DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL - Nancy Salchow - E-Book

DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL E-Book

Nancy Salchow

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Beschreibung

Fast ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Emma kehrt Simon in das gemeinsame Haus zurück, um sich endlich wieder dem Leben zu stellen. Nachdem er bei seiner Schwester und deren Familie neue Kraft gesammelt hat, macht ihm die Konfrontation mit einem Haus voller Erinnerungen nur allzu schmerzhaft seinen Verlust bewusst. Als ihm zufällig das letzte Buch, das Emma vor ihrem Tod gelesen hat, in die Hände fällt, macht er eine seltsame Entdeckung. Eine fremde Frau scheint über eine ganz bestimmte Seite des Buchs mit ihm verbunden zu sein. Ihre Botschaften zeugen von einem ebenso schweren Schicksal wie seinem. Doch was hat die Seite 139, die letzte Seite, die seine Frau gelesen hat, mit der ominösen Fremden zu tun? Und wie schafft er es, ihr zu antworten? Zum ersten Mal seit langem schöpft er neue Hoffnung. Durch eine Frau, die er nicht kennt und die zu finden unmöglich scheint …

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Seitenzahl: 185

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Nancy Salchow

DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL

Liebesroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Kapitel 1

Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, lasse ich meine Gedanken zu einer Art Vorstufe des Träumens verschwimmen. Dann bist du da, als wäre nichts geschehen. Ich wundere mich nicht einmal, dass du da bist. Deine Anwesenheit ist so selbstverständlich, dass ich nicht darüber nachdenken muss. Du stehst in der Küche, während ich im Arbeitszimmer am Laptop sitze. Durch die offene Tür sehe ich, wie du Tomaten schneidest. Irgendwo in meinem Augenwinkel. Eigentlich sehe ich dich gar nicht. Es ist einfach nur das Wissen, dass alles normal ist. So normal, wie die Welt nur sein kann. Weil du da bist. Einfach da. 

Es war Herbst geworden, bevor er sich an den Sommer gewöhnen konnte. Die vergangenen zwölf Monate waren wie eine einzige nahtlose Jahreszeit an ihm vorübergezogen und hatten jedes Zeitgefühl verschwinden lassen. Lediglich die glänzenden Kastanien und rostbraunen Blätter auf dem Garagendach, das direkt unter seinem Fenster lag, deuteten den Beginn eines neuen Abschnitts an. Eines Abschnitts, dem er weder mit Furcht noch mit Freude entgegensah. Beinahe kam es ihm vor, als hätte er sich im Laufe des Jahres all seiner Emotionen entledigt. Wie der Baum all seiner Blätter.

„Bist du dir sicher, dass ich dich nicht zum Bahnhof bringen soll?“ Sie stand mit einem Geschirrtuch über dem Arm in der Tür.

„Ich nehme ein Taxi“, antwortete er, ohne sich vom Fenster abzuwenden. „Abschiedsszenarien am Bahngleis liegen mir nicht.“

„Die Kinder fragen, ob du mit ihnen vorher noch eine Runde Basketball spielst.“

„Mein Rücken bringt mich um, Marie. Außerdem habe ich das Taxi bereits bestellt. Es müsste jeden Moment da sein.“

„Jetzt schon? Aber ich dachte, wir würden noch zusammen essen.“ Ihre Stimme erhob sich, um sich im selben Moment wieder zu senken. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, ihren Bruder umzustimmen, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Zumindest nicht den Bruder, der zwölf Monate lang ihr Gästezimmer bewohnt hatte. Früher vielleicht, ja. Früher wäre er zum Essen geblieben. Sie wären zum Essen geblieben.

Er drehte sich um und lächelte das einzige Lächeln, das sie innerhalb des letzten Jahres zu sehen bekommen hatte. Ein bemühtes, mechanisches Lächeln. Dennoch hatte sie gelernt, es zu schätzen. Ein mechanisches Lächeln war besser als gar keines.

„Ich bin dir sehr dankbar“, sagte er. „Für alles, was du für mich getan hast. Ohne dich hätte ich das letzte Jahr nicht überstanden.“

„Das war selbstverständlich, Simon“, antwortete sie leise.

„War es nicht.“ Er ging einen Schritt auf sie zu. „Ich war ein Teil deiner eigenen kleinen Familie. Und sicher nicht immer ein angenehmer.“

Ihr Blick fiel auf den Koffer neben dem Bett.

„Du hast schon gepackt?“

„Wie gesagt, das Taxi.“

Sie nickte.

„Hör mal, Marie. Du darfst dir nicht so viele Sorgen machen. Es geht mir gut. Wirklich.“

Nun war sie es, die sich um ein Lächeln bemühte. „Ich weiß. Trotzdem. Du wirst uns fehlen.“ Sie berührte seinen Arm. „Aber an Weihnachten, an Weihnachten kommst du doch, oder?“

„Natürlich. Die Wunschzettel der Kinder liegen schon im Koffer.“

Sie suchte seinen Blick. Dieselben dunklen Augen, die ihn schon in Kindertagen fixiert hatten, wann immer sie sich Sorgen um ihn machte. Wie damals fiel ihr das schwarze Haar in widerspenstigen Locken auf die schmalen Schultern und erinnerte ihn für einen Moment an vergangene, an unbeschwerte Tage. Wortlos schauten sie sich an. Vielmehr war sie es, die ihn anschaute. Er hatte sich das wirkliche Sehen im Laufe der letzten Monate abgewöhnt. Er nahm zur Kenntnis, aber er hatte aufgehört, wirklich wahrzunehmen. Mit einer ungeschickten Umarmung kam er dem Wort zuvor, das sie erneut an ihn richten wollte. Er wollte nicht mehr reden. Nicht jetzt. Es war an der Zeit, den Schritt in ein neues Leben zu wagen. Ein Leben, das eigentlich kein neues, sondern die Imitation eines alten Lebens war. Eine Imitation seines Lebens.

Von der Auffahrt her ertönte ein Hupen. Eine Schar von Vögeln brach aufgescheucht aus dem Baum hervor.

Es wurde Zeit.

Kapitel 2

Es war das erste Mal seit seinem Umzug zu Marie, dass er den Schlüssel zu seinem eigenen Haus in den Händen hielt. Seine Nachbarin Frau Jäger hatte sich in der Zwischenzeit um seinen Garten gekümmert, zumindest um das, was davon übrig geblieben war. Auch die Fenster machten den Eindruck, erst vor kurzem geputzt worden zu sein. Er selbst jedoch hatte seit einem Jahr keinen Fuß mehr über die Türschwelle gesetzt.

Auf der letzten Stufe zögerte er für einen Moment. Der Schlüsselanhänger, ein alberner Stoffbär mit Zylinder, hing seltsam vertraut zwischen seinen Fingern herab, als hätte er ihn nie zur Seite gelegt. Mit einem tiefen Atemzug steckte Simon schließlich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

Er erinnerte sich daran, das Haus damals überstürzt und in unverändertem Zustand verlassen zu haben; trotzdem traf ihn der vertraute Anblick heftiger als erwartet. Emmas Pantoffeln neben der Küchentür. Ihre Wildlederstiefel vor der Heizung. Die dunkelblaue Strickjacke an der Garderobe. Ein leichter Windzug verstummte, als er die Tür hinter sich schloss. Mit vorsichtigen Schritten durchquerte er den Flur, bis er die Küche erreichte. Auf dem Tisch stand ein frischer Strauß Chrysanthemen. Frau Jäger. Sicher hatte sie die Blumen erst am Morgen in die Vase gestellt.

Doch der Gedanke an die Fürsorglichkeit seiner Nachbarin verblasste schnell unter den erdrückenden Bildern, die das Haus ihm bot. Das hellblaue Wachstuch auf dem Tisch. Die grüne Salatschüssel auf dem Kühlschrank, die Emma erst letzten Sommer dort abgestellt hatte. Zu wenig Platz in der Schublade, hatte sie geschimpft.

Er unterdrückte das Bedürfnis, sich auf einen der Stühle fallen zu lassen. Sich fallen zu lassen käme dem Versinken in Selbstmitleid gleich. Und er wollte nicht versinken, weder in Selbstmitleid noch in quälenden Erinnerungen! Sie ist fort. Und kein selbstzerstörerischer Gedanke wird sie dir zurückbringen.

Er verließ die Küche, um sich ins obere Stockwerk zu begeben, beherrscht von dem Drang, das Haus möglichst zügig zu mustern und jede Konfrontation schnell hinter sich zu bringen. Direkt neben der Treppe fiel sein Blick auf den Wandspiegel. Abrupt blieb er stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihm das Bild des Mannes im Spiegel vertraut. Wie eine blasse Erinnerung an vergangene Tage drängte es sich in sein Bewusstsein, scheiterte aber im selben Augenblick an der mühsam erlernten Kunst des Verdrängens. Schnell wurde aus der Erinnerung an einen alten Bekannten wieder dasselbe konturlose Gesicht, das ihn seit Monaten bei den seltenen Blicken in den Spiegel ansah. Keine Mimik. Nicht mal der Ansatz einer Emotion.

Die zwei kleinen Falten zwischen den Augenbrauen, ein Resultat jahrelanger konzentrierter Arbeit am Bildschirm. Die tiefen Schatten unter den Augen, die sich von gelegentlicher Anwesenheit am Morgen zu einer dauerhaften Erscheinung entwickelt hatten. Das dunkle, leicht zerzauste Haar, das nach Meinung seiner Schwester in etwas zu lang geratene Koteletten überging. Insgesamt ein wenig eindrucksvoller Anblick. Aber wie viel ist ein Eindruck wert, wenn es niemanden mehr gibt, den es zu beeindrucken gilt?

Er strich sich mit den Fingern über die Wangen, wie er es manchmal tat, wenn er müde wurde, und wandte sich vom Spiegel ab. Selbst der Anblick seines eigenen Gesichts weckte Erinnerungen in ihm. Erinnerungen, die er sorgsam zu vermeiden suchte.

Während er die Treppe hinaufging, überkam ihn ein Anflug von Angst. Wie sollte er es fertigbringen, das Schlafzimmer zu betreten, geschweige denn darin zu übernachten? Dasselbe Zimmer, das er sechs Jahre lang mit Emma geteilt hatte? Das Zimmer, in dem sie sich noch am Morgen ihres Todes geliebt hatten?

Die Tür war angewinkelt, als er die obere Etage erreichte. Bereits beim ersten Blick durch den Spalt gewann der Raum an Macht. Es schien ihm beinahe unmöglich, sie zu ertragen. Bleib stark! Du kannst dich nicht für immer verstecken. Du musst dich den Dingen stellen.

Mit schwachen Händen schob er die Tür auf. Das vertraute Bild von ockerfarbenen Vorhängen, die das breite Fenster umhüllten. Die kleine Stehlampe in der hinteren Ecke des Raumes, die Emma im ersten Jahr ihrer Ehe vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Die Fotos auf der Kommode neben dem Kleiderschrank. Ihr Morgenmantel an einem Haken neben der Tür. Unfähig, sich weiteren Eindrücken auszusetzen, ließ er sich auf das Bett fallen. Woher sollte er die Kraft nehmen, hierzubleiben? Auch nur eine einzige Sekunde ohne sie?

Mühsam versuchte er, sich an die Zeit vor Emma zu erinnern. Sein Junggesellenleben und die Nächte, die er mit seinen Kumpels bis zum Morgengrauen am Billardtisch verbracht hatte. Ein Rauhbein hatte Marie ihn damals immer genannt. Einen unbelehrbaren Einzelgänger, dazu verdammt, eines Tages einsam zu sterben, wenn er nicht endlich lernen würde, sich auf andere Menschen einzulassen. „Irgendwo da draußen wartet sie auf dich, Simon“, hatte sie gesagt. „Die Eine, die sich der Mission stellen möchte, aus einem mürrischen Egoisten einen liebenswerten Kerl zu machen. Nur zwischen Rauchschwaden und betrunkenen Dummköpfen wirst du sie nicht finden.“ Erst nachdem er Emma kennengelernt hatte, verstand er, was Marie gemeint hatte.

Was war übrig geblieben von den Dingen, die ihn damals am Alleinsein gereizt hatten? Die Abende mit Freunden oder die Begeisterung für seine Arbeit, über der er manchmal stundenlang das Essen vergaß. Wo war er hin, der Reiz des Lebens, das er vor Emma geführt hatte?

Er spielte mit dem Gedanken, das Haus wieder zu verlassen. Besser heute als morgen. Diesmal für immer. Marie würde ihm sicher dabei helfen, es zu verkaufen. Er könnte zu ihr ziehen. Warum nicht? Sie selbst hatte gesagt, wie sehr er ihnen fehlen würde, besonders den Kindern. Timmy und Rhea wären selig, wenn er zurückkäme. Und die Arbeit als Übersetzer könnte er von überall aus erledigen. Ein Vorzug seines Berufes, der ihm nun endlich einmal zugutekäme.

Doch im selben Augenblick verwarf er die Idee wieder. So sehr ihn die Kinder auch ins Herz geschlossen hatten: Marie und Jan hatten ein eigenes Leben, eine eigene Familie. Sein Aufenthalt hatte sich ohnehin schon in unverzeihliche Länge gezogen. Wie konnte er erwarten, dass sie ihren Alltag, ihr Familienleben für ihn dauerhaft aus den gewohnten Bahnen reißen würden?

Er ließ den Kopf auf die Hände sinken und starrte durch die offene Tür auf den Dielenboden. Ein paar Staubflocken schienen im Licht, das durch die Jalousien des Dachfensters auf den Boden fiel, zu tanzen. In einem Haus, das nicht vertrauter und doch auch kaum befremdlicher sein könnte. Ein Haus, um das er sich nun allein kümmern musste.

Sein Blick wanderte auf den Nachtschrank neben dem Bett. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er auf Emmas Seite des Bettes saß. Ihr Nachtschrank. Der kleine Funkwecker, den in Ermangelung einer funktionierenden Batterie nur noch ein blankes Display schmückte. Das rote Lederetui für ihre Lesebrille. Daneben ein Buch mit leicht ausgefransten Ecken. Er erinnerte sich, dass sie am letzten Abend darin gelesen hatte. Das leichte Lächeln auf ihren Lippen, wenn sie mit dem Blick auf einer Seite verharrte und dieselben Zeilen immer und immer wieder las.

Intuitiv griff er danach. Das Glück im Augenwinkel. Er strich mit den Fingern über den Titel und öffnete das Buch auf der mit einem schmalen Lesezeichen versehenen Seite. Ein Schauer überkam ihn bei der Vorstellung, dieselben Worte zu lesen, die sie vor ihrem Tod gelesen hatte. Er versuchte sich vorzustellen, welche Emotionen sie bei ihr ausgelöst hatten, welche Gedanken ihr dabei durch den Kopf gegangen waren. Die Worte eines Buchs, das er nun selbst in den Händen hielt.

Der altvertraute Druck legte sich auf seine Brust. Sein Atem wurde schwer. Gleichzeitig fühlte er sich ihr allein durch die Berührung der Seite näher. Eine Nähe, die er aufgrund ihrer Unerträglichkeit immer wieder mied und der er doch in diesem Moment, diesem einen Moment der Rückkehr, nicht aus dem Weg gehen konnte.

Er nahm das Lesezeichen heraus. Seite 139. Unvermittelt begann er zu lesen:

Keine Stunde vergeht, im Grunde nicht mal eine Minute, in der ich nicht an dich denke. Man sagt, Gedanken an die Vergangenheit seien selbstzerstörerisch, vor allem dann, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr ändern kann. Dennoch habe ich bis heute nicht gelernt, Abstand zu gewinnen. Wie kann ich von etwas Abstand gewinnen, das so tief in mir verankert ist? Wie könnte ich jemals Abstand von DIR gewinnen? Ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass mir die Luft wegbleibt. Einfach so. Vielleicht wäre ich dann wieder bei dir, wenn ich einfach die Luft anhalte?

Er schlug das Buch zu, bevor er das Ende der Seite erreicht hatte. Wie konnte ein Text wie dieser Emma ein Lächeln abverlangt haben? Ein Text, dessen Bedeutung damals noch in so weiter Ferne lag? Worte, die seinen Gedanken heute so erschreckend ähnlich waren? Und was für eine Art von Roman trug Worte wie diese in sich?

Er presste das Buch gegen seine Brust und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Sein Blick fixierte die Decke, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Warum Emma? Warum ausgerechnet Emma? Immer wieder schlichen sich die Gedanken an diesen einen Tag in sein Unterbewusstsein, den Tag, der sein ganzes Leben für immer verändern sollte. Nicht nur das Schicksal von Emma und somit auch seines, sondern das Schicksal von zwölf Menschen nahm an diesem bestimmten Datum eine grausame Wendung.

Es war der 13. September 2010.

*

„Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, mein Junge.“

Es gehörte zu ihrem ganz eigenen Charme, ihn zu siezen und im selben Atemzug ein „Mein Junge“ hinterherzuschieben. Eine Eigenart, die er während seiner Abwesenheit beinahe vergessen hatte und die ihn nun an das wenig verbliebene Schöne seiner alten Heimat erinnerte. Frau Jäger. Die gute Seele der Nachbarschaft.

Er schob eine Tasse zu ihr hinüber und setzte sich an den Küchentisch.

„Das hätte ich doch auch machen können.“

„Es ist nur eine Tasse Tee, Frau Jäger. Den bekomme ich schon noch alleine hin“, antwortete er. „Und überhaupt haben Sie schon mehr als genug getan.“

Sie musterte ihn mütterlich. „Nicht genug, mein Junge. Nicht genug.“

Ihr mitfühlender Blick ähnelte dem seiner Schwester. In ihren hellgrauen Augen erkannte er noch immer dieselbe Sorge, dasselbe wortlose Mitleiden, das sich ihm bei der ersten Begegnung nach dem tragischen Ereignis dargeboten hatte. Sie redete viel, ohne gewisse Dinge auszusprechen – ein Taktgefühl, das er bei vielen seiner Nachbarn in den schlimmen ersten Tagen vermisst hatte. Und einer der Gründe, warum er jede Hilfe von Frau Jäger ohne Zögern angenommen hatte.

„Ich komme zurecht, Frau Jäger. Wirklich. Außerdem wird es Zeit, dass ich mich wieder dem Alltag stelle. Und dazu gehört unter Umständen eben auch, eine Tasse Tee zu kochen.“

Er lächelte. Ein Lächeln, das sie nur zaghaft erwiderte, während sie ihre faltige Hand auf seine legte.

Er fragte sich, wie alt sie wohl war. Eine Frage, die er sich oft gestellt, aber anstandshalber nie ausgesprochen hatte. Mitte Sechzig? Bereits über Siebzig? Ihr Haar, im selben Grau wie ihre Augen, hatte sie zu einem engen Dutt gebunden. Über dem hellblauen knielangen Kleid, das ihre breiten Hüften umschloss, trug sie eine Strickjacke in undefinierbarer Farbe. Simon wusste, dass sie alleine lebte, aber zum ersten Mal seit seinem Einzug in die Kastanienallee und ihrer ersten Begegnung vor sechs Jahren fragte er sich, ob auch sie möglicherweise einen Verlust zu verschmerzen hatte. Vor Jahren vielleicht.

„Ich habe Lammbraten gemacht“, sagte sie. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen zum Abendessen ein bisschen vorbeibringen.“

„Das ist wirklich sehr nett, aber …“

„Das Aber können Sie gleich wieder aus Ihrem Wortschatz streichen, mein Junge. Wenigstens essen müssen Sie richtig, wenn Sie schon nicht arbeiten.“

„Oh, ich arbeite“, widersprach er. „Auch schon in den letzten Monaten, als ich noch bei meiner Schwester gewohnt habe. Wozu gibt es das Internet, Telefon und die Post?“

„Das freut mich.“ Die Sorge in ihrem Blick wich Erleichterung. „Und wer gut arbeitet, muss auch gut essen.“

„Das ist aber wirklich nicht nötig.“

„Und ob es das ist“, antwortete sie, und ihr Tonfall machte unmissverständlich klar, dass sie keinen weiteren Widerspruch duldete.

Simon lehnte sich zurück und umschloss seine Tasse mit beiden Händen. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, sich ihrer charmanten Diktatur zu unterwerfen. Lammbraten zum Abendessen, die Übersetzung des neunten Kapitels von Clara Haiges und vielleicht ein Glas Whiskey vor dem Schlafengehen. Irgendwie würde ihm das mit der Ablenkung schon gelingen. Zumindest für heute.

*

Er fragte sich, ob die mangelnde Begeisterungsfähigkeit für das Manuskript vor ihm tatsächlich den Leistungen der Autorin oder seiner eigenen emotionslosen Verfassung zuzuschreiben war. Er erinnerte sich an die Übersetzung ihres letzten Werkes und den Tatendrang, mit dem er damals an die Arbeit gegangen war. Eine Euphorie, die ihm jetzt nur noch wie eine blasse Kopie seiner eigenen Persönlichkeit erschien.

Ohne Zweifel, es musste an ihm liegen. Clara Haiges war eine Könnerin. Eine Schande, dies auch nur in Frage zu stellen.

Die Buchstaben auf dem Bildschirm vor ihm verloren an Kontur, bevor er sich erneut disziplinieren konnte. Er schaute auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Vielleicht war es an der Zeit, sich schlafen zu legen. Die zweite Nacht in seinem Bett. Und vielleicht die erste, in der er es wenigstens zu ein paar Stunden Schlaf bringen würde.

Rechts neben der Tastatur entdeckte er das Buch. Welch seltsame Idee, es mit ins Arbeitszimmer zu nehmen. Und doch ließ ihn der Drang nicht los, es bei sich zu tragen. Ihr Buch. Die letzten Worte, die sie gelesen hatte. Eine merkwürdige Nähe, erzeugt durch ein simples Buch von ihrem Nachtschrank. Eine Nähe, die schmerzte und doch an Bedeutung zu wachsen schien.

Er legte die Hand auf den Buchdeckel. Das Glück im Augenwinkel. Erneut fiel ihm der Buchtitel auf, der nicht so recht zu den verzweifelten Worten passen wollte, die er am Tag zuvor gelesen hatte.

Er schob die Hand zwischen die Seiten und schlug das Buch auf.

Ich bin gestern zum ersten Mal allein in den Park gegangen. Habe mich zum ersten Mal auf unsere Bank gesetzt. Es hat geregnet. Aber ich war dankbar für den Regen, denn außer mir war niemand dort. Nur ein flüchtig vorbeihetzender Mann im dunklen Mantel, der sich seine Aktentasche über den Kopf hielt. Ein ganz klein wenig hat er mich an dich erinnert und an deine ersten Jahre im Architekturbüro. Wie ehrgeizig du damals warst. So voller Energie. Und ich musste daran denken, wie wenig von dieser Energie am Schluss übrig geblieben war. Der ständige Stress und der Zeitdruck haben dich zermürbt und all deiner Illusionen beraubt. Heute frage ich mich, ob ich es hätte ändern können. Ob ich es hätte ändern müssen. Ich bin mir sogar sicher, dass es meine Pflicht gewesen wäre. Vielleicht wäre dann vieles anders gelaufen. Vielleicht wären die Wege andere gewesen. Aber letztendlich wären wir sie gemeinsam gegangen. Und vermutlich würden wir sie noch immer gemeinsam gehen.

Ich glaube, dass ich mir eine Erkältung im Regen geholt habe, aber es macht nichts. Im Buchladen interessiert es niemanden, ob ich heiser bin. Die meisten Leute reden eh mit Herrn Volkmann, während ich mich im hinteren Bereich dem Sortieren der Regale widme. Doch in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.

Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Waren die Worte gestern nicht noch ganz andere gewesen? Ähnlich in ihrer Tiefe. Ähnlich in ihrem Schmerz. Aber dennoch andere Worte? Farblose Kulisse für meine Gedanken. War nicht jede Tätigkeit in seinem neuen Leben ebenfalls Kulisse? Farblose Kulisse für immer wiederkehrende Gedanken?

Er schlug das Buch zu und drehte die Flasche neben sich auf. Ein kleines Glas Whiskey vor dem Schlafengehen, das vermutlich eine beruhigendere Wirkung haben würde als aufwühlende Lektüre dieser Art.

Und überhaupt, er sollte aufhören zu lesen.

*

Sie schob den Bleistift in den Anspitzer, drehte ihn einige Male und betrachtete die hölzernen Kringel, die in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch fielen. Nach all den Jahren hatte sie ihre Abneigung gegen Kugelschreiber noch immer nicht abgelegt. Sie mochte den weichen Druck des Bleistifts auf rauhem Papier, liebte es, wie die Worte aus silbergrauen Buchstaben die Seiten füllten.

Seit Patricks Tod hatte das Schreiben jedoch eine ganz andere Bedeutung angenommen. Kein harmloser Zeitvertreib, keine unschuldigen Kritzeleien. Vielmehr war es zu einer ganz eigenen Form der Trauer geworden. Ein verzweifelter Weg, das letzte bisschen Illusion seiner Anwesenheit am Leben zu erhalten. So absurd es auch war – und so bewusst sie sich diese Tatsache auch immer wieder machte –, für die wenigen Minuten, in denen sie die Briefe an ihn in das Tagebuch schrieb, hatte sie das Gefühl, dass er da war. Dass sie mit ihm sprach und er ihr zuhörte. So wie früher.

Sie strich mit den Fingern über die letzten Zeilen. Aber in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.

Langsam schloss sie die Augen. Sie hatte im Laufe der letzten Monate das Weinen nahezu gänzlich verlernt. Ein Umstand, für den sie dankbar war. Tränen raubten ihr Kraft. Kraft, die sie brauchte, um der Welt oder zumindest dem, was für sie davon übrig geblieben war, die Stirn zu bieten.

*

Ihr Lächeln strahlt wie die Sonne, die sich ihren Weg durch die Äste des Kirschbaumes sucht. Ein paar goldglänzende Strähnen haben sich aus ihrem Zopf gelöst und umspielen ihre geröteten Wangen, während sie sich lächelnd auf die Decke fallen lässt. Grashalme, die an nackten Füßen kitzeln. Ein geöffneter Picknickkorb. Rotwein aus Plastikbechern. Er legt sich neben sie und streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ein Kuss auf den Hals, der ohne Berührung stattzufinden scheint. Und immer wieder dasselbe Lächeln.

Plötzlich schieben sich Wolken vor die Sonne. Der Baum wirft einen scheinbar endlosen Schatten über die Decke. Ein kurzer Blick in den Himmel. Als er wieder zu ihr herabschauen, ihren Blick suchen will, ist sie verschwunden. Die Flasche Rotwein liegt ausgelaufen neben der Decke im Schlamm. Beißende Kälte. Und ein Sturm, der die Plastikbecher über den durchnässten Rasen wirft.

Er setzt sich aufrecht, als ein kleines Blatt Papier, durch den Wind getragen, an seinem Arm hängen bleibt. Mit zitternden Händen streicht er es glatt, um gleich darauf zu erkennen, dass es ein Kalenderblatt ist.