Das Feuer des Dämons - Thea Harrison - E-Book

Das Feuer des Dämons E-Book

Thea Harrison

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Beschreibung

Grace Andreas entstammt einer alten Familie, die direkt auf das Orakel von Delphi zurückgeht. Ohne es zu ahnen, hat auch sie die Gabe der Hellseherei geerbt. Als ihre Schwester bei einem Unfall stirbt, muss Grace sich um ihre beiden Kinder kümmern. Da begegnet ihr der Dschinn Khalil, der sie mit seinem frechen Charme sofort in seinen Bann zieht.

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THEA HARRISON

DAS FEUER

DES DÄMONS

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Cornelia Röser

Zu diesem Buch

Das Leben von Grace Andreas wird bis in die Grundfesten erschüttert: Nie wäre sie davon ausgegangen, das schwere Erbe des Orakels auf sich nehmen zu müssen. Doch als ihre ältere Schwester und deren Ehemann bei einem Autounfall ums Leben kommen, geht die altehrwürdige Gabe auf sie über – und stellt ihr Leben komplett auf den Kopf. Von einem Moment auf den anderen sieht sich Grace mit einer Aufgabe konfrontiert, der sie kaum gewachsen ist. Nicht genug, dass Grace die Sorge um die beiden kleinen Kinder ihrer Schwester, die nach dem Tod der Eltern zu Waisen geworden sind, umtreibt. Mit ihrem Wissen um die Zukunft findet sie sich plötzlich inmitten von gefährlichen Machtspielen inner-halb des Tribunals der Alten Völker wieder. Um sich zu schützen, sieht Grace keinen anderen Ausweg, als zähneknirschend einen Handel mit dem gefährlichen und mächtigen Dschinn Khalil einzugehen. Für seine Hilfe schuldet sie Khalil einen Gefallen, den sie, wann immer es der Dschinn wünscht, einzulösen hat. Doch kann man einem solchen Wesen, das aus Feuer und Magie geboren wurde und dem menschliche Gefühle völlig fremd sind, mit dem Leben vertrauen? Je mehr Zeit Khalil und Grace miteinander verbringen, desto höher lodert das Feuer zwischen den beiden …

1

Die Aufmerksamkeit eines Dschinns auf sich zu ziehen gilt im Allgemeinen nicht als etwas Gutes, Grace.

Die spitzen Worte der Babysitterin Janice hüpften in Grace’ Kopf umher wie ein Football auf dem Spielfeld. Dieser Football war zehn Yards von der Endzone entfernt, und zwei Teams von über hundert Kilo schweren NFL-Spielern stürzten sich mit der ganzen Inbrunst ihrer auf dem Spiel stehenden Millionen-Dollar-Karrieren darauf. Wenn dieser Football sprechen könnte, würde er wimmern: »Auweia. Gleich tut’s weh.«

Ungefähr so war für Grace der ganze Tag verlaufen, einschließlich der Vorahnung drohenden Unheils.

Also vielen Dank für die Wagenladung Sarkasmus, Janice. Schließlich war es nicht Grace’ Entscheidung gewesen, dass der Dschinn in ihr Leben getreten war. Er war mit dieser Gruppe gekommen, die um halb vier morgens vor ihrer Tür gestanden hatte und keine gottverdammt anständige Zeit hatte abwarten können, um mit ihr zu reden.

Wahrscheinlich sollte sie aufhören, ihn »den Dschinn« zu nennen. Schließlich hatte er einen Namen. Khalil Irgendwas. Einem seiner Weggefährten zufolge war er Khalil Irgendwas-Wichtiges.

Grace hatte die vage Vermutung, dass sein Name Khalil Fluch-ihrer-Existenz lauten könnte, aber das wollte sie ihm lieber nicht ins … nun, ins Gesicht sagen. Wenn ihm gerade danach zumute war, ein Gesicht zu tragen. Sie wollte ihn nämlich nicht noch mehr provozieren, als sie es bereits getan hatte, und hoffte wirklich inständig, dass er sich jetzt, wo sich die ganze Aufregung gelegt hatte, langweilte und verschwinden würde.

Die Aufregung hatte sich doch gelegt, oder?

Das Töten.

Bis heute Morgen hatte sie noch nie mit angesehen, wie jemand getötet wurde.

Sie schob die Erinnerung beiseite. Im Augenblick musste sie sich um ihre Nichte und ihren Neffen kümmern, verflucht. Sie hatte keine Zeit, sich mit den Ereignissen auseinanderzusetzen. Das würde verdammt noch mal warten müssen, bis Chloe und Max im Bett waren.

Vielleicht würde der Dschinn verschwunden sein, wenn sie mit den Kindern vom Einkaufen zurückkam. Hoffen konnte sie es. Grace konnte eine ganze Menge hoffen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass der Supermarkt heute kostenlose Steaks verteilte und eine Herde Schweine mit den Fluglotsen vom Louisville International Airport einen Flugplan ausarbeiteten.

In Wahrheit hegte sie den Verdacht, dass der Dschinn ihnen zum Supermarkt gefolgt war. Sie konnte ihn nicht sehen, aber seit sie Max und Chloe ins Auto gesetzt hatte und zum Super Saver gefahren war, nahm sie seine rauchige Gegenwart am Rande ihres Bewusstseins wahr. Dieser beißende, übersinnliche Geruch ging ihr an die Nerven, so wie es Feuerwehrwagen taten, wenn sie mit kreischenden Sirenen die Straße entlangbrausten.

Es spielte keine Rolle, dass man das Feuer nicht sehen konnte. Man wusste trotzdem, dass irgendwo in der Nähe ein Unglück drohte.

Sie ergatterte einen Parkplatz nah bei den Einkaufswagen. Als sie aus dem Auto stieg, schlug ihr der feuchte, fünfunddreißig Grad warme Junitag entgegen. Binnen Sekunden klebte ihr das T-Shirt am Rücken, und sie hätte nichts lieber getan, als ihre schäbige Flanellhose über dem Knie abzureißen. Aber sie trug keine kurzen Hosen mehr, nicht einmal zu Hause. Den Anblick der Narben, die ihre Beine seit dem Autounfall entstellten, konnte sie nicht ertragen.

Grace holte einen Einkaufswagen und kehrte damit zu den wartenden Kindern zurück. Dabei sah sie im Fenster des Wagens flüchtig ihr Spiegelbild. Sie war durchschnittlich groß, Taille und Beine waren schlank, Brüste und Hüften wohlgerundet. Wenn es nach den familiären Erbanlagen ging, würde sie in den mittleren Jahren aufpassen müssen, dass diese Kurven nicht allzu üppig wurden.

Ihr kurzes, rotblondes Haar stand ihr in Büscheln vom Kopf ab, weil sie ständig mit den Händen hindurchfuhr. Die haselnussbraunen Augen wirkten matt, und ihre Haut war bleich vom Schlafmangel. Als sie die Hand auf ihr Spiegelbild im Fenster legte, bemerkte sie die dunklen Ringe unter ihren Augen.

Ich war mal hübsch, dachte sie. Dann ärgerte sie sich über sich selbst, weil ihr so etwas wichtig war.

Scheiß auf hübsch. Ich bin lieber stark. Schönheit vergeht mit der Zeit, aber Stärke bringt einen durch harte Zeiten. Und das war wichtig, denn manchmal waren die Zeiten verdammt hart.

Sie setzte erst Chloe in den Einkaufswagen und hob dann Max in seiner Babytrage hinein. Chloe rollte ihren zarten, vierjährigen Körper zu einem kleinen Päckchen zusammen. Leise sang sie ihrer Mini-Lala-Whoopsie-Puppe – oder wie die Puppe sonst hieß – etwas vor und ließ sie auf dem Rand des Einkaufswagens tanzen.

Chloes hellblonde Haare waren fein und seidig, genau wie sie es bei Grace und ihrer Schwester Petra gewesen waren, als die beiden klein waren. Sowohl bei Grace als auch bei Petra waren sie mit dem Älterwerden nachgedunkelt. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden auch Chloes Haare einmal dieses dunklere Rotblond annehmen. Max hingegen hatte die dunklen Haare und das südländische Aussehen seines Vaters geerbt.

Chloes Locken wehten ihr nun um den Kopf – bis auf einen verfilzten Knoten am Hinterkopf, wie Grace beschämt feststellte. Sie hatte vergessen, Chloe die Haare zu kämmen, bevor sie aus dem Haus gegangen waren. Ach verdammt, sie hatte sogar vergessen, sich selbst die Haare zu kämmen. Das hatte man davon, wenn man halb im Koma durch den Tag stolperte. Sie versuchte erst Chloe und dann sich selbst die Haare mit den Fingern zu kämmen – mit mäßigem Erfolg.

Der neun Monate alte Max lag in seiner Trage, wo er tief und fest schlief und schnarchte, das Mündchen wie eine Rosenknospe leicht geöffnet. Nachdem er letzte Nacht so krank gewesen war, war der arme Kleine jetzt erschöpft.

Grace schob den Wagen mitsamt den Kindern vor sich her und humpelte auf den Supermarkt zu. Super Saver war ein billiger Lebensmitteldiscounter, in dem die Waren in Pappkartons in den Gängen gestapelt wurden, aber es gab Kühltheken und eine Tiefkühlabteilung, und der Laden war klimatisiert. Als die kalte Luft über ihre Haut strich, seufzte Grace erleichtert auf, von dem Temperaturwechsel und der Erschöpfung wurde ihr schwindelig.

Sie biss die Zähne zusammen. Fürs Erste brauchte sie die Lebensmittel nur nach Hause zu schaffen und die Sachen wegzuräumen, die gekühlt werden mussten. Alles andere konnte sie später einräumen. Vielleicht konnte sie Chloe dazu überreden, eine Dora-DVD zu gucken, während Grace sich auf dem Sofa ausstreckte und eine Runde schlief. Später würde sie entscheiden müssen, welche der rot gefärbten Rechnungen sie bezahlen konnte – aber das hatte Zeit, bis zumindest ein Teil ihres Gehirns wieder betriebstauglich war.

Stirnrunzelnd betrachtete sie den Kistenstapel vor sich. Sollte sie zwei Dosen Mais kaufen oder drei? Sie hatten ihre Lebensmittelmarken für diesen Monat so gut wie aufgebraucht, da kam es auf jede noch so kleine Entscheidung an.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der weder Grace noch sonst jemand aus ihrer Familie auch nur im Traum daran gedacht hätte, von Lebensmittelmarken zu leben. Grace stammte aus einem sehr alten, stolzen Geschlecht, dessen Wurzeln im alten Griechenland lagen. Die Familie Andreas besaß eine Zauberkraft, die unter den menschlichen Hexen einmalig war: die Kraft des Orakels. Seit unzähligen Generationen wurde sie von einem weiblichen Familienmitglied zum nächsten weitergegeben.

Früher war der Sitz des Orakels ein heiliger Tempel in Delphi gewesen. Könige und Königinnen, römische Senatoren und Imperatoren, Menschen und Angehörige aller Alten Völker kamen zu ihm, um seine Prophezeiungen zu hören. Im Gegenzug legten sie dem Orakel ein Vermögen in Gold und Juwelen zu Füßen. All das war Teil eines uralten Gesellschaftsvertrags, den inzwischen kaum noch jemand in Ehren hielt.

Das Orakel sprach für die Menschen, und die Menschen sollten es unterstützen. Die Befrager mussten dem Orakel Opfergaben darbringen, denn das Orakel selbst durfte nicht um Geld bitten oder es verlangen. Denn dann würde es eine Gebühr für seine Dienste erheben, und in diesem Moment würde es der Legende zufolge alle prophetischen Kräfte verlieren.

Zwar konnten andere Familienmitglieder im Namen des Orakels sprechen, aber die Familie Andreas hatte mehrere Generationen voller finanzieller Flauten, Krankheiten und schlichtem Pech hinter sich. Schon als kleines Kind hatte Grace ihre Eltern verloren. Petra und sie wuchsen bei ihrer Großmutter auf und wurden von ihr in die alten Traditionen eingeführt. Vor fünf Jahren, als Grace neunzehn und Petra mit gerade mal sechsundzwanzig frisch verheiratet war, starb die Großmutter an Krebs. Petra hatte ihren Mann Niko an ihrer Seite gehabt, als die Macht auf sie überging, und der hatte nie ein Problem damit gehabt, die Ratsuchenden an ihre Verpflichtungen gegenüber seiner Frau zu erinnern. Dann waren Petra und Niko in diesem Jahr ums Leben gekommen, und die Kraft war auf Grace übergegangen.

Jetzt gab es nur noch Grace und die Kinder, und dabei war Grace erst dreiundzwanzig. Sie stand vor einer Situation, der sie nie allein hätte ausgesetzt sein sollen, und sie musste ihre Nichte und ihren Neffen ernähren – zwei kleine Kinder, für die sie alles tun würde. Verdammt, ja, sie stellte Anträge für Lebensmittelmarken. Sobald sie das Krankenhaus verlassen durfte, hatte sie Anträge für alles gestellt, zu dem sie berechtigt war.

Was die Frage anging, ob sie die Traditionen des Orakels fortführen wollte – diese Entscheidung stand auf Messers Schneide. Während ihrer Genesungszeit im Krankenhaus hatte sich Grace selbst das Versprechen gegeben, keine langfristigen Entscheidungen zu treffen oder Verpflichtungen zu übernehmen, die nicht mit Chloe und Max zu tun hatten. Alles andere würde sie aufgeben, wenn es nicht mehr ging.

Fürs Erste machte sie immer nur einen Schritt auf einmal, bewältigte einen Tag nach dem anderen. Sacht berührte sie Chloes zerzausten, glänzenden Hinterkopf.

Das Mädchen sah sie an und lächelte.

»Gracie, hatten wir Besuch, als ich geschlafen habe?«

»Ja, meine Kleine«, sagte Grace.

»Warum hast du mich nicht geweckt? Ich mag Besuch. Haben sie mich vermisst?«

»Das hätten sie bestimmt, wenn sie von dir gewusst hätten«, sagte Grace. »Aber es war Erwachsenenbesuch. Kein Chloe-Besuch.«

»Ich bin ein großes Mädchen«, schimpfte Chloe. »Ich bin schon sehr groß.«

»Das weiß ich«, sagte Grace. Sie entschied sich für zwei Dosen Mais und legte sie neben Chloes winzige Füße in den Wagen. »Ich kann kaum glauben, wie groß du geworden bist. Schon bald wirst du den Einkaufswagen schieben, und ich werde drinsitzen.« Chloe kicherte. »Aber es war Erwachsenenbesuch für das Orakel, kein Große-Mädchen-Besuch für Chloe. Deshalb ist Janice zu uns gekommen, um bei dir zu bleiben und dir Frühstück zu machen, solange ich weg war.«

Als Grace »Orakel« sagte, überschattete ein dunkler, wissender Blick Chloes Augen. Aber das konnte auch nur ein Produkt von Grace’ Erschöpfung sein. Chloe jedenfalls nickte nur, beugte sich über ihre Puppe und schwieg.

Grace legte zwei Dosen Thunfisch, einen Kanister Milch und ein Dutzend Eier in den Einkaufswagen. Einige Schritte weiter den Gang hinunter nahm sie einige Packungen von Max’ Säuglingsmilchnahrung mit. Auch Bananen mochte er, also ging sie zu den Frischwaren. Super Saver bot keine große Auswahl an frischem Obst und Gemüse an, aber die Bananen sahen ganz gut aus, und so legte sie ein paar in den Wagen.

»Können wir das Hündchen behalten?«, fragte Chloe.

Kurz hatte Grace Schwierigkeiten, die Worte zu verarbeiten, denn sie klangen so willkürlich und hatten nichts mit dem zu tun, was sonst um sie herum vorging. Aber so redeten Vierjährige nun mal, und kurz darauf begriff sie. »Welches Hündchen?«

»Es sagt, manchmal kann es eine Katze sein, wenn ich möchte.«

Grace schmunzelte. »Du willst ein Hündchen behalten, das eine Katze ist?«

»M-hmm!« Blonde Locken sprangen durch die Luft, als Chloe nickte. »Es mag mich.«

»Natürlich mag dich die Hündchen-Katze.« Grace ging um den Wagen herum, um Chloe einen Kuss auf die Stirn zu geben. Als Chloe sie erwartungsvoll ansah, erklärte Grace ihr: »Du bist wundervoll und liebenswert und reizend und sehr, sehr groß.«

Chloes Augen wurden groß und rund. »Das bin ich wirklich, oder?«

»Ja, das bist du. Und wenn wir je eine sprechende Hündchen-Katze auftreiben können, werde ich sie liebend gern behalten. Aber lass uns doch erst mal Joey und Rachel fragen, ob sie zum Spielen kommen wollen. Ich werde Apfelsafteis am Stiel machen. Magst du das?«

»M-hmm.«

»Okay, Süße.« Sie hielt inne, um ein Stück Papier aus ihrer Handtasche zu kramen und eine Notiz daraufzukritzeln. Joey und Rachel waren die Kinder von Petras Freundin Katherine. Nach Petras und Nikos Tod war Katherine eine unglaubliche Hilfe gewesen, und Grace war ihr noch mindestens sechs Monate regelmäßiger Verabredungen zum Spielen schuldig, aber wenn sie es nicht aufschrieb, vergaß sie immer wieder, Katherine anzurufen.

Ihr Bein schmerzte so schlimm wie noch nie, und als sie mit den Kindern und den Lebensmitteln zu ihrem ramponierten Auto zurückkam, humpelte Grace stark.

Statt sich von dem Geld, das sie nach dem Autounfall von der Versicherung bekommen hatte, einen neuen Wagen zu kaufen, hatte Grace ihren alten 1999er-Honda reparieren lassen. Vom Rest hatte sie den undichten Warmwasserboiler ersetzt. Ihr Haus war ein Fass ohne Boden. Es war nicht so, dass es über ihrem Kopf zusammenzubrechen drohte, aber in einem über hundertfünfzig Jahre alten Anwesen fiel ständig etwas an.

Wenigstens hatten Petra und Niko im vergangenen Jahr das alte Monstrum von einem Ofen durch ein energieeffizienteres Modell ersetzt, aber das Dach war in schlechter Verfassung – Grace glaubte nicht, dass es den kommenden Winter überstehen würde. Und sie wusste nicht, was sie dagegen unternehmen sollte.

Die Heimfahrt verlor sich in einem Nebel der Erschöpfung. Zuerst brachte sie die Kinder ins Haus und setzte Max in seiner Trage vorsichtig neben der Couch ab. Dann gab sie Chloe ein paar Brezeln in eine Plastikschüssel und stellte ihr einen kleinen Becher Milch dazu. Während sich Chloe voller Begeisterung zum zehntausendsten Mal Dora ansah, humpelte Grace durchs Haus, um sich zu vergewissern, dass das Kindergatter am Fuß der Treppe ordentlich gesichert war und alle Türen im Erdgeschoss geschlossen waren.

Die Tür zu Chloes und Max’ Zimmer ließ sie offen, damit Chloe, wenn sie wollte, an ihre Spielsachen kam. Dann schaltete Grace den Standventilator im Wohnzimmer ein. Es war billiger, den Ventilator laufen zu lassen, als eine der drei Klimaanlagen im Haus einzuschalten. Anschließend trug sie die Einkäufe herein.

Vier Stufen führten zur Veranda. Grace dachte an all die Male, die sie diese Stufen unbekümmert hinauf- und hinuntergerannt war, als ihr junger, starker Körper noch so reibungslos funktioniert hatte, dass sie nie auch nur einen Gedanken daran verschwenden musste. Nie wieder würde sie so etwas als selbstverständlich ansehen.

Eben war sie zusammen mit den Kindern hinaufgegangen. Wenn sie nun zuerst alle Lebensmittel auf der Veranda stapelte, würde sie diese vier Stufen nur noch ein weiteres Mal erklimmen müssen. Sie gab den Versuch zu denken auf und ließ sich auf einem Meer von Schmerzen davontragen.

Heute hatte sie sich zu viel abverlangt. Sie hätte sich gern in die Badewanne gelegt, aber die war im ersten Stock. Sich und die Kinder zusammen mit dem Babygatter eine ganze Etage nach oben zu befördern, erschien Grace, als müsste sie den Mount Everest besteigen. Sie könnte warten, bis sie die beiden bettfertig gemacht hatte, und dann das Babyfon mit nach oben nehmen, aber so lange würde sie wohl nicht durchhalten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie auf der Stelle einschlafen würde, sobald die Kinder im Bett waren. Den Göttern sei Dank, waren sie so klein, dass Grace sie heute Abend in dem großen, altmodischen Waschbecken in der Küche baden konnte, ohne sich bücken oder hinknien zu müssen. Sie selbst würde sich ebenfalls wieder an der Küchenspüle waschen.

Auf dem Fernsehbildschirm machte sich Dora auf die Suche nach ihrem verlorenen Teddybären. Chloe aß Brezeln, tat so, als würde sie ihre Puppe füttern, und sang die Lieder der Sendung mit. Die übersinnliche Atmosphäre, die das Anwesen umgab, wirkte rastlos und voller Geister. Irgendetwas am Orakel oder an diesem Haus schien sie anzulocken. Hier wimmelte es von Gespenstern.

Aus irgendeinem Grund trieb sich in den letzten Wochen eine Gruppe ältlicher Damen in der Küche herum. Grace kannte sie nicht und verstand kaum, was sie sagten. Entweder waren die Gespenster zu schwach, oder ihr Anliegen war nicht dringlich genug, um darüber deutlich mit Grace zu kommunizieren. Sie vermutete, dass den Damen einfach die Kinder und die Atmosphäre in der alten Küche gefielen. Welchen Grund ihre Anwesenheit auch hatte, Grace mochte ihre Gesellschaft. Sie wirkten irgendwie verschlissen, gemütlich und ausgeblichen – wie eine alte, warme Decke. Wenn ihre Aufmerksamkeit diesen Damen galt, kreisten ihre Gedanken nicht ständig um ihr eigenes Elend.

Manchmal kamen auch Geister ins Haus, die ganz und gar nicht gemütlich waren. Manchmal war ihre Gegenwart scharfkantig, zerfurcht von alter Bosheit und Feindseligkeit, oder die Traumata aus ihrem Leben hallten in ihnen nach.

Bisweilen blieb Grace nichts anderes übrig, als die dunklen Geister von ihrem Anwesen zu verscheuchen. Sie war nicht Jennifer Love Hewitt, und das hier war nicht Ghost Whisperer, wo sich wütende Geister irgendwie in nette Leute verwandelten, wenn ihnen nur jemand die Chance gab, Missverständnisse beizulegen oder sich ihr Leid von der Seele zu reden. Und am Ende einer Folge traten stets alle glücklichen Geister einem strahlenden Leben nach dem Tod entgegen.

In Wirklichkeit waren dunkle, wütende Geister meistens deshalb dunkel und wütend, weil sie nachtragend waren. Außerdem neigten sie dazu, sich einzunisten und ihre Feindseligkeit wie eine Krankheit auf dem ganzen Anwesen zu verbreiten, wenn man sie nicht daran hinderte.

Die Macht des Orakels war die Macht der Prophezeiung. Diese Prophezeiungen hatten nichts mit Wahrsagerei oder göttlichen Offenbarungen zu tun, aber in gewisser Weise mit Hellseherei beziehungsweise mit einer Wahrnehmungsfähigkeit, die über die fünf Sinne hinausging. Wenn jemand Fragen nach Verblichenen stellte, kam gelegentlich ein Gespräch mit den Toten dazu. Die Kraft wurde immer an eine weibliche Person in der Familie Andreas weitergegeben, doch nicht alle Frauen der Familie waren geeignete Kandidaten. Das Potenzial, zum Orakel zu werden, manifestierte sich entweder in einem ausgeprägten zweiten Gesicht oder in einer Affinität zu geistigen Wesen, und manchmal konnte der Schleier der Zeit merkwürdig dünn werden.

Sowohl Grace als auch Petra hatten schon sehr früh Potenzial gezeigt, weshalb ihre Großmutter beiden Mädchen die Kenntnisse und Traditionen beigebracht hatte, die sie brauchen würden, falls die Kraft auf sie überging. Und was Chloe anging, hatte Grace so ihre Vermutungen. Eine solche Fähigkeit bei einem Kind zu erkennen, war nicht ganz einfach, denn alle kleinen Kinder hatten eine ausgeprägte Fantasie und sprachen oft mit unsichtbaren Freunden. Normalerweise wurde das Potenzial erkannt, wenn die Kandidatin etwa fünf Jahre alt war und man sich lange genug zusammenhängend mit ihr unterhalten konnte, um das Vorhandensein der Gabe zu bestätigen.

Was Grace auch zustoßen mochte, ob sie ein langes Leben vor sich hatte oder jung starb, Max würde niemals das Orakel werden. Die Macht ging nie auf die Männer der Familie Andreas über, und diese zeigten auch nie das Potenzial. Allerdings konnten sie es an ihre Töchter vererben, und einige Männer im Familienstammbaum waren mächtige Hexer geworden.

Grace beneidete Max heute aus vielerlei Gründen.

Sie verstaute die Lebensmittel, die gekühlt werden mussten, blieb anschließend einige Minuten vor der offenen Kühlschranktür stehen und genoss die kühle Luft. Dann schenkte sie sich ein Glas kaltes Wasser ein, schluckte eine starke Schmerztablette und humpelte ins Wohnzimmer. Nachdem sie die Fliegengittertür geschlossen hatte, ließ sie die Haustür offen stehen, in der Hoffnung, vielleicht einen verirrten Windhauch einzufangen.

Dann sah sie nach Max. Der kleine Mann zersägte noch immer Baumstämme, die pummelige Hand vor einem Auge zur Faust geballt. Das war doch mal ein ausgiebiges Nickerchen. Sie nahm den stämmigen neun Monate alten Jungen auf den Arm. So vollkommen reglos kam er ihr schwerer vor. Sie trug ihn ins Kinderzimmer und legte ihn behutsam in sein Bettchen, wo er sich nicht mal mehr rührte, um sich umzudrehen.

Das Wichtigste war erledigt. Müde schleppte sich Grace zurück ins Wohnzimmer und setzte sich ächzend auf die Couch.

Ihr Blick fiel auf die Collegebücher, die sich noch immer auf dem Couchtisch stapelten.

Direkt nach der Highschool hatte sie sich noch nicht bereit gefühlt, aufs College zu gehen. Stattdessen hatte sie sich ein Jahr lang herumgetrieben, war mit ein paar Jungs ausgegangen und mit ihrer Freundin Jacqui quer durchs Land gefahren, um die großen Zehen in den Pazifik zu tauchen. Dann waren sie wieder nach Hause gefahren, und Grace hatte in Restaurants gejobbt und ein bisschen Geld zusammengespart. Mit einem Jahr Verspätung hatte sie schließlich am College angefangen, und deshalb war sie jetzt noch nicht fertig.

Der vergangene Frühling hätte ihr letztes Semester sein sollen. An jenem regnerischen Freitagabend waren Petra, Niko und Grace gut gelaunt zusammen essen gegangen. Für Grace hatten gerade die Frühlingsferien angefangen, und Niko hatte bei der Arbeit eine Gehaltserhöhung bekommen.

Um ihr Leben zu zerstören, war nur ein einziger Lastwagenfahrer nötig gewesen, der am Lenkrad eingeschlafen war, die Mittellinie überfahren hatte und in den Gegenverkehr geraten war. Bei dem Unfall waren Petra und Niko ums Leben gekommen, und Grace beinahe ebenfalls. Hätten Chloe und Max auch im Wagen gesessen, wie es ursprünglich geplant gewesen war, wären womöglich die letzten Mitglieder der Familie Andreas bei einem einzigen furchtbaren Unfall ausgelöscht worden. Doch Petra hatte es sich anders überlegt und wollte ohne die Kinder essen gehen – und hatte in letzter Minute einen Babysitter kommen lassen.

An den Aufprall konnte sich Grace nicht erinnern, und darüber war sie froh. Sie wollte sich gar nicht erinnern.

Als sie im Krankenhaus aufgewacht war, war sie desorientiert und von den Schmerzmitteln benebelt gewesen. Trotzdem hatte sie sofort gespürt, dass sich diese alte magische Energie tief in ihr eingenistet hatte. Das Wissen, das damit einherging, konnte sie nicht mehr leugnen: Ihre Schwester war tot, und nichts würde mehr so sein wie früher.

Jetzt besaß sie fünf Bescheinigungen für unterbrochene Kurse, ausgestellt von sehr verständnisvollen Professoren, keinen Bachelor-Abschluss und jede Menge Schulden aus einem Studienkredit, die irgendwann in naher Zukunft über sie hereinbrechen würden. Sie hatte einen ungeheuren Berg an Rechnungen für ihre diversen Knieoperationen und den Krankenhausaufenthalt angehäuft, einen Wust von Auto- und Lebensversicherungspolicen, aber keine Krankenversicherung. Und von dem toten Lastwagenfahrer hatte sie keinen Cent bekommen, weil er seine Versicherungsbeiträge nicht bezahlt hatte. Wie sie die Zahlen auch drehte und wendete, ihr Geld reichte nicht einmal annähernd aus, um alle Rechnungen zu begleichen.

Irgendwie musste sie ein Leben für sich und die Kinder aufbauen. Sie musste versuchen, die Kurse zu Ende zu bringen, ihren Abschluss zu machen und einen einträglichen Job zu finden, der die Lebenshaltungskosten für sie alle deckte. Und sosehr sie sich auch gegen die Vorstellung sträubte – es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass sie einen Insolvenzantrag stellen musste. Vielleicht würde man ihr einen Erlass der Gerichtskosten bewilligen.

»Hast du alles, was du brauchst, meine Kleine?«, fragte sie Chloe nuschelnd.

»M-hmm«, sagte Chloe, die blauen Augen unverwandt auf den Bildschirm gerichtet.

Tut mir leid, Petra und Niko, dachte sie, ich weiß, dass ihr es nicht gut fandet, den Fernseher als Babysitter zu benutzen. Aber gute Götter, ich kann die Augen nicht mehr aufhalten.

Sie bettete ihre schmerzenden Knochen lang ausgestreckt auf die Couch und fiel in ein tiefes schwarzes Loch.

2

Im Traum rannte Grace eine dunkle, gepflasterte Straße entlang. Die Nacht war voller Schatten und der Neumond mit bloßem Auge nicht zu sehen. Der Vollmond im Zenit war der Hexenmond, die richtige Zeit für Beschwörungen und magische Energie. Der Neumond in seiner dunkelsten Phase war der Orakelmond, die Zeit, in der der Schleier zwischen allen Welten und Zeiten dünner wurde. Strahlend helle, weiße Sterne, wie die Augen eines Dschinns, hingen verstreut am dunkelvioletten Himmel, und der Wind flüsterte seine Geheimnisse den Bäumen zu, die sich in den Schatten wiegten.

Rhythmisch kamen ihre Laufschuhe am Boden auf und legten im Einklang mit ihrem rasenden Blut ein gottloses Tempo vor. Sie liebte es, wie sich ihr Körper anfühlte, wie er sich geschmeidig und stark die Straße entlangbewegte. Perfekt. Sie fühlte sich perfekt.

Neben ihr rannte ein gigantischer schwarzer Panther. Seine breite Schulter war auf gleicher Höhe mit ihrer, und sein langer, kraftvoller Körper legte die Strecke mit mühelos fließender Anmut zurück. Sobald sie ihn bemerkte, wandte der Panther den Kopf und sah sie mit seltsamen Diamantaugen an, die so durchdringend strahlten wie die Sterne. Erschrocken fuhr sie zusammen und stolperte …

Und glitt in einen anderen Traum. Diesmal stieg sie eine steile, felsige Klippe hinauf. Hin und wieder musste sie die Hände einsetzen, und sie spürte ein angenehmes Brennen in den Muskeln. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte ihr auf den Kopf, und ihr war so warm, dass ihr der Schweiß vom Körper troff.

Neben ihr kletterte ein riesenhafter schwarzer Hund. Er war gut und gern doppelt so groß wie eine Dogge und bestand nur aus Muskeln und Kraft. Dennoch erklomm er die Klippe mit unglaublicher Anmut. Als sie ihn anstarrte, wandte er sich zu ihr um und sah sie mit leuchtenden Diamantaugen an, die sie so sehr erschreckten, dass sie den Halt an den Felsen verlor.

Die Schwerkraft zerrte an ihr. Sie fiel, und der Boden stürzte auf sie zu.

Mit hämmerndem Herzen schreckte sie hoch. Ihr T-Shirt und die Flanellhose waren klamm vor Schweiß. Die Sonne war weitergewandert, und Grace war allein im Wohnzimmer. Der Fernseher war aus. An diesem Bild war so vieles falsch, aber bevor sie in Panik geraten konnte, hörte sie Max und Chloe in ihrem Zimmer kichern.

»Jetzt will ich, dass du ein Hündchen bist«, sagte Chloe.

Eine männliche Stimme sagte: »Aber im Augenblick bin ich eine Katze.«

Grace kannte diese Stimme. Sie kannte sie erst seit Kurzem, aber sie würde sie nie wieder vergessen. Es war die Stimme vom Fluch ihrer Existenz, sie war tief und klar und von einer Reinheit, die ihr irgendwie in der Seele wehtat. Und in ihr lag die Kraft eines Zyklons.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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