Das Haus unter den Zypressen - Katja Maybach - E-Book
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Das Haus unter den Zypressen E-Book

Katja Maybach

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Beschreibung

Ein Wiedersehen wie ein Wunder: Der Familiengeheimnisroman »Das Haus unter den Zypressen« von Katja Maybach jetzt als eBook bei dotbooks. Rom, 1940. In der Stadt brodelt es, die Faschisten sind auf dem Vormarsch – aber Guiliana kann nur an eines denken: Sie hat erfahren, dass ihre geliebte Nonna, die vor Jahren von einem Tag auf den anderen verschwand, noch am Leben ist! Aber warum musste Sophia ihre Familie damals verlassen? Trotz der Gefahr, die sich immer mehr über Italien niederschlägt, wagt Giuliana sich in das weit entfernte toskanische Dorf. Sophia empfängt ihre Enkelin, als wären sie nie getrennt gewesen, und auch die Leute im Dorf nehmen Giuliana mit offenen Armen auf. Zum ersten Mal seit langem fühlt sie sich sicher und geborgen. Doch als ein Deserteur bei ihnen Unterschlupf sucht, holen die Wirren des Krieges die kleine Gemeinschaft ein, und Giuliana droht, mit ihr in den Abgrund gerissen zu werden … Jetzt als eBook kaufen und genießen: der bewegende Roman »Das Haus unter den Zypressen« von Katja Maybach. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 430

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Über dieses Buch:

Rom, 1940. In der Stadt brodelt es, die Faschisten sind auf dem Vormarsch – aber Guiliana kann nur an eines denken: Sie hat erfahren, dass ihre geliebte Nonna, die vor Jahren von einem Tag auf den anderen verschwand, noch am Leben ist! Aber warum musste Sophia ihre Familie damals verlassen? Trotz der Gefahr, die sich immer mehr über Italien niederschlägt, wagt Giuliana sich in das weit entfernte toskanische Dorf. Sophia empfängt ihre Enkelin, als wären sie nie getrennt gewesen, und auch die Leute im Dorf nehmen Giuliana mit offenen Armen auf. Zum ersten Mal seit langem fühlt sie sich sicher und geborgen. Doch als ein Deserteur bei ihnen Unterschlupf sucht, holen die Wirren des Krieges die kleine Gemeinschaft ein, und Giuliana droht, mit ihr in den Abgrund gerissen zu werden …

Über die Autorin:

Katja Maybach hat seit jeher zwei große Leidenschaften: das Schreiben und die Mode. Nach einer langen und bewegenden Karriere in der Modebranche, unter anderem in Paris, beschloss sie, ihre zweite Leidenschaft zum Beruf zu machen und begann, erfolgreich Romane zu schreiben. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.

Bei dotbooks veröffentlichte Katja Maybach:

»Melodie der Erinnerung«

»Die Stunde der Schwestern«

»Der Duft von Rosenöl und Minze«

***

eBook-Neuausgabe Juni 2021

Copyright © der Originalausgabe 2013 Knaur Taschenbuch, Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Kiselev Andrey / Mike Rcihter / Mike Mareen / Jag_cz / Smirnof / Sergey Lyashenko / Alexandr Vlassyuk / Simona Battone / MM_photos sowie © Fotolia / TEMISTOCLE LUCARELLI

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-481-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Katja Maybach

Das Haus unter den Zypressen

Roman

dotbooks.

Für meine Schwester, gestorben am 31. März 2012

Teil I

Kapitel 1

Rom, Juni 1940

Giovinezza ... giovinezza ... Primavera di bellezza ...

Giuliana hetzte die Marmortreppe in den vierten Stock hinauf und schloss mit zitternden Händen die Tür zur Wohnung auf.

Nel Fascismo è la salvezza ...

Das Lied der Faschisten verfolgte sie bis nach Hause, aus jedem Radio schallte es auf die Straßen. Leute sangen enthusiastisch mit, die Hände zum Gruß der Faschisten erhoben, nachdem Benito Mussolini im Radio verkündet hatte, er habe heute Frankreich und England den Krieg erklärt.

Ihre Mappe noch fest an sich gedrückt, glitt Giuliana innen an der Tür entlang zu Boden, die Knie versagten ihr, sie war völlig außer Atem. Nur langsam beruhigten der vertraute Geruch nach Bohnerwachs und die Stille in der Wohnung ihre überreizten Nerven.

Nach einer Weile erhob sie sich, ließ die Mappe achtlos auf dem Boden liegen und warf ihren Schlüsselbund auf die Konsole, direkt neben die vielen Kondolenzbriefe, die sie nach der Beerdigung von Alessandro Bastiani, ihrem Großvater, erhalten hatte. Vor sechzehn Tagen war er im Alter von neunundsiebzig Jahren an akutem Herzversagen gestorben. Viele teure Blumensträuße, Gestecke und Kränze waren am Tag seiner Beerdigung eingetroffen, die Giuliana aufs Grab hatte legen lassen. Nur ein einziger Strauß stand hier auf der Konsole. Er unterschied sich in seiner Einfachheit von den exklusiven Gestecken, und darum gefiel er ihr besonders gut. Ein üppiger Strauß Margeriten, der durch einen Boten anonym gebracht worden war. Sie blühten in frischem, leuchtendem Rosa, und zum wiederholten Male fragte sich Giuliana, wer ihrem Großvater diesen letzten Gruß geschickt haben mochte. Direkt darunter hatte sie ein Foto von ihm in einem Silberrahmen aufgestellt. Sie nahm es hoch und schob den schwarzen Trauerflor beiseite. Bis zuletzt war er ein gutaussehender Mann gewesen, groß, schlank, weißes volles Haar und ein Lächeln, das Giuliana jetzt die Tränen in die Augen trieb. Wie hätte ihr Großvater auf die heutige Kriegserklärung reagiert? Alessandro Bastiani, früher Anhänger von Benito Mussolini, war seit dem Abessinienfeldzug fünf Jahre zuvor schärfster Gegner des Duce geworden. Nachdenklich stellte sie das Foto zurück und zupfte gerade ein paar verwelkte Margeriten aus dem Strauß, als am anderen Ende des langen Ganges die Tür aufgerissen wurde.

»Da bist du ja endlich. Warum schleichst du dich so heimlich in die Wohnung?« Paula, die Haushälterin, kam auf Giuliana zugelaufen und umarmte sie. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Warum kommst du so spät? In der Stadt scheint ja der Teufel los zu sein.«

»Ich bin kaum durchgekommen, alle drängen zur Piazza Venezia, wo der Duce sprechen will.« Halbherzig erwiderte Giuliana die Umarmung. »Die Schule ist auf Anordnung der Mutter Oberin geschlossen worden«, erzählte sie. »Wenn der Krieg vorbei ist, wird sie wieder geöffnet. Die Mutter Oberin meint, er dauert höchstens ein paar Monate. Und bis dahin seien die Mädchen bei ihren Familien zu Hause besser aufgehoben.«

»Ihre Entscheidung ist sicher richtig«, stimmte Paula zu und richtete sich schnell die graumelierten Haare, die in Wellen das Gesicht der Fünfzigjährigen einrahmten. »Ich will rasch zu den Winters rüberlaufen, ich habe nur noch auf dich gewartet. Sie überlegen, ob sie nach Amerika zurückkehren sollen, wenn in ganz Europa der Krieg ausbricht«, erzählte sie.

»Jaja, geh nur«, sagte Giuliana und wartete noch, bis die Tür hinter Paula zufiel. Die Euphorie der Menschen auf den Straßen, ihre Gewaltbereitschaft, die bedrohliche Stimmung, die von ihnen ausging, und die wehenden Fahnen der Faschisten an Gebäuden und Fenstern hatten Giuliana Angst eingejagt. Sie ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Johannisbeersaft ein und trat damit auf den kleinen Balkon.

»Viva il Duce!«, schallte eine helle, durchdringende Kinderstimme vom Innenhof herauf. Unwillkürlich beugte sich Giuliana über das schmiedeeiserne Geländer. Die vier Söhne von Dr. Aristoteles Magnani schwenkten die grün-weiß-rote Fahne mit dem Emblem der römischen Axt durch die Luft. Der eine hob sein Spielzeuggewehr. »Peng, peng, du bist tot! Du bist ein Feind, ein Engländer, du bist tot!«, rief er. Sein kleiner Bruder ließ sich zu Boden fallen, krümmte sich am Boden und spielte den Toten.

Giulianas Unbehagen wuchs. Zurück in der Küche, verschloss sie die Balkontür, trank ihren Saft und stellte das Glas im Spülbecken ab. In der Stadt hatten die Menschen die Läden gestürmt und Panikeinkäufe getätigt. Ob es wohl besser war, wenn sie sich auch Vorräte zulegen?

Sie verließ die Küche und lief unruhig den langen Flur entlang, an den acht dunkelrot lackierten Türen vorbei, drehte wieder um und blieb vor dem Arbeitszimmer ihres Großvaters stehen. »Herrenzimmer« hatte er es genannt. Wie oft hatte sie zögernd davorgestanden, dann erst angeklopft und ihren Kopf zur Tür hineingesteckt ... Sie wusste ja, dass ihr Großvater an seinem Schreibtisch saß und arbeitete. Doch jedes Mal hatte er sie zu sich ins Zimmer gewunken und sich für sie Zeit genommen. Gleichgültig, wann sie zu ihm kam. Als ihr heute die entfesselten Menschen auf den Straßen Angst einjagten, war ihr erster Impuls gewesen, nach Hause zu laufen und sich in dieses Zimmer zu ihm zu flüchten. Doch dann war ihr wieder schmerzlich bewusst geworden: Nie mehr konnte sie mit ihm sprechen, nie mehr seine beruhigende Stimme hören. Tränen stiegen ihr jetzt in die Augen, als sie an der Tür verharrte. Sollte sie wirklich hineingehen, sollte sie sich diesem Schmerz stellen?

Giuliana atmete tief durch und drückte entschlossen die Messingklinke hinunter. Dunkelheit und der Geruch nach kaltem Rauch empfingen sie. Die schweren Samtvorhänge waren zugezogen, wie an dem Abend, als Alessandro Bastiani in diesem Raum starb. Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen, eine Zigarre geraucht und war dann mit dem Oberkörper auf dem Tisch zusammengesunken. Sein Freund Monsignore Arcurio fand ihn tot auf, als er zu einer Partie Schach kam.

Seit diesem Tag hatten weder Giuliana noch Paula dieses Zimmer betreten. Giuliana fröstelte vor Nervosität, während sie den Raum durchquerte, rasch die Vorhänge auseinanderzog und eines der drei hohen Fenster öffnete. Dann sah sie sich um. Alles war wie immer.

Auf dem Schreibtisch stand ein leeres Glas, vergessen seit dem Zeitpunkt des Todes. Alessandro hatte also noch einen Kognak getrunken, bevor er starb. Darauf wollte er nicht verzichten, obwohl er bereits seit Jahren herzkrank gewesen war. Wieder kämpfte Giuliana gegen ihre Tränen an. Was mochte er in seiner letzten Stunde gefühlt haben, welche Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen? Hatte er Panik empfunden, plötzliche Schmerzen gehabt, gewusst, dass der Moment des Sterbens gekommen war?

Lange stand sie bewegungslos neben dem Schreibtisch, bis sie nach einem der Fotos im Silberrahmen griff, die darauf standen. Es zeigte sie am ersten Tag in der Privatschule, in der ihr Großvater sie angemeldet hatte. Sie war so stolz auf ihren dunkelblauen Blazer und den grauen Faltenrock gewesen, beides passte so gut zu ihren tizianroten Haaren! Ihr Großvater hatte sie zur Schule begleitet und dieses Foto von ihr gemacht. Dann war er mit ihr in das Gebäude gegangen und stellte seine Enkelin ihrer neuen Klassenlehrerin vor. Wie erleichtert sie damals war, dass sie diesen Gang nicht allein machen musste. Alessandro holte sie am Nachmittag wieder ab und ging mit ihr in ein Café, in dem sie sich am Büfett so viel Kuchen aussuchen durfte, wie sie wollte.

»Heute hat für dich ein neuer Lebensabschnitt begonnen«, hatte er gesagt, »ich weiß, es ist nicht leicht, in eine neue Schule zu gehen, ohne dort jemanden zu kennen. Es ist eine Privatschule, in der man viel von dir verlangen wird. Doch du wirst es schaffen und eine gute Schülerin werden, und ich bin jetzt schon sehr stolz auf dich.«

Mit einem nachdenklichen Lächeln stellte Giuliana das Foto an seinen Platz zurück und griff nach dem nächsten Bild.

Die Aufnahme zeigte sie mit ihrem Großvater, ein Jahr nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern, bei einem Urlaub auf Capri. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und sie lächelte, noch sehr schüchtern, zu ihm hoch. Giuliana erinnerte sich gut an diese heißen Wochen am Meer und auch an die Frau, die das Foto machte. Sie trug einen großen Sonnenhut, darunter einen schwarzen Schal, der im Nacken zusammengebunden war, und eine riesige Sonnenbrille. Auf dem Foto schien es, als würde Alessandro nicht in die Kamera sehen, sondern nur sie anlächeln. Wieso war ihr das noch nie aufgefallen? Hatte er sie gekannt und wollte es vor seiner Enkeltochter nicht zugeben? Gab es überhaupt in den vergangenen zehn Jahren eine Frau in seinem Leben? Wenn ja, war er offenbar sehr diskret gewesen.

Neben diesem Bild stand eine Reihe Fotos von Alessandros Sohn Angelo, der im Alter von achtzehn Jahren an Krebs gestorben war. Sorgfältig waren die Aufnahmen entsprechend dem Alter des Jungen geordnet. Angelo als Baby auf einem Spitzenkissen im Jahr 1898. Angelo am ersten Schultag – davon hatte ihr Großvater erzählt, als er ihr zum ersten Mal diese Fotos zeigte. Angelo in der Schuluniform seines Internats am Genfer See. Auf dem nächsten Bild war er als hübscher junger Mann im Tennisdress zu sehen, der in die Kamera strahlte. Es war das letzte Bild, ein halbes Jahr später starb er an Leukämie. Alessandro hatte selten über Angelo gesprochen, und Giuliana wusste nur wenig über ihn. Er war ein exzellenter Internatsschüler, der nach dem Abitur in Oxford studieren sollte. Angelo habe mit seinem Charme die Menschen für sich einnehmen können, hatte ihr Großvater erzählt. Und er sei ein exzellenter Tennisspieler gewesen. Das hob Alessandro hervor, doch es waren nur dürftige, fast spröde klingende Informationen. Instinktiv hatte Giuliana immer gespürt, dass er den Verlust des Sohnes nie ganz verwunden hatte und so wenig wie möglich über ihn sprechen wollte. Vor allem nicht über seine Krankheit und seinen Tod.

Ein wenig abseits standen zwei Fotos von Gina, Angelos jüngerer Schwester, Giulianas Mutter. Ein Bild zeigte sie als zierliches Kind am ersten Schultag in dem Schweizer Internat, in das sie mit acht Jahren geschickt wurde. Ihr ovales Kindergesicht, eingerahmt von dünnen Zöpfen, starrte ohne ein Lächeln in die Kamera. Das zweite Foto zeigte sie als Vierzehnjährige in Kniebundhosen, dicken Strümpfen und Bergstiefeln mit einem Rucksack über der Schulter. Sie stand vor dem gewaltigen Bergpanorama der Alpen und lächelte strahlend in die Kamera, während sie mit der Hand die Augen vor der Sonne schützte. Gina wirkte glücklich.

Als Mutter und Ehefrau war sie es nicht mehr gewesen. Zumindest konnte sich Giuliana an keine glücklichen Momente mit ihrer Mutter erinnern.

Nachdenklich glitten Giulianas Finger über die glatte Oberfläche des Tisches bis zu Alessandros dunkelgrüner Schreibunterlage. Ein Bogen Papier lag darauf, offensichtlich ein Brief, daneben Alessandros Füllfederhalter. Scheu griff Giuliana danach. Durfte sie so indiskret sein, diesen Brief zu lesen? Und damit in die Privatsphäre ihres Großvaters eindringen, die er stets konsequent geschützt hatte?

Doch als sie sah, an wen das Schreiben gerichtet war, krampfte sich Giulianas Magen zusammen, und ihr Herz schlug schneller. Mit zitternder Hand nahm sie den Brief von der Unterlage.

Sophia,es ist vierundzwanzig Jahre her, dass unser geliebter Sohn Angelo starb. Wir hätten gemeinsam um ihn trauern sollen, aber Du hast den Schmerz über seinen Verlust zu Deinem Schmerz erklärt, an dem ich keinen Anteil hatte. Stattdessen bist Du zu einem anderen Mann gegangen, und ich hoffe für Dich, dass Du es niemals bereut hast.

Selbst als Gina bei dem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist, hast Du Dich nie gemeldet. Warum? Hast Du mich so sehr gehasst?

Ich habe vor kurzem Nachforschungen über Dich anstellen lassen und erfahren, dass Du mit diesem Mann, Mattia Alesi, immer noch zusammenlebst. Ach Sophia, wie konnte das alles passieren, wie konnten wir uns im Hass verlieren und vergessen, was uns einmal

Giulianas Herz raste, und das Zittern ihrer Hände wollte nicht aufhören. Ihre Großmutter Sophia lebte!

Sie wusste fast nichts über diese Frau. Nur einmal, kurz nach ihrem elften Geburtstag, hatte sie ihren Großvater nach ihrer Nonna gefragt. Gab es denn kein Foto von ihr? Kein einziges? Vielleicht Briefe, irgendetwas? Als sie ihn mit ihren Fragen bestürmte, hatte sie ihn das einzige Mal wütend erlebt. Er wolle nicht darüber sprechen, hatte er scharf erwidert, und das habe sie zu respektieren. Seine Frau sei gestorben, mehr brauche sie nicht zu wissen. Giuliana hatte sich gefügt, doch die Neugier war geblieben.

Schon ihre Mutter Gina hatte niemals über Sophia reden wollen, sondern nur einsilbig erklärt, ihre Mutter sei gestorben. Oder hatte sie es damals so ausgedrückt: Die Großmutter sei so gut wie gestorben? Auf jeden Fall hatte Gina hinzugefügt: »Giuliana, wenn du größer bist und viele Dinge besser verstehen kannst, erzähle ich dir, was ich weiß, aber ich sage dir gleich, es ist nicht viel.« Doch zu dieser Aussprache war es nicht mehr gekommen.

Giuliana nahm den Brief und setzte sich auf das Sofa, dem Schreibtisch gegenüber. Immer wieder las sie ihn. Sie konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Ihre Großmutter hatte ihren Mann wegen eines anderen verlassen! Und er hatte diesen Schmerz offensichtlich nie überwinden können. Aber was wusste sie schon über ihren Großvater, der so gut schweigen konnte?

Erst kurz nach ihrem zehnten Geburtstag hatte sie ihn überhaupt kennengelernt. Zusammen mit ihren Eltern besuchte sie ihn in dieser Wohnung, durch die sie staunend gelaufen war. Nie, so schien es ihr damals, hatte sie etwas Schöneres gesehen. Die großen Räume, das glänzende Parkett, die weichen Teppiche, und überall standen Blumen in großen Vasen.

»Mein Vater und ich haben uns nie gut verstanden«, hatte ihre Mutter ihr am Nachmittag vor diesem Besuch erklärt. »Aber jetzt sollst du ihn kennenlernen, wer weiß schon, was die Zukunft bringt.«

Und nur wenig später erwiesen sich die Worte der Mutter als unheilvolles Orakel. Auch heute noch stellte sich Giuliana die Frage, ob Gina ihren Tod geahnt oder ihn sogar gesucht hatte. Denn nur drei Monate später unternahmen ihre Eltern eine Bergtour in der Schweiz, stürzten im Nebel ab und konnten nur noch tot geborgen werden.

Schon am Abend nach dem Unfall holte Alessandro seine Enkelin zu sich. Ihre Mutter hatte ihr viel Negatives über ihn erzählt, er sei arrogant, gefühllos, kein Wunder, dass ihn seine Angestellten hassen würden, jeder fürchte ihn. Doch als sie an jenem Abend stumm ihre Sachen zusammenpackte, ein verängstigtes kleines Mädchen, dem man gerade gesagt hatte, seine Eltern seien tot, da hatte er sie fest an sich gezogen und sie getröstet. Sie wusste nicht mehr, welche Worte er wählte, doch sie halfen ihr über den ersten großen Kummer hinweg. Er hatte seine Tochter verloren, doch für ihn schien nur der Schmerz der Enkelin zu zählen.

In der ersten Nacht in seiner Wohnung war sie schreiend aufgewacht, schweißgebadet und tränenüberströmt. Da kam Alessandro zu ihr ins Zimmer, nahm ihre zitternden kalten Hände und gab ihr ein Versprechen: »Giuliana, ich werde immer für dich da sein, immer!«

Und Alessandro Bastiani hatte sein Versprechen gehalten. Wenn sie als Kind Alpträume hatte, ging er mit ihr in die Küche, kochte für sie beide eine heiße Schokolade und erzählte ihr Geschichten, um sie abzulenken. Es waren langweilige »Erwachsenengeschichten«, wie sie ihm später einmal amüsiert erklärt hatte, doch seine Stimme tröstete sie, und seine Nähe nahm ihr die Angst.

»Ich werde immer für dich da sein ...« Dieser Satz gab dem verzweifelten, ratlosen Kind, das sie damals gewesen war, Kraft und Trost. Von diesem Moment an schenkte sie ihm ihr volles Vertrauen, und niemals hatte Alessandro Bastiani seine Enkelin enttäuscht. Sein Tod hinterließ eine Leere in ihr, und in diesem Moment, als sie auf dem Sofa in seinem Herrenzimmer saß, empfand sie seinen Verlust so heftig, dass sie sich an der Lehne festhalten musste und sich auf die Lippen biss, um nicht laut zu schluchzen. Seit seinem Tod hatte sie sich nicht so verlassen gefühlt wie in diesem Augenblick.

Doch dann las sie noch einmal die wenigen Zeilen des Briefes. Ein kostbarer Fund, denn er enthielt die letzten Gedanken ihres Großvaters im Moment seines Todes. Und sie galten seiner Frau Sophia.

Giuliana erhob sich vom Sofa und ging wieder zum Schreibtisch. Nachdenklich legte sie den Brief zurück auf die Unterlage und glättete ihn mehrmals, bis ihr Blick auf das Kuvert fiel, das ebenfalls dort lag.

Alessandro hatte mit seiner markanten, schwungvollen Schrift eine Adresse geschrieben.

SignoraSophia Fabiani/Casa SophiaCampodoglio bei Florenz

Giuliana holte tief Luft. Ihre Großmutter lebte in einem Ort in der Nähe von Florenz. Mit immer noch zitternden Händen faltete sie den Brief zusammen und steckte ihn samt dem Kuvert in die Tasche ihres Kleides. Langsam reifte in ihr ein Entschluss.

Sie musste wissen, warum Sophia ihren Mann und ihre sechzehnjährige Tochter im Stich gelassen hatte. Nur wegen eines Mannes? Und wenn ja, wer war er, dass sie alles für ihn aufgab?

Sie würde in die Toskana fahren. Aber wie würde Sophia auf ihr Erscheinen reagieren? Würde sie versuchen, sich zu rechtfertigen, die Enkelin abweisen? Oder freute sie sich vielleicht über ihr Kommen, hatte bereits seit Jahren darauf gehofft? Wer wusste das schon? Alessandros Brief würde sie mitnehmen, letztendlich war es sein letzter Wunsch, mit seiner Frau wieder Kontakt aufzunehmen.

In diesem Moment hörte sie, wie die Eingangstür geöffnet und zugeschlagen wurde. Paula war zurück, hastete in die Küche und stieß einen lauten Schrei aus. »Das Risotto ist angebrannt, wie konnte ich das nur vergessen? Giuliana, hättest du nicht aufpassen können?«

Erst am nächsten Morgen erzählte Giuliana Paula von dem Brief. Am Abend zuvor war sie noch einmal ins Herrenzimmer gegangen, hatte Schubladen geöffnet und Schränke durchsucht, doch es fand sich nichts, was auf Sophia hinwies. Kein Foto, keine Briefe, nichts.

»Hat mein Großvater nie über seine Frau gesprochen, sie nie erwähnt?«, wollte sie jetzt wissen. Paula schüttelte den Kopf.

»Nein. Er hat mich eingestellt, als er dich zu sich holte. Er erzählte nur von seiner Tochter und dem tragischen Unfall. Ich war gerade Witwe geworden und froh über die Aufgabe, hier den Haushalt zu übernehmen und für dich sorgen zu können. Durch meine vielen Neffen und Nichten wusste ich mit Kindern umzugehen, das war deinem Großvater sehr wichtig. Über sich hat er wenig erzählt.«

»Und die Leute im Haus? Wieso kannte niemand meine Großmutter?« Paula zuckte die Schultern.

»Die Winters haben erst vor fünf Jahren die Wohnung gegenüber gekauft, und du weißt selbst, dass die anderen Leute im Haus überwiegend Mieter sind und oft wechseln.«

»Ich möchte in die Toskana fahren«, erklärte Giuliana ruhig, »ich will meine Großmutter kennenlernen.«

»Ich verstehe dich«, antwortete Paula nach einer Pause. »Trotzdem ist es vielleicht besser, du wartest noch. Wir wissen alle nicht, was jetzt auf uns zukommt. Gestern erst hat mein Bruder ein Telegramm geschickt. Er ist sehr besorgt. Ich soll auf keinen Fall in Rom bleiben, sondern nach Hause kommen. Er schlägt vor, mich nächste Woche abzuholen. Du sollst mitfahren, du bist herzlich eingeladen.«

Paulas drei Brüder bewirtschafteten mit ihren Frauen und den Kindern das elterliche Weingut ganz in der Nähe von Frascati.

Giuliana lächelte Paula an. »Danke, das ist lieb von deiner Familie, aber ich habe mich entschieden: Ich werde in den nächsten Tagen in die Toskana fahren. Ich will nicht warten. Im Radio habe ich heute Morgen gehört, dass die Züge normal verkehren. Ich muss einfach herausfinden, was damals geschehen ist. Was ist das für eine Frau, die ihre sechzehnjährige Tochter und ihren Ehemann wegen eines anderen Mannes verlässt? Ich muss es wissen, ich kann nicht warten, bis der Krieg vorbei ist.«

Der Widerstand, den Giuliana von Paulas Seite gefürchtet hatte, blieb aus. Paula umschloss Giulianas Finger fest mit ihrer Hand und drückte sie.

»Ich verstehe das. Wenn du unbedingt fahren willst, dann ist es auch richtig so.«

Giuliana erwiderte den Händedruck. Paula war weit mehr als nur eine Haushälterin, sie war für Giuliana eine mütterliche Freundin und das seit dem Tag, als Alessandro sie engagiert hatte.

»Wie lange willst du bleiben?«

Giuliana zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, eine Woche?«

»Und dann?«

Als Giuliana zögerte, schlug Paula vor, ihrerseits noch in Rom zu bleiben und auf ihre Rückkehr zu warten. Doch nach einigem Hin und Her vereinbarten sie schließlich, dass Paula in einer Woche nach Hause fahren sollte, wenn auch Giuliana nach Florenz aufbrach.

»Wenn du aus der Toskana zurückkommst, melde dich sofort. Mein Bruder wird dich abholen, du sollst auf keinen Fall hier allein bleiben, versprich es mir«, schärfte Paula Giuliana ein, und sie versprach es. »Und am besten schickst du deiner Großmutter ein Telegramm, damit sie weiß, dass du kommst.«

»Nein«, wehrte Giuliana ab, »gerade das will ich nicht. Ich möchte sie überraschen.«

***

Einen Tag vor ihrer Abreise ging Giuliana in das Café Albertina's, das in einer Seitenstraße der Via Condotti lag.

Der große kühle Raum mit den gemalten Fresken an den Wänden und den roten Marmorsäulen in der Mitte war heute fast leer, und nur das Klappern der silbernen Kuchengabeln auf den Porzellantellern und die gedämpfte Unterhaltung der wenigen Gäste durchbrachen die Stille.

Hierher war sie jeden Donnerstagnachmittag mit ihrem Großvater gegangen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr war der wöchentliche Besuch im Albertina's zur festen Gewohnheit geworden. An »ihrem« Tisch am Fenster sprachen sie über wichtige und unwichtige Dinge. Vielleicht war es die Atmosphäre, die Alessandro entspannen ließ. So hatte er hier mit Giuliana, als sie dreizehn Jahre alt war, auch ein wenig über Gina gesprochen, ihre Mutter. Sie sei ein unruhiges, unbeherrschtes Kind gewesen und hätte das Internat in den Bergen geliebt.

»In jeden Ferien kam sie für ein paar Tage nach Hause, um Angelo zu sehen, doch dann wollte sie auch schon wieder zurück«, erzählte Alessandro. »Und auch nach Angelos Tod setzte sie ihren Willen durch und fuhr bereits einen Tag nach seiner Beerdigung wieder in ›ihre‹ Berge. Unmittelbar nach ihrer Schulzeit lernte sie in Rom im Alpenverein einen sehr viel älteren Krawattenhändler, deinen Vater, kennen. Als sie von ihm schwanger wurde, gab es nur eine Lösung, sie musste ihn heiraten. Eine furchtbare Mesalliance«, fügte Alessandro hinzu, »aber was sollte ich machen? Um einen Skandal zu vermeiden, willigte ich ein.«

»Und deswegen habt ihr zehn Jahre lang nicht miteinander gesprochen?«, wollte Giuliana damals wissen.

»Darüber möchte ich nicht reden«, hatte er gesagt.

Jetzt schob Giuliana ihren Teller mit der Schokoladentorte in die Mitte des Tisches. Sie hatte keine Lust mehr zu essen. Einmal, daran erinnerte sie sich wieder, hatte der Großvater sie vorsichtig gefragt, ob sie ihm über ihre Kindheit und ihr Zuhause erzählen wolle. Doch da hatte sie heftig den Kopf geschüttelt. »Nein, das möchte ich nicht.«

»Siehst du«, sagte Alessandro nach einer kleinen Pause, »auch du hast deine Geheimnisse, über die du nicht sprechen willst. Also respektieren wir beide das Schweigen des anderen.« Wann war das gewesen? Vor vier oder schon vor fünf Jahren? Nun, es spielte keine Rolle mehr, ihr Großvater war tot.

Giuliana erhob sich rasch, legte Geld auf den Marmortisch und verließ fast fluchtartig das Café. Sie hätte nicht hierherkommen dürfen, zumindest jetzt noch nicht, der Schmerz um ihren Großvater war noch zu frisch und saß zu tief.

Kapitel 2

Toskana, eine Woche später

Am späten Nachmittag stand Giuliana auf dem überdachten Vorplatz des neuen Florenzer Bahnhofs Santa Maria Novella. Von hier aus fuhren Busse in mehrere Richtungen, und Giuliana stellte sich an das Halteschild des Busses Nummer 154 nach Campodoglio.

Der Schnellzug Rom-Florenz war ausgefallen, und Giuliana hatte den überfüllten Regionalzug nehmen müssen, der mit dreistündiger Verspätung sein Ziel erreichte. Gedrängt zwischen Reisenden mit Koffern, Taschen und Rucksäcken, hatte sie die Fahrt auf dem Gang stehend verbracht, zwischen Leuten, die fluchtartig die Hauptstadt verließen, seit Benito Mussolini in den Krieg eingetreten war. Beißender Rauch der Lokomotive kam durch ein offenes Fenster, da der Zug mit Kohlen angetrieben wurde und sich das Fenster nicht schließen ließ.

Hier am Bahnhof war Giuliana zuerst zur Hotelvermittlung gegangen, doch diese war geschlossen, und an der Tür hing ein großes Schild mit dem Hinweis, alle Hotels seien belegt.

Sie war zu naiv gewesen, hatte nicht daran gezweifelt, in Florenz ein Hotel zu finden. Sie hatte dort übernachten und sich am nächsten Morgen entscheiden wollen, wann sie zu ihrer Großmutter fahren würde. Auf keinen Fall hatte sie mit dem Koffer in der Hand vor Sophias Tür stehen wollen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Giuliana fuhr aus ihren Gedanken hoch. Ein junger Mann stand vor ihr und lächelte sie an.

»Nein, ich brauche keine Hilfe, danke«, erklärte sie abweisend.

»Sie haben mehrere Rußflecke auf der Wange«, antwortete der junge Mann und konnte ein breites Lächeln nicht unterdrücken. »Hier rechts ... darf ich?« Bevor Giuliana reagieren konnte, zog er ein blütenweißes Taschentuch aus der Jacke seines eleganten dunkelblauen Anzugs. Zart fuhr er ihr damit über das Gesicht. »Wo sind Sie denn gewesen, in einem Kohlenkeller?«

Jetzt lachte auch Giuliana. »So ungefähr, im Regionalzug von Rom hierher.«

»Besuchen Sie jemanden in Florenz?«, wollte er wissen.

»Sie sind ganz schön neugierig, aber ich sage es Ihnen: Ja, ich besuche meine Großmutter.«

Der junge Mann lächelte sie immer noch an. »Ich wohne auch in Rom und habe hier Freunde besucht«, erzählte er, »jetzt fahre ich zurück, weil ich einen Stellungsbefehl erhalten habe. Ich muss mich melden.« Er drückte Giuliana das Taschentuch in die Hand. »Als Erinnerung«, erklärte er, »an einen Mann, der an die Front muss. Leider geht mein Zug in ein paar Minuten. Luca, Luca Berardi«, stellte er sich vor. Impulsiv beugte er sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

Da dröhnte eine Stimme durch den Lautsprecher bis hinaus auf den Vorplatz, der Zug nach Rom sei auf Bahnsteig eins eingefahren. Ein schneller trauriger Blick, ein bedauerndes Achselzucken von Luca Berardi, dann drehte er sich um und lief durch die Drehtür in die Halle. Ohne nachzudenken, folgte Giuliana ihm, blieb drinnen aber zögernd stehen. An der Treppe wandte Luca seinen Kopf und sah sich suchend um, bis er sie in dem Gedränge entdeckte. Giuliana stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte ihm mit seinem Taschentuch zu.

»Wie heißt du?«, schrie er über die Köpfe der Leute hinweg.

»Giuliana Angelini!«

»Giuliana ... Giuliana ... ich liebe dich! Giuliana, bleib mir treu ...«

Ein paar Leute lachten und nickten Giuliana wohlwollend zu, die immer noch winkte, obwohl Luca bereits auf der Treppe nach unten verschwunden war. Erst als der Lautsprecher die Abfahrt des Schnellzugs nach Rom bekanntgab, steckte sie das Taschentuch ein, nahm ihren Koffer hoch und verließ die Halle erneut.

Luca Berardi. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Unwahrscheinlich. Es war ein emotionaler Moment gewesen, in dem ein junger Mann versuchte, seine Angst vor dem Grauen des Krieges und dem Tod zu überspielen und auf eine Zukunft zu hoffen. Ein junger Mann, der vielleicht nie mehr zurückkam.

Bedrückt stellte sich Giuliana wieder neben das Schild für den Bus nach Campodoglio. Sie war tief in ihren Gedanken versunken und bemerkte deshalb nicht, dass sie die Einzige war, die auf den Bus wartete.

»Wollen Sie nach Campodoglio?« Ein kleiner Lieferwagen mit der Aufschrift Paneteria Cortesi hatte angehalten, eine junge Frau war herausgesprungen und vor Giuliana stehen geblieben. Sie trug eine weite Hose, die sie bis über den Knöchel hochgekrempelt hatte, dazu derbe Schuhe und eine weiße Bluse. Die schwarzen, gekräuselten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Ja, ich warte schon seit einer Stunde, aber der Bus scheint Verspätung zu haben.«

»Der Fahrplan ist nicht mehr aktuell.« Die junge Frau beobachtete Giuliana neugierig und ignorierte die Blicke der Leute, die sich kopfschüttelnd nach ihr umdrehten. Auch Giuliana war erstaunt, sie konnte sich nicht erinnern, schon jemals eine Frau gesehen zu haben, die eine Hose trug.

»Der Bus geht nur noch am Morgen und am frühen Nachmittag, Sie haben ihn verpasst. Die meisten laufen oder fahren mit dem Rad, Campodoglio ist eine gute Stunde von hier entfernt. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit.« Bevor sich Giuliana bedanken konnte, griff die junge Frau bereits nach ihrem Koffer und der kleinen Handtasche und stellte beides hinten in den Kofferraum zwischen leere Backbleche und große Körbe. »Kommen Sie, und geben Sie acht mit Ihren hohen Schuhen.« Ein neugieriger Blick traf Giulianas elegante Pumps mit den Knöchelriemen. »Ziemlich gewagt, mit solchen Schuhen aufs Land zu fahren«, bemerkte die junge Frau, während sie hinter dem Lenkrad Platz nahm und Giuliana vorsichtig auf den Beifahrersitz kletterte.

»Nun ja, Sie sind aber auch ungewöhnlich angezogen«, antwortete Giuliana mit einem Lächeln. Ihr gefiel die junge Frau, die sich nicht um die Meinung anderer Leute zu kümmern schien.

»Hosen sind praktisch, warum sollte ich sie nicht tragen, auch wenn es für Frauen als unanständig gilt? Wem es nicht gefällt, soll wegschauen. Übrigens, wenn es Ihnen zu warm wird, kurbeln Sie das Fenster runter«, redete die junge Frau weiter, da Giuliana schwieg. Bevor sie den Wagen startete, streckte sie ihr die Hand hin. »Maria Cortesi.«

»Giuliana Angelini.«

Jetzt umfasste Maria das Lenkrad und fuhr mit quietschenden Reifen los. »Halten Sie sich fest, ich bin berühmt für meinen Fahrstil«, warnte sie Giuliana.

Schnell hatten sie die Stadt verlassen und gelangten auf eine schmale, schnurgerade Landstraße, gesäumt von Zypressen, deren Zweige mit Staub bedeckt waren. Schweigend fuhren sie eine Weile lang, bis Maria Cortesi Giuliana neugierige Blicke zuwarf.

»Besuchen Sie jemanden in Campodoglio?«

»Gibt es in Campodoglio ein Hotel?«, antwortete Giuliana mit einer Gegenfrage.

»Ja und nein«, antwortete Maria. »Wir haben das La Montanara, das gehört Paolo, aber es ist geschlossen. Es kommen keine Gäste, und so ist er zu seiner Tochter gefahren. Das tut mir leid für Sie.«

»Das ist ärgerlich. In Florenz ist alles ausgebucht.«

»Wollen Sie jemanden besuchen?«, wiederholte Maria ihre Frage.

Ihre Neugier ärgerte Giuliana ein wenig, gleichzeitig fragte sie sich besorgt, wo sie jetzt übernachten sollte.

»Ich möchte zu Sophia Fabiani«, antwortete sie schließlich.

»Da setze ich Sie doch gleich an der Casa Sophia ab. Wenn es Ihnen recht ist.«

»Ja, das wird wohl das Beste sein«, antwortete Giuliana, in Gedanken noch bei dem Problem der Unterkunft. Der Besuch bei ihrer Großmutter ließ sich schwieriger an als gedacht.

»Kennen Sie Sophia gut?«, fragte sie Maria.

»Jeder kennt sie«, antwortete die junge Frau und konzentrierte sich für einen Moment auf die Straße, bevor sie wieder gesprächiger wurde. »Sie kommen aus Rom, nicht wahr?«

»Sieht man das?«

»Irgendwie schon. Ich habe noch nie eine so elegante Frau gesehen, auch in Florenz nicht.«

Giuliana sah an sich hinunter und strich unwillkürlich über den zerknitterten Faltenrock des schwarzen Kostüms. Unter der geschlossenen Jacke trug sie eine weiße Seidenbluse mit kleinen schwarzen Tupfen.

»Warum tragen Sie Schwarz?«, wollte Maria wissen.

»Mein Großvater ist gestorben.«

»Oh ... das tut mir leid, mein herzliches Beileid.«

»Danke.« Giuliana versank in Schweigen. Je näher sie dem Haus von Sophia kamen, desto nervöser wurde sie. Was würde sie erwarten, wie würde ihr Sophia entgegentreten?

»Ich habe gerade einen jungen Mann getroffen, der an die Front musste«, erzählte sie Maria, um sich abzulenken.

»Alle jungen Männer müssen in den Krieg«, antwortete Maria. »Gestern hat unser Pfarrer Monsignore Antonio einen Gottesdienst abgehalten, um für die Männer aus Campodoglio zu beten. Aber ich war nicht dabei. Ich habe keinen Mann oder Verlobten, um den ich weinen könnte.«

»Dann seien Sie froh, es muss schrecklich sein, einen geliebten Menschen an der Front zu wissen.«

»Sind Sie verlobt?«

Giuliana schüttelte den Kopf. »Sind alle Leute hier so neugierig?«, fragte sie mit leichter Ironie in der Stimme.

»Wir leben hier auf dem Land, nicht in der Großstadt«, antwortete Maria spitz. »Wir interessieren uns eben für unsere Mitmenschen.«

»Ja, natürlich«, antwortete Giuliana. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Ist schon in Ordnung.«

Maria schwieg, und Giuliana sah durch die staubige Fensterscheibe auf die Landschaft. Im schwächer werdenden Licht konnte sie hinter den hohen Zypressen nur niedrige Büsche erkennen, die sich in der Weite einer hügeligen Landschaft verloren.

»Was sagen denn Ihre Eltern dazu, dass Sie allein verreisen, gerade jetzt?«

»Meine Eltern sind tot«, erklärte Giuliana leise.

»Oje, wie furchtbar.«

Aus Marias Stimme klang echte Anteilnahme, während sie Giuliana immer wieder einen Seitenblick zuwarf. Trotz ihrer Neugierde war sie Giuliana sympathisch.

»Meine Eltern«, nahm Maria nach einem kurzen Schweigen das Gespräch wieder auf, »leben in San Gimignano bei meinem Bruder. Ich führe die Paneteria Cortesi ganz allein. Einmal in der Woche fahre ich nach Florenz zu zwei Cafés, denen ich meinen Nusskuchen liefere. Aber das wird künftig nicht mehr gehen.«

»Warum nicht?«, fragte Giuliana mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

»Wissen Sie es nicht? Die Regierung konfisziert alle Autos, ich muss den Lieferwagen abgeben. Und mit dem Bus kann ich die Kuchen nicht wegbringen. Hier«, fuhr sie im selben Atemzug fort, »biegt die Straße nach Campodoglio ab. Ich bringe Sie noch vor bis zur Casa Sophia, sie liegt an einer kleinen Straße, die ins Nirgendwo führt. Ich bin jedenfalls noch nie dort entlanggefahren.«

Giulianas Nervosität wuchs. Der Moment kam unerbittlich näher, in dem sie ihrer Großmutter gegenüberstehen würde. Wie sollte sie ihr plötzliches Erscheinen erklären? Wie würde sie auf die Nachricht vom Tod ihres Ehemanns reagieren? Letztendlich war sie noch mit ihm verheiratet gewesen. Sollte sie Sophia gleich bei ihrer Ankunft seinen Brief geben?

»War Ihr Großvater sehr krank?«, fragte Maria weiter. »Ja, aber sein Tod kam unerwartet«, antwortete Giuliana leise.

»Das war sicher schmerzhaft für Sie. Als meine Großmutter vor drei Jahren starb, habe ich wochenlang geweint. Schon als Kind habe ich bei ihr in der Backstube gestanden und einfache Rezepte gebacken«, erzählte Maria. »Damals träumte ich davon, eines Tages in Rom meine eigene paneteria zu eröffnen. Meine Großmutter fand das eine gute Idee, ich glaube, deshalb hat sie mir das Geheimrezept für ihren Nusskuchen vererbt, sie wollte, dass ich damit einmal berühmt werde.« Maria seufzte tief auf.

»Aber das können Sie doch noch, Sie sind jung.«

»Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, und jetzt ist ja erst einmal Krieg.«

»Ja, natürlich ... Ich bin übrigens zwanzig«, fügte Giuliana hinzu, um Marias nächster Frage zuvorzukommen.

»Jetzt sind wir da, sehen Sie die Mauer da vorn? Dort beginnt das Grundstück von Sophia. Sie stellt übrigens das beste Olivenpesto der ganzen Umgebung her. Und sie verkauft es an Restaurants in Florenz, Pisa und Arezzo. So, da sind wir.«

Maria bremste scharf.

»Danke fürs Mitnehmen.« Giuliana kletterte vorsichtig aus dem Auto, während Maria mit einem Satz von ihrem Sitz heruntersprang, um den Wagen herumging und das Gepäck aus dem Kofferraum holte.

»Also dann ... Ciao, war nett, Sie kennenzulernen, und besuchen Sie mich mal in meiner paneteria. Ins Dorf ist es nicht weit.«

»Das mache ich«, versprach Giuliana.

»Sie können ruhig reingehen, das Tor ist immer offen, und bissige Hunde gibt es auch nicht.«

»Ja, danke.« Giuliana blieb noch stehen, sah Maria bei ihrem waghalsigen Wendemanöver zu und wartete, bis der kleine Lieferwagen hinter einer Staubwolke verschwand.

Stille umfing Giuliana. Sie lauschte auf das Zirpen der Grillen, auf das Bellen eines Hundes in der Ferne. Die Dämmerung ging bereits in den Abend über, und nur noch ein gelber Streifen zeigte sich am Horizont.

Während der Zugfahrt hatte sich Giuliana den Moment ausgemalt, wenn sie ihrer Großmutter gegenüberstehen würde. Würde sie ablehnend reagieren, ihre Enkelin auffordern, ihr Haus zu verlassen? Giuliana atmete tief durch, nahm ihren Koffer hoch und drückte mit dem Ellbogen die Gartentür auf, die quietschend nachgab.

Die Casa Sophia lag versteckt hinter hohen, schlanken Zypressen, und der Weg dorthin war überwuchert von dichtem Gras. Mit raschen Schritten ging Giuliana auf das Haus zu. Plötzlich flammte im Erdgeschoss ein Licht auf.

Kapitel 3

Kurz vor der Abenddämmerung war sie durch den Garten gegangen. Verborgen im Halbdunkel, blieb sie zwischen den Zypressen stehen und beobachtete ihn durchs Fenster. Er bemerkte sie nicht, oder er gab vor, sie nicht zu sehen, während er, nur mit einer Leinenhose bekleidet, mit nacktem Oberkörper vor der Staffelei saß und malte. Er bewegte sich dabei, beugte sich der Leinwand entgegen, straffte seinen Oberkörper wieder, ließ seine Muskeln spielen.

Sophia konnte den Blick nicht von ihm wenden – sein schöner gebräunter Körper, die dunklen Haare, die ihm in die Stirn fielen und die er ungeduldig mit der Hand zurückschob. In seinem Mundwinkel hing stets eine Zigarette, manchmal erlosch sie, wenn er sich zu sehr auf seine Arbeit konzentrierte. Irgendwann nahm er sie dann aus dem Mund und warf sie in den Aschenbecher aus irisierendem Opal.

Wie schön er ist, dachte Sophia voller Wehmut, und so unglücklich. Sie wusste, dass Mattia nicht mehr malen konnte, nicht so wie früher, als sich die Galeristen in Florenz und Mailand um seine Bilder rissen. Sie waren opulent gewesen, farbig, auch bizarr und immer ungewöhnlich. Doch jetzt malte Mattia fast nur noch in Schwarzweiß oder in abschattierten Grautönen, er malte düstere weiße Gesichter, Häuser in verzerrter Perspektive oder abstrakte finstere Motive. Sophia vermutete, dass er oft nur irgendetwas auf die Leinwand warf, wütend, verzweifelt, weil er in einer Krise steckte, die schon seit drei Jahren andauerte und die er nicht überwinden konnte.

Sie ahnte, dass diese Krise an sich nichts mit der Malerei zu tun hatte. Schweigen stand zwischen ihnen. Waren sie gescheitert? War es Zeit, ihn gehen zu lassen? Mattia, ein Mann von dreiundvierzig Jahren, und sie eine Frau von achtundsechzig. Ein immer noch junger Mann und eine alte Frau, dachte sie voller Bitterkeit.

Aber auch wenn sie ihn losließ – Mattia würde nicht gehen. Für ihn hatte sie vor vielen Jahren ihre Familie verlassen, für ihn war sie zur Außenseiterin der Gesellschaft geworden, hatte ihr gesichertes Leben aufgegeben, einen Skandal provoziert. Sophia war beschimpft worden, geächtet, und das alles für ihn, Mattia. Er fühlte sich ihr verpflichtet. Und deshalb würde er sie nicht verlassen. Ein Mann und eine Frau, aneinandergefesselt durch die Vergangenheit, eine schicksalhafte Verbindung, stärker, als jede Ehe es sein konnte.

Lautlos drehte sich Sophia um und verschwand zwischen den Zypressen. In der Dämmerung wirkte der Garten größer, als er in Wirklichkeit war, und das Haus aus groben, bräunlichen Backsteinen bekam im Licht des schwindenden Tages einen Hauch Geheimnisvolles. Nur noch der Gesang der Zikaden war zu hören, der Sophia traurig und mutlos werden ließ. Sie ging über die Terrasse ins Haus und schaltete im Wohnraum das Licht an. Dann lief sie in die angrenzende dunkle Küche, doch bevor sie auch dort die Lampe anmachte, hörte sie das Quietschen der Gartentür. Sophia blieb im Dunkeln stehen und sah durch das Küchenfenster hinaus auf den Weg. Es war ungewöhnlich, dass um diese Uhrzeit jemand aus dieser Richtung kam. Leute aus dem Ort benutzten die kleine Tür hinten in der Gartenmauer.

In dem Lichtschein, der aus dem Wohnraum auf den Weg fiel, sah Sophia die schlanke Gestalt einer jungen Frau, die auf das Haus zukam und einen Koffer trug. Automatisch griff sie nach dem Schalter und ließ auch in der Küche das Licht aufflammen. Dann verließ sie rasch den Raum und öffnete die Haustür, bevor die junge Frau vergeblich nach der Glocke suchte.

»Guten Abend«, sagte Giuliana ein wenig unsicher. »Ich ... ich bin ...« – tief atmete sie durch –, »... ich bin Giuliana Angelini.«

Sophia brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte.

Das konnte nicht sein, dass plötzlich wie aus dem Nichts Giuliana hier auftauchte! Warum, was wollte sie? Hatte sie Rom verlassen, wie so viele Menschen, und suchte sie auf dem Land jetzt eine Zuflucht vor den Gefahren des Krieges in der Hauptstadt? Doch woher hatte Giuliana ihre Adresse? Und wieso kam sie ausgerechnet zu ihr? Oder wollte sie mit ihr über die Vergangenheit sprechen, über Alessandro, den Großvater, über Gina, ihre Mutter?

Innerlich aufgewühlt und durcheinander, bemühte sie sich um Fassung, und als sie antwortete, klang ihre Stimme ruhig und sicher. »Guten Abend.«

»Es tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze, aber ich habe in Florenz kein Hotel bekommen. Eigentlich wollte ich ja ein Telegramm –«

»Willkommen«, unterbrach Sophia sie mit klopfendem Herzen. »Es ist schön, dass du hier bist. Ich habe dich bereits vom Fenster aus gesehen. Komm rein. Ist der Koffer sehr schwer?«

Giuliana verneinte mit einem Kopfschütteln und folgte Sophia ins Haus. In der Helligkeit standen sie sich einen Moment lang schweigend gegenüber, jede betrachtete die andere mit abwartender Neugier.

Giuliana, die ihren Herzschlag im ganzen Körper spüren konnte, forschte im Gesicht von Sophia nach Ablehnung oder Zustimmung. Aber sie konnte keine Regung erkennen. Giuliana hatte sich in der vergangenen Woche oft ausgemalt, wie ihre Großmutter aussah, doch die Frau, die ihr gegenüberstand, entsprach in nichts ihrer Vorstellung von einer älteren, etwas gesetzten Frau, die ihr Leben gelebt hatte. Sophia war groß, sehr schlank, und ihre Haut von der Sonne gebräunt. Die wenigen grauen Strähnen fielen in den dichten blonden Haaren kaum auf. Das Auffälligste an Sophia aber waren ihre Augen, groß und dunkel richteten sie sich forschend auf Giuliana, die unter ihrem Blick verlegen wurde.

»Ich freue mich, dass du hier bist.« Sophia streckte ihr die Hand entgegen, und Giuliana nahm sie, ein schneller, hastiger Druck, dann zog Sophia die Hand wieder zurück.

»Hast du Hunger?«, fragte sie. »Ich mache gerade Ravioli mit Basilikum-Ricottafüllung, ich hoffe, du magst das.«

»Ja, ich habe Hunger.«

»Das ist gut.« Jetzt lächelte Sophia. »Aber zuerst werde ich dir das Gästezimmer zeigen. Du bleibst doch hier, oder?« Auch sie schien jetzt nervös zu sein.

»Wenn ich darf, gern.«

»Natürlich. Hier neben der Treppe ist die Küche, und rechts folgen der Wohnraum und ein Speisezimmer, das wir aber nur selten benutzen. Das Gästezimmer ist oben.«

Giuliana nahm ihren Koffer wieder hoch und folgte Sophia, die schnell und leichtfüßig die schmale steile Holztreppe emporstieg. Es gab drei Türen. Vor der letzten blieb Sophia stehen und öffnete sie.

»Da wären wir.«

Sophia schaltete das Licht ein, durchquerte den stickigen Raum und öffnete weit das kleine Fenster. Die natürliche Gelassenheit, mit der Sophia ihr entgegentrat, nahm Giuliana die Scheu. Doch ihre widerstrebenden Gefühle zwischen Neugierde und kritischer Zurückhaltung gegenüber der Großmutter blieben.

»Wie bist du hergekommen?« Sophia drehte sich vom Fenster ab und kam wieder zurück zu Giuliana.

»Mit dem Regionalzug, der Schnellzug fiel aus, und an der Bushaltestelle hat mich Maria Cortesi aufgegriffen und brachte mich hierher.«

»Soso, Maria.« Sophia lachte. »Sie ist ein tüchtiges Mädchen, doch leider interessiert sie sich ein wenig zu sehr für das Leben anderer. Ihre Tratschereien haben schon manche Verwirrung gestiftet. Aber ich mag sie trotzdem.« Während Sophia erzählte, holte sie aus der Kommode aus dunklem Nussbaumholz weiße Bettwäsche heraus und überzog rasch die Kissen. »Frische Handtücher lege ich dir im Bad zurecht, es ist auf dem Flur gegenüber. Lass dir Zeit. Ich warte in der Küche auf dich.«

Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um. »Schön, dass du gekommen bist«, wiederholte sie.

Die Tür schloss sich hinter ihr, und Giuliana setzte sich langsam auf die Kante des breiten Himmelbettes, das den Raum fast ganz beherrschte. Die gedrehten Pfosten waren vergoldet, und obendrauf saßen geschnitzte Putten mit golden angemalten Locken und goldenen Flügeln und lächelten auf Giuliana herunter. Sie konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln, bevor sie ins Bad hinüberging.

Kurz darauf stieg sie die Treppe hinunter, die bei jedem Schritt knarrte, und klopfte leise an der angelehnten Küchentür.

»Komm nur rein und nimm Platz, die Ravioli sind gleich fertig. Du hast dich umgezogen? Hübsch.« Ein schneller Blick von Sophia glitt über Giulianas dunkles Leinenkleid. »Trägt man das in Rom?«, wollte sie wissen.

Giuliana nickte und erzählte, dass ihr Großvater immer für sie Kleider eingekauft hatte, seit sie sechzehn Jahre alt war. »Es hat ihm große Freude gemacht.«

Sophias Lächeln verschwand, und rasch wandte sie Giuliana den Rücken zu, um in einem großen Topf die Ravioli umzurühren. Giuliana biss sich auf die Lippen. Sie hätte nicht von ihrem Großvater sprechen dürfen, nicht in den ersten Momenten ihrer Bekanntschaft. Wahrscheinlich nahm Sophia jetzt an, dass er noch lebte.

»Ich habe in La Stampa die Todesanzeige von Alessandros früherer Kanzlei gelesen. War er ... war er krank?«

»Er ignorierte seine Herzkrankheit und rauchte bis zuletzt«, antwortete Giuliana vorsichtig. »Er nahm sie einfach nicht zur Kenntnis.«

»Das passt zu ihm.« Sophias Antwort kam schnell. Doch dann drehte sie sich zu Giuliana um und sah sie mit einem ernsten, forschenden Blick an. »Lass uns nicht gleich über die Vergangenheit reden, einverstanden?«, schlug sie vor. »Wir wollen den Abend genießen. Mein ... Mann Mattia weiß übrigens schon, dass du da bist, ich bin vorhin zu ihm ins Atelier gelaufen, er wird gleich hier sein.«

Giuliana war erleichtert, dass der erste Abend nicht mit Fragen belastet wurde, und so lehnte sie sich etwas entspannter auf ihrem Stuhl zurück.

Da hörte sie draußen schnelle Schritte auf dem Kies. Giuliana sah gespannt zur Hintertür, die jetzt von außen geöffnet wurde. Und da stand der Mann, für den Sophia alles aufgegeben hatte, ihre Ehe, ihre Tochter und ihre Sicherheit.

Giuliana spürte, dass Sophia sie scharf beobachtete, auch wenn sie vorgab, sich ausschließlich mit den Ravioli zu beschäftigen. Denn die Überraschung war Giuliana geradezu ins Gesicht geschrieben. Mattia war ein gutaussehender, noch junger Mann, sehr groß, schlank, und das weiße Hemd, das er trug, betonte seinen dunklen Teint. Er begrüßte Giuliana mit ungezwungener Herzlichkeit und nahm ihr gegenüber am Tisch Platz. Seine Bewegungen waren harmonisch, ein wenig lässig, als er nach der Korbflasche griff und ihnen Wein einschenkte, während Sophia die Ravioli in einer blauen Keramikschüssel auf den Tisch stellte und sie anschließend verteilte.

Mattia erzählte von dem Weingut, bei dem er immer den Chianti bezog, und Giuliana erkundigte sich, wo sie das Himmelbett, das in ihrem Zimmer stand, gekauft hatten.

»Wir haben es bei einem Trödler in Florenz entdeckt«, erzählte Sophia. »Der Inhaber behauptete, es habe einmal Madame Pompadour, der Geliebten von Ludwig dem Fünfzehnten, gehört. Auf welche Weise es allerdings von Frankreich nach Florenz gekommen sein soll, blieb sein Geheimnis.«

Das Gespräch plätscherte ungezwungen dahin. Nur einmal kam Sophia auf Rom und Alessandro zu sprechen, als sie fragte, woher Giuliana ihre Adresse habe.

»Ich fand sie bei den Unterlagen meines Großvaters«, antwortete Giuliana nach einem Zögern. Sie wollte Alessandros Brief noch nicht an Sophia weitergeben. Sie würde abwarten. Ihre Großmutter hakte zu Giulianas Erleichterung nicht weiter nach und wechselte das Thema.

Mit einem Blick auf Giulianas Hände fragte sie: »Bist du Linkshänderin?«

Giuliana nickte. »Ja, in der Schule haben die Lehrer versucht, es mir abzugewöhnen, doch Großvater erhob Einspruch. Da ließ man mich in Ruhe.«

»Es gibt große Maler, die Linkshänder waren«, warf Mattia ein. »Es ist unverantwortlich, wenn man es einem Kind abgewöhnt.«

»Mattia ist Maler«, wandte sich Sophia erklärend an Giuliana. »Er malt wunderschöne Bilder.«

»Nur eigenartig, dass sie niemand mehr kaufen will«, fügte Mattia mit einem spöttischen Auflachen hinzu.

»Mattia steckt in einer Krise, aber sicher wird er sie bald überwunden haben.«

»Ich denke, ich bin alt genug, um für mich zu sprechen, meinst du nicht auch?« Mattias Ton sollte amüsiert klingen, doch Giuliana hörte unterdrückte Aggression heraus. So erzählte sie rasch von ihrer Tätigkeit als Lehrerin und dass die Schule geschlossen habe, weil die Mädchen zu Hause jetzt sicherer aufgehoben seien.

»Du bist Lehrerin?« Auf Sophias Gesicht zeigte sich tiefes Erstaunen. »Dein Großvater hat dir erlaubt, einen Beruf zu erlernen?«

»Ja, er hat mich sofort unterstützt, als ich ihm von meinen Plänen erzählte.«

»Nun, dann muss er sich sehr geändert haben. Ich kannte ihn nur als konservativen und konventionell denkenden Mann. Dass eine Frau einen Beruf ergreift, war für ihn undenkbar. Sie durfte sich höchstens mit Musik oder Malerei beschäftigen. Aber das ist lange her«, fügte sie rasch hinzu, als sie Giulianas Ablehnung spürte. »Entschuldige, ich wollte nicht kritisieren, es steht mir wirklich nicht zu.«

Für den Rest des Abends bemühten sie sich um unverfängliche Themen, und Giuliana war froh, als das Essen beendet war. Als sie sich erhob, fiel ihr Blick auf einen Strauß blauer Blumen, der auf dem Fensterbrett stand.

»Ein schöner Strauß.«

»Ja«, antwortete Sophia lächelnd, »das finde ich auch. Das ist Rittersporn, ich pflanze ihn im Garten an. Ich liebe einfache Wiesen- und Gartenblumen.«

»Tatsächlich?« Giulianas Herz klopfte ein wenig stärker, als sie Sophia fragte: »Zu Großvaters Beerdigung kam ein Strauß rosafarbener Margeriten. Hast du ihn geschickt?« Der kleine Hoffnungsschimmer, ihre Großmutter habe vielleicht mehr Anteil an der Familie genommen, als sie vorgab, glomm in ihr auf.

Doch Sophia schüttelte den Kopf. »Nein, ich war das nicht.« Ihre Stimme klang ruhig und bestimmt.

Mattia hatte sich erhoben, als Giuliana aufstand. Er wünschte ihr eine gute Nacht.

An der Treppe holte Sophia sie ein. »Ich freue mich über deinen Besuch. Es wäre schön, wenn du länger bleibst und wir uns kennenlernen können. Sicher willst du mit mir über früher sprechen, denn ich glaube nicht, dass dein Großvater viel erzählt hat.«

»Er hat nie über dich gesprochen«, antwortete Giuliana ehrlich. Er wollte mich schützen, dachte sie, doch sie sprach es nicht aus. Und während sie die Treppe hinaufging, überlegte sie, ob es nicht vielleicht andersherum gewesen war, ob Alessandro mit seinem Schweigen nicht sie, sondern sich selbst hatte schützen wollen.