und geflüstert: »So siehst du mich?«

Das Machtgefühl, das ich in diesem Moment empfand, habe ich dann in einem Buch nach dem anderen immer wieder gesucht.

Die später daraus entstandene Anekdote scheint mir gut die unfreiwilligen (?) Beschönigungsversuche zu illustrieren, die ich kritisiere. Ich hätte gerne viel öfter meine Leser schockiert. Doch leider wurden solche Pfeile in meinen Texten oft nicht erkannt. Etwa in meinem Roman, En attendant la montée des eaux2. Da schrieb ich im Jahr 2010: »Ist ein Terrorist nicht einfach ein Mensch, der sich von seinem Land, vom Reichtum, vom Glück ausgeschlossen fühlt, und sich auf eine verzweifelte, vielleicht abstoßende Weise Gehör verschaffen will?«

Ich hoffte, dieser Satz würde in unserer hochsensiblen Zeit vielerlei Reaktionen hervorrufen. Aber nur Didier Jacob hat mich in einem Interview für den Nouvel Observateur darauf angesprochen.

Um die Berufung zum Schriftsteller zu begründen, reicht allerdings der Wunsch zu schockieren nicht aus. Mich überfiel die Leidenschaft des Schreibens, fast ohne dass ich es merkte. Ich will sie nicht als etwas Unangenehmes und Mysteriöses darstellen, schließlich hat sie mir die höchsten Freuden bereitet. Sie ist für mich eher ein leicht beängstigender Drang, dessen Ursprung ich nie ganz ergründen konnte. Man darf nicht vergessen, dass ich in einem Land geboren wurde, wo es zu jener Zeit kein Museum, keinen für Theateraufführungen geeigneten Saal gab, wo die einzigen Schriftsteller uns in den Schulbüchern begegneten und aus einer fernen Welt stammten.

Ich war keine frühreife Schreiberin, die mit sechzehn Geniales zu Papier brachte. Mein erster Roman erschien, als ich zweiundvierzig war, wenn andere allmählich Papier und Radiergummis wegräumen. Er hatte im Übrigen nicht viel Erfolg, aber das nahm ich gelassen hin. Meine literarische Karriere begann vor allem deshalb so spät, weil ich derart mit meinem unglücklichen Leben beschäftigt war, dass mir für nichts anderes Zeit blieb. Tatsächlich begann ich erst mit dem Schreiben, als meine eigenen Probleme ein Ende hatten, als ich die echten Dramen gegen Dramen auf dem Papier eintauschen konnte.

Zwei meiner früheren Bücher, Le Cœur à rire et à pleurer, vor allem aber Victoire, beschreiben ausführlich das soziale Umfeld, dem ich entstamme. Entgegen dem Bild, das der Film Die Straße der Negerhütten von Euzhan Palcy von den Antillen verbreitet, sind wir nicht alle Verdammte dieser Erde und schinden uns mit der Zuckerrohrkrätze zu Tode. Nein! Meine Eltern bildeten die Keimzelle des Kleinbürgertums und nannten sich vermessen »Les Grands Nègres«3. Zu ihrer Entlastung kann ich vorbringen, dass ihre Kindheit schrecklich war und sie ihre Nachkommen um jeden Preis beschützen wollten. Jeanne Quidal, meine Mutter, war die uneheliche Tochter der Mulattin und Analphabetin Victoire, die nie Französisch lernte. Nachdem sie schon sehr jung Schande und Erniedrigung hatte erfahren müssen, verdingte sie sich bei »einheimischen« Weißen, die im realen Leben Wachter hießen. Auguste Boucolon, mein Vater, ebenfalls ein Bastard, wurde zum Vollwaisen, als seine arme Mutter ein Opfer der Flammen wurde, die ihre Hütte niederbrannten. Trotzdem hatten diese schwierigen Ausgangsbedingungen recht glückliche Folgen. Die Wachters erlaubten meiner Mutter, am Privatunterricht ihres Sohnes teilzunehmen, daher war sie für ein Mädchen ihrer Hautfarbe »ungewöhnlich gebildet« und wurde eine der ersten schwarzen Lehrerinnen ihrer Generation. Mein Vater erhielt als Waise und »Ziehsohn der Nation« eine Reihe von Stipendien und hatte ebenfalls einen für seine Zeit selten hohen Bildungsstand. Am Ende gründete er eine kleine Bank, die Caisse Coopérative de Prêts, die Beamten mit Krediten half.

Nach ihrer Heirat waren Jeanne und Auguste das erste schwarze Paar, das sich ein Auto leisten konnte, einen Citroën C4, das sich ein zweistöckiges Haus in Pointe-à-Pitre bauen ließ und die Ferien »zur Luftveränderung« am Flüsschen Sarcelles in Goyave verbrachte, wo sie ein weiteres Haus besaßen. Im Vollgefühl ihres Erfolges war ihnen nichts gut genug, und sie erzogen uns, meine sieben Geschwister und mich, in Verachtung und Unkenntnis über die Gesellschaft, die uns umgab.

Als Jüngste dieser großen Geschwisterschar wurde ich besonders verhätschelt. Alle waren sich einig, dass mich eine außergewöhnliche Zukunft erwartete. Ich wollte das gerne glauben. Mit sechzehn Jahren, als ich zum Studium nach Paris ging, konnte ich nicht Kreolisch sprechen. Da ich nie an einem lewoz-Tanzabend teilgenommen hatte, waren mir die traditionellen Tanzrhythmen mit der gwoka, der großen karibischen Trommel, unbekannt. Sogar die antillische Küche hielt ich für gewöhnlich und nichtssagend.

Mein derzeitiges Leben will ich aussparen, es ist undramatisch, außer dass das Alter sich leisen Schrittes nähert und mit ihm die Krankheit. Da dies nicht besonders originell ist, wird es sicherlich für niemanden von Interesse sein. Mir liegt mehr daran herauszufinden, welch wichtigen Platz Afrika in meinem Leben und meinen Vorstellungen eingenommen hat. Was habe ich in Afrika gesucht? Ganz genau weiß ich es immer noch nicht. Vielleicht gilt rückblickend für meine Beziehung zu Afrika ein Satz von Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dort sagt der Titelheld bedauernd:

»Wenn ich denke, dass ich mir Jahre meines Lebens verdorben habe, dass ich sterben wollte, dass meine größte Liebe einer Frau galt, die mir nicht gefiel, die nicht mein Genre war!«

1 dt.: Lachendes, weinendes Herz – wahre Geschichten aus meiner Kindheit

2 dt.: In Erwartung der Flut

3 Den Ausdruck »Grands Nègres« erklärt die Autorin in Victoirenäher: »… er hat nichts mit Geld zu tun, er impliziert vielmehr intellektuelle und menschliche Wertvorstellungen wie Selbstbewusstsein, Respekt und soziale Anerkennung.«

I

»Lieber schlecht verheiratet als ein ›gefallenes Mädchen‹«

Sprichwort aus Guadeloupe

Ich lernte Mamadou Condé 1958 im Wohnheim für Studenten aus Westafrika in Paris kennen, einem großen verlotterten Bau am Boulevard Poniatowski. Da sich damals für mich alles um Afrika, seine Vergangenheit und seine Gegenwart drehte, hatte ich mich kurz zuvor mit zwei jungen Frauen aus Guinea vom Stamm der Peul angefreundet. Sie hießen Ramatoulaye und Binetou. Wir waren uns bei einer politischen Veranstaltung in der Salle des Sociétés Savantes begegnet. Die beiden stammten aus Labbé. Als sie mir die vergilbten Fotos ihrer stolzen Eltern zeigten, wie sie in damastenen Boubous vor ihren strohgedeckten Rundhütten saßen, kam ich ins Träumen.

Das Studentenheim war vor allem zugig. Ramatoulaye, Binetou und ich saßen in der Eingangshalle, wo ein winziger Kohleherd brannte, und tranken eine Tasse Grüntee mit Minze nach der anderen, um uns zu wärmen. An einem Nachmittag gesellte sich dort eine Gruppe Guineer zu uns.

Condé hieß bei allen »der Alte«, ich ließ mir sagen, das sei eine Respektsbezeugung, aber da er schon graue Haare bekam, erschien er auch älter als die meisten Studenten. Außerdem sprach er in dem bestimmten Ton eines Weisen, der ewige Wahrheiten von sich gibt. In seinen Papieren war seine Geburt »um 1930« angegeben, was in gewissem Widerspruch zu seinem Äußeren und seinem Benehmen stand. Condé war stets kalt, und er hatte einen dicken handgestrickten Wollschal um den Hals geschlungen. Unter seinem erdfarbenen Wintermantel trug er noch zwei oder drei Pullover. Als er mir vorgestellt wurde, war ich überrascht. Ein Schauspieler, der am Konservatorium für Darstellende Künste studierte? Seine Aussprache ließ einiges zu wünschen übrig. Seine hohe Stimme hatte nichts von einem Bariton. Ganz ehrlich! Zu anderen Zeiten hätte ich kaum das Wort an ihn gerichtet. Aber mein bisheriges Leben lag in Scherben. Das Mädchen von früher gab es nicht mehr.

Denn die arrogante Maryse Boucolon, Nachfahrin der »Grands Nègres«, erzogen in der hochmütigen Verachtung für die unter ihr Stehenden, war tödlich verletzt worden. Ich mied meine früheren Freunde und hatte nur einen Wunsch: Sie sollten mich vergessen. Ich besuchte nicht mehr das Lycée Fénelon, war auch nicht mehr stolz darauf, eines der ganz wenigen Mädchen aus Guadeloupe zu sein, das sich für die Aufnahmeprüfung zu einer der französischen Elitehochschulen vorbereitete und zudem alle Chancen hatte, angenommen zu werden. Aber das war beileibe nicht das einzige Ruhmesblatt gewesen, mit dem ich mich vormals schmücken konnte. Nachdem die Zeitschrift Esprit einen Vorabdruck von Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken veröffentlicht hatte, hatte ich einen Leserbrief an die Redaktion verfasst, in dem ich meine Empörung zum Ausdruck brachte. Ich fand Fanons Schilderung der antillischen Gesellschaft herabsetzend und behauptete, er habe unsere Gesellschaft einfach nicht verstanden. Ich war höchst überrascht, als ich daraufhin von Jean-Marie Domenach, dem Verleger höchstpersönlich, in die Redaktion in der Rue Jacob eingeladen wurde, um meine Kritik darzulegen. Und das mit nicht mal zwanzig Jahren.

Aber nach diesen ruhmreichen Tagen war der Haitianer Jean Dominique in mein Leben getreten. Jonathan Demme hat später den Dokumentarfilm TheAgronomist über ihn gedreht. Darin wird Jean Dominique geradezu als Heiliger dargestellt. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich diesen Mann kennenlernte, dessen Verhalten so weitreichende Folgen für mein ganzes Leben haben sollte. Es war eine hochintellektuelle Liebe. Da ich in splendid isolation aufgewachsen war, wusste ich nichts von Haiti. Jean Dominique klärte mich nicht nur sexuell auf, sondern brachte mir auch die Heldengeschichte der »vielfarbigen Afrikaner« nahe, wie Napoleon Bonaparte sie abfällig nannte. Durch Jean erfuhr ich vom Martyrium Toussaint Louvertures, vom Triumph Jean-Jacques Dessalines und von den Anfangsschwierigkeiten der neuen Schwarzen Republik. Er gab mir Die Herren des Taus von Jacques Roumain, Der Flammenbaum von Edris St-Amand und General Sonne von Jacques Stephen Alexis zu lesen. Kurz gesagt, er weihte mich in den ungeheuren Reichtum eines Landes ein, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Ganz ohne Zweifel war er es, der mir meine unverbrüchliche Zuneigung zu Haiti ins Herz gepflanzt hat.

An dem Tag, als ich all meinen Mut aufbrachte, um ihm zu gestehen, dass ich schwanger war, schien er glücklich, sogar sehr glücklich. Er rief begeistert:

»Diesmal wird es ein kleiner Mulatte!« Denn aus einer früheren Verbindung hatte er bereits zwei Töchter.

Als ich aber am nächsten Tag in Jeans Wohnung kam, war er gerade dabei, sie auszuräumen und seine Sachen in Kisten zu verpacken. Tief betroffen erklärte er mir, für Haiti zeichne sich eine ungeheure Gefahr ab. Ein Arzt namens François Duvalier wolle für das Präsidentenamt kandidieren. Da er schwarz sei, begeistere er die Massen, denn sie hätten genug von den Mulattenpräsidenten und seien leider empfänglich für den »Noirisme«, eine Ideologie, die Schwarze bevorzugt. Dieser Duvalier besitze jedoch keine der notwendigen Fähigkeiten für ein so hohes Amt. Alle Gegner dieses gefährlichen Plans müssten daher nach Haiti eilen, um eine Einheitsfront zu bilden.

Jean Dominique flog ab und schickte mir nicht einmal mehr eine Postkarte. Ich blieb allein in Paris zurück und konnte nicht glauben, dass mich ein Mann mit einem dicken Bauch sitzengelassen hatte. Es war unfassbar. Ich wehrte mich lange gegen die einzige mögliche Erklärung: meine schwarze Hautfarbe. Jean Dominique hatte mich mit der Verachtung und der Gewissenlosigkeit der Mulatten behandelt. Er gehörte selbst zu dieser privilegierten Kaste, die sich damals in ihrer Beschränktheit für etwas Besseres hielt. Wie war seine Gegnerschaft zu Duvalier zu bewerten? Wie ernst war sein Glaube an das Volk zu nehmen? Selbstverständlich war das alles für mich nur Heuchelei.

Es fiel mir schwer, die langen Monate dieser einsamen Schwangerschaft durchzuhalten. Nachdem ein Arzt von der studentischen Krankenversicherung mich als depressiv und unterernährt befand, schickte er mich in ein Erholungsheim im Departement Oise, wo ich von allen so liebevoll umsorgt wurde, dass ich das nie vergessen werde. Zum ersten Mal erfuhr ich die Güte von Fremden. Am 13. März 1956 dann, zu einer Zeit, als ich eigentlich mitten in der Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung für die École Normale Supérieure hätte stecken müssen, brachte ich endlich in einer kleinen Klinik im 15. Pariser Arrondissement einen Jungen zur Welt, dem ich kurzerhand den Namen Denis gab. Zu alledem verlor ich auch noch meine geliebte Mutter. Sie verstarb plötzlich und unerwartet in Guadeloupe. Unter der Wucht dieser Schicksalsschläge erging es mir wie der »Kameliendame«. In meinem rechten Lungenflügel zeigte sich ein tuberkulöses Infiltrat, immer noch derselbe Arzt von der studentischen Krankenversicherung überwies mich daraufhin in das Sanatorium von Vence in den Alpes-Maritimes. Dort sollte ich dann über ein Jahr verbringen.

»Warum ist das Schicksal bloß so grausam zu dir?«, wetterte Yvane Randal, während sie mich zum Bahnhof brachte. Sie war eine der wenigen Freundinnen, mit denen ich noch verkehrte.

Völlig in meinen Kummer versunken, hörte ich gar nicht, was sie sagte. Aus Geldmangel hatte ich meinen reizenden Säugling der Sozialfürsorge in ihren kahlen Räumlichkeiten an der Avenue Denfert-Rochereau anvertrauen müssen. Dabei wohnten meine beiden älteren Schwestern in der französischen Hauptstadt. Ena, die Älteste und zudem meine Patentante, eine große, melancholisch verträumte Schönheit, war von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Ursprünglich zum Musikstudium nach Paris gekommen, hatte sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Guy Tirolien geheiratet, der ebenfalls aus Guadeloupe stammte und damals an der Verwaltungshochschule ENA studierte. Mit seinem Gedichtband Balles d’Or wurde er später zu unserem Nationaldichter. Die Gründe für ihre Scheidung gehören zu den anstößigen Geheimnissen unserer Familie. Während ihr Ehemann in deutscher Kriegsgefangenschaft war, betrog Ena ihn mit einer ganzen Clique schneidiger deutscher Offiziere, bei denen sie »Bijou« hieß. Nun ließ sie sich von einem schwerreichen Geschäftsmann aushalten und vertrieb sich die Zeit, indem sie auf dem Klavier Melodien von Chopin spielte und Hochprozentiges trank. Gillette, die andere Schwester, war bodenständiger. Sie arbeitete als Sozialfürsorgerin in Saint-Denis, damals ein dicht bewohntes, armes Viertel von Paris. Sie war mit Jean Deen verheiratet, einem Medizinstudenten aus Guinea.

»Das hast du alles nicht verdient!«, empörte sich Yvane.

Ich wusste selbst nicht, was ich davon halten sollte. Mal war ich überzeugt, das Opfer grenzenloser Ungerechtigkeit zu sein. Mal flüsterte eine Stimme in mir, dass ich verdiente, was mir geschah, weil ich durch die Überheblichkeit, in der ich aufgewachsen war, das Schicksal herausgefordert hatte. Nach diesen grausamen Erfahrungen war ich für immer schwer gezeichnet. Ich besaß keinerlei Vertrauen mehr in die Zukunft, war beherrscht von der Furcht, dass mich jeden Moment ein weiterer Schlag des hinterlistigen Schicksals treffen konnte.

Der Aufenthalt in Vence war trostlos. Wie bei meiner Figur Marie-Noëlle aus dem Roman Désirada sind auch mir die endlosen Stunden im Bett, die tagtäglichen Infusionen mit Antibiotika, die Mattigkeit, die Übelkeit, das Fieber, die Schweißausbrüche und die Schlaflosigkeit bis heute in trauriger Erinnerung. Aber im Unterschied zu Marie-Noëlle fand ich dort nicht die Liebe. Es war auch schier unmöglich. Wenn es uns besserging, durften wir einmal im Monat nach Nizza fahren, begleitet von einer Krankenschwester im weißen Kittel. Bei unserem Anblick wichen die Passanten zur Seite, denn wir symbolisierten Not und Krankheit, was beides bekanntlich ansteckend ist. Wir gingen bis zum Meer, um neidvoll den halbnackten braungebrannten Gesunden zuzuschauen, wie sie einander schwimmend verfolgten. Ich dachte tieftraurig an meine Mutter, die ich nie mehr sehen würde, oder an mein süßes Baby, und voller Hass an Jean Dominique. Trotzdem, wie so oft im Leben, hatten diese langen dunklen Monate auch eine helle Seite. Wegen meiner Erkrankung bekam ich durch zahlreiche Ausnahmeregelungen eine Zulassung für die Universität von Aix-en-Provence, so dass ich in dieser Zeit einen Abschluss in Moderner Literaturwissenschaft erwerben konnte. Ich wählte Französisch, Englisch und Italienisch, statt, wie ich es mir im Vorbereitungskurs erträumt hatte, Französisch, Latein und Griechisch.

Zurück in Paris antwortete ich auf eine Kleinanzeige und fand Arbeit in einer Zweigstelle des Kultusministeriums in der Rue Boissy d’Anglas. Nun wähnte ich mich in der Lage, Denis zu mir zu nehmen, damit die Schuldgefühle bei jedem Gedanken an ihn ein Ende hätten. Doch es zeigte sich schnell, die neuen Lebensumstände waren eine Hölle. Seit dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater, dem noch nie viel an mir gelegen hatte, sein Interesse völlig verloren und schickte mir kein Geld mehr. Mir ist immer ein Rätsel geblieben, warum auch das Verhalten von Ena und Gillette sich derart wandelte. Da meine beiden Schwestern deutlich älter waren als ich, hatten wir uns nie sehr nahegestanden. Aber bis dahin waren sie immer nett zu mir gewesen und hatten mich regelmäßig zum Mittag- oder Abendessen eingeladen. Doch nach meiner Schwangerschaft und Jean Dominiques Flucht luden sie mich nicht mehr ein, obwohl ich in dieser Zeit ihre Zuwendung so dringend gebraucht hätte. Wenn ich einmal wagte, sie anzurufen, fehlte nur, dass sie auflegten, sobald sie meine Stimme hörten. Hatte ich ihre kleinbürgerlichen Empfindungen verletzt? Waren sie von mir enttäuscht, da mir eine strahlende Zukunft geleuchtet hatte, und ich nun geschwängert und sitzengelassen worden war wie ein Dienstmädchen? Reagierten sie letztlich wie die Kleinbürgerinnen, die sie waren?

Für mein Leben mit meinem Baby blieb mir also nur mein lächerliches Gehalt vom Ministerium. Wie durch eine Ironie des Schicksals wohnte ich gegenüber der haitianischen Botschaft in einem schönen Altbau im 17. Arrondissement. Allerdings in einer Dachkammer mit Waschbecken und Toilette auf dem Flur. Jeden Morgen fuhr ich quer durch Paris, um Denis in die Kinderkrippe für Studenten zu bringen. Diese befand sich in der Rue Fossés-Saint-Jacques im 5. Arrondissement. Dann beeilte ich mich, ins Ministerium zu kommen. Nach der Arbeit legte ich die gleiche Strecke in der Gegenrichtung zurück. Kein Wunder, dass ich abends nie ausging. Nachdem ich früher so gern ins Kino, ins Theater, ins Konzert oder zum Essen ins Restaurant gegangen war, badete ich nun meinen Sohn, fütterte ihn und versuchte, ihn mit einem Lied in den Schlaf zu singen. Man munkelte, mein plötzliches Verschwinden sei der Tatsache geschuldet, dass ich ein »gefallenes Mädchen« war, wie man »ledige Mütter« damals verächtlich bezeichnete. Mit Ausnahme der getreuen Yvane Randal und Eddy Edinval mieden mich daraufhin die Studenten von den Antillen. Ich verkehrte nur noch mit Afrikanern, die nichts über mich wussten und die ich mit meinem Benehmen und der mir noch verbliebenen Schlagfertigkeit beeindruckte.

Es fiel mir äußerst schwer, meine Miete aufzubringen. Wenn ich zu sehr in Verzug kam, stieg der Hausbesitzer, ein Bourgeois wie aus dem Bilderbuch mit schneeweißen Haaren und aristokratischem Profil, die sechs Stockwerke hinauf bis zu dem tristen Verschlag, den er mir vermietete, und brüllte:

»Ich lasse mich nicht ausnützen, ich bin schließlich nicht Ihr Vater!«

Im Ministerium hingegen begegnete man mir mit der Freundlichkeit und Anteilnahme, die mich schon bei meinem Erholungsaufenthalt in der Oise überrascht hatten. Wieder konnte ich mich auf die »Freundlichkeit von Fremden verlassen«, wie es bei Tennessee Williams in Endstation Sehnsucht heißt. Die gesamte Abteilung, in der ich arbeitete, war gerührt von meiner Jugend und meiner Armut, bewunderte meine Haltung und meine Stärke. Am Wochenende war ich regelmäßig bei den Kollegen zum Mittagessen eingeladen. Die anderen Gäste schwärmten, wie entzückend Denis sei, sie bedeckten ihn mit Küssen und behandelten ihn wie einen kleinen Prinzen. Die Gastgeberinnen steckten mir zum Abschied gebrauchte Kleider in die Tasche, und zwar nicht nur Kindersachen, außerdem Honigkuchen, Ovomaltine und Van-Houten-Kakao, damit Mutter und Kind zu Kräften kämen, denn wir waren beide ziemlich dünn. Unten auf der Straße weinte ich über die Demütigung.

Worin bestand unsere Arbeit in der Rue Boissy d’Anglas? Ich meine mich zu erinnern, dass die Abteilung, der ich angehörte, Begleitbriefe zu den Kulturprojekten verfasste, die dem Minister vorgetragen wurden.

Nach ein paar Monaten sah ich ein, dass ich so auf Dauer nicht leben konnte. Es blieb mir nichts übrig, als mich erneut von Denis zu trennen. Ich vertraute ihn Madame Bonenfant an, einer staatlich geprüften Pflegemutter, die in der Nähe von Chartres wohnte. Da ich ihr bald die 18 000 alten Francs monatlich nicht mehr bezahlen konnte, suchte ich das Weite. Madame Bonenfant stellte keine Forderungen an mich. Sie schrieb mir lediglich von Rechtschreibfehlern strotzende Briefe, um mir Neuigkeiten über »unseren« Kleinen mitzuteilen.

»Sie fehlen ihm sehr!«, versicherte sie. »Er verlangt ständig nach Ihnen.«

Ich weinte, wenn ich diese Briefe las, denn ich war von Schuldgefühlen geplagt. Die Tage folgten einander in einem Nebel des Schmerzes und schlechten Gewissens. Ich schlief nachts nicht mehr als zwei oder drei Stunden. In wenigen Wochen nahm ich acht Kilo ab. Meine Leser stellen mir oft die Frage, warum in meinen Romanen so häufig Frauen vorkommen, die ihre Kinder als eine allzu schwere Last empfinden, und Kinder, die verschlossen sind, weil sie unter fehlender Liebe leiden. Ich spreche einfach aus Erfahrung. Ich liebte meinen Sohn innig. Aber seine Geburt hatte nicht nur die Hoffnung zerstört, auf der meine ganze Erziehung gründete, ich war überdies unfähig, ihm zu geben, was er brauchte. Bei genauer Betrachtung konnte mein Verhalten ihm gegenüber als das einer Rabenmutter erscheinen.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie Condé mich im Sturmschritt eroberte. Der erste Kuss, die erste Umarmung, die erste geteilte Lust. Nichts. Ich erinnere mich auch an kein Gespräch, an keinen ernsthaften Austausch zwischen uns über irgendein Thema. Aus unterschiedlichen Gründen hatten wir es beide eilig, vor den Standesbeamten zu treten. Ich hoffte, mit dieser Heirat wieder gesellschaftsfähig zu werden. Condé hatte es eilig, eine Braut vorzuzeigen, die studiert hatte, offensichtlich aus guter Familie stammte und Französisch sprach wie eine echte Pariserin. Condé war eine ziemlich komplizierte Persönlichkeit, begabt mit einer Spottlust, die ich oft gewöhnlich, fast vulgär fand, die aber ihr Ziel nicht verfehlte. Ich versuchte vergeblich, ihn nach meinem Geschmack zu formen. Er stieß meine verschiedenen Versuche mit einer Bestimmtheit zurück, die seine geistige Freiheit bewies. So fand ich, er solle einen Parka tragen, wie es in jenen Jahren Mode war.

»Zu jung für mich! Viel zu jung!«, entgegnete er mit seiner näselnden Stimme.

Ich versuchte, ihm meine Leidenschaft für die Cineasten der Nouvelle Vague zu vermitteln, für die italienischen Regisseure Antonioni, Fellini, Visconti oder für Carl Dreyer und Ingmar Bergman. Bei der Vorführung des Films Sie küssten und sie schlugen ihn von François Truffaut (1959) schlief er so fest, dass ich Mühe hatte, ihn nach der Vorstellung, unter hämischen Blicken, wieder aufzuwecken. Meine schwerste Niederlage fügte er mir bei dem Versuch zu, ihm die Dichter der Négritude näherzubringen, die ich einige Jahre zuvor als Schülerin des Vorbereitungskurses entdeckt hatte. Eines Tages lieh mir dort Françoise, eine Klassenkameradin, die stolz auf ihr politisches Engagement war, ein schmales Bändchen mit dem Titel Discours sur le colonialisme. Der Autor war mir noch nie begegnet. Aber die Lektüre wühlte mich derart auf, dass ich am nächsten Morgen zur Buchhandlung Présence Africaine stürzte. Ich kaufte alles, was sie von Aimé Césaire hatten. Um das Maß voll zu machen, kaufte ich auch die Gedichte von Léopold Sédar Senghor und Léon Gontran-Damas.

Condé schlug das Buch Zurück ins Land der Geburt von Aimé Césaire, der inzwischen mein Lieblingsschriftsteller war, an einer beliebigen Stelle auf und deklamierte voller Hohn:

»Dass zwei und zwei fünf sind

dass der Wald miaut

dass der Baum die Kastanien aus dem Feuer holt

dass der Himmel sich den Bart streicht

et cetera et cetera …«

»Was soll das heißen?«, rief er. »Für wen schreibt er? Sicher nicht für mich, ich verstehe nämlich nichts.«

Was mir allerdings heute noch unbegreiflich erscheint, ist, dass ich Condé die Existenz von Denis verheimlichte. Ich musste mir jede Andeutung verkneifen, weil ich wusste, damit wären alle Heiratspläne zunichte. Die damalige Zeit war völlig anders als die heutige. Zwar wurde die Jungfräulichkeit nicht mehr so streng genommen, doch die sexuelle Revolution war noch fern. Das Gesetz von Simone Veil zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs wurde erst fünfzehn Jahre später verabschiedet. Das Geständnis, dass man »einen unehelichen Sohn« hatte, fiel damals nicht leicht.

Die wenigen Leute, denen ich Condé vorstellte, waren geteilter Meinung über ihn.

»Was für einen Studienabschluss hat er?«, fragte Jean, mein Schwager, voll Arroganz, als ich Condé zum Mittagessen nach Saint-Denis mitbrachte.

Nachdem meine Schwester Ena uns kurz in einer Bar an der Place des Abbesses getroffen hatte, berichtete sie Gillette anschließend am Telefon, er habe während des halbstündigen Treffens sechs Bier und zwei Gläser Rotwein hinuntergeschüttet. Ganz bestimmt war er Alkoholiker.

Yvane und Eddy beschwerten sich: »Wir verstehen ihn nicht, wenn er redet.«

Ich sah selbst, dass er nicht mein Traummann war. Aber mein Traummann hatte mich schnöde im Stich gelassen. Condé und ich heirateten an einem Augustmorgen des Jahres 1958 bei strahlendem Sonnenschein im Rathaus des 18. Pariser Arrondissements. Die Platanen standen in üppigem Grün. Während Ena sich nicht blicken ließ, wohnte Gillette der Zeremonie bei, begleitet von ihrer schmollenden Tochter Dominique. Das sei keine »richtige Hochzeit«, quengelte sie unaufhörlich.

Wir tranken im Café an der nächsten Ecke ein Glas roten Cinzano, dann bezogen wir die zwei möblierten Zimmer, die Condé in einem Haus in der Nähe gemietet hatte.

Keine drei Monate später waren wir getrennt. Wir hatten keinen Streit. Wir hielten es einfach nicht längere Zeit miteinander aus. Zuweilen riefen wir ein paar Gäste zu Hilfe, die als Puffer dienen sollten, aber ich konnte seine Freunde ebenso wenig leiden wie er die meinen. Als ich im Laufe des folgenden Jahres merkte, dass ich schwanger war, unternahmen wir mehrere Versuche, wieder zusammenzuleben. Schließlich mussten wir uns mit der Trennung abfinden. Ich litt nicht unter ihr, obwohl sie als weitere Enttäuschung in der Liebe gelten konnte. Denn ich hatte im Grunde erreicht, was ich wollte. Man nannte mich Madame, und ich trug einen Ehering an der linken Hand. Diese Heirat hatte »meine Schande getilgt«. Jean Dominique hatte mir Furcht und Misstrauen gegenüber den Antillanern eingeflößt. Condé war »Afrikaner«. Kein »Guineer«, wie ich später fälschlicherweise angab, um anzudeuten, die Unabhängigkeit Guineas im Jahr 1958 hätte bei dieser Eheschließung eine Rolle gespielt. Ich war damals einfach noch nicht genügend »politisiert«. Ich glaubte, wenn ich den Kontinent betrat, den mein Lieblingsdichter besungen hatte, würde ich wiedergeboren. Wieder Jungfrau werden. Mir stünden wieder alle Hoffnungen offen. Die böse Erinnerung an den Mann, der mir so wehgetan hatte, würde dort nicht mehr über mir schweben. Kein Wunder, dass meine Ehe nicht von Dauer war: Nach meinen Enttäuschungen hatte ich alle Erwartungen und Vorstellungen auf Condés Schultern geladen. Es war eine zu große Last für ihn.

Mit dem unbarmherzigen klaren Blick von heute sehe ich, wie sich in dieser Verbindung zwei Dumme gefunden hatten. Liebe und Begehren spielten keine große Rolle. Condé suchte durch mich zu erreichen, was ihm fehlte: Bildung und gesellschaftlicher Aufstieg. Gillettes Mann hatte zu Recht nach seinem Studienabschluss gefragt. Condé war nur zur Hauptschule gegangen. Sein Vater war gestorben, als er noch sehr klein war. Er war in Siguiri, einer Stadt am Niger, von seiner Mutter aufgezogen worden, einem bitterarmen Wesen, das auf Märkten Flitterkram verkaufte. Nachdem er ohne echte Berufung Schauspieler werden wollte, nur um Guinea verlassen und sich mit dem schönen Titel eines »Studenten« schmücken zu können, musste er feststellen, dass ihn damit noch nicht die Aureole des Erfolgs schmückte. Da es niemanden gab, der ihm unter die Arme hätte greifen können, hatte er nie die Chance, »was zu werden«, wie Marlon Brando in dem Film Die Faust im Nacken sagt.

1959 kam die Entwicklungshilfe Frankreichs allmählich in Gang. In einem Flügel des Ministeriums wurde bald ein Einstellungsbüro für Franzosen eingerichtet, die ihr Glück in Afrika versuchen wollten. Genau das passende Angebot für mich. Eigentlich kannte ich Afrika nur als literarischen Gegenstand. Die Stimmen der Dichter, die ihre Inspiration aus Afrika bezogen, boten eine Abwechslung von der ständigen Beschäftigung mit Rimbaud, Verlaine, Mallarmé, Valéry. Indessen nahm die afrikanische Wirklichkeit allmählich einen immer größeren Platz in meinem Leben ein. Ich wollte nicht mehr von den Antillen träumen, sie riefen allzu schmerzliche Erinnerungen wach. Ich eilte also in das Anwerbungsbüro. Ich sehe noch die Verblüffung des blonden jungen Mannes mit den rosigen Wangen, der meinen Antrag bearbeitete. Er bestürmte mich mit Fragen:

»Sie wollen allein und mit einem Kind nach Afrika gehen? Und Ihr Ehemann? Haben Sie nicht gerade erst geheiratet?«

»One Flew over the Cuckoo’s Nest«

Miloš Forman

Einige Monate später erhielt ich ein Einschreiben, in dem stand, dass das Erziehungsministerium mich an das Collège von Bingerville an der Elfenbeinküste schickte. Weil ich damals nicht mehr als ein Diplom in Moderner Literaturwissenschaft hatte, wurde ich als Hilfskraft für den Französischunterricht eingestellt, mit der entsprechenden geringfügigen Bezahlung. Na wenn schon! Ich tanzte vor Freude. Das war lange nicht vorgekommen.

In den letzten Septembertagen des Jahres 1959 fuhren Denis und ich mit dem Zug bis zum Hafen von Marseille, wo uns das Passagierschiff Jean Mermoz erwartete, das Abidjan anlaufen sollte.

Da ich in anderen Umständen war, hatte Condé versucht, mich zum Bleiben zu bewegen. Aber in einem fremden Land zu gebären und erneut ein Kind ohne Vater zur Welt zu bringen, schreckte mich beides nicht mehr. Meine Schwestern nahmen meine Entscheidung mit Erleichterung auf. Offenkundig war es ihnen recht, wenn ich meine Dummheiten künftig anderswo begehen würde. Fern von ihnen. Gillette lud mich eilends zum Abendessen ein und vertraute mir an, wenn Jean in Kürze sein Medizinstudium abgeschlossen hätte, sei sie bereit, mit ihm nach Guinea zu gehen.

Marseille, wo wir uns einschifften, war in meiner Vorstellung der Schauplatz von Banjo, dem Kultbuch des Jamaikaners Claude McKay, das Aimé Césaire so begeistert hatte. Während ich über die Canebière spazierte, durch die überfüllten Gässchen ging und ein Café betrat, meinte ich, mit den Schriftstellern der Négritude in Berührung zu kommen. Aber noch wichtiger war, dass das Blut mit der früheren Fröhlichkeit durch meine Adern floss. Ich hatte eine schwierige Phase hinter mir, von dieser Vergangenheit war nur der kleine Junge an meiner Hand geblieben, der mit den Tränen kämpfte, weil er nicht begreifen konnte, warum man ihn so brutal aus den Armen seiner geliebten Amme gerissen hatte. Die Trennung von Madame Bonenfant war nicht leicht gewesen. Die großherzige Frau hatte versucht, bei mir die derzeit unbesetzte Rolle einer Mutter zu spielen. Nach ihrer Meinung wäre alles besser, wenn ich am Arm meines Mannes nach Afrika aufbrechen würde, stammelte sie. Was würde dort ohne Mann aus mir werden? Hatte ich daran gedacht, welche schrecklichen Gefahren mir drohten? Sie beging einen Fehler, als sie sie aufzählte: Vergewaltigung, unbekannte Krankheiten … ich fand ihre Worte rassistisch.

Man könnte meine Reise nach Abidjan scherzhaft mit der ersten Ausfahrt des Buddha vergleichen, bei der ihm auf einen Schlag Armut, Krankheit, Alter und Tod begegneten. Ich hatte nur die Welt der Privilegierten kennengelernt. Meine Erfahrungen waren höchst begrenzt. Ich war zwar mehrfach nach Italien, Spanien und in die Niederlande gereist, aber nur um dort die Museen zu besuchen; auch bei einem Aufenthalt in London war ich hauptsächlich in den Museen gewesen und hatte die Sprache gelernt. Die einzige Ausnahme bildete eine Reise nach Warschau mit Jean Dominique. Er hatte mich auf ein Festival des Weltbundes der Demokratischen Jugend mitgenommen, um mir die Verwirklichung des Marxismus vorzuführen und mich ein Land des Ostens bewundern zu lassen. Es war zugegebenermaßen eine außergewöhnliche Erfahrung. Zum ersten Mal hatte ich Inder, Chinesen, Japaner, Mongolen kennengelernt. Von einer Aufführung der Pekingoper war ich hingerissen.

Da die französischen Behörden knauserten, hatte ich eine winzige stickige Kabine der Klasse 3 B. Aber es gab andere, denen es noch schlechter erging. Von unserem Promenadendeck konnte ich einen Blick auf die Passagiere werfen, die keine Kabine hatten. Sie waren meist ausgemusterte weiße und »eingeborene« Armeeangehörige und wurden wie Gefangene hinter dicke Gitter gepfercht. Durchgefroren von der Kälte, drängten sie sich um Kohlebecken, welche die Matrosen anheizten. Zweimal täglich brachten man ihnen Suppe.

In Dakar, unserer ersten Etappe, kamen wir im Morgengrauen an. Über der Stadt lag ein milchiger Himmel. Die Hauptstadt von Französisch-Westafrika war zu jener Zeit noch ein kleines, friedliches und blühendes Städtchen. Die hübschen Holzhäuser hatten selten mehr als eine Etage. Als wir am Kai lagen, drang mir ein stechender Mief bis in die Kehle. Ich hatte noch nie den Geruch von Erdnüssen eingeatmet, die zum Trocknen ausgelegt waren. Er schwebte in der von rötlichen Schwaden wallenden Luft. Ein Mann aus der Crew erklärte den Leuten, die an Land gingen, dass diese von einem glühend heißen Wind aus der Wüste hergeweht wurden.

Mein erster Kontakt mit Afrika war keineswegs Liebe auf den ersten Blick. Im Gegensatz zu den westlichen Besuchern, die sich dort so wohlfühlen, beeindruckten mich weder die Düfte noch die Farben. Ich war bestürzt über das Elend in der Menschenmenge. Auf der nackten Erde sitzend, stellten Frauen mit abgemagerten Gesichtern ihre Zwillinge, Drillinge, Vierlinge zur Schau. Beinlose Krüppel rutschten auf dem Hosenboden. Einarmige streckten einem die Stummel entgegen. Alle möglichen Versehrten und Bettler fuchtelten wild mit ihren fordernden Händen. Im Kontrast dazu sah man blitzsaubere, gut gekleidete Weiße am Steuer ihrer Autos. An einer Ecke stieß ich zufällig auf einen Markt, der von Dreck starrte. Es herrschte ein scheußlicher Gestank. Wolken von Fliegen surrten um farblose Fische und violette blutige Fleischstücke. Ich flüchtete, so schnell ich konnte, in eine Wohngegend. Aus den geöffneten Fenstern eines Hauses drang ein Gewirr von Kinderstimmen. Eine Schule! Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich Reihen mit blonden Köpfen erspähen, und an der Tafel stand eine blonde Lehrerin in einem eleganten blauen Kleid. Wo waren die kleinen Afrikaner?

Yvane hatte mir die Adresse ihres Onkels Jean Sulpice gegeben, »Tonton Jean« war ein Militärarzt, der im Viertel Dakar Plateau wohnte. Die Familie bekam selten Besuch aus Guadeloupe, sie empfing uns sehr herzlich, mit offenen Armen, wie Verwandte. Das Essen, das folgte, war erstaunlich traditionell: Blutwurst, scharfe Avocado, Suppe mit Schnapperfisch, Reis und rote Bohnen.

»Ganz wie in Guadeloupe«, bemerkte Madame Sulpice voll Stolz.