Das Jahr der Revolte - Claus-Jürgen Göpfert - E-Book

Das Jahr der Revolte E-Book

Claus-Jürgen Göpfert

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Beschreibung

Die Revolte von 1968 hat in keiner deutschen Stadt solche Spuren hinterlassen wie in Frankfurt am Main. Die Forderungen der außerparlamentarischen Opposition und der Studenten der Goethe-Universität sind nicht nur im gesellschaftlichen Leben bis heute spürbar, sondern bestimmen auch die Kultur maßgeblich mit. 50 Jahre danach erinnern sich in diesem Buch mit Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger prominente Zeitzeugen wie der Politiker Daniel Cohn-Bendit, der Verleger KD Wolff und der Schriftsteller Peter Härtling an das turbulente, ereignisreiche Jahr in Frankfurt am Main. Sie lassen die Ereignisse Revue passieren, reflektieren aber auch die großen Irrtümer und ideologischen Verirrungen der Zeit. Die Frage, was von den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen der 68er geblieben und was heute im Zeichen des Rechtspopulismus wieder bedroht ist, erörtern die Autoren in einem ausführlichen Interview mit Daniel Cohn-Bendit.

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Seitenzahl: 304

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Inhalt

[Cover]

Titel

Zitat

I Prolog

II 1968: »Ein verrücktes Jahr, das unheimlich schnell vorbeigerasselt ist«

Die Chronik der Revolte: Die Ausgangssituation

Exkurs 1 – »und Vietnam und« – und was war eigentlich ein Teach-in?

Frankfurter Schule und lokale Politik

Was in Frankfurt geschah – Der Auftakt

Die Auseinandersetzung eskaliert

Die Kaufhaus-Brandstiftung und das Attentat auf Rudi Dutschke

Der heiße Frankfurter Mai

Der Gegenschlag

Exkurs 2 – Der Frankfurter Diplomaten-Prozess und die Zeugenaussage eines deutschen Bundeskanzlers im Jahre 68

Exkurs 3 – Der Prager Frühling in Frankfurt

Herbststürme

Wohin führten die Lebenswege der Frankfurter 68er?

III Porträts

Hans-Jürgen Krahl – »Wo die Wölfe hausen«

Daniel Cohn-Bendit – »Es sollte auch Spaß machen«

»Nichts kann zurückgedreht werden« – Interview mit Daniel Cohn-Bendit über 1968 und die Folgen

KD Wolff – »Die nächste Revolte wird kommen«

IV 1976: Die Zäsur nach acht Jahren 68 – die Protestgeneration im Gründungsfieber, ein neuer kultureller Aufbruch

Warum ein Blasorchester »sogenannt« wurde

Die Kapp oder nach Karl Marx: »Der Rock ist ein Gebrauchswert«

Literatur und Revolte: Von Kursbüchern und Matthias Beltz

V Die Frauen

VI Linksanwälte

Rupert von Plottnitz

Margarethe Nimsch

Roland Kern

Manuela Rottmann

Juristisches Nachspiel

Die Zeitzeugen

Quellen

Dank

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Parmesan und Partisan

Wo sind sie geblieben

Partisan und Parmesan

Alles wird zerrieben

Matthias Beltz

I Prolog

1968: Bis heute besitzt diese Jahreszahl einen magischen Klang. Doch vieles von dem, was damals tatsächlich geschah, droht fünf Jahrzehnte später in einem Mythos zu verschwimmen. Dieses Buch ist auch der Versuch, die wirklichen Geschehnisse wieder in Erinnerung zu rufen.

1968 in Frankfurt: Die Stadt war damals neben Berlin das Zentrum der Revolte in Deutschland. Von hier nahmen die gesellschaftlichen Umwälzungen ihren Ausgang, die bald darauf das ganze Land erfassen sollten. In Frankfurt lehrten die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die mit ihrer Kritischen Theorie die intellektuelle Basis für den Aufstand schufen. Hier besaß der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) sein zentrales Büro, von dem aus er die Bewegung steuerte.

Frankfurt war damals schon so etwas wie ein politisches Labor für die Bundesrepublik. Später, als von hier aus die GRÜNEN ihren politischen Weg nahmen, sollte die Stadt wieder diese Funktion haben. Die 68er waren von ihrem Selbstverständnis her eine politische Bewegung, tatsächlich aber viel mehr noch eine kulturelle. Der gesellschaftliche Aufbruch zeigte sich in der Stadt im Theater, in der Bildenden Kunst, in der Musik oder im Kabarett. Hier gab es die ersten Aktionen der neuen Frauenbewegung wie den legendären Tomatenwurf auf den Studentenführer Hans-Jürgen Krahl oder das »Busenattentat« auf Adorno. Hier wurden aber auch die Kaufhaus-Brandanschläge organisiert, die direkt in den Terror der späteren Rote Armee Fraktion (RAF) führten.

Wir haben mit vielen Zeitzeugen gesprochen, deren Erinnerungen das Jahr 1968 wieder lebendig werden lassen. Daniel Cohn-Bendit blickt ebenso zurück wie der damalige SDS-Vorsitzende KD Wolff, der Künstler Thomas Bayrle oder der Schriftsteller Peter Härtling.

Rupert von Plottnitz, Verteidiger in Stammheim und später Hessischer Justizminister, schaut mit Kollegen auf die Gründung der Sozialistischen Anwaltskollektive, Dissidenten aus Osteuropa ziehen Verbindungslinien vom Prager Frühling zur antiautoritären Bewegung im Westen. Und es wird an große Irrtümer erinnert, an ideologische Verirrungen, an antisemitische Tendenzen auch im linken Spektrum.

Dieses Buch ist notwendiger denn je. Denn gegenwärtig erlebt Europa eine rechtspopulistische Bewegung, die viele der gesellschaftlichen Errungenschaften von 1968 wieder rückgängig machen will. Umso mehr gilt es, sich zu vergewissern, was vor 50 Jahren an gesellschaftlichen Fortschritten erreicht wurde. Was auf dem Spiel steht und was verteidigt werden muss. Deshalb dieses Buch.

Frankfurt am Main, im Sommer 2017Claus-Jürgen GöpfertBernd Messinger

II 1968: »Ein verrücktes Jahr, das unheimlich schnell vorbeigerasselt ist«

Die Chronik der Revolte: Die Ausgangssituation

Es war der verzweifelte Versuch der etablierten Politik, die Rebellion noch einmal zu befrieden. Und er scheiterte. Am 18. April 1968 eilte der schwer kranke Frankfurter Oberbürgermeister Willi Brundert (SPD) aus einer Rehaklinik in Österreich vorzeitig zurück an den Main. In den Tagen zuvor, am Osterwochenende, war die Stadt von den heftigsten politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit erschüttert worden. Bis zu zehntausend Menschen protestierten auf den Straßen insbesondere gegen den Springer-Verlag und sein Hauptprodukt, die Boulevardzeitung Bild. Es kam zu Auseinandersetzungen von besonderer Härte, als die Ordnungsmacht mit Wasserwerfern und berittener Polizei die Auslieferung der Bild aus der Societätsdruckerei an der Frankenallee im Gallus gewährleisten wollte. Aber es war zeitweise dennoch nicht gelungen, die Blockade der Protestierenden aufzubrechen und Lastwagen den Weg zu bahnen. Die Demonstranten warfen Flaschen und Steine. Die Kämpfe zogen sich durch die ganze Stadt und flackerten an verschiedenen Orten immer wieder auf. So etwas hatte Frankfurt noch nicht erlebt.

Die Spitze der Stadt – Oberbürgermeister Brundert und Gemahlin© Institut für Stadtgeschichte/Kurt Weiner

Die Proteste gegen den Springer-Verlag und seine Bild-Zeitung waren die Reaktion auf das Attentat eines Rechtsradikalen, bei dem am 11. April in Berlin der Studentenführer Rudi Dutschke schwer verletzt worden war. Die Studenten machten die Hetze der Bild-Zeitung für den Mordanschlag verantwortlich. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Brundert stellte sich am 18. April der Diskussion mit den Protestierenden. Der SPD-Unterbezirksvorstand fasste zeitgleich einen Beschluss, in dem es hieß: »Macht Schluss mit dem Terror, macht einen neuen Anfang.« Doch dieser Appell kam zu spät. Zu weit hatte sich die etablierte Politik, hatten sich sowohl der SPD-geführte Frankfurter Magistrat wie auch die von CDU/CSU und SPD gebildete Bundesregierung von den Aktivisten der 68er-Bewegung entfernt.

Frankfurt erlebte ein Jahr der Revolte. Den Zeitzeugen kommt es im Nachhinein wie ein wildes, unendlich beschleunigtes Puzzle von Ereignissen vor. »Es war ein verrücktes Jahr, das unheimlich schnell vorbeigerasselt ist«, sagt der Schriftsteller Peter Härtling, der 1968 Leiter des altehrwürdigen S. Fischer Verlages in Frankfurt war. Die, die es bewusst erlebten und mitgestalteten, wurden für immer verändert. »Wir haben uns selbst wie eine Versuchsanordnung wahrgenommen«, urteilt der Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke, damals Student: »Ich habe einen tiefen Schluck aus der Flasche des Lebens genommen, das ist mir für immer geblieben.« Der Übersetzer Bernd Schwibs, damals Student beim Philosophen Theodor W. Adorno, wundert sich noch heute, »wie verdichtet es war und wie kurz es war«. Und er sagt zugleich: »Ich habe damals einen utopischen Aufbruch verspürt.« Irmelin Demisch, seinerzeit Germanistikstudentin, zieht eine ironische Bilanz: »1968 war ein großes Sackhüpfen – ich glaube, wir wurden Zweiter!« Cornelia-Katrin von Plottnitz, damals Lehramtsstudentin, später Politikerin der GRÜNEN, erinnert sich: »Wir hatten eine große Lust, die Vergangenheit, die Bigotterie der Gesellschaft aufzumischen!« Karlheinz Braun, 1968 Leiter des Theaterverlages bei Suhrkamp, betont den Spaßfaktor: »Es war auch lustvoll, wir haben getanzt auf den Straßen!« Und der Künstler Thomas Bayrle: »Wir waren sehr frei, wie eine Suppe, in der Brocken herumschwimmen.« Der spätere Sozialdemokrat und langjährige Frankfurter Planungsdezernent Martin Wentz bilanziert: »Wir haben eine tolle Zeit gehabt, sie hat mir Kraft gegeben für mein gesamtes Leben.«

Peter Härtling als Leiter des S. Fischer VerlagesFotograf unbekannt

Zum ersten Mal hat sich 1968 gezeigt, dass Frankfurt ein politisches Labor sein konnte für die Bundesrepublik. Hier wurden in diesem Jahr Konflikte ausgetragen und Umbrüche eingeleitet, die politisch und kulturell prägend sein sollten für Deutschland. Hier hatte der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) im Haus Wilhelm-Hauff-Straße 5 sein kleines zentrales Büro, vom dem aus die Bundesvorsitzenden KD und Frank Wolff die Ideen der Revolte in die Städte trugen. Hier wirkte mit Daniel Cohn-Bendit, dem Studentenführer, der im Sommer 1968 aus Frankreich ausgewiesen worden war, eine prägende Figur. Hier gab es aber auch kulturelle Zentren wie das Theater am Turm (TAT), das damals wichtige Impulse der Veränderung auf ganz Deutschland übertrug. Der junge Regisseur Claus Peymann inszenierte die Uraufführung der ersten Stücke des jungen Dramatikers Peter Handke. Peymann sagt heute: »Das TAT wurde zum Straßentheater und zum Theater der Straße. Die Uraufführungen der Stücke Peter Handkes waren im Grunde Chronik und Philosophie der 68er-Bewegung.«

Mit Suhrkamp und S. Fischer verfügte Frankfurt 1968 zugleich über zwei Verlage, die nicht nur selbst ihre Revolte erlebten, sondern mit ihren Büchern die intellektuelle Grundlage bildeten für die Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft. Peter Härtling ist noch heute stolz auf das Programm, das er damals durchsetzen konnte: »Es war extrem politisch, wir haben Literatur aus der Arbeitswelt herausgebracht, linke Psychologie und ganz aktuelle Debattenbücher.«

1968 in Frankfurt schuf die Basis für die Entwicklung der GRÜNEN, die ein Jahrzehnt später hier ihren Aufbruch als junge Partei erlebten und sich von hier aus als bundesweiter Faktor etablierten. Politisches Labor sollte Frankfurt wieder werden, als sich die GRÜNEN zuerst in der Stadt, später im Land Hessen der CDU zuwandten.

Doch die politischen und kulturellen Wurzeln für das Jahr 1968 gerade in Frankfurt reichen weiter zurück. Ein ganz wichtiger Punkt: Frankfurt war damals die amerikanischste Stadt Deutschlands. Die Kommune, die am weitesten von US-amerikanischer Kultur und von politischen Ereignissen in den USA geprägt war. Im riesigen ehemaligen IG-Farben-Gebäude im Westend saß 1968 das Hauptquartier der US-Armee in Deutschland. Frankfurt war mit seinem großen Militärflughafen der wichtigste US-Stützpunkt in der Bundesrepublik, ja in Europa. Auch von hier aus organisierten die US-Streitkräfte den Krieg in Vietnam, gegen den die 68er protestierten, weil sie ihn als Massenmord an der Bevölkerung verurteilten. 1968 waren in Frankfurt 40.000 US-Soldaten einschließlich ihrer Familienmitglieder stationiert.

Diese amerikanischen Militärs trugen wichtige Elemente der Veränderung in die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Das begann mit der Musik. Mit dem Rock und dem Jazz, die zunächst in den US-Soldatenclubs in Frankfurt nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt worden waren. In den Jahren der nationalsozialistischen Terrorherrschaft von 1933 bis 1945 war namentlich der Jazz nicht nur verpönt, sondern auch verboten gewesen. Nur wenige junge Musiker, wie in Frankfurt etwa Emil Mangelsdorff, wagten damals, ihn zu spielen. Diese Musik der gesellschaftlichen Emanzipation besaß 1968 in der Stadt wichtige Orte, wie etwa den Jazzkeller im Haus Kleine Bockenheimer Straße 18a. Für die Studenten war das ein viel besuchter Treffpunkt. Hier hörten sie die Musik, die so ganz anders war als die Schlager, die damals an der Oberfläche die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland prägten. Hier trafen sie aber auch auf US-Amerikaner, die nicht dem Abziehbild des Soldaten entsprachen, sondern ebenfalls den Krieg in Vietnam kritisierten.

Eines ist heute fast völlig vergessen. Frankfurt besaß 1968 den ersten und einzigen Ort in Deutschland, der ein Stützpunkt der US-amerikanischen Hippie-Bewegung war. Die Hippies, in den USA seit 1965 entstanden, propagierten die Selbstbefreiung von den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Gegenkultur wollte den bürgerlichen Leistungsdruck durch das repressionsfreie Zusammenleben in Kommunen ersetzen. Sie wandte sich fernöstlichen Philosophien zu und verkündete den befreienden Konsum von Drogen wie LSD und Haschisch. Im Mai 1968 eröffnete der spätere Schriftsteller und Journalist Hadayatullah Hübsch, damals noch als Paul-Gerhard, im Haus Bockenheimer Landstraße 87 den »Heidi Loves You Shop«, benannt nach seiner Freundin. Hier konnte man nicht nur Bücher, sondern auch Haschisch und andere Drogen kaufen, was sich insbesondere bei den US-Soldaten in Frankfurt und weit darüber hinaus rasch herumsprach.

Das Verhältnis zu den USA und zu den US-Soldaten war freilich für die, die 1968 revoltierten, mehr als zwiespältig. Denn die USA waren auch die mächtigste Militärmacht der Welt, die damals im weit entfernten Vietnam einen blutigen Interventionskrieg führte. Dieser Konflikt hatte Anfang der 60er-Jahre mit der Entsendung von Beratern zur Unterstützung des südvietnamesischen Militärregimes begonnen und war dann immer mehr eskaliert. Denn Russland unterstützte wiederum die Armee Nordvietnams, das immer mehr in den Krieg eingriff. Die USA setzten Massenbombardements und völkerrechtswidrige Kampfstoffe wie Napalm ein, die Hunderttausende unschuldiger Menschen töteten. Der Protest gegen den Vietnamkrieg schwappte von den USA nach Deutschland über und wurde zu einer ideologischen Triebfeder der 68er. Der berühmte Ruf »Ho Ho Ho Chi Minh«, mit dem der nordvietnamesische Staatschef verehrt wurde, war auch in Frankfurt zu hören.

Das US-Generalkonsulat auf dem Grundstück Siesmayerstraße 21 war das ständige Ziel von Demonstrationen. Der Nachschub für Vietnam wurde über den Frankfurter US-Militärflughafen organisiert. Aber auch die Protestformen gegen den Vietnamkrieg, die in Frankfurt 1968 angewendet wurden, waren in den USA erprobt worden. Das Sit-in etwa als Mittel der Blockade oder das Teach-in, die Protest-Versammlung. Der größte Raum der Frankfurter Universität, der Hörsaal VI, wurde ebenso zum Ort von Teach-ins wie etwa das Studentenhaus auf dem Campus. Ironischerweise hatte die US-Regierung den Bau des Studentenhauses Anfang der 50er-Jahre finanziert, um ein Zeichen für die junge Demokratie in Deutschland zu setzen. Es wurde 1953 vom damaligen Rektor Max Horkheimer, einem der Philosophen der Frankfurter Schule, eröffnet. Horkheimer wünschte sich in seiner Rede »eine akademische Jugend, die den Geist der realen und tätigen Demokratie praktiziert«. Darauf sollte sich die 68er-Bewegung berufen.

Exkurs 1»und Vietnam und« – und was war eigentlich ein Teach-in?

Zum ersten Mal tauchte der Begriff an der Universität von Michigan auf. Und es ging um Vietnam. Und wurde dann auch sogleich in der New York Times zitiert. Und es sprach ein deutscher Philosoph.

Am 24. März 1965 versammelten sich mehrere Hundert Studenten auf dem Campus der University of Michigan und protestierten gegen den Vietnamkrieg. Nach einem Vortrag des deutschen Philosophen Walter Arnold Kaufmann – er war erstaunlicherweise kein Vertreter der Kritischen Theorie, sondern von Haus aus eher Nietzscheaner – schloss sich eine über zwei Tage währende Diskussion der Studenten jenseits von klassischer Hörsaaldisziplin und Rollenverteilung an. Am Ende stand sogar eine gemeinsam verabschiedete Schlusserklärung. Bis Ende des Jahres 65 fanden ähnliche Veranstaltungen auf dem Campus von rund 120 weiteren amerikanischen Hochschulen statt. Eine neue Protestform war geboren: das Teach-in!

Herbert Marcuse – Mutmacher gegen die Eindimensionalität des MenschenFotograf unbekannt

Die erste vergleichbare Aktion in Westdeutschland gab es ein Jahr später in der Frankfurter Goethe-Universität. Herbert Marcuse und Rudi Dutschke sprachen 1966 vor über 2000 Studenten auf einem Teach-in des SDS: »Vietnam – Analyse eines Experiments«. Selbstverständlich gab es auch hier entsprechend der Übernahme amerikanischer Traditionen eine Abschlusserklärung, die davon sprach, dass der Vietnamkrieg nicht nur die Existenz des vietnamesischen Volkes bedrohe, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf das Leben und die Gesellschaften der am Krieg beteiligten Nationen habe. Der Protest schwappte über den Atlantik.

In die Geschichte der Studentenbewegung ging aber in erster Linie der große Vietnamkongress 1968 in Berlin ein. Bis zu 6000 Personen fanden sich im Audimax und anderen Orten beim größten Teach-in dieser Zeit ein – weitgehend dominiert von den Genossen aus Frankfurt.

Schon die Begleitumstände waren reichlich spektakulär. 3000 Teilnehmer trafen aus Westdeutschland und dem Ausland ein – in der Regel über die Transitstrecken durch die DDR mit den klassischen 5 Mark für die Grenze in der Tasche. Doch die Hunderte Fahrzeuge wurden erstaunlicherweise vom Ost-Zoll als Verbeugung der DDR hinsichtlich der gemeinsamen Solidarität mit dem Vietcong ohne diese eigentlich übliche Visagebühr (im Westjargon »Eintrittspreis«) durchgewunken. Allerdings nicht ohne den nachdrücklichen Hinweis, man möge doch bitte einzeln fahren und nicht im Konvoi. Den Anblick von aufbegehrenden autocorsofahrenden Studenten wollte man der eigenen Bevölkerung trotz aller Solidarität eher nicht zumuten – diese hätte ja auf unziemliche Gedanken kommen können.

Der Kongress begann am 17.Februar 1968 mit mehrminütigen Ho-Chi-Minh-Rufen, bevor KD Wolff als SDS-Vorsitzender die Tagung eröffnete, neben ihm saßen Johannes Agnoli von der FU und Reiner Meschkat vom Republikanischen Club. Es sprachen – aus Frankreich angereist – Daniel Cohn-Bendit, Ernest Mandel, der chilenische Schriftsteller Gaston Salvatore und der gebürtige Iraner Bahman Nirumand, Stuttgarter Waldorfschüler, Mitbegründer der gegen den Schah opponierenden Studentenorganisation CISNU und von 1990 bis 2001 Geschäftsführer der Kommunalen Ausländervertretung Frankfurt. Im Mittelpunkt der wichtigsten Reden stand – auch damals schon – das Thema Globalisierung und internationale Solidarität. Hans-Jürgen Krahl forderte unter großem Jubel die Zerschlagung der NATO und gemeinsame Kampagnen zur Wehrkraftzersetzung in Europa, doch unumstrittenes Idol dieser Tage war Rudi Dutschke. »Genossen, Antiautoritäre, Menschen« begrüßte er die Teilnehmer, um schnell zum Kern zu kommen, die Zeiten eines rein kulturellen Aufbegehrens seien vorbei, es gehe nun um den globalen Widerstand: »Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen wir ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muss heute notwendigerweise global sein.«

Und auch das Verhältnis zu den verschiedenen Untergrundbewegungen wurde Thema. Auf den Zwischenruf eines in der Diktion noch unsicheren Kommilitonen: »Arbeitest Du auch mit Gorillas zusammen«, führte Dutschke spontan aus, zwar »nicht mit Gorillas direkt«, aber die Revolutionäre in Westeuropa müssten die Guerilleros in der sogenannten Dritten Welt mit ihrem Widerstand unterstützen.

Die Abschlusserklärung des Kongresses sprach später dann auch vom Aufbau einer zweiten »revolutionären Front gegen den Imperialismus in den Metropolen«, eine Formulierung, auf die sich Jahre später dann auch die selbst ernannten »Stadtguerilleros« wie die RAF bezogen.

Doch auch wenn viele Redner die nächste Konsequenz vom kulturellen Aufbruch dieser Zeit zur politischen Tat einforderten, war es doch letztlich mehr das kulturpolitische Signal als das programmatische; es waren die Bilder, die Sprache, die diesen Kongress so nachhaltig wirken ließen.

Das zeigte sich auch schon in den Tagen danach. Der Kongress mündete in eine Großdemonstration am 18. Februar. Nachdem das Verwaltungsgericht ein Verbot des Senats aufgehoben hatte, gingen über 12.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg auf die Straße, zogen zur Deutschen Oper, wo wenige Monate zuvor am 2. Juni 67 Benno Ohnesorg erschossen worden war, und forderten unter anderem – das Musical Hair hatte gerade wenige Wochen zuvor Vorpremiere in einer Off-Broadway-Produktion – die amerikanischen GIs zur Desertation auf.

Die medialen Wellen schlugen hoch. Berlin wurde als Tummelplatz der Extremisten etikettiert. Und der Westberliner Senat rief für den 21. Februar zur Gegendemonstration auf. Die Angestellten des Öffentlichen Dienstes wurden extra freigestellt. »Stoppt den Roten Rudi jetzt« titelte die Bild-Zeitung. Über 80.000 Berliner folgten diesem Aufruf – über fünfmal mehr, als die Studenten auf die Straße brachten.

Doch die Demonstration des Establishments blieb kulturell und auch symbolisch ohne Nachhall. Der Vietnam-Kongress hingegen setzte Zeichen weit über die Stadt hinaus. Der Zeitgeist stand aufseiten der kleinen radikalen Minderheit. Erich Fried las während des Kongresses aus seinem 1966 bei Wagenbach erschienenen Gedichtband und Vietnam und Gedichte, über die Peter Rühmkorf damals im Spiegel schrieb: »Anders als Günter Grass, für den Vietnam, schön goethisch, weiter als ›hinten in der Türkei‹ zu liegen scheint, gerade so, als ob sich im Zeitalter des interstellaren Raketenverkehrs noch über ›Kriegs- und Kriegsgeschrei‹ verhandeln ließe … sieht Fried im Vietnamkrieg die dringende Mord- und Brandsache … Entweder, so lehren uns Erich Frieds Vers für Vers folgernde, Schritt für Schritt durch den Abraum der Kriegsberichterstattung sich hindurchfragende Gedichte – tilgen wir unser restlos kompromittiertes Vertrauensmuster aus unseren Sicherheitsvorstellungen oder räumen mit dem geborenen Zynismus ein, da unsere Rechnung aufgehen kann wie die Städte Vietnams in Flammen.«

Man kann über die literarische Qualität der Gedichte von Erich Fried streiten, und selbst Reich-Ranicki schwankte bisweilen zwischen missraten und peinlich und nannte ihn doch einen der bedeutendsten Lyriker des Jahrhunderts.

Und so mag es auch befremdlich wirken, wenn er mit Goethes Erlkönig über die Aushöhlung des Grundgesetzes und die Zerstörung durch Napalm spricht: «In Vietnam …schützt man mit Notstandsgesetzen / die Kinder und Mütter / fasst sie sicher und hält sie warm / und erhält in ihnen ein brennendes Wissen lebendig …«

Doch es waren starke, in Verstand und Gemüt einwirkende Worte, die dann auf der Welle des Aufbegehrens und der Rebellion deutlich weiterschwappten. Trotz der bemühten Versuche des verstörten Berliner Bürgertums und der Sozialdemokratie um den vom SDS ungeliebten Oberbürgermeister Klaus Schütz (»Brecht dem Schütz die Gräten – alle Macht den Räten«), ideologische Deiche gegen die Linksradikalen aufzubauen mit einer »Tummelplatz der Extremisten«- und »Rüpelspiel der Randalierer«-Rhetorik. Ja, der Zeitgeist stand aufseiten der kleinen radikalen Minderheit. Und die große Mehrheit staunte fassungslos, wie diese Minderheit den Takt vorgab. Auch wenn diese die Gräuel der anderen Konfliktseite, des Vietcong, unterstützt von der Sowjetunion und China, eher ausblendete. Vietnam wurde zum moralischen und kulturellen Fiasko des Establishments. Über alle Grenzen hinweg.

Zurück zum Teach-in. Das letzte große Teach-in zum Vietnamkrieg fand Ende April 75 statt. Kurz vor der endgültigen Einnahme Saigons durch den Vietcong am 1. Mai 75 feierten über 1000 Studenten im Hörsaal VI der Frankfurter Goethe-Universität den Sieg der Revolution und das Ende des Krieges – nach Millionen Toten und mehr Bombenabwürfen als im gesamten Zweiten Weltkrieg und einem von Napalm und Gift zerstörten Land.

Die Veranstaltung endete, wie der Vietnamkongress in Berlin acht Jahre zuvor begonnen hatte. Mit langanhaltenden Ho-Chi-Minh-Rufen. Doch bei vielen Teilnehmern deutlich weniger empathisch als einst und auch mit dem einen oder anderen peinlich-verlegenen Lächeln auf den Lippen. Und der nachdenklichen Frage im Kopf, was von den Hoffnungen auf das Freiheitsversprechen sozialistischer Revolutionen denn bleiben wird. Der Zeitgeist stieß an seine Grenzen.

Frankfurter Schule und lokale Politik

Außer dem Protest gegen den Vietnamkrieg gab es noch mehr Gründe, warum gerade Frankfurt zum Zentrum der 68er-Revolte wurde. An der Johann Wolfgang Goethe-Universität lehrten die prominenten Vertreter der kapitalismuskritischen Frankfurter Schule. Weit bekannter als Horkheimer wurde der Philosoph Theodor W. Adorno, die nächste Generation bildeten 1968 deren Schüler Jürgen Habermas und Oskar Negt. Sie prägten mehrere Generationen von Studenten in Deutschland. Adorno und Horkheimer hatten in der Zeit des Nationalsozialismus als jüdische Intellektuelle Deutschland verlassen müssen und in den USA Exil gefunden. Im Exil-Verlag Querido in Amsterdam hatten Adorno und Horkheimer 1947 das grundlegende Werk Dialektik der Aufklärung veröffentlicht, das für viele Teilnehmer der 68er-Revolte ein zentraler Text wurde. Noch mehr galt das für Adornos Band Minima Moralia, den er 1951 bereits in Frankfurt nach der Rückkehr aus dem Exil publiziert hatte und der Horkheimer gewidmet war.

Intellektuelle Vaterfigur missratener Kinder – Th.W. Adorno© Ilse Mayer Gehrken

In diesem Buch fanden sich Sätze, die wie ein Motto für die 68er-Revolte gelesen wurden, etwa: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Adorno propagiert hier das Leben eines Intellektuellen im Widerstand gegen Entfremdung in der bürgerlichen Gesellschaft. Der Marxismus und die Psychoanalyse werden in den Augen Adornos dabei zum entscheidenden Rüstzeug. Die Ironie dabei ist, dass der Intellektuelle, den der Philosoph hier entwirft, recht eindeutig ein wohlhabender Bürgersohn war. Genau das stellte die Verbindung zu den revoltierenden 68ern her: Sie stammten fast ausschließlich aus dem Bürgertum. Sie waren hervorgegangen aus der Schicht, deren Macht sie eigentlich stürzen wollten. Viele, die 1968 in Frankfurt studierten, kamen wegen Adorno hierher. Nicht nur der 20-jährige Metzgerssohn Joseph Fischer aus Baden-Württemberg, der mit seiner jungen Ehefrau am tumultartigen Osterwochenende in Frankfurt eintraf. Sie begriffen Adorno als einen der Ihren, den es aber zugleich zu bekämpfen galt.

Viele der Studenten entwickelten eine Art Hassliebe namentlich zu Adorno. Der Journalist und Publizist Arno Widmann verehrte den Philosophen einerseits als den »intelligentesten« Gesellschaftskritiker dieser Zeit. »Ich habe jede Zeile verschlungen von Adorno«, sagt er heute. Und: »Ich war voller Respekt für ihn.« Aus Sicht Widmanns blieb der Soziologe stets »der kleine Junge mit den großen Augen und dem klaren Verstand«. Andererseits trat der Student in den Vorlesungen bald als einer der schärfsten Kritiker Adornos auf und sprengte seine Veranstaltungen. Dieser Protest richtete sich gegen »die total autoritäre Vorstellung« des Philosophen vom Unterricht: »Einer steht vorne und redet, alle müssen zuhören.« Die Studenten wollten diese alten Formen der Wissensvermittlung aufbrechen, sie wollten mit dem Professor diskutieren. Das Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität auf dem Grundstück Senckenberganlage 26, das Adorno und Horkheimer wieder gegründet hatten, sollte bald zum Ziel studentischen Protests werden.

Mit Verbitterung registrierten die Studenten auch, das Adorno und Horkheimer sich schwertaten mit der Kritik an der Politik der US-Regierung und insbesondere am Vietnamkrieg. Für beide Männer blieben die USA lebenslang das Land, das ihnen auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Asyl gewährt hatte. Horkheimer rechtfertigte in einem Vortrag im Amerikahaus an der Staufenstraße im Mai 1967 bereits den Vietnamkrieg sogar als »Verteidigung der Verfassung« der USA und als »Verteidigung der Menschenrechte«. Hier war 1968 der Konflikt mit den revoltierenden Studenten vorprogrammiert. Und zu dem kam es dann auch.

Neben dem Protest gegen den Vietnamkrieg und die verkrusteten Verhältnissen an der Universität selbst besaß der Widerstand noch eine weitere wichtige innenpolitische Triebfeder. Seit 1966 regierte in der Bundesrepublik eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD mit dem Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und dem Vizekanzler und Bundesaußenminister Willy Brandt (SPD) an der Spitze. Diese Bundesregierung nun machte es sich zum Ziel, die Grundrechte der Bevölkerung, die 1949 im Grundgesetz formuliert worden waren, durch ein Bündel von Novellen einzuschränken. Diese geplanten »Notstandsgesetze« brachten politischen Zündstoff. So war geplant, dass die Bundesregierung das Post- und Fernmeldegeheimnis zum Teil abschaffen durfte. Zum ersten Mal wollte man die Bundeswehr auch im Inneren des Staates einsetzen, sofern dieser von einem Umsturz bedroht war.

Für große Teile der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, aber auch für die revoltierenden Studenten waren die »Notstandsgesetze« eine offene Provokation. Auch in den großen Kirchen gab es Widerstand. Hier regte sich jetzt wieder eine Linke in Deutschland, die nach dem offiziellen Verbot der KPD im Jahre 1956 geschwächt und verunsichert worden war. Der Kampf gegen die Notstandsgesetze wurde zum wichtigen Thema der 68er-Bewegung.

Um zu verstehen, warum sie sich gerade in Frankfurt so entfaltete, muss auch von der Entwicklung der Stadt zwischen 1945 und den späten 60er-Jahren die Rede sein. Frankfurt war im Bombenkrieg der Alliierten von 1944 an schwer getroffen worden, große Teile der Altstadt und Innenstadt waren zerstört, aber auch in den Stadtteilen gab es schwere Schäden. Die erste Stadtregierung der Nachkriegszeit ließ noch berechnen, dass die Beseitigung der Trümmerwüste und der Wiederaufbau der Stadt Jahrzehnte dauern würden. Tatsächlich ging es schneller. Doch Frankfurt zahlte dafür einen hohen Preis.

Nach 1946 bis hin zum Jahr 1977 bildete die SPD die treibende und vorherrschende Kraft in der Kommunalpolitik, zum Teil regierte sie mit absoluter Mehrheit im Rathaus. Bis 1972 bestand aber immerhin die sogenannte »Römer-Koalition« mit der CDU. Das heißt: Die beiden bürgerlichen Parteien entschieden über alle wichtigen Fragen gemeinsam, zeitweise noch unterstützt von der FDP, die aber nach 1972 für lange Zeit nicht mehr ins Stadtparlament gewählt wurde. 1968, im Jahr der Revolte, sahen die politischen Verhältnisse in der Stadtverordnetenversammlung so aus: SPD 42 Sitze, CDU 25 und FDP neun. Bei der Kommunalwahl 1968 war allerdings auch die rechtsradikale NPD in den Römer eingezogen, mit fünf Sitzen.

SPD und CDU hatten gemeinsam den Wiederaufbau der Stadt vorangetrieben. Dabei gewannen deutlich die politischen Kräfte die Oberhand, die für einen städtebaulichen Neuanfang plädierten. Das heißt: Nur wenig sollte noch an die Stadt vor der Zerstörung 1944/1945 erinnern, gar an das 19. Jahrhundert oder ältere Zeiten. Und nichts an die Phase des Nationalsozialismus. Nur wenige architektonische Ikonen mit hohem Symbolwert wurden rekonstruiert.

Das galt zuvorderst für die Paulskirche, die 1848 der Ort der ersten frei gewählten deutschen Nationalversammlung war und deshalb als »Wiege der deutschen Demokratie« besondere Bedeutung besaß. Für sie setzte sich der sozialdemokratische Oberbürgermeister Walter Kolb nach 1946 besonders ein. Doch selbst diese Rekonstruktion war umstritten. Starke Teile der SPD hielten es für viel wichtiger, rasch Wohnungen zu schaffen und die geringen finanziellen Mittel der Stadt auf den Wohnungsbau zu konzentrieren. Kolb konnte die Gemüter nur beruhigen, indem er den Bau der ersten neuen Wohnsiedlung, der Friedrich-Ebert-Siedlung im Gallus, und den Wiederaufbau der Paulskirche parallel vorantrieb. Beide Projekte wurden 1948 vollendet, die Friedrich-Ebert-Siedlung wenige Tage nach der Paulskirche.

Rekonstruiert wurde in den ersten Nachkriegsjahren noch das Goethe-Haus am Großen Hirschgraben, die Geburtsstätte des Dichters. Die Überreste der Altstadt wurden 1949 getilgt, nachdem Frankfurt nicht den von der Kommunalpolitik erhofften Status der Bundeshauptstadt errungen hatte. Gewählt wurde stattdessen, mit starker Protektion des rheinländischen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, die rheinländische Kleinstadt Bonn. Wäre Frankfurt Bundeshauptstadt geworden, so hätte Kolb die Altstadt wieder aufbauen wollen. So blieb erst einmal eine Brachfläche zwischen Dom und Römer, die vor allem als Autoparkplatz genutzt wurde.

Der Wiederaufbau Frankfurts aber orientierte sich an zwei Maximen. Die Politik wollte der sich dynamisch ausbreitenden Dienstleistungswirtschaft, also immer neuen Banken und Bürohäusern, Raum schaffen. Und man folgte dem Motto der »autogerechten Stadt«. Der sozialdemokratische Planungsdezernent Hans Kampffmeyer ließ 1964 vom Stadtplanungsamt eine Perspektive erarbeiten, in der das gutbürgerliche Wohnviertel Westend als »City-Erweiterungsgebiet« definiert wurde. Hier sollten die neuen Bürogebäude entstehen, als Hochhäuser entlang wichtiger Verkehrsachsen wie etwa der Bockenheimer Landstraße. Kampffmeyer und die SPD verfolgten das Ziel, Frankfurt neben Paris und London zum »internationalen Finanzplatz« zu machen, wie der Planungsdezernent schrieb.

Und genau das geschah auch. 1968 beschloss das Stadtparlament mit den Stimmen von SPD, CDU und FDP den sogenannten »Fingerplan«. Er löste namentlich bei der Wohnbevölkerung im Westend und in Bockenheim Entsetzen aus, denn er sah vor, dass sich die Bürohochhäuser entlang der Mainzer Landstraße und der Bockenheimer Landstraße wie entlang von Fingern ausbreiten sollten. Der Widerstand der Menschen gegen diese Entwicklung wurzelte 1968. Ein Jahr später wurde die älteste Frankfurter Bürgerinitiative, die Aktionsgemeinschaft Westend (AGW), gegründet, 1971 sollte dann der sogenannte »Häuserkampf« gegen die Zersiedelung des Westends verstärkt beginnen.

1968 formierte sich der Protest bereits. Ein wichtiges Buch, das viele 68er gelesen hatten, war die im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienene Kampfschrift Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Diese »Anstiftung zum Unfrieden« hatte der Frankfurter Psychoanalytiker und Hochschullehrer Alexander Mitscherlich schon 1965 veröffentlicht. Er war von 1960 bis 1976 Direktor des von ihm gegründeten Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt und hatte sich zunächst mit den Verbrechen der Medizin in der nationalsozialistischen Zeit beschäftigt. In Die Unwirtlichkeit unserer Städte prangerte er die Fehler beim Wiederaufbau der kriegszerstörten deutschen Kommunen an. Die Stadtentwicklung, schrieb Mitscherlich, werde zunehmend von »Profitgier« diktiert und verliere jeden menschlichen Maßstab. Dabei untersuchte er auch die großen Trabantenstädte, also die Wohnsiedlungen auf der grünen Wiese, wie sie auch in Frankfurt in den 60erJahren gebaut worden waren (Beispiel Nordweststadt).

Protest regte sich 1968 aber auch gegen die »autogerechte Stadt« Frankfurt. Beim Wiederaufbau waren große Verkehrsschneisen geschlagen worden, unter deren Folgen die Kommune heute noch leidet. Als Prototyp darf die Berliner Straße im Herzen der Innenstadt gelten, die noch immer eine große Trennwirkung entfaltet. Der sozialdemokratische Verkehrsdezernent Walter Möller hatte es schon 1967 öffentlich als seine Aufgabe bezeichnet, »die Stadt dem Auto anzupassen«. Doch zeigte sich damals schon, welcher Irrweg damit eingeschlagen worden war. Obwohl immer mehr und immer breitere Straßen geschaffen wurden, wuchsen zugleich die Staus, vor allem in der notorisch überlasteten Innenstadt. Die Zahl der Autos stieg immer mehr an. Es entstanden Ende der 60er-Jahre allenthalben Parkhäuser in der Stadt. Und es zeigte sich: Mehr Verkehrswege ziehen auch mehr Verkehr an. Es war ein Wettlauf, den die Kommunalpolitik nicht gewinnen konnte.

Eine Folge all dieser Missstände war, dass immer mehr Menschen der Stadt den Rücken kehrten. Die Zahl der Einwohner sank beständig. Allein im Jahr 1967 ging sie um 16.000 zurück, auf nur noch 667.456. Die Revolte des Jahres 1968 spielte sich in einer schrumpfenden Stadt ab.

Vom Vietnamkrieg über die Notstandsgesetze, von der Stadtentwicklung bis hin zum Protest gegen den Springer-Verlag: Für all die Themen, die 1968 die Menschen in Frankfurt beschäftigten, gab es recht wenige Orte der kritischen Öffentlichkeit. Ein Treffpunkt der Linken war der 1962 gegründete Club Voltaire im Haus Kleine Hochstraße 5. Für seinen Mitbegründer Heiner Halberstadt, heute 89 Jahre alt, begann das Jahr 1968 mit dem Ausschluss aus der SPD. »Ich hatte mich geweigert, mich vom geplanten Ostermarsch zurückzuziehen, und wollte unbedingt teilnehmen.« Das war genug Grund für die Sozialdemokraten, ihn auszuschließen.

Der kleine Club mit seiner Bar und der Kneipe im Erdgeschoss und weiteren Räumen in der ersten Etage wurde 1968 immer mehr zur Bühne für die verschiedenen Protestbewegungen. Halberstadt knüpfte Kontakte selbst zu den militanten Bürgerrechtlern der »Black Panther«-Bewegung in den USA und lud sie ein. Tatsächlich trat eine Delegation der »Panther« im Club auf und diskutierte mit den Gästen, während Polizisten misstrauisch »die gefährlichen Schwarzen« beäugten, aber nicht einschritten. Studentenführer Hans-Jürgen Krahl, der als intellektueller Kopf der Frankfurter Bewegung galt, war »Stammgast« im Club und pflegte dort seine Vorliebe für Korn. Auch der junge Regisseur Claus Peymann, der am nahen Theater am Turm (TAT) inszenierte, war nach Halberstadts Erinnerung häufiger Gast.

Die kritische Journalistin Ulrike Meinhof, die regelmäßig für die linke Zeitschrift konkret schrieb, war schon 1967 im Club Voltaire aufgetreten. Ihr Thema waren damals die teils schlimmen Bedingungen in deutschen Kinder- und Erziehungsheimen, über die sie später ihr Buch Bambule. Fürsorge –Sorgefürwen? schrieb. Nur wenige Jahre später, 1970, entschied sie sich für den bewaffneten Kampf in der Rote Armee Fraktion (RAF).

Ein zweiter wichtiger Treffpunkt, insbesondere für die Studenten, war 1968 das nach dem früheren OB Walter Kolb benannte Studentenwohnheim am Beethovenplatz im Westend einschließlich seines Kellers, in dem es eine Musikanlage gab und man tanzen konnte. Das Haus bot einen sogenannten Vortragssaal, in dem sich die Vertreter des SDS regelmäßig trafen. Eine massive Wolke von Zigarettenrauch schien stets in dem Raum zu hängen, in dem oft bis spät in die Nacht diskutiert wurde. Fast alle 68er in Frankfurt haben Erinnerungen an das Kolb-Heim. Hier gab Studentenführer Krahl seine Marx-Schulungen. Irmelin Demisch, die 1968 dort teilgenommen hat, schwärmt noch heute von diesem Unterricht: »Das war hervorragend.« Im Kolb-Keller darunter wurde getanzt: Es war der ideale Ort, zu flirten und Beziehungen anzubahnen.

Wichtig für die Bewegung sollte auch der erste linke Buchladen in Frankfurt werden, das Libresso im Haus Opernplatz 10, eröffnet im Oktober 1968. Zehn Jahre lang, bis zum Januar 1979, existierte er. Anfangs gab es dort Bücher und Zeitschriften zu kaufen, die im übrigen Buchhandel schwer erhältlich waren. Doch als andere Unternehmen der Gegenkultur entstanden, namentlich der Versand Zweitausendeins mit dem ersten Laden in Frankfurt, hatte es das Libresso immer schwerer.

Bemerkenswert bleibt, wie wenig die etablierte Kommunalpolitik in der Stadt von der Gegenkultur und von den Protesten des Jahres 1968 Notiz nahm. Die Historikerin Bettina Tüffers hat für ihr 2011 erschienenes Buch Von der Römerkoalition bis zur Parteienkonkurrenz die Protokolle der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung 1946 bis 1989 ausgewertet. Sie kommt zu dem Schluss: »In Anbetracht dessen, dass Frankfurt neben Berlin das Zentrum der deutschen Studentenbewegung war, finden sich erstaunlich wenig Anhaltspunkte dazu in den Protokollen der Stadtverordnetensitzungen.« Die gewählten Volksvertreter nahmen lange kaum bis überhaupt nicht zur Kenntnis, was sich da in ihrer Stadt tat. Absolut bemerkenswert.

Aber auch sonst kommt der »offizielle« Umgang mit 1968 teilweise einer Verleugnung gleich. Im Jahre 1994 erschien zum Beispiel die rund 650seitige Geschichte der Stadt Frankfurt, herausgegeben von der Frankfurter Historischen Kommission. Das 1906 gegründete Gremium hat die offizielle Aufgabe, »Quellen und Darstellungen zur Frankfurter Geschichte« zu veröffentlichen. 1994 gehörten der Kommission 25 namhafte Historiker unter dem Vorsitz von Lothar Gall an. Das Kapitel zu »Frankfurt am Main in der Nachkriegszeit und bis 1989« schrieb die Historikerin Frolinde Balser. Die Sozialdemokratin und langjährige Stadtverordnete, die 1976 erste Stadtverordnetenvorsteherin geworden war, widmet dem Bruch von 1968 genau zwanzig Zeilen. Darin heißt es: »Die Probleme der beginnenden Studentenunruhen und die Konflikte infolge der City-Erweiterung ins Westend belasteten von 1968 an die gesamte Stadtpolitik.« Und einige Zeilen danach: »Innerhalb der SPD waren bei all diesen Ereignissen die Sympathien und Aktivitäten meist geteilt, so daß die Konflikte für alle Beteiligten reichlich aufreibend gewesen sind.«

Wir wollen in diesem Buch über das Jahr 1968 in Frankfurt ein wenig ausführlicher werden.

Was in Frankfurt geschahDer Auftakt

Das Jahr der Revolte kam also nicht aus dem Nichts. Langsam baute sich außerhalb der Parlamente Druck auf. Es war das Bekanntwerden der Pläne für die Notstandsgesetze, das in Frankfurt schon vor 1968 für Proteste gesorgt hatte. Am 15. Juni 1965 kamen bei einer ersten großen Demonstration 5000 Menschen zusammen. In dieser Zeit begann Martin Wentz sein Studium der Physik an der Frankfurter Universität. Er war schon 1963, im Alter von siebzehn Jahren, zu Hause ausgezogen, »weil ich die Enge des Elternhauses nicht mehr ausgehalten habe«. Wie viele andere seiner Generation verzweifelte Wentz am Schweigen seines Vaters über die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft: »Mein Vater hat nie über Politik gesprochen.« Erst nach und nach fand der Sohn heraus, dass sein Vater als Kommunist von den Nazis 1933 ins Gefängnis geworfen worden war. Danach zwang man ihn, Mitglied bei der Reiter-SA zu werden. Was wiederum dazu führte, dass er 1945 in der sowjetisch besetzten Zone inhaftiert worden war. Die Familie floh schließlich aus der DDR in den Westen. Die Physikstudenten wie Wentz waren Mitte der 60er »völlig apolitisch«.

Doch zu dieser Zeit begann es in Frankfurt bereits zu gären. Die Gewerkschaften sorgten für Mobilisierung in den großen Industriebetrieben der Stadt. Am 30. Oktober 1966 strömten bereits 30.000 Menschen auf den Römerberg, um dort ihren Widerstand gegen die Notstandsgesetze zu bekunden.

Große emotionale Wirkung bei den Studenten aber löste erst der Tod von Benno Ohnesorg in Berlin aus. Der Student wurde am 2. Juni 1967 vom Polizisten Karl-Heinz Kurras bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schah von Persien erschossen. Die Behörden verschleierten lange die tatsächlichen Umstände seines Todes. Tatsächlich hatte der Polizeibeamte den 26-Jährigen mit einem Pistolenschuss aus kurzer Distanz in den Hinterkopf getroffen, Kurras war dabei völlig unbedrängt gewesen. Er hatte gezielt geschossen. Kurras hatte dagegen behauptet, er sei von einer Gruppe von zehn Personen umringt, verprügelt und mit Messern angegriffen worden. In Notwehr habe er dann von seiner Pistole Gebrauch gemacht, der Schuss auf Ohnesorg habe diesen nur versehentlich getroffen. Obwohl eine große Zahl von Zeugen dieser Darstellung widersprach, wurde der Polizeibeamte in zwei Prozessen wegen fahrlässiger Tötung freigesprochen. Ohnesorgs Vater als Nebenkläger war vom Rechtsanwalt Otto Schily vertreten worden, dem späteren Bundesinnenminister.

Erst im Jahr 2009 stellte sich zweifelsfrei heraus, dass Kurras für die DDR