Das Lied der Harpyie - Thea Harrison - E-Book

Das Lied der Harpyie E-Book

Thea Harrison

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Beschreibung

Zwischen der Harpyie Aryal und dem Kämpfer Quentin Caeravorn herrschen alles andere als freundschaftliche Gefühle. Doch dann werden die beiden von dem Anführer der Wyr, Dragos, zu einer Aufklärungsmission ins Elfenland Numenlaur geschickt und geraten dort schon bald in große Gefahr. Sie müssen zusammenarbeiten, wenn sie überleben wollen, und kommen sich dabei unvermutet näher.

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Zitat

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Die Autorin

Die Romane von Thea Harrison bei LYX

Impressum

THEA HARRISON

Das Lied

der Harpyie

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Cornelia Röser

Zu diesem Buch

Für die Harpyie Aryal ist der neue Wächter Quentin Caeravorn wie ein schmerzhafter Dorn in ihrem Fleisch. Sie ist überzeugt, dass er mit falschen Karten spielt, und bei jeder ihrer Begegnungen ist sie versucht, ihm an die Kehle zu gehen. Doch genau wie Quentin auch, verspürt sie in seiner Gegenwart zugleich eine kaum zu beherrschende Anziehungskraft. Eines Tages kommt es zu einem Kampf zwischen den beiden Hitzköpfen, und Dragos, der Herr der Wyr, sieht keine andere Möglichkeit, als sie für einen Monat aus dem Land zu verbannen – gemeinsam sollen sie einen gefährlichen Auftrag im Elfenland Numenlaur ausführen. Zähneknirschend beugt sich Aryal diesem Urteil, entschlossen, Quentin nicht einfach so vom Haken zu lassen. Je mehr Zeit sie allerdings mit ihm verbringt, desto deutlicher wird, dass sie die Leidenschaft nicht mehr verleugnen kann, die der Gestaltwandler in ihr auslöst. In Numenlaur angelangt, wird zudem schnell klar, dass sie nur eine Chance haben, wenn sie zusammenarbeiten. Eine dunkle Macht hat sich in dem Elfenreich eingenistet und droht zur Gefahr für die Alten Völker zu werden. Als Aryal bei einem Angriff schwer verletzt wird und ihr Lebenswille zunehmend schwindet, muss Quentin alles daran setzen, die Frau zu retten, die mit all ihrer widersprüchlichen Natur sein Herz erobert hat.

Dieses Buch ist für Amy.

Keine Gewalt ist auch keine Lösung.

ARYAL, HARPYIE

So geht das Sprichwort nicht, dumme Nuss.

QUENTIN, GENERVT

1

Aryal segelte und wirbelte durch die wilde, dunkle Nacht. Anders als die anderen Wyr machte es ihr nichts aus, in der Stadt zu leben. Die Stadt war kantig und rau, auf eine Art, die ihr gefiel. Aber dieses einsame Reich hoch über den Gipfeln der Welt, das war ihr wahres Zuhause. Hierher kam sie, um nachzudenken, über etwas zu grübeln oder ihren Zorn ins All hinauszuschreien.

Sie flog so hoch, dass die Luft selbst für ihre kräftige Lunge zu dünn wurde. Unter ihr lagen die Wolken, Luftschlösser aus dunklem Elfenbein, und über ihr kreisten die Sterne im Tanz der Konstellationen, ihr Licht erzählte uralte Geschichten von Orten in unvorstellbarer Ferne. In dieser Höhe strahlten die Sterne so hell, dass Aryal beinahe glaubte, die Fesseln der Schwerkraft für immer abstreifen und zu ihnen hinauffliegen zu können.

Beinahe.

Jedes Mal gab es diesen Moment, in dem sie den Höhepunkt ihrer Flugkunst erreichte, diesen einen Augenblick der Perfektion, in dem sie schwerelos in der Luft hing und sich nicht mehr höher hinaufarbeitete, sondern einfach nur in vollkommener Balance existierte.

Dann gewann die Schwerkraft die Oberhand und zog sie wieder zur Erde zurück, doch immer würde Aryal die Erinnerung in sich tragen, wie sie diesen einen, perfekten Augenblick erreichen konnte.

Heute Nacht flog sie nicht zum Vergnügen. Sie flog, um allein und in Ruhe über etwas zu brüten.

Sie hatte zwei Hassobjekte. Eines, das sie festhielt und mit aller Leidenschaft nährte. Und das andere, das sie loslassen musste.

Ihr erstes Hassobjekt war Quentin Caeravorn.

Sobald sie eine Möglichkeit fand, nicht erwischt zu werden, das schwor sie bei Gott, würde sie ihn umbringen.

Am liebsten würde sie ihn langsam töten, aber inzwischen war sie bereit, jede Chance zu ergreifen, die sich ihr bot.

Es war schon schlimm genug gewesen, dass sich Quentins Freundin und ehemalige Mitarbeiterin Pia mit Dragos Cuelebre, dem Lord der Wyr, gepaart – und ihn geheiratet – hatte. Am Anfang war Pia eine Diebin gewesen. Sie hatte den mächtigsten Wyr bestohlen, den die Welt je gesehen hatte. Jetzt war sie seine Frau und die Mutter seines Sohns.

Sobald Pia im Cuelebre Tower eingezogen war, waren die Greifen total hin und weg von ihr gewesen; die glaubten wohl alle, dass sie glitzernde Regenbögen pupste oder so was. Und verdammt, nach allem, was Aryal wusste, pupste sie tatsächlich glitzernde Regenbögen.

Im Allgemeinen fiel die Reaktion der Wyr auf Pias Gegenwart eher zurückhaltend aus (vernünftig), besonders da sie sich immer noch weigerte, ihre Wyr-Gestalt zu enthüllen, was Aryal nicht nur für eine kurzsichtige, sondern auch für eine armselige Entscheidung hielt. Wie konnte sie erwarten, von den Wyr anerkannt zu werden, wenn die nicht einmal wussten, was zum Geier sie eigentlich war? Allein die Tatsache, dass sie existierte, bereitete Aryal Zahnschmerzen.

Außerhalb des Wyr-Reichs allerdings war Pias Beliebtheit in den Himmel geschossen. Ihre tägliche Post war von einem spärlichen Tröpfeln von Briefen zu einer Lawine angeschwollen, für die sie ein eigenes Büro samt einer kleinen Belegschaft brauchte.

Pia hatte sogar Dragos’ Nachnamen angenommen, ein altmodischer Schritt, über den Aryal die Augen verdrehte. Jetzt war sie Pia Cuelebre.

Nachnamen … das waren Parasiten in Wortform. Sie hafteten auf seltsame Art an Personen, überschritten kulturelle und politische Grenzen, reisten um die Welt, um sich dann ganz nach Lust und Laune und scheinbar zufällig an andere zu heften.

Warum fiel sonst niemandem auf, wie unheimlich Nachnamen waren? Sie drückten einer Person den Stempel auf, aus einer bestimmten Schicht oder Gegend zu stammen, und verknüpften die Identität dieser Person mit einer anderen, als hätte diese Identität für sich genommen keinen Wert.

Im Gegensatz zu vielen anderen der ersten, unsterblichen Wyr weigerte sich Aryal hartnäckig, einen Nachnamen zu wählen, und sie würde auch niemals den Namen eines anderen annehmen.

Pia war ihr zweites Hassobjekt.

Im Laufe dieses Tags hatte sich Aryal zähneknirschend und unter Schmerzen eingestanden, dass sie ihr verächtliches Schnauben über Pia einstellen musste. An dieser bitteren Pille hatte sie ganz schön zu würgen. Versüßt wurde sie durch die tödlichste Waffe aus Pias derzeitigem Arsenal: dem unglaublich niedlichen Gesicht ihres neugeborenen Sohns.

Nach ihrer Hochzeit waren Pia und Dragos in die Flitterwochen gefahren, wo Pia überraschend niedergekommen war. Gestern hatten die beiden ihre Reise auf Dragos’ Landsitz im Norden von New York abgebrochen und waren in die Stadt zurückgekehrt. Als sie am frühen Abend im Tower angekommen waren, hatte ausnahmslos jeder das Baby anfassen, es auf den Arm nehmen und/oder albern mit ihm herumbrabbeln müssen.

Die anderen Wächter führten sich auf, als hätte Dragos über Nacht ganz Asien erobert, während er selbst vor unbändigem Stolz strahlte.

In seiner Menschengestalt war er gut zwei Meter zehn groß, hatte einen gewaltigen, muskulösen Körper und ein hartes, attraktives Gesicht. Obwohl sein Auftreten immer die Schärfe eines Messers haben würde, musste Aryal zugeben, dass sie ihn noch nie so … glücklich gesehen hatte.

Sie für ihren Teil weigerte sich, auch nur in die Nähe von Pia und dem kleinen Hosenscheißer zu kommen. Sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben.

Leider war das nicht lange gut gegangen.

Keine vierundzwanzig Stunden, um genau zu sein.

Als sie heute auf dem Flur vor Dragos’ Büro um eine Ecke gestürmt war, hätte sie beinahe Pia über den Haufen gerannt, die ein kompliziert aussehendes Wägelchen mit dem schlafenden Baby darin vor sich herschob.

Pia sah müde aus. Ihr hübsches, herzförmiges Gesicht war blasser als sonst, und ihr unvermeidlicher blonder Pferdeschwanz saß ein wenig schief. An den Schläfen hatten sich Haarsträhnen daraus gelöst. Einer ihrer neuen Vollzeit-Leibwächter hatte sie begleitet. Es war die vorlaute Frau, Eva. Eva stellte sich zwischen Pia und Aryal, ihre kühnen Züge und die schwarzen Augen voller unverschämter Feindseligkeit. Sie war etwa so groß wie Aryal, gut eins achtzig in flachen Stiefeln. Dunkelbraune Haut spannte sich über ihren straffen Muskeln.

»Du bist ja schon gemeingefährlich, wenn du nur einen Flur entlangläufst«, sagte Eva. »Hast du kein Tempo drauf, bei dem es keine Verletzten gibt?«

»Du und ich«, erklärte Aryal ihr mit aufwallender Freude, »wir werden das eines Tages austragen.«

»Machen wir es doch gleich heute«, sagte Eva. »Wir können jetzt sofort in den Trainingsraum am Ende des Flurs gehen. Mit oder ohne Waffen, deine Entscheidung.«

»Nicht so laut«, sagte Pia gereizt. »Wenn ihr das Baby aufweckt, mach ich euch beide fertig.«

Evas Züge wurden weicher, als sie den Insassen des Wagens ansah. Und bevor sie es verhindern konnte, sah auch Aryal hin.

Und war unwiederbringlich verloren.

Es verblüffte sie, wie winzig das Baby war. Sein Gesicht, sogar fast sein ganzer Kopf war kleiner als ihre Handfläche. Es war fest in weichen Stoff gewickelt, was beengend und unbequem aussah, allerdings wusste Aryal rein gar nichts über Babys, und der Kleine wirkte ziemlich zufrieden.

Den Kopf schief gelegt, schlich sich Aryal einen Schritt näher. Eva machte Anstalten, ihr den Weg zu versperren, doch Pia legte ihrer Leibwächterin eine Hand auf den Arm und hielt sie zurück.

Im weichen, zerbrechlichen Körper des schlafenden Babys lag ein lautes Tosen magischer Energie. Staunend schüttelte Aryal den Kopf. Bis zu diesem Moment hatte sie nichts davon gespürt. Wie hatte Pia so viel magische Energie während der Schwangerschaft verbergen können?

Das Baby schlug die Augen auf. Es sah so lebendig, so unschuldig und friedlich aus wie ein Miniatur-Buddha. Seine Augen waren dunkelviolett wie die seiner Mutter. Die Farbe war so tief und rein, dass sie alle Wildheit und alle Mysterien des Nachthimmels zu enthalten schien.

Ein lebenswichtiges Organ in Aryals Brust zog sich zusammen. Sie streckte die Hand nach dem Baby aus, stockte dann aber mitten in der Bewegung, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie Pia zusammenzuckte.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Aufwärtshaken unters Kinn.

Pia würde ihr das Baby nie anvertrauen, solange sie noch an einem Rest von Abneigung oder Feindseligkeit festhielt. Sie würde ihr nicht zeigen, wie sie das Baby halten musste, und garantiert würde sie nicht zulassen, dass Aryal auf das Kind aufpasste. Niemand würde das, dabei war es schrecklich unfair, denn Aryal hätte sich lieber die Hände abgehackt, als einem Kind auf irgendeine Weise Schaden zuzufügen.

Während sie noch mit dieser Erkenntnis rang, befreite das Baby einen Arm aus seiner Zwangsjacke und steckte sich die Faust ins Auge. Überraschung und Verwirrung zogen über sein winziges Gesicht. Mit herkulischer Anstrengung schaffte es der Kleine, die Faust zu seinem Mund zu zerren, um dann lautstark daran zu nuckeln.

Dieses lebenswichtige Organ in Aryals Brust, das war ihr Herz, und sie hatte es für alle Zeit an ihn verloren.

»Okay«, sagte sie mit heiserer Stimme.

»Was genau ist okay?«, fragte Pia.

Aryal sah sie an. In Pias Blick tanzte irgendein unterdrücktes Gefühl. Triumph vielleicht, oder Belustigung. Was es auch war, es war ihr egal.

Ohne große Hoffnung sagte sie: »Ich nehme nicht an, dass du auch nur darüber nachdenken würdest, deinen Cheerleader-Pferdeschwanz abzuschneiden?«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Pia feierlich, »nicht besonders ernsthaft, aber ich werde darüber nachdenken.«

Aryal fing ihren Blick auf. Geradeaus, ohne Getue oder sonstigen Scheiß, fragte sie: »Darf ich ihn besuchen kommen?«

Einen Augenblick lang sah Pia sie prüfend an. »Ja, das darfst du.«

Aryals Mundwinkel hob sich, als sie noch einmal auf das Baby hinabsah. »Danke.«

»Keine Ursache.« Das Baby fing an zu quengeln, und Pia sagte: »Ich glaube, er hat schon wieder Hunger. Ich bringe ihn lieber wieder nach oben.« Sie schob das seltsame Gefährt zu den Aufzügen, die sie ins Penthouse an der Spitze des Towers bringen würden. Eva folgte ihr rückwärts.

»Nur keine Sorge, Zuckerpuppe«, sagte Eva mit sanfter Stimme zu Aryal. »Eines Tages werden wir es schon noch austragen.«

Aryal verlagerte das Gewicht auf ihre Ferse und winkte Eva mit beiden Händen zu sich. Nur zu, Baby.

Sie lachte, als Eva ihr eine Grimasse schnitt und dann herumfuhr, um Pia und dem kleinen Prinzen in den Aufzug zu folgen. Dann drehte sich Aryal zu Dragos’ Büro um und blieb plötzlich stehen. Sie wusste nicht mehr, warum sie ihn überhaupt hatte sprechen wollen.

Hinter sich hörte sie die flüsternden Stimmen der beiden Frauen, bevor sich die Aufzugtüren schlossen. Pia sagte: »Sehet die Macht von Peanut. Mag sein Körper auch klein sein, so ist sein Einfluss doch gewaltig. Die letzte Bastion im Tower ist ihm offiziell verfallen.«

»Wenn du meinst.«

Eva klang skeptisch, aber Pia hatte recht. Aryal hatte sich in dieses geheimnisvolle neue Geschöpf verliebt.

Um seinetwillen entließ sie nun, während sie flog, den letzten Rest ihrer Feindseligkeit in die Nacht.

Schließlich hatte Pia nur ein einziges Mal gestohlen. Auch wenn Aryal in ihrem Misstrauen so stur gewesen war wie niemand sonst, hatte selbst sie letztendlich einräumen müssen, dass Pia nichts von Caeravorns Aktivitäten gewusst hatte, und sie war nun wirklich nicht gerade eine Berufskriminelle.

Sicher, Pias Diebstahl war eine schlimme Sache gewesen, aber Dragos persönlich hatte ihr nicht nur verziehen, sondern sie zur Gefährtin genommen. Und Dragos war nicht gerade für sein versöhnliches Naturell bekannt.

Wenn ein Drache das fertigbrachte, konnte eine Harpyie es auch, oder?

Dem Baby zuliebe ihren Hass auf Pia aufzugeben, war eine Sache, und es war schon schwer genug.

Quentin Caeravorn war ein vollkommen anderes Desaster.

Aryal richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr erstes Hassobjekt. Diesen Hass trug sie tief in ihrem Herzen und nährte ihn mit all ihrer Kraft.

Caeravorn war ein Berufsverbrecher. Außerdem war er eine »dreifache Bedrohung«, ein seltenes Mischwesen mit großer magischer Energie, das teils Wyr, teils Elf und teils Dunkler Fae war. Aryal kannte die Details seiner Familiengeschichte nicht, aber ein Elternteil musste ein reiner Wyr und der andere ein Mischwesen gewesen sein, denn seine Wyr-Seite war stark genug ausgeprägt, dass er seine Tiergestalt annehmen konnte. Das verlieh ihm im Wyr-Reich den Status eines Voll-Wyr und alle dazugehörigen Rechte.

Weil er alle Rechte eines Voll-Wyr besaß und man ihn nie wegen eines Verbrechens verurteilt hatte, war er zur Teilnahme an den Wächter-Spielen berechtigt gewesen. Er hatte sich durchgekämpft und war einer von Dragos’ sieben Wächtern geworden, die den Kern der Regierungsmacht im Wyr-Reich bildeten.

Und das hatte er nur geschafft, weil Aryal ihm trotz fast zweijähriger Ermittlungen und mehrerer Monate ganz gezielten Grabens vor Beginn der Spiele nicht ein einziges Vergehen hatte nachweisen können.

Sie wusste, dass er schmutzig war. Sie wusste es.

Alle Spuren hatten in Sackgassen geführt, und ihre Quellen waren ausgetrocknet. Immer wenn sie jemanden gefunden hatten, stellte sich heraus, dass derjenige das Wyr-Reich verlassen hatte oder bei einem Unfall ums Leben gekommen war (und auch das wurde natürlich gründlich untersucht). Oder derjenige war nicht direkt an einer illegalen Aktivität im Zusammenhang mit Caeravorn beteiligt gewesen, sondern hatte nur etwas gehört – Hörensagen und Gerüchte, die sich in Luft auflösten, wenn Aryal versuchte, sie in konkrete, handfeste Beweise zu verwandeln.

Caeravorn war ein Magier mitten in einem Labyrinth aus Rauch und Spiegeln, der selbst unberührt im Zentrum von allem stand.

Schmutzig.

Er hatte Zutritt zum Herzen des Wyr-Reichs, und das nur, weil Aryal ihn nicht erwischt hatte.

Ihre Stimmung verdüsterte sich. Während sie an die Ereignisse zurückdachte, die sich vor zwei Monaten, im Januar, abgespielt hatten, flog sie höher hinauf, um sich dann in die Tiefe zu stürzen und den Wind in ihren Ohren heulen zu hören. Das Geräusch passte zu dem Wutgeheul in ihrem Kopf.

Bei den Spielen hatte sie Caeravorns Kämpfe beobachtet und jedes Detail in sich aufgesogen. Er war tödlich schnell und elegant und gut, um nicht zu sagen überragend trainiert. Normalerweise bildeten Zivilisten ihre Kampfkünste nicht bis zu einem solchen Maß aus. Warum zum Kuckuck hatte niemand außer ihr ein Problem damit?

Einige Male hatte er in seiner Wyr-Gestalt gekämpft, als riesiger schwarzer Panther mit neonblauen Augen, die unter den grellweißen Scheinwerfern leuchteten. In seiner Menschengestalt war er der Wahnsinn. Als Panther war er geschmeidig und muskulös und bewegte sich blitzschnell. Er hatte jeden Zentimeter der Kampfarena beherrscht und die fast zwanzigtausend Zuschauer in seinen Bann gezogen.

Als die Spiele vorüber waren und Dragos dem Wyr-Reich seine neuen Wächter präsentierte, war Caeravorn als siegreicher Held mit den übrigen Wächtern in den großen Saal des Cuelebre Towers spaziert. Außer Quentin waren da noch die fünf Wächter, die sich ihre Plätze zurückerkämpft hatten – die Harpyie Aryal, die Greifen Bayne, Constantine und Graydon sowie der Gargoyle Grym, und außerdem der andere Neue, der Pegasus Alexander Elysias.

Dragos wusste, wie man eine verflucht gute Party schmiss. Es war, als hätte man die Silvesterpartys von hundert Jahren in eine einzige Nacht gepackt. Es gab Alkohol in Strömen, laute Musik von berühmten Bands, Gourmetessen und Konfetti und einen riesigen Ansturm auf alle Wächter, ganz besonders aber auf die muskulösen Männer, die vor Testosteron und Siegerstolz nur so strotzten.

Dieser Abend war für alle Wächter ein Triumph gewesen – auch für Aryal, und auch sie konnte sich nicht über einen Mangel an Angeboten beklagen. Trotzdem konnte sie sich einfach nicht fallen lassen und etwas davon genießen, denn diese Nacht war auch eine Niederlage für sie gewesen.

Sie hielt sich abseits, mit Bitterkeit und einem harten, schweren Knoten in ihrer Magengrube, und sah zu, wie Caeravorn lachte, als jemand eine Flasche Champagner über seinem Kopf ausgoss. Er war eins siebenundachtzig groß, hatte einen langen, schlanken Körper und die flinke Anmut einer Katze, elegante, grazile Züge und dunkelblondes Haar, das er früher länger getragen hatte. Für die Spiele hatte er es abgeschnitten, und jetzt lag der strenge Schnitt glatt an den kräftigen, klaren Konturen seines Kopfs an.

Während sie mit verschränkten Armen dastand, kam Grym zu ihr. In seiner menschlichen Gestalt hatte er dunkle Haare und ebenmäßige Züge. In seiner Wyr-Form war er ein Albtraum mit langen Fledermausschwingen, einem dämonischen Gesicht und grauer Haut, die so hart war wie Stein.

Wie alle Wächter hatte auch er einige Groupies, aber Grym redete nicht viel, und das schreckte die meisten Frauen nach den ersten ein oder zwei Nächten ab. Er war eines der wenigen Wesen, dessen Gesellschaft Aryal als angenehm empfand, und diese Tatsache hatte er sich mehr als einmal zunutze gemacht, um ihr explosives Temperament zu besänftigen.

Mehr als einmal hatte sie sich gewünscht, dass es zwischen ihnen ein erotisches Knistern gäbe, doch leider war das nicht der Fall. Vor Jahren hatten sie es einmal versucht, aber keiner von beiden hatte ein Interesse daran gehabt, über die erste Stufe hinauszugehen. Und so hatten sie sich vor langer Zeit in einer ungewöhnlichen, aber absolut behaglichen Freundschaft eingerichtet.

Grym stand so dicht neben ihr, dass sich ihre Schultern berührten. »Du hast ihn nicht erwischt«, sagte er. »Das kann passieren. Gib es auf.«

»Nein, das werde ich nicht«, sagte sie und sah ihn finster an.

Grym rieb sich den Nacken. »Aryal. Wenn du nach all den Stunden, die du in Quentins Leben herumgewühlt hast, bis jetzt keine handfesten Beweise gefunden hast, wirst du mit größter Wahrscheinlichkeit auch keine mehr finden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das heißt nicht, dass ich aufgeben muss. Es heißt nur, dass ich noch nichts gefunden habe.«

Er stellte sich direkt vor sie, die Lippen geschürzt. »Hast du je in Erwägung gezogen, dass er unschuldig sein könnte?«

Sie schob den Unterkiefer vor. »Das ist er nicht.«

»Tja, wenn er das nicht ist, wird er früher oder später darüber stolpern«, sagte Grym. »Und bis es so weit ist: Auch du hast dir diesen Abend verdient. Lass ihn dir nicht von Quentin verderben.«

Sie zog eine Grimasse, als Grym ihr auf den Rücken klopfte und in der Menge verschwand, um die nächste Bar anzusteuern. Caeravorn war längst dabei, ihr den Abend zu verderben. Schon allein wegen seiner Anwesenheit bei dieser Feier zog sich ihr der Magen zusammen. Zuzusehen, wie er sich amüsierte, war in etwa so vergnüglich, wie in Säure zu baden.

Er verströmte Testosteron wie alle anderen, ein Alphamann, der sich seiner Fähigkeiten überaus sicher war, und hatte er nicht auch allen Grund dazu? Gerade hatte er sich seinen Weg an die Spitze des Wyr-Reichs erkämpft und einen Platz unter den Besten der Besten erlangt.

Sie kniff die Augen zusammen. Er war ein gut aussehender Mann, das musste sie ihm lassen. Er besaß eine gut besuchte Bar Namens Elfie’s, wo er sich etwas eleganter kleidete, aber hier trug er wie die übrigen Wächter schlicht Jeans, Stiefel und ein dunkelblaues T-Shirt, das seine Augen zum Strahlen brachte.

Sex musste für ihn immer leicht zu haben gewesen sein. Und heute Abend würde es noch leichter werden. Er konnte so viel Sex mit so vielen Partnern haben, wie er wollte.

Eine seiner Begleiterinnen war eine Firmenanwältin von Cuelebre Enterprises, eine Wyr-Löwin, die in so gut wie jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Aryal war. Die Harpyie musterte die andere Frau, begutachtete sie wie eine Kampfgegnerin. Statt Aryals eins zweiundachtzig war die Löwin nur schnucklige eins siebenundsechzig groß. Männer hatten eine Schwäche für Frauen dieser Größe. Sie hatte einen geschmeidigen, kurvigen Körper, während Aryal athletisch gebaut war und lange, schlanke Muskeln hatte.

Die Gliedmaßen der Löwin waren goldbraun und von der Sonne geküsst, ihr attraktives Gesicht geschickt geschminkt, um die schräg stehenden Augen und die vollen Lippen zu betonen. Sie trug Zehn-Zentimeter-Absätze, und in ihrem taillenlangen Haar, das ihr offen auf den Rücken fiel, schimmerten teure, goldene Strähnchen.

Aryal hatte graue Augen und kantige Züge, und Make-up hatte sie nur ein einziges Mal getragen, als sie sich mit ihrer Freundin Niniane einen angetrunken hatte und diese Aryal irgendwie dazu überredet hatte, ihr rosa Lippenstift auftragen zu dürfen. Das Experiment hatte keine fünf Minuten gedauert. Absätze, egal in welcher Höhe, hätte Aryal nur über ihre Leiche angezogen – es sei denn, es wäre ein Springmesser darin versteckt –, und sie dachte nur selten daran, ihre dichten, schwarzen, schulterlangen Haare zu kämmen, weshalb sie so oft zerzaust waren, besonders nach einem Kampf.

Die Löwin stand auf Zehenspitzen, um Caeravorn etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei schmiegte sie sich an seinen Arm und streifte seinen Bizeps absichtlich mit ihrem Busen. Dann bedachte sie die Umstehenden mit einem warnenden Blick, bevor sie den Champagner ableckte, der von seinem Kinn troff. Caeravorn grinste und fasste ihr an den Hintern. Wenn die Tussi in dieser Sache irgendetwas zu sagen hätte, wäre sie in dieser Nacht ganz sicher seine einzige Partnerin.

Aryal bleckte die Zähne. Schau an, wie niedlich. Zwei Katzen-Wyr geraten in Hitze. Da fehlte ja jegliche Spannung.

Caeravorn wandte den Kopf, um der Frau ein bedächtiges, sexy Lächeln zu schenken, als sein Blick auf Aryal fiel. Seine länglichen blauen Augen verengten sich, und seine Miene wurde kühl. Er sagte etwas zu der Frau und löste sich von ihr, woraufhin sie ein schmollendes, kätzchenhaft kokettes Lächeln aufsetzte und ihm folgen wollte. Doch als sie mit dem Blick seiner Laufrichtung folgte, sah sie Aryal und blieb mit einem Ruck stehen.

Oh ja, die Kleine war lästig, aber nicht dumm.

Caeravorn drängte sich an ein paar Leuten vorbei und kam mit funkelnden Augen auf Aryal zu. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine, und sein Gang war so geschmeidig, als hätte er überhaupt keine Knochen. Aryals Blick glitt über seine harten Züge und seinen ebenso harten Körper. Verborgen hinter ihren verschränkten Armen, traten glatt und lautlos wie gut geölte Springmesser ihre Klauen hervor. Sie ließ sie aufeinander klicken, während er sich anpirschte.

So schmutzig.

Er war ein Gesetzloser in Verkleidung.

Ihr Blick blieb an der Wölbung seiner Jeans hängen. War er auch in sexueller Hinsicht ein Gesetzloser?

Die Possen der Anwaltsmieze mussten es ihm angetan haben, denn als er direkt vor ihr stand, roch er nach gesundem Mann, Champagner und Erregung. Aryal hasste es, dass er so unfassbar köstlich roch.

»Du bist das unhöflichste, starrköpfigste Geschöpf, dem ich je begegnen musste«, sagte er.

Sie legte den Kopf schief und begutachtete seinen harten, schön geschnittenen Mund.

»Gib’s auf, Sonnenschein. Du hast verloren.«

Sie lächelte ehrlich belustigt und beugte sich vor, bis ihr Gesicht direkt vor seinem war. Dann flüsterte sie: »Ich weiß etwas, das du nicht weißt.«

Seine Zähne waren gleichmäßig und weiß, als er hervorspie: »Scheiße, das hättest du wohl gern.«

»Nein, ich weiß wirklich etwas, Caeravorn. Wie alt bist du, hundertsechzig, hundertsiebzig Jahre?«

Er schnitt mit der Hand durch die Luft. »Was spielt mein Alter für eine Rolle?«

»Ihr jungen Wyr seid alle gleich«, sagte sie. »Vielleicht ist deine Lebenszeit durch deine Pantherseite begrenzt, oder vielleicht wird sie durch dein Elfen- und Dunkle-Fae-Blut verlängert, aber so oder so begreifst du nicht, was es heißt, unsterblich zu sein. Die Vergangenheit ist fast so grenzenlos wie die Zukunft.«

»Komm zum Punkt«, knurrte er.

Ihre Stimme wurde leiser, nur für seine Ohren bestimmt. »Eins muss ich dir lassen. Du warst gründlich, wirklich. Du hast deine Spuren gut verwischt. Aber niemand auf dieser Welt ist vollkommen. Das bedeutet, dass du irgendwo Mist gebaut hast. Das ist es, was ich weiß. Ich habe alle Zeit der Welt, es herauszufinden. Alle Zeit der Welt. Und weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, dass ich dich schon habe. Es ist nur noch nicht passiert.«

Während sie sprach, konnte sie sehen, wie sich der Zorn in seinem Gesicht und seiner Körpersprache aufbaute. Vielleicht hatte sie ihn noch nicht erwischt, aber für den Moment hatte sie ihn immerhin hart genug getroffen und so weit getrieben, dass er völlig die Beherrschung verlor. Er stürzte sich auf ihre Kehle.

»Du bist keine Harpyie«, fauchte er. »Du bist ein beschissener Pitbull mit einer Maulsperre.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, als seine Hände sich eisenhart um ihren Hals schlossen. Er drückte zu, seine Finger schnitten ihr die Luftzufuhr ab. Sie hakte ihren Knöchel hinter sein Bein, warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn und stieß ihn nach hinten.

Gemeinsam krachten sie zu Boden. Die Leute schrien und stoben auseinander, während andere auf sie zustürmten. Der ganze Lärm schien sich irgendwo anders abzuspielen. Hier und jetzt gab es nur sie und Caeravorn umgeben von intimer, kämpferischer Stille.

Als er auf den Boden prallte, lösten sich seine Hände von ihrem Hals. Sie landete auf seinem muskulösen Körper, drehte sich und rammte ihm den Ellbogen hart unters Kinn. Der Hieb schleuderte seinen Kopf heftig nach hinten, und einen pulsierenden Augenblick lang lag sein kraftvoller Körper hilflos mit entblößtem Hals unter ihr. Sie setzte sich auf ihn.

Es war herrlich.

Dann wurde Aryal von einem Güterzug gerammt und einige Meter von Caeravorn weggeschleudert, der sich noch immer fauchend auf Hände und Knie rollte. Mit gesenktem Kopf und gebleckten Zähnen fasste er sie ins Auge und machte sich zum Sprung bereit.

Wow, der war ja völlig von der Rolle. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Bayne, Constantine und Alexander auf ihm stapelten und ihn mit ihrem gemeinsamen Gewicht wieder flach auf den Boden drückten.

Ihr Güterzug verwandelte sich in Dragos’ neuen ersten Wächter Graydon, den größten von allen derzeitigen Wächtern. In seiner Menschengestalt war er fast eins fünfundneunzig groß und wog gut dreißig Pfund mehr als die anderen Greifen.

Dieses Gewicht bestand aus nichts anderem als harten, kompakten Muskeln und hatte sich gerade auf ihrer Brust niedergelassen. Er drückte ihre Arme an den Handgelenken zu Boden. Normalerweise zeigten seine grob gehauenen Züge einen milden, gutmütigen Ausdruck, nicht aber in diesem Moment.

Ohne auch nur zu versuchen, sich loszumachen, sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen zu Graydon auf. »Was?«

Wütend sah er sie aus seinen dunkel-schiefergrauen Augen an. »Diesen Monat sind Leute durch die Hölle gegangen. Wir waren im Krieg, und anschließend haben wir uns in den Spielen gegenseitig die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Wir brauchen alle ein bisschen Ruhe und Erholung, und du kannst es nicht einmal für ein paar Scheißstunden auf einer Party gut sein lassen.«

Sie schob den Unterkiefer vor und kostete ihre folgenden Worte aus, denn sie waren ein seltener Schatz. Vollkommen unschuldig und aufrichtig sagte sie: »Er hat angefangen.«

2

Jetzt im März, zwei Monate nach der Party, schienen ihre eigenen Worte sie zu verhöhnen. Ihr Triumph auf der Party war von allzu kurzer Dauer gewesen.

Der bitterkalte Wind passte gut zu ihrer Stimmung. Die schneidende Kälte der winterlichen Luft kühlte ihr überhitztes Blut. Frust nagte an ihr, während sie sich von den wirbelnden Strömungen hin und her schleudern ließ.

Vielleicht hatte sie alle Zeit der Welt, um Caeravorn zu jagen. Aber sie hatte nicht alle Geduld der Welt. Nicht, wenn er ein Bestandteil ihres täglichen Lebens war. Es war eine Sache, ihn als Gegenstand der Ermittlungen ständig im Kopf zu haben, aber jetzt konnte sie nie wissen, wann sie im Tower auf ihn stoßen würde.

Sie wusste, dass sie ihm immer dann begegnen würde, wenn Dragos eine Wächterkonferenz einberief. Deshalb fing sie an, diese Konferenzen zu meiden, wann immer sie es sich erlauben konnte, bis Dragos dieses kleine Manöver in Grund und Boden stampfte, indem er ihr die Teilnahme an jeder Besprechung befahl.

Caeravorn war ein Frauentyp. Wo er ging und stand, liefen sie ihm nach wie hypnotisierte Welpen. Zu allen war er ausgeglichen und charmant – zu allen außer Aryal.

Doch sie trieben sich nicht nur gegenseitig in den Wahnsinn. Gemeinsam machten sie auch alle anderen irre, und die Echos ihrer Fehde zogen unter den anderen Wächtern ihre Kreise. Die Gemüter kochten hoch, bis eines Tages sogar Alexander, mit Abstand der gutmütigste von ihnen allen, die beiden anfuhr. Dann gingen Grym und Constantine dazwischen und zerfleischten sich mit Worten wie kämpfende Hunde.

Dass Aryal einen guten Streit sehr schätzte, war kein Geheimnis. Konflikte hatte sie sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen, doch diese Sache ging tiefer – sie besaß alle Voraussetzungen für ein echtes Schisma, und das musste aufhören.

Als ihr das klar wurde, lenkte sie ihre Gedanken auf etwas anderes. Sie musste auch an das Baby denken, denn Pia mochte ihren Freund Caeravorn und vertraute ihm. Sie mochte ein Problem damit haben, Aryal in die Nähe ihres Sohns zu lassen, doch bei ihm hatte sie garantiert keine Bedenken … und das machte ihn in Aryals Augen gefährlicher denn je.

Sobald sie also herausgefunden hatte, wie sie es anstellen sollte, würde sie ihn umbringen.

Die Entscheidung war eine Erleichterung. Sie gab ihr ein realistisches Ventil für ihren Frust, und das Ergebnis war für alle besser, als den langen Weg zu nehmen, wie Dragos es entschieden hatte. Der lange Weg hätte bedeutet, Caeravorn Zugang zu sensiblen Informationen zu geben und damit die Möglichkeit, schweren Schaden anzurichten, bevor sie ihn zu Fall bringen konnten.

Endlich hatte der lange Flug ihre Gedanken geklärt. Sie winkelte die Flügel an, um den Luftstrom zu verlassen, und stieß in die Tiefe, hinab auf die weitläufige Stadt unter ihr. Die bewölkte Nacht verhüllte die unendlichen Lichterreihen der Stadt mit einem düsteren Schleier. In Bodennähe war es nur wenig wärmer. Die Luft fühlte sich feucht und kalt an, Bäume, Straßen und Dächer waren mit Eisregen bedeckt.

Sie wollte sich erst verwandeln, wenn sie eine Möglichkeit hatte, schnell ins Warme zu kommen, weil sie die Kälte in ihrer Menschengestalt stärker spürte. Stattdessen benutzte sie einen Verhüllungszauber und flog durch die Schneisen zwischen den Hochhäusern hindurch, bis sie das Elfie’s, Caeravorns Bar, erreichte. Um fast vier Uhr morgens war die Bar geschlossen und das gesamte Erdgeschoss dunkel.

Aus einem Fenster in der obersten Etage, dem zweiten Stock des Backsteingebäudes, fiel ein schmaler Lichtstreifen. Aryals ausgebreitete Flügel hielten sie gleichmäßig auf Kurs, als sie näher heranglitt. Das Haus gehörte Caeravorn, und er wohnte in einer Wohnung über der Bar. Als Wächter hatte er jetzt auch ein Apartment im Tower, aber dort übernachtete er nur selten.

Alle Fenster des Hauses waren mit schlanken Gitterstäben aus schwarzem Metall gesichert, selbst die in den oberen Stockwerken. Aryal lächelte. Caeravorn traute dem freien Himmel nicht. Jammerschade.

Sie flog zu dem erleuchteten Fenster, hielt sich an den Gitterstäben fest und schlug mit den Flügeln, bis sie die Spitzen ihrer tödlichen Klauen in die Seitenwand des Gebäudes gebohrt hatte. Ihre Klauen waren so scharf, dass sie durch Stahl schneiden konnten. Sie in den Mörtel zwischen den Backsteinen zu schlagen, war verhältnismäßig leicht.

Probehalber zog sie an den Gitterstäben, um die Bolzen zu testen, die sie in der Wand hielten, doch sie waren solide verankert. Ihr ganzes Gewicht hing an einem Zentimeter ihrer Klauenspitzen, und die Stäbe vor dem Fenster waren mit einer Eisschicht überzogen. Diese Position war ungemütlich und unsicher, aber für den Moment konnte Aryal sie halten.

Das Fenster war einen Spalt geöffnet, die Vorhänge nicht ganz zugezogen. Durch den Spalt drangen Hitze und Licht nach draußen, und außerdem instrumentale Tribal-Musik in einem hypnotischen Rhythmus, der in ihre Blutbahn schlüpfte und in ihrer Kehle und ihren Schläfen pochte. Sie spähte hinein.

Der Anblick traf sie wie ein Schlag.

In dem Zimmer waren Caeravorn und eine nackte Frau. Er trug eine mitternachtsblaue Seidenhose, die tief auf seinen schmalen Hüften saß, sein Oberkörper war nackt. Die Frau saß auf dem Rand eines Bettes. Es war nicht die Löwin, sondern eine hübsche, jung aussehende Brünette mit festen, kleinen Brüsten und dunklen, aufgerichteten Brustwarzen.

Nach einem kurzen Blick auf die Frau konzentrierte sich Aryal ganz auf Caeravorn und konnte die Augen nicht mehr abwenden. Sein Körper war einfach grandios. Die kraftvollen Schultern und die Brust waren breiter, als sie sonst wirkten. Wenn er angezogen war, spielte seine Größe dem Auge offenbar einen Streich. Er sah ernst aus, fast unnahbar. Die glatten, stolzen Linien seines Gesichts gaben einem prüfenden Blick nichts preis.

Dann war es also keine Liebeszene.

Er drehte sich um und griff nach etwas, das neben ihm auf einer Kommode lag. Seine Muskeln spielten unter der blassgoldenen Haut seines Rückens.

Wie unter Zwang folgte Aryal der geschwungenen Kontur bis zu seinem schmalen Hintern. Allmählich bekam sie vom Festklammern an den rutschigen, vereisten Stäben brennende Schmerzen in den Händen, doch unter der Wärme ihres Griffs schmolz das Eis, und sie versuchte, den Schmerz so gut es ging zu ignorieren.

Caeravorn wandte sich wieder der Frau zu. In der Hand hielt er ein kurzes Stück Leder, das er ihr vor den Mund hielt. »Beiß darauf.«

Die Frau sah zu ihm auf, öffnete den Mund und nahm den Lederstreifen entgegen. Er sagte: »Geh aufs Bett. Auf die Knie.«

Die Frau gehorchte. In diesem Moment sah Aryal, dass die Hände der Frau mit kurzen, seidenüberzogenen Handschellen auf ihrem Rücken gefesselt waren. Außerdem trug sie schwarze Pumps mit Pfennigabsätzen. Das Gesicht von Caeravorn abgewandt, kletterte die Frau aufs Bett.

Caeravorn zog seine Seidenhose herunter. Sein großer, aufgerichteter Penis ragte über glatten, straffen Hoden hervor. Als er ihn in die Hand nahm, konnte Aryal den Blick nicht abwenden. Ihr Atem ging schnell und schwer, und ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen.

Dann hob sie den Blick und sah seinen verschlossenen Gesichtsausdruck. Er wirkte gelangweilt und unendlich einsam.

»Beug dich vor«, forderte er die Frau auf.

Die Frau gehorchte und legte sich mit dem Oberkörper aufs Bett. Sie hatte die Knie gespreizt, ihr Po ragte in die Luft.

Aryal stieß ein Zischen aus, der Schmerz in ihren Händen wurde beinahe unerträglich. Als Caeravorn hinter die Brünette trat, musste sie schließlich loslassen und sich von der Schwerkraft fortziehen lassen. Im Fallen drehte sie sich und breitete die Flügel aus, um ihren Sturz abzufangen. Mit aller Kraft kämpfte sie sich durch die Luft, um in die kalte, bewölkte Dunkelheit hinaufzusteigen und wie wild davonzufliegen, egal wohin, solange es nur weit fort war.

Nachdem Quentin mit der Frau geschlafen hatte, schlüpfte er in seine Seidenhose und rief ein Taxi, während sie sich frisch machte. Anschließend bezahlte er sie und begleitete sie über die Nebentreppe hinunter ins Erdgeschoss. Alles verlief vollkommen freundschaftlich.

Dann machte sie den Fehler: Sie fing an zu quatschen.

»Es war doch toll mit uns beiden, nicht wahr, Schätzchen?«, sagte sie und drängte sich näher an ihn.

Wahrscheinlich nannte sie jeden Schätzchen, dachte Quentin. Das konnte man sich viel leichter merken als Namen. Er ging an ihr vorbei und blickte aus der Glastür, um nach dem Taxi Ausschau zu halten. Auf der Straße war keinerlei Verkehr.

Die Frau kam wieder auf ihn zu und legte die Hände auf seine Brust. »Wann sehen wir uns wieder, Schätzchen? Am besten bald. Wie wäre es am Wochenende?«

Da war es wieder. Schätzchen. Er schob ihre Hände weg. Er hätte sagen können: Ich wäre fast eingeschlafen, aber dann bin ich gekommen, doch er schaffte es, sich den Satz zu verkneifen.

Stattdessen sagte er: »Ich weiß nicht, warum du dir so viel Mühe gegeben hast, einen Orgasmus vorzutäuschen. Wir sind kein Paar. Wir werden uns nie wiedersehen.«

Sie schob die Unterlippe vor. Heilige Götter, lieber würde er den Kopf in den Ofen stecken, als sich jetzt mit noch einer schmollenden Mieze befassen zu müssen. »Ich dachte, du magst diese speziellen Sachen, die ich für dich tun kann, Schätzchen. Willst du nicht, dass ich sie wieder für dich tue?«

In seinem Kopf kratzten unsichtbare Krallen über eine mentale Tafel. Er sagte: »Du hast nichts Besonderes getan. Du hast gemacht, was ich dir gesagt habe.« Um Himmels willen, er hatte ihr nicht einmal den Hintern versohlt.

Endlich kam das Taxi, vorsichtig schlich es über die eisbedeckte Straße. Ein willkommener Schwall bitterkalter Luft schlug ihm ins Gesicht, als er die Tür öffnete. »Leb wohl. Komm nicht wieder ins Elfie’s.«

Endlich sah sie beleidigt aus. »Ich würde nicht einmal wiederkommen, wenn du mich dafür bezahlst«, zischte sie.

Doch, das würde sie.

»Oh ja, das hätte sich dann auch erledigt.« Er hatte vorgehabt, ihr zusätzlich zu ihrem Lohn und dem großzügigen Trinkgeld, das er ihr bereits gegeben hatte, die Taxifahrt zu spendieren, doch sie war ihm so auf die Nerven gegangen, dass er die Tür schloss und fest verriegelte, sobald sie hinausgetreten war.

»Fick dich, großer böser Wächter«, schrie die Frau.

Eine Hand an den Türrahmen gestützt, sah er mit schräg gelegtem Kopf hinaus. Sie ging rückwärts auf das Taxi zu und zeigte ihm mit beiden Händen den Finger.

Nicht einmal den Hintern versohlt hatte er ihr. Verdammt, die Handschellen waren nicht echt gewesen, sondern Sexspielzeug, und zwar von der Art, die zerbrach, wenn man fest genug daran zog. Es war eine Blümchenversion von BDSM gewesen – nicht einmal ein Safe-Word hatten sie gebraucht. Er wäre wirklich fast eingeschlafen.

Die speziellen Dinge, die sie für ihn getan hatte.

Er ließ den Kopf hängen und lachte. Es klang so freudlos, wie er sich fühlte.

Die unsichtbaren Fingernägel auf der Tafel hatten ihm Kopfschmerzen gemacht, und während er die Stufen zu seiner Wohnung hinaufstieg, wurden sie stärker. Das Elfie’s nahm das gesamte Erdgeschoss des Hauses ein. Den ersten Stock benutzte er als Lager für die Bar.

Seine Wohnung lag im zweiten Stock. Sie war offen geschnitten, Küche, Essbereich und Wohnzimmer befanden sich zusammen in einem riesigen Raum, der mit alten, goldenen Eichenböden ausgelegt und mit den klaren, eleganten Linien moderner Möbel aus der Jahrhundertmitte gefüllt war. Zwei große, traditionellere Zimmer waren als Schlafzimmer eingerichtet, von denen jedes über ein eigenes Bad verfügte.

Er hatte sich immer einen Dachgarten anlegen wollen, doch ein Architekt hatte ihm gesagt, vorher müsse das gesamte Dach verstärkt werden. Dieses Projekt hätte so viel Aufwand gekostet, dass er noch nicht die Zeit dafür gefunden hatte. Nachdem er jetzt Wächter geworden war, bezweifelte er, dass er sie jemals finden würde.

Er ging in sein Schlafzimmer. Die Platte war zu Ende gespielt, der Raum lag still da. Er setzte sich ans Fußende des Kingsizebetts und stützte den schmerzenden Kopf in die Hände.

Ach, Schätzchen.

Aus dem Schmerz kamen Aryals leise, direkte Worte herangetrieben, die sie vor über zwei Monaten ausgesprochen hatte.

Niemand ist vollkommen. Das bedeutet, dass du irgendwo Mist gebaut hast. Das ist es, was ich weiß. Ich habe alle Zeit der Welt, um es herauszufinden. Alle Zeit der Welt. Und weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, dass ich dich schon habe.

Diese Worte hatten die lästige Angewohnheit, ihm immer wieder eins reinzuwürgen, seit Aryal sie bei der Wächterparty ausgesprochen hatte. Er wurde vom Geist von jemandem heimgesucht, der nicht einmal tot war, und selbst in der Abgeschiedenheit seiner eigenen Gedanken hasste er es, sich eingestehen zu müssen, dass sie recht hatte.

Er hatte Mist gebaut. Im letzten Frühling hatte er so großen Mist gebaut, dass er jemanden verletzt hatte, der ihm sehr wichtig war. Fast wäre Pia seinetwegen ums Leben gekommen.

Letzten Mai, als Pia Dragos bestohlen hatte und dann vor ihm geflohen war, hatte Caeravorn, der es sich in seiner selbstgerechten Abneigung gegen den arroganten, mächtigen Lord der Wyr bequem gemacht hatte, hinter den Kulissen die Strippen gezogen und manipuliert.

Bei seiner Jagd auf Pia hatte Dragos gegen seine Abkommen mit den Elfen verstoßen, als er in ihr Reich eingedrungen war, und mit der 800er-Nummer, die Quentin Pia gegeben hatte, hatte diese die Elfen zu Hilfe gerufen. Angeführt von Ferion, der mit Quentin verschwägert und inzwischen der neue Hohe Lord der Elfen war, hatte eine Gruppe Elfen Dragos in der Nähe von Charleston gestellt. Sie hatten einen vergifteten magischen Pfeil auf ihn geschossen, der in seine Blutbahn eingedrungen war und seine magische Energie sowie seine Gestaltwandlungsfähigkeit eingeschränkt hatte. Dann hatten sie ihm eine Frist von zwölf Stunden gesetzt, um ihr Reich zu verlassen.

Die Begegnung hatte in Quentins Strandhaus stattgefunden, daher hatte Ferion ihn anschließend angerufen, um ihm zu berichten, was passiert war.

Die Lösung, sich mit einem von Dragos’ mächtigsten Feinden in Verbindung zu setzen, war Quentin so einfach vorgekommen, sogar elegant. Er hatte die Information Urien angeboten, dem König der Dunklen Fae, der ihm im Gegenzug versprechen musste, Pia zu verschonen. Urien sollte Dragos verfolgen – und den Wyr-Lord vielleicht töten, vielleicht auch nicht. Das Wichtigste war, dass es Pia die Chance verschaffen sollte, davonzukommen.

In der Zwischenzeit hatte sich Pia mit Dragos gepaart und war schwanger geworden. Und Pia zufolge hatte Urien sie ganz und gar nicht verschont – stattdessen hatten seine Handlanger sie misshandelt. Deshalb musste sie zusammen mit Dragos fliehen. Auf einer Ebene in einem Anderland kam es zu einer Konfrontation mit Urien und seiner Armee, bei der Dragos alle bis auf Urien selbst und einige seiner geflügelten Reiter getötet hatte. Wie sich herausstellte, hatte das Elegante an Quentins Idee einzig und allein in seiner Vorstellung existiert.

Er hatte also nicht nur Pia beinahe umgebracht, sondern auch ihren ungeborenen Sohn. Als er begriff, was er getan hatte – was er beinahe verursacht hätte – war das zu einem Scheidepunkt in seinem Leben geworden. Dieses Ereignis hatte ihn auf eine Reise geschickt – von dem Mann, der er damals gewesen war, zu dem Mann, der er heute war.

Oder jedenfalls zu dem Mann, der er sein wollte, wer auch immer das war. Die ganze Zeit rang er darum, etwas zu bezähmen, das in ihm wohnte.

In seinem Schlafzimmer war es viel zu heiß. Es roch nach Sex und dem Parfüm der Frau, das ihm von Anfang an nicht gefallen hatte. Jetzt fand er es geradezu ekelerregend süß. Warum mussten sich Frauen mit so viel Kosmetik und Parfüm einstänkern? Konten sie nicht ihr eigenes Gesicht und ihren Körper so schätzen, wie die Natur sie ihnen gegeben hatte?

Er hielt es keine Sekunde länger aus. Entweder musste er das Zimmer durchlüften oder im Gästezimmer schlafen. Er ging zum Fenster, riss die Vorhänge weit auf und öffnete das Fenster bis zum Anschlag. Dann stützte er beide Hände auf die Fensterbank und streckte den Kopf in die beißend kalte Luft.

Mit seinem ersten tiefen Atemzug bemerkte er den Geruch der Harpyie.

Was. Zum. Henker?

Verblüffung ließ ihn erstarren. Er bleckte die Zähne, atmete noch einmal tief ein und roch unverkennbar Aryal.

SCHEISSE.

Eine Flutwelle des Zorns brandete in ihm auf. Ungläubig schob er den Oberkörper weiter aus dem Fenster und steckte den Kopf zwischen den Gitterstäben hindurch. Er sah nach unten, obwohl er wusste, was er dort sehen würde. Dann drehte er den Oberkörper und sah nach oben.

Unter ihm war kein Sims. Über ihm war nichts außer der Regenrinne an der Dachkante, die nichts aushielt, was größer und schwerer war als ein Eichhörnchen. Um ihren Geruch hinterlassen zu können, musste Aryal etwas berührt haben. Heftig pulsierte das Blut in seinem Körper, während er die Außenwand genauer betrachtete.

Die in der Innenstadt gelegene Straße war nachts gut beleuchtet. Trotzdem wären ihm, hätte er die Wand nicht so gründlich mit seinen übermenschlich scharfen Augen nach jeder Art von Anomalie abgesucht, die dunklen Vertiefungen entgangen, die sich etwa einen Meter unter dem Fenstersims in den Mörtel bohrten.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Sicherheitsgitter vor dem Fenster. Sie waren vollständig mit einer gleichmäßigen Eisschicht bedeckt – bis auf zwei Stellen, auf denen überhaupt kein Eis war. An diesen Stellen umfasste er die Gitterstäbe. Seine Hände waren größer als die geschmolzenen Stellen, doch für Aryals Hände hatten sie genau die richtige Größe.

Die Stäbe hielten, als er sich dagegenstemmte, aber das hatte er gewusst. Bei der Installation hatte er darauf geachtet, dass sie sorgfältig verankert waren. Er hob seine feuchte Hand an und schnupperte daran. Sie roch nach Aryal, wenn auch nur ganz leicht. Wenn in ein paar Stunden die Sonne aufging, würde sie das Eis vollständig schmelzen und jede Spur der Harpyie wegwaschen.

Sie war hier gewesen, und zwar vor sehr kurzer Zeit. Nach dem Eisregen, der erst vor etwa einer Stunde aufgehört hatte.

Hatte sie ihn beim Sex mit der Nutte beobachtet? Während er es mit einer Frau getrieben hatte, die er nicht liebte und an der er kaum Interesse hatte? Mit geschlossenen Augen und umherschweifenden Gedanken, während er kaum seine Erektion hatte halten können und sich gefragt hatte, was zum Henker er eigentlich mit seinem Leben anstellte?

Seine Brust hob sich schwer. Er bekam nicht genug Luft.

Sie hatte sich mit ihren Klauen am Fenster abgestützt. Das bedeutete, dass sie in ihrer Wyr-Gestalt gewesen war. Als Menschenfrau war sie ein ständiger Schock für die Sinne – groß und schlank, wild und vollkommen rücksichtslos. Sie trug die gleiche Kraft in sich wie alle uralten, unsterblichen Wyr, eine Kraft, die in der Luft um sie herum wie pure Elektrizität schimmerte. In ihrer Wyr-Gestalt war sie ein herrlicher Albtraum, ihre kantigen Züge betont und aufwärts gerichtet, mit riesigen Schwingen, deren Farbe von Grau zu Schwarz überging.

Wie war es möglich, dass er ihre Gegenwart nicht bemerkt hatte?

Als er sich vorstellte, wie Aryal ihn da draußen im Dunkeln mit ihren durchdringenden grauen Augen beobachtete, wurde sein Schwanz hart.

Oh, nein. Wie von der Tarantel gestochen riss er sich von dem Gedankenbild los. Oh zum Henker, nein. Der Drang nach Gewalt lief funkensprühend über all seine Synapsen und löste eine Kettenreaktion aus, die zu mächtig war, um sie zu ignorieren.

Vor fast zwei Jahren hatte er sein Leben geführt, zufrieden mit sich selbst, seinen Fähigkeiten und Aktivitäten, und auch mit dem Erfolg seiner legalen wie illegalen Geschäfte, als ihm nach und nach aufgefallen war, dass gegen ihn ermittelt wurde. Er forschte selbst ein wenig nach und fand heraus, wer hinter dieser Untersuchung steckte.

Obwohl Aryal in dem Ruf stand, eine unerbittliche, einfallsreiche Ermittlerin zu sein, hatte er sich keine Sorgen gemacht. Er wusste sehr genau, was die Aufmerksamkeit der Harpyien-Wächterin auf ihn gelenkt hatte – Hörensagen und Schlussfolgerungen. Sie würde nichts Konkretes finden, weil er seine Spuren stets zu gut verwischt hatte. Dafür hatte er Talent.

Doch dann war der Mai gekommen, in dem er fast eine Freundin umgebracht hätte, und er hatte gewissermaßen einen Sinneswandel durchlebt. Er hatte sein Leben geändert und war sauber geworden.

Gewissermaßen.

Er hatte beschlossen, dass er mitbestimmen wollte, was im Wyr-Reich geschah, dass er Zeit und Energie in seinen Lebensraum investieren wollte. Als sich die Gelegenheit bot, sich für die Wächter-Spiele anzumelden, griff er zu.

Wenn er Aryal schon vorher für unerbittlich gehalten hatte, war das nichts im Vergleich dazu, wie sie von diesem Zeitpunkt an in seinem Leben herumwühlte. Irgendwie war sie allgegenwärtig. Mehrmals pro Woche kam sie im Elfie’s vorbei, sie sprach mit seinen Mitarbeitern, erwirkte einen Durchsuchungsbeschluss für seine Geschäftsbücher, ging sie mit äußerster Sorgfalt durch und befragte seine Nachbarn. Ein paarmal hatte er Spuren ihres Geruchs in der schmalen Gasse hinter der Bar gewittert.

Er lachte sie aus, ignorierte sie. Tat so, als würde er sie ignorieren. Hörte auf, so zu tun.

Tat so, als würde ihm nicht der Kragen platzen. Hörte auf, so zu tun.

Fing an, Widerstand zu leisten. Verstärkte seinen Widerstand.

Die ganze Zeit über gab sie nicht auf.

Ich habe alle Zeit der Welt.

Alle Zeit.

Hatte er je ernsthaft geglaubt, das würde sich ändern, wenn er Wächter war? Falls ja, konnte er sich nicht daran erinnern. Diesen Glauben hatte sie zu Staub zermahlen. Natürlich.

Dragos hatte ganz genau gewusst, wie er Aryals Talente und ihre Persönlichkeit am besten einsetzte, als er ihr die Ermittlungen zugeteilt hatte. Während sich die beiden neuen Wächter Quentin und Alexander in ihre neuen Posten einarbeiteten, waren unter den Sieben einige Fragen zur Neuverteilung der Pflichten aufgekommen, und alle hatten überlegt, wer am besten für welche Funktion geeignet war – alle, bis auf Aryal. Sie war perfekt, wo sie war. Sie war eine Harpyie, um Himmels willen.

Es hieß, an dem Tag, als die Harpyien kreischend zum Leben erwachten, sei der Himmel zerrissen.

Diesmal – DIESMAL – war sie verflucht noch mal zu weit gegangen.

Diesmal würde er sie nicht nur würgen. Bei den Göttern, diesmal würde er sie umbringen.

Er duschte mit schmerzhaft heißem Wasser und schrubbte sich den restlichen Geruch der Frau vom Körper. Dann zog er frische Kleidung an: Jeans, Stiefel und ein T-Shirt. Wächterkleidung von der robusten Sorte, bei der die Chance bestand, dass sie einen Kampf überlebte, und die man anschließend einfach wegwerfen konnte. Da er das Recht erworben hatte, den Tower bewaffnet zu betreten, legte er auch Waffen an, ein Messer in einer Scheide um den Oberschenkel geschnallt und eine Glock in einem Schulterholster.

Die Eisschicht auf den Straßen zwang ihn, die Fahrt zum Tower langsam anzugehen, und die beschauliche Fahrt trug nicht dazu bei, seine brodelnde Wut zu beruhigen, die sich in einen kalten, raubtierhaften Vorsatz verwandelt hatte. Als er mit großen Schritten den Tower betrat, war der Verkehr allmählich dichter geworden, der Sonnenaufgang erhellte den Himmel, und die Stadt erwachte.

Cuelebre Tower, der Inbegriff von Reichtum und Überfluss bis ins letzte Detail, war achtzig Stockwerke hoch. Niemand, der bei klarem Verstand war, hätte die Treppe genommen. Quentin war nicht bei klarem Verstand. Er wollte mit niemandem reden.

In gleichmäßigem, unerbittlichem Tempo erklomm er die Stufen, doch auch das konnte ihn nicht beruhigen. Dafür lockerte es seine Muskeln, bis er aufgewärmt und kampfbereit war.

Nur fand er sie dann nicht.

Eines der ersten Dinge, die er über den Tower herausgefunden hatte, war, wo Aryal schlief, also ging er zu ihrem Apartment und hämmerte an die Tür. Niemand antwortete, und er hörte drinnen keine Bewegung.

Er wirbelte herum und pirschte sich zur Cafeteria vor, die gerade zum Frühstück geöffnet hatte. Nach und nach trudelten die Gäste ein. Keine Harpyie. Die Leute bemerkten sein angespanntes Gesicht und seine schnellen, wütenden Bewegungen und machten ihm Platz. Die nächste Station seiner Jagd war der riesige Fitness- und Trainingsbereich. Er drehte eine Runde durch die Anlage und machte nicht einmal davor Halt, in den Umkleiden nachzusehen.

Gottverdammt, nein.

Er musste eine Pause einlegen, um darüber nachzudenken. Das wollte er nicht. Seine Hände erinnerten sich an das Gefühl, sich um ihren Hals zu schließen, und sie wollten es wieder tun. Die langen Finger zu Klauen gekrümmt, verließ er den Fitnessbereich …

… als sich am anderen Ende des Flurs die Türen eines Aufzugs öffneten und Aryal und Grym ausstiegen.

Ihr Anblick war derselbe Schock für die Sinne wie jedes Mal, ein starker, roher Stromschlag, der über seine Nervenenden zuckte. Getrieben von einem Adrenalinstoß, arbeitete sein Gehirn auf einem höheren, schnelleren Level. So musste es sich anfühlen, wenn ein Mensch auf Amphetaminen war.

Er stürzte durch den Gang auf sie zu, und während er beschleunigte, nahm er jede Einzelheit an ihr wahr. Wie üblich trug sie lederne Kampfkleidung, und ihre schwarzen, schulterlangen Haare waren zerzaust. Das bedeutete normalerweise, dass sie erst vor Kurzem geflogen war, doch sie sah so zerwühlt aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Auf ihrer sonst blassen Haut lag eine helle, frische Röte.

Sie schien von innen heraus zu leuchten. Obwohl ihr Gesicht untypischerweise von Müdigkeit gezeichnet war, wirkte sie immer noch lebendiger als jede andere Person, der er je begegnet war, und hatte zehnmal mehr Energie als alle Frauen, die er je gesehen hatte.

Sie war … herrlich.

Ein Stich Bitterkeit durchfuhr ihn. Bei allen Göttern, wenn er jemals so eine Frau kennenlernen würde, die er nicht so abgrundtief hasste wie Aryal, könnte er vielleicht diese peitschende Rastlosigkeit überwinden, die ihn umtrieb. Er bräuchte den Rest seines Lebens nichts weiter zu tun, als vollkommen zufrieden zu sein. Dass ihn diese Selbsterkenntnis beim Anblick der Harpyie ereilte, war entsetzlich unfair.

Sie sah ihn kommen. Obwohl seine Absicht unmissverständlich war, hellte sich ihr Gesicht auf, denn so war sie nun mal. Als ihr Blick auf ihn fiel, schwang sie einen Arm nach hinten und stieß Grym so kräftig vor die Brust, dass er rückwärts in den Aufzug stolperte. Dann rannte sie los und ging zum Angriff über.

Sie bremste nicht einmal ab, um etwas zu sagen oder Quentin nach dem Grund zu fragen. Sie wussten beide, dass es mehr als genug Gründe gab.

Als er sich auf sie stürzte, duckte sie sich tief, und er schoss übers Ziel hinaus. Doch dabei packte er mit einer Hand ihre herrlichen zerzausten schwarzen Haare und riss sie mit sich.

Knurrend fielen sie übereinander, Arme und Beine ineinander verkeilt. Er witterte ihren Geruch, und sie roch nach gesunder Frau, sauberer, kalter Luft und Erregung.

Also mussten die Gerüchte über sie und Grym wahr sein. Quentin mochte Grym und fand die Vorstellung, die beiden könnten ein Paar sein, so abstoßend, dass sein Knurren tiefer und schärfer wurde.

Sie warf ihn auf den Rücken. Schwer atmend schleuderte er sie wieder herum und drückte sie mit seinem Körper zu Boden. Als er ihren langen, straffen Oberkörper niederdrückte, lagen ihre Hüften direkt aufeinander. Eine starke Reibung traf ihn in der Leistengegend, und dazu kam ihr wilder Duft.

Es war so verdammt primitiv.

Sein Schwanz wurde wieder hart. Verfluchter Mist.

Wütend ließ er den Blick über ihr zerzaustes Haar gleiten. Feuer blühte auf seinem Rücken auf, als sie ihn mit ihren Klauen kratzte. Keuchend und ohne nachzudenken, schlug er ihr ins Gesicht. Für einen Sekundenbruchteil glaubte er, sie sähe überrascht und nachdenklich aus. Dann krümmte sie sich unter ihm, um ihm das Knie in den Schritt zu rammen. Neuer Schmerz entfaltete seine Blüten in diesem infernalischen Garten.

Noch immer hatte er eine Hand in ihre Haare gekrallt. Fauchend riss er sie am Schopf zurück und stieß seinen Kopf hinab, um seine Zähne in ihre entblößte Kehle zu schlagen.

Doch dazu sollte es nie kommen.

In einem Augenblick waren sie noch wie in einer gewaltsamen, intimen Umarmung ineinander verschlungen, und im nächsten lag er ein paar Meter entfernt vor einer Wand und fühlte sich völlig aus der Realität gerissen. Es war, als hätte ihn ein Berg getreten.

Was in gewisser Weise auch der Fall war, wie ihm klar wurde, als sein Denken die Ereignisse einholte. Unter dem Protest seiner gebrochenen Rippen rollte er sich mühsam auf Hände und Knie und sah sich nach den Aufzügen um.

Dragos stand an der Stelle, an der sie gerade gekämpft hatten, die Harpyie lag zu seinen Füßen. Grym stand reglos in der offenen Tür des Aufzugs, in den Aryal ihn gestoßen hatte, seine Hände hingen schlaff herab und seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Lord der Wyr gerichtet.

Weitere Details sickerten zu Quentin durch. Dragos trug Jeans und einen dünnen Seidensweater, und einer seiner Stiefel stand mitten auf Aryals Rücken. Er sah ungeheuer wütend aus, die grob gehauenen Züge zu brutalen Linien verzerrt.

Außerdem wiegte er seinen schlafenden Sohn an seiner Schulter. Das Baby war Quentin schon vorher klein vorgekommen – nur sechs Pfund bei der Geburt, hatte Pia ihm gesagt – doch an die gigantischen Brustmuskeln seines Vaters gedrückt, wirkte es so winzig wie die Puppe eines kleinen Kindes.

Alles in Quentins Gehirn kam zum Stillstand.

Er hatte geglaubt, er hätte sich keinerlei Illusionen über Dragos gemacht. Das Einzige, was den Drachen eventuell überwältigen konnte, das wusste er, war eine eigens dafür aufgestellte Armee mit einem zu allem entschlossenen Anführer und erfahrenen Magienutzern. Doch wenn er je den geheimen Tagtraum gehegt haben sollte, jemand könnte Dragos in seiner Menschengestalt in einem einzelnen, unbewaffneten Kampf schlagen, war dieser gerade für alle Zeit zerplatzt.

Dragos hatte nicht nur zwei der besten, garstigsten Wyr-Kämpfer der Welt überwältigt, sondern es auch schneller getan, als Quentins Verstand es erfassen konnte.

Und er hatte das Baby dabei so ruhig gehalten, dass es nicht einmal aufgewacht war.

Wütend starrte Dragos die Schaulustigen an, die sich bei diesem Spektakel im Flur versammelt hatten.

»Verschwindet«, flüsterte er.

Die Leute verschwanden.

Er versetzte Aryal einen Tritt, um sie auf den Rücken zu drehen. Mit starrem Blick sah sie zu ihm auf. Immer noch so leise, dass sich das Baby kein einziges Mal rührte, sagte er: »Ich habe dir mehr Narrenfreiheit zugestanden als fast allen anderen, und gerade hast du das letzte bisschen davon aufgebraucht.«

Der zornglühende goldene Blick des Drachen richtete sich auf Quentin: »Und du hast dir noch überhaupt keine Narrenfreiheit verdient. Ich gehe nach oben und bringe meinen Sohn in sein Bettchen. Ihr beide geht jetzt in mein Büro und wartet dort auf mich. Ihr werdet mit niemandem reden, und ihr werdet nicht miteinander reden oder kämpfen.« Er warf Grym einen Blick zu. »Wenn einer von den beiden nicht gehorcht und auch nur ein einziges Wort sagt, schießt du.«

Grym zog seine Waffe und sagte: »Ja, Mylord.«

3

Quentin hielt sich die Seite, während er den Gang hinunterhumpelte und eine Bestandsaufnahme seiner Verletzungen aus dem Kampf und von diesem monströs gewaltigen Tritt machte. Er schätzte drei gebrochene Rippen, vielleicht auch mehr. In jedem Fall hatte der Schaden die Größe von Dragos’ Stiefel. Sein linkes Knie war übel verdreht, und er konnte es nicht beugen. Mit seiner Kniescheibe schien etwas nicht zu stimmen, so als wäre sie herausgesprungen.

Außerdem war etwas passiert, das bei ihm nur äußerst selten vorkam. Als er gegen die Wand geprallt war, hatte er völlig die Orientierung und die Kontrolle über seinen Sturz verloren. Normalerweise bewahrten ihn seine schnellen Reflexe vor solchen Verletzungen, aber nicht diesmal.

Wenn er seine gequetschte, pochende Leiste und die Klauenspuren auf seinem Rücken dazurechnete, war er sogar schwerer verletzt als während der gesamten Wächter-Spiele. Trotzdem waren es für einen Wyr mit seiner robusten Gesundheit nur kleinere Blessuren. Er würde sich die Rippen gern verbinden lassen, nachdem Dragos ihn und Aryal angeschrien und womöglich gefeuert hatte, aber sie würden schnell verheilen.

Sein Blick glitt zur Seite. Grym lief zwischen ihm und Aryal, die Glock beiläufig auf den Boden gerichtet.

Aryal bewegte sich steif. Ihre Miene war grimmig, ihr Mund zusammengekniffen. Von seinem Schlag hatte sich eine Seite ihres Gesichts bereits violett verfärbt. Quentin sah, wie ihr Blick zu ihm hinüberglitt. In ihren zusammengekniffenen Augen sah er das blanke Böse. Dann senkte sie den Blick auf Gryms Waffe, und ihre Miene wurde betrübt.

»Du machst das wirklich gut«, teilte Grym ihr mit sanfter, ermutigender Stimme mit. »Ich weiß, was du fragen willst, deshalb antworte ich dir jetzt direkt und erspare dir die Versuchung. Dragos hat mir aufgetragen, auf euch zu schießen, wenn ihr auch nur ein Wort sagt, also ja, ich würde seinen Befehl befolgen. Allerdings hat er nicht gesagt, wohin ich schießen soll.«

Aryal hob die Hände zu einer stummen Frage.

Grym sagte: »Wahrscheinlich würde ich dir eine in den Fuß verpassen.«

Ihre Mundwinkel zeigten nach unten. Sie schüttelte den Kopf und deutete auf ihren Unterarm, während Quentin sich am Kopf kratzte und die beiden anstarrte. Sie diskutierten allen Ernstes, in welchen Körperteil Grym schießen sollte?

»Okay, nicht in den Fuß«, berichtigte Grym. »Ich verpasse dir eine in den Arm. Zufrieden? Und der Punkt ist, dass du es verdient hättest. Ihr beide. Er ist euretwegen wirklich ausgerastet. Ihr habt Glück, dass er euch nicht die Wirbelsäule zerschmettert hat, um euch dann einen Monat lang in einen Streckverband zu stecken.«

Quentin holte tief Luft. Aryal und Grym wandten sich beide zu ihm um. Aryal sah hoffnungsvoll aus, während Grym nur abwartete. Lautlos atmete er wieder aus, und Aryal zog ein langes Gesicht.

Grym sagte: »Wenn das als Frage gemeint war: Ja, Dragos hat schon Leute in Streckverbände gesteckt.«

Noch nie hatte Quentin Grym so viel am Stück reden hören. Sie durchquerten die äußeren Büros und betraten Dragos’ gewaltiges Eckbüro.

Bisher war Quentin nur einmal in diesem Raum gewesen. Mit gebleckten Zähnen sah er sich um.