Das Haus der Luftblumen - Nancy Salchow - E-Book

Das Haus der Luftblumen E-Book

Nancy Salchow

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Beschreibung

Wäre die Liebe ein Mensch, dann vermutlich ein übergewichtiger kleiner Mann, der mit Pfeil und Bogen auf die Herzen von Menschen schießt. Wäre sie ein Ort, dann wahrscheinlich ein Haus. Das Haus, in dem ich lebe. Als professionelle Songtexterin könnte Tina es sich aussuchen, welche Aufträge sie annimmt. Trotzdem gelingt es ihr nicht, das Angebot von Piets Band abzulehnen – Piet, der Mann, der einst ihr Herz gebrochen und inzwischen ein Kind mit einer Anderen hat. In einem Ferienhaus an der Ostsee, ihrer alten Heimat, versucht sie, in völliger Abgeschiedenheit an den Texten für das Album der Band zu arbeiten. Doch beim Schreiben suchen Tina seltsame Ahnungen heim. Fast scheint es, als läge eine Energie in der Luft, die all die Emotionen auffängt, die je von Menschen in das kleine Haus am Meer getragen wurden. Und während die Geschichten des Hauses unerklärlichen Einfluss auf Tinas Texte nehmen, überkommt sie eine unfassbare Erkenntnis: Es ist die Liebe höchst selbst, mit der sie unter einem Dach lebt. Und die hat einiges mit ihr vor.

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Seitenzahl: 218

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Nancy Salchow

Das Haus der Luftblumen

Liebesroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Impressum neobooks

Kapitel 1

Es war nicht meine Idee, das mit dem Ferienhaus. Im Grunde war es nicht einmal meine Idee, in absehbarer Zeit wieder mit der Songschreiberei anzufangen. Piet hatte mich dazu gedrängt, und nach endlosen Diskussionen, die er mehr mit mir als ich mit ihm geführt hatte, war ich schließlich weich geworden.

„Niemand kann unsere Musik so mit Leben füllen, wie du es tust, Tina.“ Das war sein Leitspruch, die immer wiederkehrende Lobeshymne, mit der er mich selbst jetzt noch, nach allem, was vorgefallen war, einzulullen verstand.

Sein Vorschlag, die Songtexte getrennt von der Band zu schreiben (wobei es für mich vor allem darauf ankam, sie getrennt von ihm zu schreiben), war schließlich der ausschlaggebende Punkt gewesen, seinem Drängen nachzugeben.

„Du weißt, dass wir dir vertrauen“, hatte er gesagt. „Deine Worte werden zu unseren, wenn wir sie erst eingesungen haben. Ganz gleich, worüber du schreiben willst, es wird das Richtige sein. Niemand kennt uns so gut wie du. Und wenn du weit ab von deinem üblichen Umfeld schreibst, wird es dir vielleicht leichter fallen, das Ganze als Neuanfang zu betrachten. Nur du, unsere Musik, und deine Worte.“

Unsere Musik. Das war im Grunde nichts weiter als ein Stick mit textlosen Kompositionen, den er mir bei unserem letzten Treffen in die Hand gedrückt hatte. Musik, die darauf wartete – so nannte Piet es zumindest –, durch meine Worte ein Gesicht zu bekommen.

Früher, anderthalb Jahre war das inzwischen her, hatte ich in der Regel im Probenraum der Band an den Texten gearbeitet. Die Musik, die sie zeitgleich komponierten und ausarbeiteten, beflügelte mich zu ungeahnten Fähigkeiten. Mit jedem Akkord, jedem Tonwechsel schäumten die Ideen in mir regelrecht über. Piets Anwesenheit tat den Rest. Nie zuvor hatte jemand mein Talent so zu schätzen gewusst, wie die Jungs es taten. Nie zuvor war meine Leidenschaft für die Musik so auf ihrem Höhepunkt.

Und nie zuvor hatte eine einzige Nachricht meine Leidenschaft von einem Tag auf den anderen wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht.

Aber das war Vergangenheit. Zumindest bemühte ich mich mit aller Kraft, den Erinnerungen den Zugang zur Gegenwart zu verwehren.

Ich verdrängte die trüben Gedanken, während ich meine Reisetasche vor dem Treppensims auf den Boden fallen ließ.

Piet hatte recht. Hier hatte ich meine Ruhe. Hier war ich allein. So wie ich es wollte. Und doch erschien mir die Tatsache in diesem Moment eher einschüchternd als beruhigend. Ich hatte das Haus für vier Wochen gemietet, eine Zeitspanne, die mir anfangs sogar eher kurz vorgekommen war. Jetzt allerdings stand ich in der offenen Tür des Ferienhauses, das im Katalog mit dem vielversprechenden Titel „Fliederresidenz“ angepriesen wurde, und fragte mich, wie ich auch nur einen einzigen Tag in dieser Einsamkeit überstehen sollte. Ganz in der Nähe, nur drei Dörfer weiter, war ich aufgewachsen. Die ersten vierzehn Jahre meines Lebens hatte ich dort verbracht, und doch kam ich mir in Boiensdorf, diesem verschlafenen kleinen Ort an der Ostsee, wie in einem Asyl für Ausgestoßene vor. Sicher war es der richtige Platz, um Familienurlaub zu machen, zu entspannen oder romantische Tage zu zweit zu verbringen, aber was genau war es, das ich hier zu finden hoffte? Ablenkung? Ruhe? Wie konnte ich an einem Ort Ruhe suchen, wenn ich selbst die Ruhelosigkeit ständig bei mir trug? Und wie sollte es möglich sein, mich von den Gedanken an Piet abzulenken, wenn der Grund für meinen Aufenthalt die Arbeit für sein Projekt war? Für seine Band, sein Album!

Durch die offene Tür drang eine milde Maibrise herein und durchzog, einem tiefen Atemzug ähnlich, den Eingangsbereich des Hauses. Ich nahm das Rauschen des nahen Wassers wahr, hier und da den dumpfen Schrei einer Möwe. Eine Idylle, wie ich sie herbeigesehnt hatte, und doch kam sie mir in diesem Moment bedrückender vor als jeder Tag, den ich in den letzten Jahren in der Stadt verbracht hatte.

Mit einem leichten Fußtritt schloss ich die Tür hinter mir und ließ mich auf die kleine Rattanbank fallen. Wie die Wände war auch die Einrichtung in dezenten Weiß- und Lavendeltönen gehalten. Zwischen der Sitzbank und einem Sessel stand ein kleiner runder Tisch, darauf eine gläserne Vase mit frischem Flieder, weiße und violette Blüten, die den Raum mit einer Ahnung von Sommer erfüllten.

Und wenn es doch eine blöde Idee gewesen war, der Arbeit am Album zuzustimmen? Nach mittlerweile vier Jahren als professionelle Songtexterin konnte ich es mir schließlich aussuchen, welche Aufträge ich annahm und auf welche ich lieber verzichtete.

Doch noch bevor ich die Frage zu Ende denken konnte, wusste ich, dass es keine Alternative gab. Ganz gleich, was zwischen Piet und mir geschehen war, egal, welche Illusionen im Laufe der letzten Monate zerbrochen waren – ich musste es tun. Kein Album der Jungs war bisher ohne mich entstanden; außerdem hatte ich Angst, durch das Ablehnen ihrer Bitte den Kontakt zu Piet komplett abzubrechen. So sehr ich mich auch dagegen sträubte, ich brauchte sie, die Möglichkeit, dass einer der blinkenden Umschläge in meinem E-Mail-Postfach von ihm war, die Gewissheit, dass hin und wieder sein Name auf dem Display meines Handys erschien, wenn auch nur aus sogenannten beruflichen Gründen.

Das Vibrieren an meinem Oberschenkel durchzog mich wie ein unerwarteter Stromschlag. Hastig holte ich das Handy aus meiner Jackentasche. War es möglich, dass ...?

Nein, nur der tägliche Kontrollanruf meiner Mutter.

„Hallo Mama.

Ja, gerade eben. Es ist sehr schön.

Nein, da schaue ich vielleicht morgen vorbei. Heute will ich erst einmal in Ruhe mein Pensum feststecken.

Pensum.

Nein, PENSUM, Mama.

Ja, genau.

Hör mal, ich muss noch meine Sachen auspacken. Kann ich dich später zurückrufen?

Ich dich auch.“

Ich schob das Handy zurück in meine Jacke, während ich mich seufzend gegen die Lehne der Bank fallen ließ. Noch immer kreisten meine Gedanken um das Gespräch mit Piet. Dreimal hatte ich seine Bitte, mich zu treffen, abgelehnt. Beim vierten Mal, zwei Wochen war das inzwischen her, hatte ich ihm schließlich nachgegeben. Das kleine Café, das nur wenige Meter von dem Probenraum entfernt lag, in dem damals alles angefangen hatte, war hingegen mein Vorschlag gewesen.

Wehmütig rief ich mir seine Worte ins Gedächtnis.

„Ich weiß, dass die Sache damals sehr unglücklich ausgegangen ist. Aber du hast mir nie die Chance gegeben, dir alles in Ruhe zu erklären.“

„Weil es nichts zu erklären gab, Piet. Du hast deine Entscheidung getroffen, und daran gab es nichts mehr zu rütteln. Du warst mir keine Rechenschaft schuldig.“

„Doch, das war ich.“ Ja, das war er. Es war die Art von Rechenschaft, die verbindlicher ist als alle anderen. Das stillschweigende Erwarten als Reaktion auf stillschweigende Emotionen, die von stillschweigenden Menschen gelebt werden. Ein Stillschweigen, das nicht lauter sein könnte. Und eine Rechenschaft, die so unumgänglich ist wie der Drang, sie zu erwarten. Auch wenn das Stillschweigen kurz vorher zum ersten Mal durchbrochen worden war. Doch das war eine andere Geschichte.

„Alles, was die Band heute ist, ist sie nur durch dich, Tina. Du weißt, dass wir es nicht so mit Worten haben.“

„Ihr seid an dem Punkt, an dem ihr euch locker auch einen anderen Texter leisten könntet. Einen mit wesentlich mehr Erfahrung.“

„Wie können wir erwarten, dass uns jemand aus der Seele spricht, der uns nicht kennt? Du kennst uns, Tina. Du kennst mich. Vermutlich besser als jeder andere.“

Vermutlich besser als jeder andere. Diese Worte hatten sich wie ein Anker in meinem Bewusstsein verkeilt. Wo in seinem Kopf befand sich der Gedanke an Jessica, als er diese Worte aussprach? Vermutlich besser als jeder andere. War es möglich, dass es noch immer eine Bindung zwischen uns gab, die selbst sie – der Grund für die offensichtliche Unterbrechung ebendieser Bindung – niemals restlos zerstören konnte?

Je öfter ich mir das Gespräch ins Gedächtnis rief, desto sicherer wurde ich, dass er mit solchen Kommentaren lediglich versucht hatte, mir zu schmeicheln, um mich erneut ins Boot zu holen.

„Ich glaube nicht, dass ich euch, dass ich dich noch wirklich kenne, Piet. Es ist so viel geschehen, und das letzte Album ist fast anderthalb Jahre alt.“

„Genau darum geht es. Anderthalb Jahre sind eine lange Zeit für eine Pause, zumindest wenn man vorher zwei erfolgreiche Alben herausgebracht hat. Wir müssen es wieder wagen, wir müssen wieder auf Tour gehen, neue Songs liefern. Und ohne dich sind wir eben nicht die Band, die die Fans lieben. Wir brauchen deine Worte, Tina. Mehr als jemals zuvor.“ Er umkreiste den Rand seiner Kaffeetasse mit dem Zeigefinger, eine schmerzlich vertraute Geste. „Wenn es eine Frage des Geldes ist …“

„Es geht nicht ums Geld, Piet. So gut solltest du mich inzwischen kennen.“

„Siehst du, damit gibst du es selbst zu: Ich kenne dich. Genau wie du mich kennst.“

„Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich das schaffe. Mit euch in einem Raum, so wie früher. Es ist einfach nicht mehr dasselbe seit …“

Ich unterdrückte den Drang, ihren Namen auszusprechen.

Ich spürte, dass er nach einer passenden Antwort suchte. Eine Antwort, die mich überzeugte und dennoch gewisse Anhaltspunkte umging, die mich verletzen könnten.

„Und wenn du einfach allein schreibst? Ohne uns? Du hast früher oft die Texte zu Hause ausgearbeitet. Was, wenn du es diesmal ausschließlich allein machst? Wir geben dir die Demos, und du gibst ihnen mit deinen Worten ein Gesicht.“

Dieser Vorschlag war es schließlich, der mich überzeugte, auch wenn es noch eine ganze Weile dauern sollte, bis ich imstande war, es auch zuzugeben. Im Grunde hatte mich bereits der erste Blick von ihm überzeugt, der mich traf, als ich das Café betrat. Der erste Blick seit siebzehn endlosen Monaten, der in Bruchteilen von Sekunden alle mühsam unter den Teppich gekehrten Emotionen wieder an die Oberfläche geholt hatte.

„Ich weiß nicht, ob das funktionieren wird.“

„Natürlich wird es das“, antwortete er mit einer Stimme, die noch immer jedes Eis in mir zum Schmelzen brachte. „Du bist ein Profi, Tina.“

„Ja“, antwortete ich leise. „Ein Profi.“

*

Die braunen Reste von krümeligem Rührei auf meinem Teller erinnerten mich daran, mir die Telefonnummern ansässiger Pizzalieferanten zu besorgen. Vier Wochen waren eine lange Zeit, vor allem, wenn man nicht kochen konnte.

Mit dem Laptop auf dem Schoß saß ich mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa des fremden Wohnzimmers. An diesem ersten einsamen Abend konnte ich noch kein Vertrauen in die neue Umgebung fassen. Ich fühlte mich seltsam deplatziert und weit weg von allem. Weit weg von Hamburg. Und irgendwie auch weit weg von mir selbst.

Seit mittlerweile zwei Stunden durchforstete ich mein Archiv von Textbausteinen, die ich im Laufe der letzten Jahre in besonders hellen Momenten zusammengetragen und für die spätere Verwendung abgespeichert hatte. Den eigentlich ersten Schritt, mir die Demos anzuhören und nach der jeweiligen Stimmung des Songs über eine erste Richtung des Themas nachzudenken, zögerte ich instinktiv hinaus. Stattdessen starrte ich auf eines der Bilder, das auf der Collage meines Laptophintergrundes zu sehen war. Das Foto zeigte die Band und mich auf der Aftershow-Party der Verleihung eines Musikpreises, den sie für ihr Debütalbum erhalten hatten. Zacharias und Anton standen links von mir, Lars ganz rechts, während Piet direkt neben mir seine Hand auf meine Schulter legte.

Jedes Mal, wenn ich das Bild betrachtete, fiel mir das mädchenhafte Rosa meiner Wangen auf, das eindeutig auf zu hohen Martinikonsum zurückzuführen war. Das lange dunkelblonde Haar, das auf den olivgrün schimmernden Stoff eines Blazers fiel, der selbst heute noch in meinem Kleiderschrank hing. Piet, der sein dunkles Haar damals wie heute millimeterkurz trug, in einem schwarzen Shirt mit dem Schriftzug Qreuzwort, dem Namen der Band.

Wie alt war ich auf dem Foto? 25? 26? Dann war Piet höchstens 27. Drei Jahre war das inzwischen her, und noch immer erinnerte ich mich genau an die ausgelassene Stimmung. Er hatte an jenem Abend darauf bestanden, dass ich den Preis mit nach Hause nehme, denn seiner Meinung nach hatte die Band ihn zum Großteil meinen Texten zu verdanken. Ich hatte mit dem Argument abgelehnt, dass keine von Tausend verliebten Teenies auf den Text achtet, wenn gutaussehende Jungs mit Gitarren die Bühne stürmen. Resultat unserer endlosen Diskussion war das Anbringen eines Regals im Probenraum, auf dem der Preis plaziert wurde, um die Frage, wer ihn mit nach Hause nimmt, endgültig aus der Welt zu schaffen.

Ich öffnete das Textverarbeitungsprogramm, um Piets Anblick zu entgehen. Fotos vergangener Zeiten waren keine besonders große Hilfe bei dem Versuch, mich von den Erinnerungen abzulenken. Stattdessen überwand ich mich, endlich den ersten Track der Demos zu öffnen. Es war an der Zeit, produktiv zu werden.

Bereits bei den ersten Tönen – zu hören war eine einzelne Akustikgitarre – überkam mich das überwältigende Gefühl von beinahe schmerzlichem Vertrauen. Ich wusste, dass es Piet war, der für gewöhnlich die Rohfassungen der Demos einspielte, und auch bei diesem Track hatte ich seine Hände auf den Gitarrensaiten regelrecht vor Augen.

Ich klickte auf den Pause-Button und holte tief Luft. Wie sollte ich die Arbeit an vollen vierzehn Stücken durchhalten, wenn ich bereits bei den ersten Sekunden eines Songs gegen die Emotionen ankämpfte?

Andererseits waren es genau die Emotionen, die ich brauchte, um so zu schreiben, wie man es von mir erwartete. Wie ich es von mir erwartete!

„Profi“, murmelte ich mir selber zu. „Du bist ein Profi, Tina. Immer dran denken!“

Und während ich versuchte, mein eigenes Mantra zu verinnerlichen, wanderte der Cursor erneut zum Play-Button.

Die ersten Töne des Songs waren wie kleine Nadelstiche, die sich langsam in die Oberfläche meiner Haut bohrten. Jeder Akkord fügte dem Bild in meinem Kopf ein weiteres Detail hinzu. Dem Bild von Piet.

„Profi“, summte ich mir erneut zu. „Du bist ein Profi. Und Profis lassen sich nicht durch überflüssige Emotionen von ihrer Arbeit ablenken.“

Als nach einem längeren Intro die erste Strophe folgte, die er mit einem Wechsel im Rhythmus andeutete, begann schließlich der vertraute Ablauf in meinem Kopf. Wortfetzen reihten sich zusammenhanglos aneinander, um mit jedem weiteren Ton langsam Form anzunehmen.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam mich. Die Gedanken an Piet hatten mich nur kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, taten jedoch der instinktiven Suche nach einem geeigneten Thema für den Song keinen Abbruch.

Die Mollakkorde hauchten dem Song Wehmut ein. Eine Wehmut, die nur allzu gut zu meiner eigenen Stimmung passte. Vielleicht wartete der Song ja auf einen Text über einen Gitarristen, der seiner ambitionierten Songtexterin durch eine viel zu vertrauensselige Freundschaft Hoffnungen machte, die er mit einem denkwürdigen Wochenende krönte, nur um ihr wenige Wochen später mitzuteilen, dass seine Freundin, mit der er eigentlich Schluss gemacht hatte, ein Kind von ihm erwartet.

Ich klickte erneut auf Pause, um den Worten die Chance zu geben, sich in Ruhe zu sammeln. Noch bevor ich mir Gedanken über das Thema des Songs machen konnte, tauchten die ersten Zeilen wie eine Offenbarung vor meinem inneren Auge auf.

Ich hab zu lange gefehlt

In deinen Zukunftsskizzen

Viel zu lange gewartet

Auf einen Platz im Sitzen

Ich atmete tief ein. Die Detailliertheit, in der sich die Worte zu einem Textanfang gesammelt hatten, irritierte mich. Woher war der Einfall dazu gekommen, so plötzlich und ohne jede Vorankündigung? Lag der Grundstein dieser Zeilen womöglich in bereits existierenden Textbausteinen, die ich vor längerer Zeit geschrieben und nun unbewusst abgerufen hatte?

Ich versuchte, mich zu erinnern. Nein, diese Worte waren neu. Noch dazu auf seltsame Weise fremd, fast so, als hätte ich sie irgendwo anders aufgeschnappt. Ohne weiter darüber nachzudenken, schrieb ich die Zeilen, die in meinem Kopf herumschwirrten, in das offene Dokument meines Laptops.

Ich hab zu lange gefehlt

In deinen Zukunftsskizzen

Viel zu lange gewartet

Auf einen Platz im Sitzen

Nur ein Stehplatz am Fenster

In stickigen Massen

Um am Ende mich selbst

Auf der Strecke zu lassen

Mit offenem Mund starrte ich auf den blinkenden Cursor unter dem Text. Waren das wirklich meine Worte? Und was hatten sie zu bedeuten?

Für gewöhnlich schrieb ich die ersten Zeilen aus einer Laune heraus, um sie dann später in Richtung eines bestimmten Themas zu lenken. Hier war jedoch nur allzu deutlich, dass das Thema bereits feststand, ohne dass ich mir vorher Gedanken darüber gemacht hatte.

Doch meine Verwunderung hielt nicht lange an, viel zu fordernd überkamen mich die nächsten Textzeilen, die ich wie automatisch in das Dokument schrieb.

Es tut mir leid, Mella. Ich war ein gefühlskaltes Arschloch. Was auch immer geschehen ist, rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe.

Ich stockte. Was um Himmelswillen hatte das zu bedeuten? Woher kamen diese seltsamen Zeilen? Und wer war Mella? War ich überarbeitet und nicht mehr in der Lage, mich von äußeren Einflüssen zu lösen?

Doch welche Einflüsse sollten das sein? Ich hatte weder ferngesehen noch im Internet gesurft. Es war der erste Abend in meinem Schreibexil, außerdem erst kurz nach 21 Uhr. Somit fiel auch das Argument der Übermüdung weg. Aber wie sonst erklärten sich die fragwürdigen Worte?

Gerade als ich die sonderbaren Zeilen löschen wollte, blinkte das Display meines Handys auf. Irritiert griff ich danach, um beim Blick auf den aufleuchtenden Namen für einen Moment den Atem anzuhalten.

Piet.

Ich spielte mit dem Gedanken, nicht ranzugehen. Gleichzeitig war die Vorstellung, ihn zu ignorieren, unerträglich.

„Nanu. So spät noch ein Lebenszeichen vom Meister aller Gitarristen?“

„Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst.“

„Nein, Piet. Du liebst es.“

Sein Lachen versetzte mir einen kurzen Stoß.

„Du hast recht“, antwortete er. „Ich liebe es. Aber nur aus deinem Mund.“

„Warum rufst du an?“

„Ich hab an dich denken müssen.“

Gerade als ich gegen seine unangebrachten Anspielungen protestieren wollte, setzte er seinen Satz fort: „Besser gesagt, an dich und das, was du wohl zu unseren Demos sagst.“

„Ich bin heute erst angekommen, Piet. Was erwartest du?“

„Ich erwarte nichts. Ich hoffe nur. Dass dir die Songs gefallen. Dass sie dich inspirieren. Dass sie …“

„Es ist viel zu früh, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Ich habe die Zeit bisher in erster Linie genutzt, um meine Gedanken zu sortieren.“

„Heißt das, du hast noch gar nicht reingehört?“

„Doch. Den ersten Track habe ich gehört, zumindest so lange, bis mich der Anruf eines ungeduldigen Gitarristen unterbrochen hat.“

Dasselbe Lachen. Derselbe Stoß, den es mir versetzte.

„Tut mir leid“, antwortete er. „Ich bin unverbesserlich, ich weiß. Vermutlich liegt es daran, dass ich noch immer ziemlich aufgeregt bin, weil du endlich wieder mit im Boot sitzt.“

„Das Boot, in dem ich sitze, ist im Moment ein Einzelboot, Piet. Und das ist auch gut so.“

„Ich weiß. Ich wollte nur …“

„Du wolltest nur fragen, ob ich nicht vielleicht bereits an der ersten Hitsingle eures neuen Albums arbeite.“

„Sozusagen.“

„Bisher kann ich leider mit keinem Ergebnis dienen.“

„Das habe ich auch nicht erwartet. Vielleicht wollte ich einfach nur, dass du weißt, dass wir es lieben werden. Was auch immer du fabrizierst.“

„Pass auf, dass du deinen Honig nicht zu früh verteilst. Am Ende enttäusche ich euch noch.“

„Das ist ausgeschlossen.“

„Nichts ist ausgeschlossen. Das wissen wir beide, Piet.“

„Vielleicht ist es besser, wenn ich dich jetzt in Ruhe arbeiten lasse.“

„Vielleicht.“

„Mach’s gut, Tina. Und wenn du irgendetwas brauchst oder reden willst …“

„Ich weiß.“

Ich hielt das Telefon noch eine ganze Weile, nachdem ich aufgelegt hatte, in der Hand. Der Klang seiner Stimme machte ihn für einen kurzen Moment wieder allgegenwärtig. Wie elektrisiert von den eigenen Emotionen versuchte ich, jedes Wort des Gesprächs zu rekonstruieren, jede Antwort zu deuten. Warum hatte er ausgerechnet jetzt angerufen, wo ich gerade dabei war, meine ersten zaghaften Ideen umzusetzen? War ihm denn noch immer nicht klar, dass mich jedes Gespräch mit ihm für Stunden aus der Bahn warf?

Unfähig, mich weiteren Versuchen von Produktivität hinzugeben, klappte ich den Laptop zu und ließ mich rücklings auf das Sofa fallen. Jede Zeile, jeder Gedanke, der mich im Laufe des Tages beschäftigt hatte, alles war von einem Moment auf den anderen vergessen.

Warum verdammt nochmal hatte er angerufen? Und warum gab es trotz meines Strebens, unseren Kontakt auf Sparflamme zu halten, nichts, das ich mir sehnlicher wünschte als den Mut, ihn auf der Stelle zurückzurufen?

Ich fühlte mich wie in einem Laufrad: Trotz größter Anstrengung schaffte ich es nicht, von ihm loszukommen. Von dem Mann, den ich seit dreieinhalb Jahren liebte. Dem Mann, der mich stets als seine Seelenverwandte bezeichnet hatte.

Kapitel 2

Die Tatsache, dass das Ferienhaus als Inbegriff von Ruhe und Abgeschiedenheit eine Türklingel besaß, erschütterte meine Illusion des Einsiedlerdaseins bereits um neun Uhr morgens.

Wer um Himmels willen trieb sich um diese Uhrzeit schon vor meiner Tür herum? Wer wusste überhaupt, dass ich hier war?

Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel, der nichts Gutes verhieß, zurrte ich den Gürtel meines Bademantels zusammen und öffnete die Tür.

„Tiiiina! Ich glaub's nicht, du bist es wirklich!“

Es dauerte einige Momente, bis ich dem Gesicht und der schrillen Stimme einen Namen zugeordnet hatte. Vor mir stand Celine, eine ehemalige Mitschülerin, die ich über vierzehn Jahre nicht gesehen hatte.

„Celine“, murmelte ich irritiert, während sie mir in der Euphorie ihrer Umarmung beinahe die Luft abschnürte. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“

„Na hör mal, du kannst doch nicht einfach in deiner alten Heimat auftauchen, ohne dass es jemand mitbekommt.“

Fragend schaute ich sie an.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich es von meiner Schwiegermutter.“

„Deiner Schwiegermutter?“

„Ja, seit mittlerweile zwei Jahren.“ Triumphierend hielt sie mir ihren Finger samt protzigem Ehering unter die Nase. „Du erinnerst dich doch sicher noch an Udo Lessing, den großen blonden Handballer, der zwei Klassen über uns war?“

„Kann sein.“ Die Wahrheit war, dass ich keine Lust hatte, darüber nachzudenken.

„Und seinen Eltern gehören mehrere Ferienhäuser in dieser Gegend.“

„Tatsächlich.“ Plötzlich fiel es mir wieder ein. Mit einer Frau Lessing hatte ich am Telefon die Details zu meiner Anreise besprochen. Sie war es auch, die mir am Vortag den Schlüssel übergeben hatte.

„Und da deine Mutter eine Freundin meiner Schwiegermutter ist ...“ Sie lachte. „Lange Rede, kurzer Sinn: Ich wollte einfach mal vorbeischauen und mich selbst davon überzeugen, dass sich die gute alte Tina endlich mal wieder bei uns blicken lässt.“

Meine Mutter und ihre Redseligkeit. Das war wieder mal typisch.

„Ich freue mich wirklich, dich zu sehen“, sagte ich, „aber die Wahrheit ist, dass ich nicht für einen Kurzurlaub hier bin, sondern in erster Linie zum Arbeiten.“ Ich versuchte, einen beschäftigten Eindruck zu erwecken, was die Tatsache, dass ich einen Bademantel trug, nicht gerade erleichterte.

„Arbeit hin oder her, für einen kurzen Kaffee wirst du doch wohl Zeit haben, oder?“

„Na ja, ich ...“

„Ich kenne mich hier aus“, fiel sie mir freudestrahlend ins Wort und lief an mir vorbei ins Haus. „Hin und wieder gönnen Udo und ich uns hier ein paar romantische Tage, wenn das Haus nicht belegt ist.“

Ein paar romantische Tage? In einem Dorf, in dem sie ohnehin wohnten?

„Der Kaffee steht in dem Regal über der Spüle, stimmt's?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich noch gar keinen getrunken, seitdem ich hier bin“, antwortete ich, während ich ihr zögernd in die Küche folgte.

Celine, die inzwischen die Dose mit dem Kaffee gefunden hatte und gerade dabei war, die Maschine mit Wasser zu befüllen, schien in ihrem Eifer nicht zu bremsen zu sein. „Es ist so toll, dass wir uns nach all den Jahren endlich wiedersehen.“

„Ja“, antwortete ich einsilbig.

Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und versuchte, mich zu erinnern. Was genau ließ sie bloß annehmen, dass wir Freunde waren? Ich wusste noch, dass sie mir auf einer Klassenfahrt mal ihren Lippenstift geliehen hatte, weil einer der Jungs meinen ins Klo geworfen hatte. Darüber hinaus war sie in meiner Erinnerung jedoch nichts weiter als ein oberflächliches Mädchen aus der hintersten Reihe, das sich mit ihren Freundinnen über die Jeansmarke der Deutschlehrerin amüsierte.

„Erzähl schon“, begann sie schließlich, als sich die Maschine endlich röchelnd der Herstellung von Kaffee hingab, „Was hast du die ganze Zeit über so getrieben? Deine Mutter erzählte was von Schreiberei?“

„Schreiberei“, wiederholte ich mit gezwungenem Lächeln. „Das trifft es vermutlich irgendwie. Um genau zu sein, schreibe ich Songtexte für professionelle Musiker.“

„Texte. Wie schön. Also, ich habe ja neulich erst die Silberhochzeitszeitung für meine Eltern gemacht. Das war vielleicht eine Arbeit, sag ich dir.“ Sie öffnete die Schublade der Küchenvitrine und zog einen Aschenbecher heraus. „Anekdoten aus der Vergangenheit zusammentragen, Verse aus dem Internet an ihre Persönlichkeiten anpassen. Stressig, stressig. Das überlasse ich bei künftigen Feierlichkeiten lieber anderen Familienmitgliedern.“

Ich nickte wortlos, während ich missmutig die glühende Zigarette in ihrer Hand wahrnahm.

„Und womit verdienst du dein Geld?“, fragte sie.

„Wie gesagt, ich schreibe Songtexte.“

„Und davon kannst du leben?“

„Na ja, natürlich hat es eine Zeitlang gedauert, bis es sich auch finanziell auszahlte. Man muss sich erst einen Namen machen.“

„Du sagst es. Einen Namen braucht man heutzutage bei fast allem. Mein Udo zum Beispiel, der ist mit seiner Dachdeckerfirma mittlerweile so gut im Geschäft, dass ich meinen Job in der Strandboutique vor zwei Jahren aufgeben konnte.“

„Das freut mich.“

„Ja, ich habe schon einen guten Fang gemacht mit ihm.“ Lachend warf sie den Kopf in den Nacken. „Wobei man wohl eher sagen kann, dass er mich gefangen hat. Der hat mir vielleicht Avancen gemacht, das kannst du dir nicht vorstellen. Anrufe, Blumen. Monatelang.“

Ungeduldig beobachtete ich die nur langsam kürzer werdende Zigarette in ihrer Hand. Ob Udo sie gerne reden hörte?

Ich war kein Morgenmensch. Die Tatsache, dass es erst neun war, erschwerte das kurzfristige Schmieden eines Plans, der sie elegant und schnell aus meiner Vier-Wochen-Idylle befördern würde.

Gerade als sie zu einer weiteren Anekdote ansetzen wollte, fiel ich ihr ins Wort. „Es tut mir wirklich sehr leid, Celine, aber mir ist eben eingefallen, dass ich noch einen Termin habe.“

„Tatsächlich?“

„Ja, eigentlich hätte mich die Kalenderfunktion meines Handys daran erinnern sollen, aber es ist neu und ich habe wohl irgendetwas beim Erstellen des Memos falsch gemacht.“

„Ach, hör mir auf mit Handys. Erst letzten Monat haben Udo und ich uns nach neuen umgesehen. Es sollten Partnermodelle sein. Also, meins in Pink, seins in Dunkelblau, und was meinst du, was die für Farben zur Auswahl hatten? Weiß und schwarz. Ist das nicht einfältig?“