Der Kuss des Greifen - Thea Harrison - E-Book

Der Kuss des Greifen E-Book

Thea Harrison

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Beschreibung

Um das Leben eines Freundes zu retten, geht der Wyr-Krieger Rune einen Pakt mit der Vampirkönigin Carling ein. Als er seine Seite des Abkommens erfüllen will, muss er feststellen, dass die Königin unter einer gefährlichen Krankheit leidet und zunehmend den Verstand verliert. Rune, der sich unwiderstehlich zu Carling hingezogen fühlt, riskiert alles, um ihr zu helfen.

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THEA HARRISON

DER KUSS DES GREIFEN

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Cornelia Röser

Inhalt

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Danksagung

Impressum

Politik, die:

1. Ein Konflikt von Interessen, getarnt als Wettstreit von Prinzipien.

2. Die Regelung öffentlicher Angelegenheiten zum persönlichen Vorteil.

3. Bei den Alten Völkern in der Regel mit Blutvergießen und zahlreichen Bestattungen verbunden.

– AMBROSE BIERCE,

Neufassung von »Aus dem Wörterbuch des Teufels«

1

»Natürlich bin ich schlecht«, sagte die Vampyrzauberin Carling Severan mit abwesend klingender Stimme. »Das ist eine Tatsache, mit der ich mich vor vielen Jahrhunderten abgefunden habe. Alles, was ich tue, selbst eine noch so großzügig wirkende Geste, richte ich danach aus, wie es mir nutzen könnte.«

Carling saß in ihrem Lieblingssessel vor einem großen Fenster. Das butterweiche Leder des Sessels hatte sich schon vor langer Zeit den Konturen ihres Körpers angepasst. Vor dem Fenster lag ein üppig bewachsener, gepflegter Garten, eingetaucht in die zarten Farben der mondbeschienenen Nacht.

Ihr Blick ruhte unverwandt auf dieser Aussicht, doch ihre langgezogenen, mandelförmigen Augen waren ebenso ausdruckslos wie ihr Gesicht.

»Warum sagst du so was?«, fragte Rhoswen. In der Stimme der jüngeren Vampyrin, die neben dem Sessel kniete, lagen Tränen. Sie hatte den blonden Kopf zu Carling emporgehoben und blickte zu ihr auf wie eine Blume zu einer Mitternachtssonne. »Du bist das wundervollste Geschöpf auf der Welt.«

»Das ist sehr süß von dir.« Carling küsste Rhoswen auf die Stirn, da die andere Frau das zu brauchen schien. Die Distanziertheit in Carlings Blick verringerte sich zwar, verschwand jedoch nicht ganz. »Aber solche Worte beunruhigen mich eher. Wenn du so von jemandem wie mir denkst, solltest du dir ein besseres Urteilsvermögen zulegen.«

Jetzt liefen der Dienerin die Tränen über das perfekte Kamee-Gesicht. Schluchzend schlang Rhoswen die Arme um Carling.

Carlings glatte Augenbrauen hoben sich. »Was ist los?«, fragte sie mit matter Stimme. »Was habe ich gesagt, das dich traurig macht?«

Rhoswen schüttelte den Kopf und umklammerte Carling fester.

Rhoswen gehörte zu den beiden Jüngsten unter Carlings Zöglingen. Abgesehen von einigen außerordentlich talentierten Ausnahmen, denen sie im späten neunzehnten Jahrhundert begegnet war, hatte Carling schon vor langer Zeit aufgehört, Vampyre zu erschaffen. Rhoswen hatte damals zu einer heruntergekommenen Shakespeare-Theatertruppe gehört, mit einer Stimme aus reinem Gold und einem unheilbaren Fall von Lungentuberkulose. Als Carling Rhoswen verwandelt hatte, war sie ein verängstigtes, sterbenskrankes achtzehnjähriges Mädchen gewesen. Deshalb gestand sie ihr größere Freiheiten zu als ihren anderen Dienern, und deshalb ertrug sie auch Rhoswens erdrückende Umarmung, während sie nachdachte.

»Wir haben über alles gesprochen, was vor der Krönung der Dunkle-Fae-Königin passiert ist. Du wolltest unbedingt glauben, ich hätte etwas Gutes getan, als ich Niniane und ihren Geliebten Tiago von ihren Verletzungen geheilt habe. Wenngleich das Ergebnis wohltätig gewesen sein mag, habe ich versucht deutlich zu machen, was für ein egoistisches Wesen ich im Grunde meines Herzens bin.«

»Vor zwei Tagen«, sagte Rhoswen in ihrem Schoß. »Vor zwei Tagen haben wir darüber gesprochen, und dann bist du wieder in diese Trance gefallen.«

»Wirklich?« Carling richtete sich auf, um sich gegen die Nachricht zu wappnen. »Nun, uns war klar, dass sich der Verfall beschleunigt.«

Niemand wusste genau, warum sehr alte Vampyre eine Phase des mentalen Verfalls durchliefen, bevor sie sich vollends im Wahnsinn verloren und schließlich starben. Außerhalb der höchsten Staatskreise der Nachtwesen war über das Phänomen nur wenig bekannt, da Vampyre nur selten ein so hohes Alter erlangten. Sie führten ein Leben voller Gewalt, meist starben sie vorher an anderen Ursachen.

Möglicherweise war es das unaufhaltsame Fortschreiten der Krankheit selbst. Vielleicht, dachte Carling, ist in unserem Ursprung schon der Keim unseres Untergangs enthalten. Die Seelen mit ihrem menschlichen Ursprung waren nicht für das nahezu unsterbliche Leben geschaffen, das der Vampyrismus ihnen ermöglichte.

Rhoswen hob das tränenüberströmte Gesicht. »Aber eine Zeit lang ging es dir besser! In Chicago und später bei der Krönung der Dunklen Fae warst du vollkommen aufmerksam und einsatzfähig. Du warst wirklich anwesend. Wir müssen dir einfach immer wieder neue Anreize schaffen.«

Ein Anflug von Ironie spiegelte sich auf Carlings Miene. Außergewöhnliche Erfahrungen schienen zu helfen, weil die sie für eine gewisse Zeit aufrüttelten und wach hielten. Das Problem war, dass sie nur vorübergehend wirkten. Für jemanden, der Jahrtausende hatte vorüberziehen sehen, wurden selbst außergewöhnliche Erfahrungen mit der Zeit gewöhnlich.

Seufzend gestand sie: »Ich hatte einige Schübe, von denen ich dir nichts gesagt habe.«

Die Trauer, die daraufhin von Rhoswens Miene Besitz ergriff, war definitiv shakespearisch. Als Carling die fanatische Ergebenheit der Frau betrachtete, verstärkte sich der Eindruck der Ironie – sie wusste, dass sie nicht das Geringste getan hatte, um diese Hingabe zu verdienen.

Der Zeitpunkt ihrer Geburt war ungewiss, denn jene Zeit lag so weit zurück, dass die Einzelheiten aus der Geschichte verblasst waren. Man hatte sie entführt und versklavt, beinahe zu Tode gepeitscht und einem alternden Wüstenkönig als Konkubine geschenkt. Damals hatte sie sich geschworen, dass niemals wieder jemand eine Peitsche gegen sie erheben würde. Mit ihren Verführungskünsten hatte sie den König dazu verleitet, sie zur Königin zu machen, und ihr unvorstellbar langes Leben brachte sie damit zu, sich magische Macht anzueignen. Sie lernte alles über Gifte, Kriegsführung und Zauberei, sie lernte zu herrschen und aus tiefstem Herzen nachtragend zu sein. Und dann entdeckte sie den Vampyrismus, den Kuss der Schlange, der sie beinahe unsterblich machte.

Sie hatte mit Dämonen Schach um Menschenleben gespielt, hatte Monarchen beraten und Kriege gegen Monster geführt. Im unaufhaltsamen Lauf der Jahrhunderte hatte sie mehrere Länder mit der standhaften Unbarmherzigkeit ihrer schlanken, eisernen Faust regiert. Sie kannte Zaubersprüche, die so geheim waren, dass das Wissen um ihre Existenz fast gänzlich von dieser Erde verschwunden war, und sie hatte wundersame Dinge gesehen, deren Anblick stolze Männer in die Knie gezwungen hatte. Sie hatte die Dunkelheit besiegt und konnte sich im Licht des Tages bewegen, und sie hatte den Verlust so vieler Personen und Dinge ertragen müssen, immer und immer wieder, bis selbst Trauer sie nicht mehr berühren konnte.

All diese fabelhaften Erfahrungen lösten sich nun nach und nach in den Farben der Nacht auf.

Es gab einfach keine Richtung mehr, in die sie ihr Leben lenken konnte, keinen Berg mehr, den es zu erklimmen galt. Kein Abenteuer war so unwiderstehlich, dass sie alles daransetzen würde, um es bis zum Ende durchzustehen. Nachdem sie so viel investiert und so hart gekämpft hatte, um zu überleben, so lange zu leben und zu herrschen, hatte sie jetzt … das Interesse verloren.

Und hier war nun der letzte aller Schätze. Dieses letzte Juwel lag ganz oben in ihrer Schatulle der Geheimnisse und funkelte in pechschwarzem Licht.

Die angestaute magische Energie, für deren Erwerb sie so hart gearbeitet hatte, pulsierte im Rhythmus des immer schneller fortschreitenden Verfalls ihres Geists. Um sich sah sie einen herrlichen, durchsichtigen Schimmer auflodern. Die Magie hüllte sie in einen Schleier, der glitzerte wie Diamanten.

Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Tod so wunderschön sein würde.

Wann es angefangen hatte, wusste sie nicht mehr. In ihrem Geist vermischte sich Vergangenheit und Gegenwart. Die Zeit war ihr ein Rätsel geworden. Vielleicht war es hundert Jahre her, vielleicht erstreckte es sich auch über ihr gesamtes Leben, worin eine gewisse Symmetrie läge. Gerade das, wofür sie so hart gekämpft hatte, wofür sie Blut und Zornestränen vergossen hatte, sollte sie letzten Endes aufzehren.

Ein weiteres Auflodern der magischen Energie kündigte sich an. Sie spürte ihre Unausweichlichkeit wie das bevorstehende Crescendo einer unsterblichen Symphonie. Oder den nächsten vertrauten Takt ihres längst verstummten, beinahe vergessenen Herzschlags. Carlings Blick verlor sich im Ungewissen, während sie sich auf diese atemberaubende Flamme in ihrem Inneren konzentrierte.

Kurz bevor sie wieder ganz davon eingehüllt wurde, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. Im Haus war kein Laut zu vernehmen, keine Bewegung von anderen Vampyren, kein Funken menschlicher Gefühle. Nichts als der stoßweise Atem von Rhoswen, die zu ihren Füßen kniete, und die leisen, zufriedenen Geräusche eines Hundes, der sich hinter dem Ohr kratzte, ehe er sich in seinem Kissen auf dem Boden einen gemütlichen Liegeplatz zurechtwühlte. In ihrem langen Leben war Carling die meiste Zeit von Schakalen umgeben gewesen – begierig darauf, sich von den Resten zu ernähren, die von den Tischen der Mächtigen und Magiebegabten abfielen. Aber irgendwann im Laufe der letzten Woche hatten all ihre Diener und Speichellecker die Flucht ergriffen.

Manche Wesen hatten im Gegensatz zu anderen einen gut entwickelten Selbsterhaltungstrieb.

»Ich würde vorschlagen, dass du härter an deinem Urteilsvermögen arbeitest«, sagte sie zu Rhoswen.

Every little thing is going to be all right. Alles wird wieder gut.

Erst vor Kurzem hatte Rune Bob Marley zitiert, als Niniane Lorelle in ihrem Leben an einem Tiefpunkt gestanden hatte. Niniane war eine junge Fee, eine entzückende Frau, und lange Zeit eine enge Freundin gewesen. Zufällig war sie jetzt außerdem die Königin der Dunklen Fae und der letzte Neuzugang auf der Liste der zehn mächtigsten Personen Amerikas. Rune hatte Bob in ihrem Gespräch erwähnt, um sie zu trösten, nachdem bei einem Anschlag auf ihr Leben ihre Freundin umgekommen war und ihr Gefährte Tiago beinahe ebenfalls gestorben wäre.

Und seitdem ging ihm dieser verdammte Marley-Song unablässig durch den Kopf. Es war einer dieser Ohrwürmer – wie bei einer Fernsehwerbung oder der Titelmusik eines Kinofilms –, und er konnte den Aus-Schalter für die Stereoanlage nicht finden, die jemand an sein Gehirn angeschlossen hatte.

Es war ja nicht so, dass er Bobs Musik unter normalen Umständen nicht gemocht hätte. Er sollte nur verdammt noch mal kurz den Mund halten, damit Rune ein bisschen Schlaf bekam.

Stattdessen wachte er nachts immer wieder auf und starrte an die Decke, während sich die Seidenlaken auf seiner übersensiblen Haut anfühlten wie Sandpapier. Momentaufnahmen der jüngsten Ereignisse wurden auf seine geistige Netzhaut projiziert, und die ganze Zeit spielte Bob sein Lied.

Every little thing. Wirklich alles.

Klick, und Runes Freund Tiago lag auf einer Waldlichtung ausgestreckt, ausgeweidet und von seinem eigenen Blut durchtränkt, während Niniane neben seinem Kopf kniete und ihn voller Entsetzen festhielt.

Klick, und Rune starrte in das wunderschöne, ausdruckslose Gesicht von Carling, der Herrscherin über die Nachtwesen, deren magische Energie in der Weltgeschichte unübertroffen war. Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie und brüllte ihr direkt ins Gesicht.

Klick, und er schloss mit Carling einen Handel ab, der Tiagos Leben rettete, aber leicht das Ende seines eigenen bedeuten konnte.

Klick, und tief im Herzen des Dunkle-Fae-Lands stieg Carling in der Abenddämmerung nackt aus dem Adriyel River. Sie war von silbrigem Wasser benetzt, das im ausklingenden Tageslicht glitzerte, als trüge sie ein durchsichtiges Gewand aus Sternen. Die Rundungen ihres muskulösen Körpers, das dunkle Haar, das glatt an ihrem schön geformten Kopf anlag, ihr unergründliches, ägyptisches Gesicht mit den hohen Wangenknochen – das alles war so verflucht perfekt. Und eines der perfektesten Merkmale war zugleich eines der tragischsten, denn die geschmeidige, sinnliche Schönheit ihres Körpers war von Dutzenden langer, weißer Narben überzogen, die von Peitschenhieben stammten. Als sie noch ein Mensch und sterblich gewesen war, musste sie mit einer Brutalität ausgepeitscht worden sein, die von unmenschlicher Grausamkeit zeugte. Und doch bewegte sie sich mit der starken, geschmeidigen, selbstsicheren Sinnlichkeit einer Tigerin. Bei ihrem Anblick hatte sein Atem ausgesetzt, ebenso seine Gedanken, seine Seele und alles andere an ihm. Er brauchte eine Art kosmischen Neustart, doch bisher hatte der noch nicht stattgefunden, denn ein Teil von ihm war noch immer in diesem Augenblick der Offenbarung gefangen.

Klick, und er wurde Zeuge, wie auf einer Waldlichtung eine antike Pistole abgefeuert wurde, gleichzeitig explodierte und dabei eine Verräterin und eine mutige Frau tötete. Eine Frau, die er sehr gemocht hatte. Eine starke, lustige, verwundbare Menschenfrau, die ihr kurzes, kostbares Leben nicht hätte verlieren dürfen, nur weil er und Aryal es versaut hatten, indem sie Cameron ganz allein zu Ninianes Schutz zurückgelassen hatten.

Klick, und er sah Camerons Gesicht, als sie noch am Leben gewesen war. Die Menschenfrau hatte den langen, kräftigen Körper einer Athletin, und auf ihren hageren Zügen sah man gute Laune und zimtfarbene Sommersprossen.

Klick, und er sah Cameron zum letzten Mal, nachdem die Soldaten der Dunklen Fae ihre Leiche präpariert und verhüllt hatten, um sie nach Chicago zu ihrer Familie zurückzubringen. Die hübsche Zimtfarbe war aus ihren Sommersprossen gewichen. Die Pistole, die sie abgefeuert hatte, um Ninianes Leben zu retten, hatte bei der Explosion ein großes Stück aus ihrem Kopf gerissen. Es war immer brutal, wenn man Freunde in diesem letzten, traurigsten Moment sah. Ihnen ging es gut. Sie hatten keine Schmerzen mehr. Ab da war man selbst der Verwundete.

Alles wird wieder gut.

Aber manchmal wurde es das eben nicht, Bob. Manchmal lief es so beschissen, dass man das Ergebnis nur noch in einem Leichensack nach Hause schicken konnte.

Rune war reizbar geworden. Normalerweise war er ein sehr gelassener Wyr, aber nun fing er an, den Leuten ohne Grund den Kopf abzureißen. Zumindest metaphorisch. Immerhin hatte er noch nicht angefangen, den Leuten wirklich den Kopf abzureißen. Trotzdem gingen sie ihm allmählich aus dem Weg.

»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, hatte Aryal gefragt, als sie nach Ninianes Krönung die Grenze zwischen Adriyel und Chicago überquert hatten und auf dem Rückweg nach New York waren.

Sie hatten sich für ihre bevorzugte Art des Reisens entschieden und flogen in Wyr-Gestalt. Aryal war seine Wächterkollegin und eine Harpyie, was bedeutete, dass sie zu neunzig Prozent der Zeit ein richtiges Biest war. Normalerweise brachte ihn ihre schnippische Art zum Lachen. In diesem Augenblick hätte sie ihn fast dazu gebracht, die Harpyie mit einem kräftigen Tritt in einen Wolkenkratzer zu rammen.

»Marleys Geist verfolgt mich«, sagte er.

Aryal sah ihn an, eine dunkle Augenbraue schräg in die Höhe gezogen. In ihrer Harpyiengestalt waren ihre scharfen Gesichtszüge besonders stark ausgeprägt.

Kräftig schlugen ihre Flügel mit dem grau-schwarzen Farbverlauf auf und ab, während der heiße Sommerwind sie wild umwehte. »Welcher Geist?«, fragte die Harpyie. »Der Geist der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft?«

Hä? Er brauchte einen Moment, um ihr zu folgen. Dann kam er auf den Bezug zu Dickens und dachte: Jacob Marley, nicht Bob. Aryal hatte die Figur Jacob Marley gemeint. Die Geister der vergangenen, der diesjährigen und der zukünftigen Weihnacht wirbelten durcheinander.

Zeit und Zeit und Zeit. Was geschehen ist, was jetzt war und was noch kommen sollte.

Er stieß ein bellendes Lachen aus. Es klang belegt, irgendwie milchig. »Alle drei«, sagte er. »Sie verfolgen mich alle.«

»Gib’s auf, Alter«, sagte Aryal so mild, dass es für ihre Verhältnisse versöhnlich klang. »Ich glaub doch eh schon an Weihnachten.«

Wie sie so neben ihm flog, wirkte die Harpyie beinahe zierlich. In seiner Wyr-Gestalt war er ein Greif mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf und den Flügeln eines Steinadlers. Seine Pranken, groß wie Radkappen, trugen lange, gefährliche Krallen, die er ausfahren und einziehen konnte. Die Augen in seinem Adlerkopf waren die eines Löwen, sein katzenhafter Körper hatte eine breite, kräftige Brust und schlanke, starke Schenkel, und er besaß die graubraune Färbung einer heißen Wüstengegend. Seine Wyr-Gestalt war gewaltig, gut und gern so groß wie ein SUV, und auch die Spannweite seiner Flügel war dementsprechend enorm.

Als Mensch war Rune eins dreiundneunzig groß und hatte die breiten Schultern und die schlanken, festen Muskeln eines Schwertkämpfers. Er hatte glatte, sonnengebräunte Haut und Lachfältchen um seine Löwenaugen, die wie Bernstein im Sonnenlicht leuchteten. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge und das strahlende Lächeln waren insbesondere beim weiblichen Geschlecht äußerst beliebt, und in seiner sonnengebleichten Mähne, die ihm bis auf die breiten Schultern fiel, schimmerten Funken von blassem Gold, Kastanie und blankem Kupfer.

Er war einer von vier Greifen, die es auf der Welt gab und die im alten Indien und Persien verehrt worden waren. Er war ein unsterblicher Wyr, entstanden bei der Geburt der Erde selbst. Als sich die Erde formte, hatten Zeit und Raum Falten geworfen. In diesen Falten entstanden Dimensionsnischen von Anderland, in denen sich Magie ansammelte, die Zeit anders lief, moderne Verbrennungstechnologie nicht funktionierte und die Sonne in einem anderen Licht schien. Was später als die Alten Völker bekannt wurde, die Wyr und Elfen, die Hellen und Dunklen Fae, die Nachtwesen, Dämonen, menschlichen Hexen und all die anderen Arten monströser Kreaturen, neigte dazu, sich in der Nähe von Anderländern zusammenzufinden.

Die meisten Geschöpfe der Alten Völker waren entweder auf der Erde oder in den Dimensionsnischen von Anderland entstanden. Einige wenige – sehr wenige – begannen ihre Existenz an den Übergangspunkten zwischen diesen Orten, wo Zeit und Raum nicht fest umrissen und wandelbar waren, und bei der Entstehung der Welt war die magische Energie eine ungeformte, unermessliche Kraft gewesen.

Rune und die anderen Greifen waren solche Wesen. Sie waren Geschöpfe der Dualität, geformt an der Schnittstelle zweier Tiere, auf der Schwelle der Veränderung von Zeit und Raum. Löwe und Adler. Gemeinsam mit den anderen Wyr lernten sie, ihre Gestalt zu verwandeln und sich unter den Menschen zu bewegen, und so waren sie außerdem Wyr-Wesen und Menschen. Sie hatten eine Affinität zu Orten zwischen den Welten, konnten Übergangspassagen und Anderländer finden, die allen anderen verborgen blieben, und in der Frühgeschichte waren sie bei allen Alten Völkern als furchtlose Entdecker bekannt. Es gab niemanden, der ihnen glich. Dann war die nur rudimentär geformte Zeit der Schöpfungsphase vorübergegangen, und alles hatte feste Formen angenommen, sogar die Übergangspunkte.

Die Vergangenheit spielte sich hinter ihm ab. Die Zukunft war das unbekannte Etwas, das mit einem Mona-Lisa-Lächeln auf ihn wartete. Und das stets flüchtige Jetzt wurde fortwährend geboren und starb fortwährend, aber niemals konnte man es mit den Händen greifen und festhalten, weil es einen schon zum nächsten Ort drängte.

Ja, er wusste so einiges über das Leben auf der Schwelle.

Aryal und er waren zum Cuelebre Tower in New York zurückgekehrt.

Die sieben Reiche der Alten Völker überlagerten die menschliche Geografie der amerikanischen Festlandstaaten. Der Sitz des Wyr-Reichs war New York City, das Elfenreich hatte sein Zentrum in Chicago, South Carolina. Das Reich der Dunklen Fae hatte seinen Stammsitz in Chicago, während das der Hellen Fae in Los Angeles ansässig war. Die Nachtwesen, zu denen alle vampyrischen Daseinsformen gehörten, beherrschten die San Francisco Bay und den Pazifischen Nordwesten, und die menschlichen Hexen (die zu den Alten Völkern gehörten, weil sie über magische Energie verfügten) hatten ihren Sitz in Louisville, Kentucky. Das Volk der Dämonen bestand ebenso wie das der Wyr und der Nachtwesen aus vielen unterschiedlichen Arten – unter anderem Goblins und Dschinns. Ihr Hauptsitz lag in Houston.

Bei Runes und Aryals Rückkehr führte ihr erster Weg sie zu einer Nachbesprechung mit Dragos Cuelebre, dem Lord der Wyr. Dragos war ein gewaltiger, dunkelhaariger Mann mit goldenen Augen, seine Wyr-Form war ein Drache von der Größe eines Privatflugzeugs. Mit sieben unsterblichen Wyr als Wächtern an seiner Seite hatte er jahrhundertelang über das Wyr-Reich geherrscht.

Rune war Dragos’ Erster Wächter. Neben ihren anderen Pflichten sorgten Rune und die drei anderen Greifen Bayne, Constantine und Graydon für den Frieden im Reich. Aryal war die für Ermittlungen zuständige Wächterin, und der Gargoyle Grym fungierte als Sicherheitschef von Cuelebre Enterprises.

Gerade erst hatte Dragos seinen siebten Wächter verloren und bisher noch keinen Ersatz eingestellt. Tiago, Wyr-Donnervogel und lange Zeit Wächter und Kriegsherr, hatte sein Leben und seine Stellung verlassen, um bei seiner neu entdeckten Gefährtin Niniane zu sein.

Selbst an seinen besten Tagen war Dragos nicht sonderlich ausgeglichen, und die Nachbesprechung hatte ihm von Anfang an nicht gefallen. Sie hatte ihm überhaupt nicht gefallen.

»Du hast ihr WAS versprochen?« Das tiefe Brüllen des Drachen rüttelte an den Fenstern seines Büros, in dem sie standen. Dragos stemmte die Hände in die Hüften, in seinen dunklen, scharfkantigen Zügen lag Ungläubigkeit.

Runes Mund trug die Unbewegtheit eines Mannes zur Schau, der darum ringt, seine Beherrschung zu wahren. »Ich habe versprochen, in einer Woche zu Carling zu kommen und ihr einen Gefallen ihrer Wahl zu tun«, sagte er.

»Scheiße, das ist einfach unglaublich«, knurrte der Wyr-Lord. »Hast du auch nur eine Ahnung, was du da zugesagt hast?«

»Ja, in der Tat«, brachte Rune zwischen den Zähnen hervor. »Ich glaube, ich habe da vielleicht einen Anhaltspunkt.«

»Sie könnte dich um alles bitten. Und jetzt bist du durch die Gesetze der Magie daran gebunden, es zu tun. Du könntest für JAHRHUNDERTE fort sein, um diesen einen verdammten Gefallen einzulösen.« Der Drache schritt auf und ab, und sein vor Wut lodernder Blick stand kurz vor der Weißglut. »Ich habe schon meinen Kriegsherrn verloren, und jetzt haben wir keine Ahnung, wie lange ich ohne meinen Ersten Wächter auskommen muss. Hättest du dir nicht irgendwas anderes für diesen Handel einfallen lassen können? Irgendwas. Egal, was.«

»Offenbar nicht – schließlich war ich es, der diesen gottverdammten Deal gemacht hat«, schnauzte Rune, dessen lange strapazierter Geduldsfaden sich in Rauch auflöste.

Dragos verstummte und drehte sich ruckartig zu Rune um. Zum Teil lag es ganz sicher an der Überraschung, denn normalerweise war Rune der Ausgeglichene von ihnen. Aber Dragos holte tief Luft, um ein hasserfülltes Schnauben auszustoßen. Die magische Energie des Drachen verdichtete sich im Raum.

Dann ging ausgerechnet Aryal dazwischen, um ihre Version der Friedensstifterin zum Besten zu geben. »Zur Hölle, Dragos, was soll das?«, fragte die Harpyie. »Es ging um Leben und Tod, und Tiago verblutete vor unseren Augen. Keiner von uns hatte die Zeit, sich mit seinen Anwälten über die besten Konditionen für einen Handel mit der Bösen Hexe des Westens zu beraten. Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht. Hier.« Sie warf ein ledernes Päckchen nach Dragos, der es reflexartig auffing.

Dragos öffnete das Päckchen und zog zwei Paar schwarzer Fesseln heraus, von denen eine bedrohliche magische Energie ausging. »Endlich ein paar gute Nachrichten«, schnaufte er.

Voller Abscheu starrten die drei Wyr auf die Fesseln. Diese Ketten, entworfen von Dragos’ Erzfeind Urien Lorelle, dem verstorbenen König der Dunklen Fae, besaßen die Kraft, den mächtigsten aller Wyr gefangen zu halten: Dragos persönlich.

Nachdem sein Wutausbruch sabotiert worden war, hörte Dragos schweigend zu, während Rune und Aryal zu Ende berichteten. Naida Riordan, Ehefrau einer der mächtigsten Persönlichkeiten in der Regierung der Dunklen Fae, hatte nämlich diese alten Gerätschaften Uriens für den Versuch benutzt, Niniane und Tiago zu töten.

»Die Fesseln haben Tiago daran gehindert, sich zu heilen«, sagte Rune. »Wir hätten ihn beinahe verloren, bevor wir herausfanden, wie wir sie öffnen konnten. An diesem Punkt musste ich mich auf den Handel mit Carling einlassen.«

Der Drache bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. Wie Schatten zogen die Gedanken durch seine goldenen Augen.

»Also gut«, sagte Dragos nach einer Weile. »Nutze diese Woche, um deine Angelegenheiten zu regeln und deine Pflichten zu delegieren. Und wenn du in San Francisco ankommst, versuche Carling um alles in der Welt davon zu überzeugen, dass sie dich etwas tun lässt, das schnell geht.«

Also verbrachte Rune die Woche damit, seine Aufgaben zu übertragen. Nachts leisteten ihm Bob und die Bilder in seinem Kopf Gesellschaft, und tagsüber fielen die Geräusche New Yorks brutal über ihn her.

Normalerweise genoss er die energiegeladene Betriebsamkeit in New York, doch seit seiner Rückkehr aus Adriyel dampfte die gigantische Stadt in der Sommerhitze, die alle Gerüche in der schweren, feuchten Luft einschloss, und der unaufhörliche, schrille, misstönende Lärm der Stadt ging Rune unter die Haut wie das Kratzen scharfer Fingernägel. Es verwandelte ihn in einen barbarischen Fremden, dem schnell und unberechenbar die Sicherung durchbrannte – und wenn er dann in die Luft ging, war er nicht weniger entsetzt als die anderen. Er empfand etwas, das er in den langen, ungezählten Jahren seiner Existenz noch nie empfunden hatte: Unsicherheit.

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, sich für einige Zeit zu verkrümeln. Er könnte sich neu sortieren und sein Gleichgewicht wiederfinden. Es wäre auch klug, sich eine Auszeit vom Umgang mit Dragos’ Temperament zu nehmen, wenn auf seine eigene Selbstbeherrschung so wenig Verlass war. Die produktive Beziehung zwischen ihnen, die schon Jahrhunderte währte, basierte zum Teil auf Freundschaft. Und zu einem anderen, sehr großen Teil basierte sie darauf, dass sie sich auf die Fähigkeiten des anderen verlassen konnten, zum Beispiel auf Runes Gleichmut und sein diplomatisches Geschick.

Im Augenblick jedoch schien sein gesamtes, nicht unbeträchtliches Geschick darin, seinen Boss zu besänftigen, verreist zu sein. Wenn er so weitermachte, würde es zwischen ihm und Dragos mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem ernsthaften, ziemlich hässlichen Streit kommen, und davon hätte niemand etwas – am allerwenigsten er selbst. Es gab einfach keinen Grund, es so ausarten zu lassen.

Er sollte sich also bei Carling einschmeicheln, damit sie ihn etwas tun ließ, das schnell ging. Vielleicht könnte er ihr anbieten, den Müll rauszubringen oder den Abwasch zu machen. Wie gut das wohl ankommen würde?

Hatte die Böse Hexe des Westens Sinn für Humor? In den letzten Jahrhunderten hatte Rune sie bei einigen außenpolitischen Anlässen beobachten können. Obwohl er sie vielleicht ein- oder zweimal etwas Doppeldeutiges hatte sagen hören und hin und wieder geglaubt hatte, tief in ihren sagenhaften, dunklen Augen einen Funken lauern zu sehen, erschien es ihm doch sehr unwahrscheinlich. Für echten Humor wirkte sie zu ernsthaft, so als könnte ein Lachen ein lebenswichtiges Waffensystem in ihrem Inneren zerstören.

Am Donnerstag, dem sechsten Tag, piepste sein iPhone. Er zog es aus der Jeanstasche und sah nach. Er hatte eine E-Mail von einem Duncan Turner von der Rechtsanwaltskanzlei Turner & Braeburn erhalten, Hauptsitz San Francisco.

Wer zum Teufel …?

Oh jaaaaa. Duncan Turner war Duncan, der Vampyr. Bei der Reise nach Adriyel im Land der Dunklen Fae war er im Gefolge von Carling mitgereist, die in ihrer Funktion als Rätin des Tribunals der Alten Völker an Ninianes Krönung teilnehmen sollte.

Das Tribunal der Alten Völker fungierte als eine Art Vereinte Nationen. Es setzte sich aus sieben Ratsmitgliedern zusammen, welche die sieben Alten Reiche auf dem US-amerikanischen Festland repräsentierten, und besaß gewisse rechtliche und richterliche Befugnisse bei Angelegenheiten zwischen verschiedenen Reichen. Seine wichtigste Aufgabe bestand darin, das aktuelle Gleichgewicht der politischen und magischen Kräfte stabil zu halten und Kriege zu verhindern.

Die Ratsmitglieder waren unter anderem berechtigt, Einwohner ihres Reichs als Begleitung anzufordern, wenn sie in ihrer offiziellen Funktion als Repräsentanten des Tribunals der Alten Völker agierten. Wie bei der Geschworenenpflicht unter den Menschen mussten die Reichsbewohner entweder gehorchen oder einen Beweis erbringen, dass sie nicht in der Lage waren, der Anordnung Folge zu leisten.

Rune fragte sich, wie viele abrechnungsfähige Stunden Duncan für das Privileg eingebüßt hatte, Carling zu Ninianes Krönung in Adriyel zu begleiten. Duncan hatte sich auf der Reise nicht nur als sehr nützlich erwiesen, sondern auch niemals ein Zeichen von Frustration, Ungeduld oder Ärger gezeigt. Er war der ideale Reisebegleiter, und obwohl Rune bei solch beispielhaftem Verhalten misstrauisch wurde, hatte er doch angefangen, den Vampyr zu mögen.

Mit einem Klick öffnete er die E-Mail.

Rune Ainissesthai

Erster Wächter

Cuelebre Tower

New York, NY 10 001

Re: Mündlicher Vertrag, rechtskräftig erfolgt am 23. 4.3205, Adriyel-Zeit.

Lieber Rune,

als Zahlung für die von Rätin Carling Severan geleisteten Dienste erscheinen Sie bitte morgen zum Sonnenuntergang in meinem Büro, Suite7500, 500 Market Street, San Francisco, CA 94105. Weitere Anweisungen erhalten Sie dort.

Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Woche, und freue mich, Sie zu gegebener Zeit wiederzusehen.

Mit freundlichen Grüßen

Duncan Turner

Senior Partner

Turner & Braeburn, Rechtsanwälte

Beim Lesen fuhr sich Rune mit der Hand über den Mund. Seine ohnehin düstere Laune verfinsterte sich noch mehr. Carling fragen, ob es etwas sein könnte, das schnell geht, ja? Den Müll rausbringen. Den Abwasch machen.

Ach du Scheiße.

Solange er nicht wusste, was von ihm erwartet wurde, befand er es für klug, sich eine komfortable Unterkunft zu suchen. Deshalb reservierte er für unbegrenzte Zeit eine Balkon-Suite im Fairmont Hotel in San Francisco. Er entschied sich für eine bescheidenere Zimmergröße zugunsten einer besseren Aussicht und Glastüren, die auf einen Balkon mit schmiedeeisernem Geländer hinausführten. Dann verabschiedete er sich von seinen Freunden, packte einen Seesack und setzte sich in einem kurzen, hässlichen Kampf gegen den Stolz der Wyr-Löwen durch. Die Armee von Anwälten, die für Cuelebre Enterprises arbeiteten, hatten den Firmenjet eigentlich nutzen wollen. Trotz ihrer lautstarken Einwände war der Streit in dem Augenblick beendet, als sich Rune auf seinen Rang berief. Dann schickte er die Gruppe angefressener Katzen los, um eilig Erste-Klasse-Tickets zu ihrer Geschäftsversammlung in Brüssel zu buchen.

Er hätte in seiner Greifengestalt von New York nach San Francisco fliegen können, doch das hätte bedeutet, dass er müde und hungrig im Anwaltsbüro von Turner & Braeburn angekommen wäre, was ihm nicht als die strategisch beste Wahl erschien, wenn man einen unbekannten, möglicherweise gefährlichen Auftrag übernahm. Außerdem gab es, wie er den Katzen erklärte, noch einige Angelegenheiten, die er auf dem Flug in letzter Minute erledigen musste.

Und das tat er. Sobald der Learjet den Asphalt verlassen hatte, streckte er sich auf einem Sofa aus. Im Rücken hatte er ein paar Kissen, und neben seinem Arm lag ein Stapel Rindfleisch-Sandwiches. Per Knopfdruck öffnete er die Blende, hinter der sich ein Zweiundfünfzig-Zoll-Plasmabildschirm verbarg, platzierte eine schnurlose Tastatur auf den angezogenen Knien und eine schnurlose Maus auf der Sofalehne und loggte sich über die Satellitenverbindung des Jets beim World of Warcraft-Spiel Zorn des Lichtkönigs ein.

Schließlich wusste er nicht, wann er das nächste Mal Gelegenheit haben würde, WoW zu spielen. Und es war verdammt wichtig, dass er seinen Teil dazu beitrug, das Leben auf Azeroth zu retten, solange er noch konnte. Booyah!

Er spielte WoW, aß und schlief, und währenddessen flog der Learjet westwärts über den Himmel und schoss eilig dem Tod des Tages entgegen. Es war ein gutes Gefühl, wieder unterwegs zu sein, wenn auch gemächlich. Runes Stimmung hellte sich auf, und er war beinahe wieder fröhlich.

Dann wurde der Spielsound von der Stimme des Piloten unterbrochen. »Sir, wir haben mit dem Sinkflug begonnen. Es dürfte eine sanfte Landung werden. Wir werden SFO innerhalb der nächsten halben Stunde erreichen und haben bereits Landeerlaubnis erhalten. In San Francisco sind es derzeit milde dreiundzwanzig Grad bei wolkenlosem Himmel. Sieht aus, als hätten wir einen wunderschönen Sonnenuntergang zu erwarten.«

Rune verdrehte die Augen, loggte sich bei WoW aus, streckte sich und stand auf. Er ging in den luxuriös ausgestatteten Waschraum, rasierte sich und stieg für fünf Minuten unter die Dusche. Dann zog er wieder seine Lieblingsjeans, das Jerry-García-Shirt und seine Stahlkappenstiefel an und ging ins Cockpit, um sich das malerische Schauspiel anzusehen.

Pilot und Copilot waren ein Gefährtenpärchen von Wyr-Raben, die lässig in ihren Sitzen saßen und sich unterhielten. Als Rune eintrat, nahmen die beiden schlanken, dunkelhaarigen und schlagfertigen Wyr in ihren Sitzen Haltung an.

»Jungs«, sagte er sanft und stützte einen Ellbogen auf die Rückenlehne des Copiloten-Sitzes. »Entspannt euch.«

»Ja, Sir.« Alex, der Pilot, lächelte ihn kurz von der Seite an.

Alex war der jüngere und aggressivere der beiden Männer. In den meisten Fällen gab sich sein Partner Daniel, der ruhigere von beiden, mit der Rolle des Copiloten zufrieden. Bei längeren Flügen tauschten sie gern die Plätze: Einer war der verantwortliche Pilot auf dem Hinflug, der andere steuerte die Maschine auf dem Rückflug.

Der Learjet sollte über Nacht gewartet und aufgetankt werden, und die Raben würden schon früh am nächsten Morgen auf dem Rückweg nach New York sein. »Habt ihr zwei heute Abend schon etwas vor – essen gehen oder euch ein Stück ansehen?«, fragte Rune.

Während sie sich über Restaurants und Broadway-Stücke auf Tournee unterhielten, betrachtete Rune das Panorama, das sich unter dem Flugzeug erstreckte.

Gigantische Farbstreifen zogen sich über die San Francisco Bay, die bläulichen Grautöne der fernen Landmarken waren von den hellen Funken elektrischer Lichter übersät, und all das wurde vom feurigen Strahlen des herannahenden wolkenlosen Sonnenuntergangs gekrönt. Alle fünf größeren Brücken der Bay – die Golden Gate Bridge, die San Francisco Oakland Bay Bridge, die Richmond-San Rafael Bridge, die San Mateo Hayward Bridge und die Dumbarton Bridge – waren wie perfekte Miniaturabbildungen in die aquarellfarbene Ferne radiert. Aus der südlichen Halbinsel von San Francisco ragten die Wolkenkratzer in die Höhe wie kolossale Blumen im Garten irgendeines Gottes. Am anderen Ende des Golden Gate lag die North Bay Area, zu der das Marin, das Sonoma und das Napa County gehörten.

Manchmal war in der Ferne noch anderes Land zu sehen, gezeichnet in Linien aus blassem, durchscheinendem Blau. Eines der Anderländer der Bay Area erschien seit etwa einem Jahrhundert hin und wieder am Horizont. Es schien genau westlich des Golden Gate zu liegen.

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war die Insel zum ersten Mal gesichtet worden und hatte für große Verwirrung und die Umstellung von Schifffahrtsrouten gesorgt. Zu diesem einzigartigen Phänomen hatte es viele Untersuchungen und Spekulationen gegeben, darunter so zündende Ideen wie eine Verschiebung der magischen Energie im Zusammenhang mit den geologischen Verschiebungen durch die kalifornischen Erdbeben. Aber niemand kam wirklich dahinter, warum die Insel manchmal sichtbar war und dann wieder verschwand. Schließlich entdeckte eine abenteuerlustige Seele, dass die Insel verschwand, sobald ein Schiff nahe genug heransegelte. Daraufhin kehrte der Verkehr der Schifffahrtslinien wieder zur Normalität zurück.

Schon bald wurde die Insel zu einer zusätzlichen Touristenattraktion der Bay Area. Immer wenn die Insel sichtbar war, verzeichneten die Besichtigungsbootstouren einen exponentiellen Zuwachs, und die Leute begannen, die Insel Avalon zu nennen, das glänzende Land der Mythen und Fabeln.

Aber im Flüsterton hatte Rune einen anderen Namen gehört. Es gab noch andere Bewohner der Bay Area. Bewohner, die keine Bootsfahrten buchten, nicht in Restaurants aßen und sich auch keine Broadway-Shows auf Tournee ansahen. Sie lebten in den Ecken alter, verlassener Gebäude und versteckten sich, wenn die Nacht hereinbrach und die Raubtiere hervorkamen. Die Cracksüchtigen und die Obdachlosen nannten das Land nicht Avalon. Sie nannten es Blood Alley.

Jetzt war die Insel in der Ferne sichtbar, und der riesige orangerote Ball der untergehenden Sonne leuchtete durch ihre unirdische Silhouette hindurch. Angeblich lebte auf der Insel eine kleine Kolonie von Vampyren. Rune betrachtete sie nachdenklich, während sich der Learjet in eine weite Kurve neigte, um sie in den Landeanflug auf SFO zu bringen.

Als Reichssitz der Nachtwesen verfügte die Bay Area über viele Vampyr-Enklaven, insbesondere im Marin County, wo sich, umgeben von einer ausgedehnten Siedlung, das Haus von Julian Regillus befand. Er war der offizielle König der Nachtwesen.

Soweit Rune wusste, flößte Julians Siedlung den Leuten auf der Straße keine so große Furcht ein wie diese Insel. Lag das an ihrer anderweltlichen Angewohnheit, aufzutauchen und wieder zu verschwinden, oder an denen, die dort lebten?

Alex stieß einen Seufzer aus, ehe er sagte: »Nach den Bestimmungen der FAA muss ich Sie darauf hinweisen … blabla … Sicherheitsgurte … bla …«

Rune lachte laut auf. »Wenn wir dabei nicht den ganzen Krempel verlieren würden, der hier im Cockpit nicht festgenagelt ist, würde ich jetzt am liebsten einfach eine Tür aufschieben und rausspringen.«

Daniel warf ihm einen Blick zu. »Vielen Dank, dass Sie davon Abstand nehmen, Sir.«

»Gern geschehen.« Rune klopfte dem Copiloten auf die Schulter und verließ das Cockpit.

In Wahrheit hatte er es gar nicht so besonders eilig; sie würden noch früh genug landen. Als sie in ihre Parkposition gerollt waren und Daniel den Lear öffnete, bedankte sich Rune bei ihm und flog los. Direkt vor dem Flugzeug nahm er seine Wyr-Gestalt an, schwang sich in die Luft und flog in die Stadt, wobei er sich gegen die Blicke anderer abschirmte.

Er war noch unentschlossen, wo er landen sollte, denn er kannte die Lage von 500 Market Street nicht gut genug, um die Adresse aus der Luft zu finden. Schließlich beschloss er, am westlichen Ende des Golden Gate Parks zu landen. Als er im steilen Sinkflug auf den gepflasterten Weg hinabsauste, flackerte sein Schatten über eine schlanke, verstohlen wirkende Gestalt hinweg, die vor einem Schild stand und in einer Hand eine Spraydose schüttelte.

Rune landete, verwandelte sich in Menschengestalt zurück und ließ seine Tarnhülle fallen. Er schulterte seinen Seesack und sah zu, wie die Person das Schild besprühte. Mit seinem knochigen Körperbau und den langen, spinnenartigen Händen und Füßen sah das braunhäutige Geschöpf aus wie eine magersüchtige menschliche Frau. In ihrem triefnassen Haar hingen Seetangstreifen.

Sie warf einen Blick über die Schulter, entdeckte Rune und starrte ihn finster an. »Was glotzt du so, Drecksack?«

Sanft sagte er: »Überhaupt nichts, gute Frau.«

»Belass es dabei.« Sie flitzte zum nächsten Mülleimer, warf die Dose hinein und rannte den Weg hinunter, um in einen Teich abzutauchen. Kurz darauf erklang unter einer Trauerweide am Ufer ein verzweifeltes Schluchzen.

Rune trat auf das Schild zu. Es war eines von Myriaden von Schildern, wie sie an allen Teichen, Seen und Flüssen in der Bay Area aufgestellt waren, um die Touristen zu warnen: »Die Wasserphantome bitte NICHT füttern.«

Auf diesem speziellen Schild war eines der Worte mit schwarzer Sprühfarbe übermalt. Jetzt stand da: »Die Wasserphantome bitte füttern.«

Willkommen im Reich der Nachtwesen, der Heimat der Wasserphantome, Nachtelfen, Ghule, Trolle und Vampyre. Aus dem Augenwinkel sah er einige Nachtelfen, die durch den Park spazierten. Im Unterschied zu echten Elfen waren Nachtelfen in der Regel schlanke Kreaturen, so groß wie Kinder, mit riesigen Augen, kahlen Köpfen und spitzen Ohren, und sie traten in Schwärmen auf wie Fische.

Rune schlenderte zu der Weide hinüber und legte den Kopf schief, um unter die triefenden Blätter blicken zu können. Das Wasserphantom saß im Wasser, die knochigen, dünnen Schultern waren nach vorn gesunken. Als es ihn sah, schluchzte es heftiger.

Er wühlte in seinem Seesack. Das Wasserphantom stieß ein klägliches Wimmern aus, und seine Lippen zitterten, während es Runes Bewegungen mit seinem schlammfarbenen Blick verfolgte. Er holte einen PowerBar-Proteinriegel hervor und hielt ihn in die Höhe. Die Augen des Wasserphantoms hefteten sich darauf. Heulend kroch es näher. Rune hob einen Finger. Das Heulen stieg zu einem fragenden Ton an und verstummte dann.

»Ich kenne deine Tricks, junge Dame. Wenn du versuchst, mich zu beißen, trete ich dir das Gesicht ein«, sagte Rune.

Das Wasserphantom bedachte ihn mit einem listigen Grinsen, das eine ganze Menge Zähne offenbarte. Er deutete auf den Riegel und hob die Brauen. Die Frau nickte eifrig. Dann warf er ihr den Riegel zu, und sie fing ihn aus der Luft. Dann wirbelte sie herum und tauchte mit einem Platsch auf die andere Seite des Baums, um ihre Beute zu verschlingen.

Rune schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. Bis Sonnenuntergang hatte er noch etwa eine halbe Stunde. Reichlich Zeit, um Richtung Westen zu gehen, auf die Market Street zu stoßen und herauszufinden, ob er sich dort nach rechts oder links wenden musste.

Als er den Park verließ, begann Bob in seinem Kopf wieder von vorn. Every little thing is gonna be alright.

Oh nein. Nicht schon wieder. Er wollte dieses Unternehmen wenigstens mit dem Anschein geistiger Gesundheit angehen. Während er die Straße hinunterging, öffnete er den Reißverschluss einer Seitentasche an seinem Seesack und angelte nach seinem iPod. Er steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und blätterte seine umfangreiche Playlist nach etwas anderem durch. Irgendetwas anderem, egal, was.

»Born to be Wild.« Oh ja, das müsste gehen.

Steppenwolfs kräftige, raue Stimme sang in seinen Ohren.

Fire all your guns at once and explode into space.

Es war die Zeit der Abenddämmerung, des Übergangs zwischen Tag und Nacht – einer der Schwellenorte dieser Welt. Das letzte Sonnenlicht fing sich in Runes Löwenaugen und brachte sie zum Strahlen. Er lächelte.

2

Die Market Street zog sich diagonal durch San Francisco, vom Ferry Building am nordöstlichen Ufer bis zu den Twin Peaks im Südwesten. Sie war eine der größten Verkehrsstraßen der Stadt und schon mit der Champs-Élysées in Paris und der Fifth Avenue in New York verglichen worden.

Jetzt war es Freitagabend im Reich der Nachtwesen, kurz vor Einbruch der Dämmerung, und die Market Street verwandelte sich in einen coolen, angesagten Ort. Die hohen Wolkenkratzer in der Umgebung boten effektiven Schutz vor dem letzten Tageslicht. Touristen und Kauflustige bevölkerten die Gehsteige.

Zwei weißhäutige, schöne Vampyrinnen in eleganter Kleidung schlenderten Arm in Arm auf ihn zu. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, und als er näher kam, sahen sie ihn mit ihren kajalumrandeten Augen und einem fahlen Lächeln von der Seite an. Er lächelte zurück; die Augen der ersten Vampyrin weiteten sich, und ihre Elfenbeinhaut errötete zart. Rune nahm das als ziemliches Kompliment, zumal es von einer Untoten kam.

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