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Die beeindruckende Reportage über den Weg eines Mädchen zur Dschihad Braut – erzählt von der bekannten Autorin und Journalistin Güner Balci (›Arabboy‹, ›Arabqueen‹). Nimet aus Berlin ist 16, als sie über WhatsApp eines Tages eine Nachricht von Saed erhält, einem jungen Mann aus der Türkei. Übers Internet sind die beiden bald in ständigem Austausch, Saed ist immer für sie da, und irgendwann nennt er sie seine »Frau«. Er ist so anders als die Männer, die Nimet bisher kennt. Sie lässt sich ganz auf ihn und seine Welt ein, ihre Freundschaften zerbrechen. Sie weiß nicht, dass Saed für den IS kämpft. Eines Tages kommt von ihm keine Nachricht mehr. Ein Fremder meldet sich, Nimet müsse kommen. Sie macht sich auf zur türkisch-syrischen Grenze. Güner Yasemin Balci erzählt in ihrer eindrucksvollen Reportage, wie Nimet als Dschihad-Braut angeworben wird und erst im »Kalifat« merkt, dass sie benutzt wurde. Die Geschichte zeigt, warum und wie so viele junge Frauen in den letzten Jahren zum IS gekommen sind.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2016
Güner Yasemin Balci
Nimet aus Berlin ist 16, als sie über Whatsapp eines Tages eine Nachricht von Saed erhält, einem jungen Mann aus der Türkei. Übers Internet sind die beiden bald in ständigem Austausch, Saed ist immer für sie da, und irgendwann nennt er sie seine „Frau“. Er ist so anders als die Männer, die Nimet bisher kennt. Sie lässt sich ganz auf ihn und seine Welt ein, ihre Freundschaften zerbrechen. Sie weiß nicht, dass Saed für den IS kämpft.
Eines Tages kommt von ihm keine Nachricht mehr. Ein Fremder meldet sich, Nimet müsse kommen. Sie macht sich auf zur türkisch-syrischen Grenze. Güner Yasemin Balci erzählt in ihrer eindrucksvollen Reportage, wie Nimet als Dschihad-Braut angeworben wird und erst im „Kalifat“ merkt, dass sie benutzt wurde. Die Geschichte zeigt, warum und wie so viele junge Frauen in den letzten Jahren zum IS gekommen sind.
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[Widmung]
[Motto]
Morgenstern
Die Farbe Schwarz
Leben im Stand-by
Im Märchenzelt
Nachricht von einem Unbekannten
Neue Freundinnen
Geschenk Gottes
Zeit zu beten
Papa-Tage
Wer Allah nicht liebt, ist verloren
Nimets Verwandlung
Der letzte Geburtstag
Ich bin auf Gottes Mission
Allah hat ihn dir geschickt!
Sibels Traum
Er tötet Menschen
Ein Anruf
Reise ins Ungewisse
Was denkst du, wo du bist, Schwester?
Als Jungfrau bekommst du einen Krieger
Die Flucht
Dank
Für Gülistan, Sille & Verdi
Unlike others, I wasn’t dazzled by paradise
with its milk, honey, wines, virgins and youths.
It seemed to me that the pleasure of knowledge
was more important than all of that.
I always wondered why it was not included in the Garden of Eden.
Nawal El Saadawi
Sie würde ihrem Liebsten Himbeereis mit Sahne machen, und wenn es irgendwo in einer staubigen Wüste wäre, denn Himbeereis mit Sahne war es, was er nannte, als sie ihn gefragt hatte, was er gerade wirklich vermisste.
»Dich, meine Prinzessin!« Und wieder hatte sich Nimet in die Wärme seiner Stimme zärtlich eingehüllt gefühlt.
»Und sonst?«, hatte sie zurückgefragt. »Was soll ich dir mitbringen?«
»Manchmal träume ich von Himbeeren mit Schlagsahne in dieser trockenen Landschaft. Von Himbeereis, das mir ein Eisverkäufer anbietet.«
Das war vor einer Woche gewesen, bei ihrem letzten Telefongespräch. Nimet meinte noch, die Vibration seiner Stimme in ihrem Ohr spüren zu können. Sie hatte ein unglaublich gutes Gedächtnis für Gesichter und Stimmen – Namen waren leere Worte, sie vergaß sie fast immer. Nicht aber Saed – sprich es Saiid aus, hatte er bei einem ihrer ersten Telefonate gesagt, ganz sanft, und dabei über sie gelacht, über ihre Schüchternheit, ihre deutsche Aussprache. Gerade als sie es ihm übelnehmen wollte, hatte er beteuert, wie sehr er gerade das an ihr mochte und wie einzigartig sie für ihn war. Seine große Liebe.
Nour hielt die Dose mit den eingelegten Himbeeren in der Hand und schaute Nimet mit hochgezogenen Augenbrauen an. Überflüssiges Gepäck war jetzt eigentlich das Letzte, was sie sich erlauben durfte, das wusste Nimet; Nour würde ganz gewiss noch einmal all die Dinge, die sie bereits in der Nacht zuvor in ihrem Rucksack verstaut hatte, einer peinlich genauen Kontrolle unterziehen. Nur die nötigsten Klamotten, ein Stück Seife für Haare und Kleidung, ein Schweizer Messer, eine Tüte Nüsse, ein faltbarer Wasserkanister, vier Batterien, ein transportables Handy-Ladegerät, die Solartaschenlampe, ein großes Seidentuch. Nimet ging in Gedanken noch einmal die Liste durch, dabei hatte sie sie längst auswendig gelernt. Als Nour sie immer noch, wortlos und die Himbeerdose in der Hand, anblickte, fühlte sie sich wie in der Schule, kurz vor einer Prüfung.
»Sahne?? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein, Nimet, bei der Hitze? Willst du unterwegs Käse produzieren, oder was?«
»Mann, Nour, das ist haltbare Sahne. Hör auf, dich über mich lustig zu machen!«
Nour las konzentriert die kleingedruckte Liste der Inhaltsstoffe auf dem Sahne-Tetrapack. Dann warf sie die Packung, ohne zu zögern, in den Papierkorb, der unter dem Schreibtisch stand.
»Kannste vergessen, ist nicht mal halal. Nimm jede Menge Unterhosen mit, keine Sahne! Wer weiß, wann du wieder was zum Trocknen aufhängen kannst.«
»Bei 38 Grad im Schatten? Da spuckt man doch in die Luft, und es verdampft!«
Als die Sahne im Papierkorb aufschlug, hätte Nimet am liebsten geflucht über Nours autoritäre Art. Sollte sie jetzt ausrasten? Nour endlich einmal so kurz vor ihrem Abschied die Meinung sagen? Dass sie es leid war, ständig das machen zu müssen, was Nour richtig fand? Dass ihre überhebliche Bevormundung sie ankotzte? Dass sie immer geglaubt hatte, sie seien echte Freundinnen, dass aber wahre Freundschaft auch bedeutet, den anderen zu verstehen, selbst dann, wenn man selbst ganz anderer Meinung ist. Aber Nour hielt sich ja für eine Heilige, die Hüterin des Lichts, die Erleuchtung in Person – so albern es klang, so ernst war es Nour damit.
Dabei zeugte schon die Art, wie sie sich das Kopftuch band, von der Überheblichkeit, die Nour auch ihr gegenüber an den Tag legte. Sie zwirbelte ihre langen dünnen Haare auf, beugte den Kopf nach vorne und strich, den Blick zum Boden, mit den Fingern beider Hände vom Nacken bis zur Stirn durch ihre blonde Mähne, warf sie dann mit einer grazilen Kopfbewegung nach hinten, zwirbelte sie wieder auf und drehte sie zu einer Schnecke, die sie mit unzähligen Nadeln an ihrem Hinterkopf festtackerte, um danach das dünne lilafarbene Seidentuch straff wie eine Badekappe um den Schädel zu ziehen und zum Schluss das weiße Leinentuch mit den perlenbesetzten Stickereien kunstvoll festzustecken. Die akkurat gezupften Augenbrauen, ihre schmale Nase und die hohen Wangenknochen machten jedes Make-up überflüssig, und ihre hellen, wasserblauen Augen irritierten jeden Mann schon beim ersten Blick. Nour wusste das.
Im Gegensatz zu ihr kam Nimet sich oft wie eine graue Maus vor. Sie war kleiner, auch nicht so zierlich wie Nour, man sah ihrer Figur an, dass sie einst eine der Besten im Leistungsfach Sport gewesen war. Inzwischen mied Nimet jede Aktivität, die ihre Muskeln noch stärken könnten, denn ihr Körper schien jede Bewegung in Masse umzuwandeln. Eine Frau sollte fein sein, zart und zerbrechlich, das war Nimets Idealbild von Weiblichkeit, ihre Stärke sollte sie in ihren Taten beweisen, nicht durch die physische Ausstrahlung. Nur auf ihre Haare war sie sehr stolz, mit ihrer fetten Mähne konnte Nour nicht mithalten. Und weil die Haare einer Frau ihr wichtigster Schmuck sind, trug Nimet ihre aufgetürmten dunkelrot gefärbten Locken wie eine Krone auf dem Haupt, zumindest immer dann, wenn kein Mann zugegen war.
Nein, sie wusste, es wäre zwecklos, mit Nour zu streiten, denn Nour hatte etwas Verbohrtes, Uneinsichtiges, das meist zu keinem guten Ergebnis führte. Es war nicht das erste Mal, dass sie fast aneinandergerieten. Heute hatte Nimet keine Lust, ihre Energie auf solche »Kinderkacke«, wie sie bei sich dachte, zu verschwenden.
Außerdem, das musste sie zugeben, verdankte sie Nour viel, wer nur die rechthaberische Seite an ihr sah, tat ihr unrecht. Sie war ein schwieriger Mensch, aber sie hatte ein großes Herz. In den letzten Monaten hatte Nour Nimet jeden Tag angerufen, um nachzufragen, ob es ihr gutginge, ob sie etwas brauche, wie sie sich fühle. Weder Nimets Mutter Sibel noch ihre Schwester Dilara und schon gar nicht ihr Vater Ali hatten sich jemals so um sie gekümmert – Nours Fürsorge war außergewöhnlich, genauso wie ihr Nussgebäck. Es braucht Zeit, ermahnte sich Nimet, um den Kern eines Menschen zu erfassen, sein inneres Licht zu erkennen. Nour war so ein Mensch, den man erst auf sich wirken lassen musste. Wenn es stimmt, dass der erste Eindruck, den ein Mensch hinterlässt, der prägendste ist, der Moment, in dem sich ein Urteil über den anderen herausbildet, dann allerdings würden vermutlich nur wenige Nour eine zweite Chance geben. Auch Nimet hatte sie beim ersten Treffen für unausstehlich gehalten.
Das war im letzten Sommer gewesen, in der Aula ihrer Schule. Nour saß mit Cayenne in der Cafeteria, als Nimet nach einem anstrengenden Mathetest dazukam. Sie war sich eines guten Ergebnisses keineswegs sicher und wollte sich eigentlich von ihrer Freundin Cayenne trösten lassen. Cayenne war gut darin, Nimet einzureden, dass Mathe im Leben etwa so wichtig ist wie eine Beinhaartransplantation. Doch noch bevor Nimet sich über die verpatzte Arbeit ausheulen konnte, empfing sie diese schmale, großgewachsene und dominant auftretende Frau, die ihr Kopftuch so straff gebunden trug, dass sie kaum noch den Mund bewegen konnte, mit der Begrüßung: »Und, Schwester, was hast du heute Gutes für Allah getan?«
Wieso fragte diese Frau so etwas? Sie kannten sich doch gar nicht. Und das war sogar erst der Anfang. Nour dominierte in diesen zwanzig Minuten in der Cafeteria das gesamte Gespräch, sie ließ niemanden ausreden und stellte unentwegt Fragen – ein Fernsehprediger hätte das auch nicht aufdringlicher machen können als sie. Wann hast du das letzte Mal deinen Eltern gehuldigt, wie oft tust du etwas für andere Brüder und Schwestern, denen es nicht so gutgeht wie uns, warum verbringst du mehr Zeit mit Schminken als mit der Lektüre der heiligen Schriften, wieso nennst du dich Muslimin und hast noch nie den Koran aufgeschlagen???
Als sie dann auch noch einen zehnminütigen Monolog über Gott und die Welt und den angeblichen Schwindel mit Halal-Zertifikaten in Schulkantinen vom Stapel ließ, wünschte sich Nimet im Stillen, Nour würde den Schleier übers ganze Gesicht ziehen, so sehr nervte sie die hysterische Stimme dieser Frau, die sie zum ersten Mal traf und die sie beim Reden dauernd ganz selbstverständlich am Arm oder an der Schulter anfasste, so als würde man sich schon seit Jahren kennen.
Nours Fragenbombardement war ermüdend. Nur weil Cayenne diese Quatschtante als ihre Cousine vorgestellt hatte, blieb Nimet mit ihrem Kaffee bei den beiden sitzen, aus Respekt vor Cayenne oder, besser gesagt, aus Mitleid. Sie hätte ja jederzeit aufstehen und unter irgendeinem Vorwand gehen können. Aber Cayenne tat ihr leid, sie musste schließlich sitzen bleiben, denn immerhin war Nour ihre Cousine. Verwandtschaft verpflichtet. Und Nimet hatte das Gefühl, Cayenne jetzt nicht im Stich lassen zu dürfen. Also ertrugen die zwei Freundinnen Nours Monolog bis zum Ende der Pause.
Nimet fand sie damals einfach nur ätzend. Und noch heute kam dieses Gefühl gegenüber Nour manchmal in ihr hoch. In solchen Situationen musste sie sich sofort all die guten Seiten ihrer Freundin in Erinnerung rufen, wie sie ihr ihren Kleiderschrank zur Verfügung gestellt hatte und wie oft sie sie beruhigt hatte, wenn Nimet nicht mehr gewusst hatte, wohin mit ihrer Wut über ihre Mutter oder ihre Schwester. Fast jedes Mal, wenn Nour zu Nimet nach Hause kam, ging sie ganz selbstverständlich in die Küche, machte den Abwasch und kochte Tee für alle. Sie wusste, wie man Menschen für sich einnehmen konnte. Wenn also jemand Nour eine zweite Chance gab, so wie Nimet es getan hatte, »dann hast du sie eben auch an der Backe, hast doch selbst schuld«, hatte Dilara mitleidslos gesagt, als Nimet einmal klagte. Nimet aber sah in Nour eine Freundin fürs Leben.
»Nimet, mein Kind, Saed braucht jetzt deine Gebete und deine Wärme, und danach brauchst du unbedingt eine Ganzkörperenthaarung. Wenn ich mir deine Arme ansehe! Das geht so gar nicht! Willst du etwa wie ein Affenkind auf deinen neuen Lebensweg gehen?« Während sie sprach, strich Nour Nimet über die Arme, griff unter den Rock und tastete die Oberschenkel bis zum Schritt ab. Noch bevor Nimet sich dagegen wehren konnte, war Nour mit ihrer Begutachtung auch schon fertig.
»Für den Intimbereich kannst du ja erst mal Gillette nehmen, ich hatte es im letzten Jahr mit IPL gemacht, aber dafür ist es jetzt zu spät bei dir. Musst mal gucken, wie die das drüben machen, ich denke, die müssten auch alles haben, was notwendig ist.«
»Nour, du kennst Saed nicht. Er würde mich auch lieben, wenn ich ein buckliger Krüppel wäre, er ist ein Engel von einem Mann, ganz anders als andere.«
Nour konnte sich das Lachen kaum verkneifen, sie sprach schnell ein »Insallah«, damit Nimet jetzt bloß nicht auf falsche Gedanken kam. Natürlich wollte sie, dass Nimet so über ihren Liebsten dachte, so sollte es sein, bedingungslose Liebe von ganzem Herzen. Aber Nour kannte die Welt der Männer besser, sie wusste, dass Männer Phrasen im Sekundentakt dreschen konnten, um einer Frau zu gefallen, sie kannte die Tricks und Heucheleien und hatte selbst – als sie noch Jacqueline hieß – Erfahrungen gemacht, von denen sie wünschte, dass sie ihr erspart geblieben wären. Ihr ganzes Leben war ein Kampf gegen die düsteren Flecken ihrer Vergangenheit, die sie mit Macht aus ihrer Erinnerung löschen wollte. Sie wollte nicht mehr daran denken, wie ihr Onkel sie häufiger beim Duschen beobachtet hatte, sie wollte vergessen, wie sie nach ihrem ersten Mal eine aufgewühlte und verheulte Nacht im Fahrradkeller verbracht hatte, weil Sven, der nette Junge von nebenan, sie doch nur ausgenutzt hatte und danach zu einer anderen abgerauscht war.
Ihre Kindheit war der reinste Zickzacklauf durch ein Leben voller Gefahren gewesen, bei dem sie ganz auf sich allein gestellt war. Zweimal im Jahr schickte ihr Vater eine Karte, und ihre Mutter dachte viel lieber an sich als an ihre Tochter. So etwas wie ein Zuhause hatte sie höchstens bei ihrer Großmutter. Aber Oma Monika war gestorben, als Jacqueline zwölf war, sie hatte ihr 3000 Euro und eine goldene Uhr hinterlassen, die ihre Enkelin noch immer trug. Die 3000 Euro waren für die Bestattungskosten draufgegangen. Am Abend der Beerdigung hatte es noch einige Absacker in der Lieblingskneipe ihrer Mutter gegeben und rührselige Umarmungen, die nach abgestandenem Zigarettenrauch und alkoholgetränktem Schweiß rochen – für die Enkelin begann an jenem Tag eine lange Zeit der Einsamkeit, die erst ein Ende fand, als sie ihr Leben in die Hand nahm.
Sie war 15, als sie beschloss, eine andere zu werden, eine, die anders war als alle anderen. Sie verließ ihre Mutter, ging zum Jugendamt, ließ sich in eine betreute Mädchen-WG in Kreuzberg vermitteln und legte ihr altes Leben wie einen Mantel ab, den man nach dem Winter im letzten Winkel des Kleiderschrankes verstaut, in der Hoffnung, man bräuchte ihn nicht mehr, auch wenn man genau wusste, dass man ihn irgendwann wieder anziehen musste. Sie konvertierte zum Islam und nannte sich seitdem Nour, was »Licht« bedeutet. Cayenne, die ja eigentlich nur über ihre Cousine spottete, hatte Nimet nach deren erster Begegnung mit Nour die gröbsten Stationen aus Jacqueline-Nours Leben mit einem gewissen Mitgefühl erzählt. Sie hatte sogar Verständnis dafür, dass Nour sich damals unter ihren neuen »Schwestern« gut gefühlt haben musste, von denen niemand ihre Vergangenheit kannte und keiner wusste, dass sie die kleine Jacqueline gewesen war, die niemand ernst nahm, die ihre Erfahrung gemacht hatte, wie es schmeckt, wenn Blut und Rotz im Mund zusammenkommen, weil es ein Leichtes war, Jacqueline immer mal zwischendurch eine aufs Maul zu geben. Sie war allerdings auch nie gut darin gewesen, dem Ärger aus dem Weg zu gehen.
Egal was gewesen war, die widrigen Umstände hatten Nour gestählt, aus ihr eine starke Frau gemacht. In der neuen Gemeinschaft eroberte sie sich bald eine gewisse Autorität. Zu recht, wie Nour fand. Denn auch wenn es eine Sünde war, sie bildete sich ein, vieles besser zu wissen als andere, es war ihre Bestimmung, anderen den Weg zu weisen. Und diese Überzeugung konnte sie einfach nicht verdrängen, wenn so ein Mädchen wie Nimet vor ihr stand, die das Leben noch nicht wirklich kannte, die nicht wusste, wie es war, ganz allein auf sich gestellt zu sein, und die in ihrer Naivität alles durch eine rosarote Brille sah. Jeder musste einen Preis zahlen, auch Nimet würde das nicht erspart bleiben, da war Nour sich sicher.
Es war aber nicht nur dieses Gefühl der Überlegenheit, es war auch ein gewisser Neid auf Nimet, den Nour empfand, weil Nimet jetzt reisen durfte, während sie immer noch warten und ihren Pflichten als treuergebene Dienerin anderer nachgehen musste. Dabei hatte Nour die letzten drei Jahre alles getan, um endlich einen Mann treffen zu dürfen, der mehr war als nur eine Schwärmerei. Seit sie zwölf war und ihre Mutter sie und ihren um einige Jahre jüngeren Bruder Denis während eines Urlaubs bei ihrem Onkel zurückgelassen hatte, sehnte Nour sich nach einer eigenen Familie – auch wenn der Onkel ein Spanner gewesen war. Sie konnte es kaum abwarten, viele Kinder zu bekommen und endlich zu altern, als verheiratete Frau, als Mutter in der Erfüllung ihrer heiligen Pflichten aufzugehen und zu welken. Es war das einzig Richtige, Sinn und Zweck ihres Seins. Aber noch hatte Allah sie nicht auf diesen Weg geleitet. Erst musste sie Nimet noch auf den richtigen Weg bringen.
»Sag mal, Nimet, welchen Account benutzt du eigentlich?«
»Hiba Ash.«
»Okay, dann häng bitte noch was ran, damit du nicht verwechselt wirst, ist immer besser, ’nen langen Namen zu haben.«
»Was soll ich da denn jetzt noch ranhängen?«
»Was weiß ich? Wüstenblume oder so.«
»Ich nehme Morgenstern!«
»Von mir aus auch Weihnachtsmann!«
»Haram!«
Beide mussten lachen.
»Nour, bitte, hör jetzt auf zu denken, sonst kommst du noch auf die Idee, dass ich meine Schweinslederschuhe nicht tragen darf.«
Nour zog die Nase kraus. »Du trägst Schweine an deinen Füßen???«
Nimet blieb so ernst sie konnte und hob betont gleichgültig die Schultern. Es dauerte keine drei Sekunden, bis beide kreischend zu lachen anfingen und Nour schließlich japsend sagte: »Gut, dass uns keiner hört. Zum Glück hat unser Herr bestimmt nichts dagegen, wenn Frauen sich miteinander amüsieren.«
»Er hat aber bestimmt was dagegen, dass ich meine Haare seit einer Woche nicht gewaschen habe.«
»Lass mal sehen.«
Nour packte Nimets Mähne und zog die einzelnen Haarsträhnen auseinander, als würde sie nach Läusen suchen. Dabei riss sie erschrocken die Augen auf, als hätte sie eine ansteckende Krankheit auf Nimets Kopf entdeckt.
»Warum machst du so was, Nimet?«
»Ich will sie glatt haben, das sieht viel geiler aus bei dunkelrot.«
»Mag sein, aber es riecht nicht so geil.«
»Es stinkt aber auch nicht, ein paar Tropfen Parfüm, und alles ist gut. O Mann, ich hab ganz vergessen, das Rosenwasser einzupacken.«
»Das brauchst du nicht, dort gibt es davon so viel, da kannst du dich drin ertränken! Beste Qualität, hab ich gehört. Und ein Lippenstift reicht, nimmt nicht viel Platz weg, und du kannst ihn auch als Rouge für Wangen und Lider benutzen. Nimm den hier, der ist zartrosa, das passt zu deiner Haut.«
Wortlos nahm Nimet den Lippenstift, den Nour ihr hinhielt und quetschte ihn in einen Winkel des vollgestopften Trekking-Rucksacks. Je näher der Abschied rückte, desto größer wurde ihre Trauer. Dabei hatte sie sich so auf alles gefreut, hatte in den letzten Tagen vor Aufregung nicht mehr richtig schlafen können. Und jetzt war er doch da, dieser Kloß im Hals, dieses Unwohlsein im Bauch, das man hat, wenn vieles ungewiss ist und man sich plötzlich in all seinen Entscheidungen ganz allein fühlt. Wäre Saed jetzt bei ihr, hier an ihrer Seite, dann würde sie gewiss nicht trauern und unsicher sein. Klar, auch dann ließe sie etwas zurück, ihre Familie, Nour und noch ein paar andere Menschen, die sie eigentlich zu sehr mochte, um ihnen für lange Zeit den Rücken zu kehren – ja, auch Cayenne gehörte dazu, obwohl sie die inzwischen verloren hatte. Aber mit Saed an ihrer Seite wäre sie stark, alles wäre nur halb so schlimm, es wäre ein gemeinsamer Weg ins Ungewisse. Nimet war ganz in Gedanken vertieft, als Nour ihr plötzlich ein Päckchen hinhielt.
»Mach das bitte erst auf, wenn du weißt, dass ihr beide allein sein werdet. Ich denke, es wird dir gefallen.«
»Die rosa Wäsche von H&M, stimmt’s?«
Nour nickte. »Weißt du, Nimet, manchmal habe ich das Gefühl, dass du ich bist und ich du – kennst du das, wenn man sich einem Menschen ganz nah fühlt, wenn man glaubt, seinen Herzschlag zu teilen? Ich werde dich vermissen, aber ich weiß, dass ich das eigentlich nicht sagen sollte. Ich will dich jetzt nicht belasten, du hast eine wichtige Reise vor dir, du musst jetzt nach vorn sehen, nicht zurück.«
Nimet war überrascht von den Emotionen, die Nour plötzlich zeigte, es rührte sie zu sehen, wie die Freundin mit den Tränen kämpfte. Die ganze Zeit war sie eher genervt von Nour gewesen und auch misstrauisch, weil Nour so kalt, so unnahbar wirkte, wie eine Aufpasserin, nicht wie die Freundin, mit der sie im August noch beim Mitternachtsschwimmen den Sternenhimmel betrachtet hatte. Es war einer dieser Sommerabende gewesen, die man nicht vergisst, alles war so perfekt gewesen. Jetzt drehte sich Nimet zu Nour um, nahm sie in den Arm und drückte sie so fest, dass Nour nicht anders konnte und zu schluchzen begann.
»Lass es raus, Nour, das ist nicht schlimm, das darf man, man muss seine Trauer auch ausleben. Ich habe gestern Nacht so lange geweint, bis mein Kissen so nass war, dass ich ohne schlafen musste. Aber ich glaube, du wirst mich bald besuchen kommen, und dann backen wir wieder zusammen Blaubeermuffins und gucken Horrorfilme – okay?«
Beide verkeilten ihre Finger fest ineinander, schauten sich in die Augen und sprachen zusammen den Eid, der letzten Sommer bei einem Picknick entstanden war, als Nour ihr gesagt hatte, dass Nimet ihr näher stünde als eine leibliche Schwester: »Keine Macht der Versuchung, möge Allah uns recht leiten, Schwester für Schwester, hier und im Himmel, auf ewig. Amin.«
Nimet wischte Nour mit der Spitze ihres Kopftuchs die Tränen aus den Augen, nahm die Liste vom Bett und fing an, noch einmal alles laut durchzugehen.
»… Tabletten gegen Durchfall …, Binden …, OBs … Mist! Ich hab vergessen, Babyflaschen zu kaufen!«
»Es ist jetzt zehn nach acht. In einer Stunde musst du am Flughafen sein. Wenn wir uns beeilen, können wir unterwegs noch schnell in einen Supermarkt, los, yallah, pack ein!«
»Ich hab Dilara nichts gesagt.«
»Ist auch besser so.«
»Kümmer dich bitte um sie, ja?«
»Sag mal, was ist los mit dir? Wirst du jetzt schwach?«
»Nein, nein, alles gut – ich will nicht schwach werden, aber Dilara braucht jetzt Unterstützung. Bitte, steh ihr bei!«
»Deine Schwester ist meine Schwester, deine Mutter ist meine Mutter, ein bisschen anders sieht es bei deinem Vater aus, aber selbst dem würde ich in der Not beistehen. Oder stellst du das in Frage? Lass uns jetzt gehen, das Auto wartet unten.«
Draußen war einer dieser seltenen sternenklaren Winterabende, der richtige Tag, um Abschied zu nehmen. Im Sommer, dachte Nimet, wäre es mir schwerer gefallen. Sie liebte jene heißen Berliner Sommerabende, wenn die Hitze des Tages die Nacht bis in den Morgen warm hält, an denen viele Menschen bis zum Sonnenaufgang draußen waren und mit Freunden zusammensaßen. So wie sie es früher auch gemacht hatte, als sie Nour noch nicht kannte, Gebetszeiten ihr fremd waren und sie gemeinsam mit ihrer damals besten Freundin Cayenne die Nächte in der Kulturbrauerei durchgetanzt hatte. Das war erst ein Jahr her, aber Nimet schien es eine Ewigkeit zu sein. Sie dachte gern an diese Zeit zurück, es waren Erfahrungen, die sie nicht missen wollte, und sie war überzeugt, dass es gut war, all das gelebt zu haben, um diese fehlgeleiteten Sehnsüchte zu überwinden und voll im Glauben, ganz bei Allah anzukommen, ohne das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
Denis, Nours Bruder, wartete bereits mit laufendem Motor in seinem verbeulten Fiat Panda. Er war so abweisend wie immer und würdigte Nimet keines Blickes. Es fühlte sich ungewohnt und gut an, den leichten Wind in den Haaren zu spüren, der Geruch des Pfirsichparfüms, mit dem sie sich das Haar noch einmal ordentlich eingesprüht hatte, bevor sie das Haus verlassen hatten, vermischte sich mit dem abgestandenen Zigarettenrauch in Denis’ Auto.
Nour gab ihrem kleinen Bruder einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf.
»Du solltest dich klüger anstellen, wenn du schon heimlich rauchst! Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, hab sie vor Allah, du Wicht.«
Sie schaute über die Schulter zu Nimet auf der Rückbank, und beide stimmten in ein schallendes Gelächter ein, es war einfach zu komisch, wie dieser kleine Möchtegernmacho Denis zusammenzuckte, wenn seine große Schwester ihm eine Ansage machte. Denis, der für den religiösen Eifer seiner Schwester nur abfällige Bemerkungen übrig hatte, ihr aber trotzdem gehorsam zu Diensten war, wenn sie ihn brauchte, blieb ruhig, drehte sich zu Nimet um und sprach sie direkt an: »Wer etwas zu oft tut, wird daran erkannt; wer albern scherzt, wird dafür gering geachtet. Wer viel lacht, verliert seine Würde. Hat meine Schwester mir neulich vorgetragen. Haste wohl noch nie gehört, was? Schäm dich.«
»Erzähl nichts, wovon du nichts verstehst! Werd erst einmal Muslim, bevor du anderen die Welt erklärst!«, wies Nour ihn zurecht und gab Denis gleich noch einen Schlag auf den Hinterkopf. Der guckte sie nur finster an und fuhr mit quietschenden Reifen aus der Parklücke, so dass Nimet und Nour, überrumpelt von der heftigen Anfahrt, sich in den Sitzen festkrallten.
Seine Blicke waren so direkt gewesen, dass Nimet sich nackt vorkam. Ihre Haare waren ihr Intimbereich, und auch wenn sie Denis nie mit den Augen einer Frau angeschaut hatte, so war er doch ein Mann und sie eine Frau, die nicht miteinander verwandt waren. Es war nicht richtig, dass er sie jetzt so sah, aber es war der Not geschuldet. Allah würde es ihr verzeihen, wie hatte noch der Prediger gesagt? Solange es im Sinne Allahs ist, solange es dazu dient, ihm zu dienen, die Religion zu schützen, die Umma, solange sind auch solche Dinge erlaubt.
Sie konnte jetzt nicht in ihrem Hijab in den Flieger steigen, die Geschichte, die sie sich zurechtgelegt hatte, musste wasserdicht sein. Ein junges Mädchen, das zu ihren Freunden nach Antalya trampt. Sogar ihren kleinen Koran hatte sie zu Hause gelassen, einzig den winzigen silbernen Kettenanhänger, den Nour ihr gegeben und dabei gesagt hatte – »ein Geschenk von Saed, er wollte, dass ich es dir erst jetzt gebe, für die Reise« –, trug sie bei sich, er war ihr Glücksbringer. Alles wird gut, versuchte sie sich einzureden, alles ist richtig. Gleich würde sie im Flugzeug sitzen, die Welt von oben sehen, und in ein paar Stunden, vielleicht auch Tagen, würde sie Saeds Wunden versorgen, ihm Gebete ins Ohr flüstern, seine Lippen mit ihren Tränen benetzen – Tränen der Hoffnung und der Liebe.
Durch das Autofenster ging ihr Blick in die Ferne, die Umrisse Berlins rauschten an ihr vorbei wie eine Kulisse – die Stadt, die bisher ihre Heimat gewesen war, war jetzt ein fremder Ort und Nimet eine Reisende.
In der Müllerstraße mussten sie bei Rot an einer Ampel anhalten. Plötzlich sah Nimet ein bekanntes Gesicht inmitten einer Gruppe türkischer Männer vor einer Dönerbude, Jungs aus ihrer früheren Schule, und zwischen ihnen erkannte sie Cenk, ihren Schwarm aus Schulzeiten. Da stand er, den Kragen seiner dicken Winterjacke hochgeschlagen. Und als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er den Kopf in ihre Richtung, doch noch bevor sich ihre Augen hätten treffen können, schaltete die Ampel von Gelb auf Grün, und Denis gab Vollgas.
Was für ein schöner Abschied, dachte Nimet bei sich. Die klare Abendluft, die Erinnerungen an die Zeit mit Cayenne wachrief, die sie, wenn sie ehrlich war, doch sehr vermisste, und jetzt auch noch Cenk, der Junge mit der Elvis-Tolle, der für Tarantinos Filme brannte und gern türkischen Rock hörte. Cenk, der nie auf eine ihrer WhatsApp-Nachrichten reagiert hatte. Damals hatte sie ihn für den tollsten Typen im Universum gehalten, und jetzt empfand sie gar nichts mehr bei seinem Anblick, nur ein wenig Wehmut. Zufall? Nein, Schicksal. Es war doch der Beweis dafür, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Sie war nicht mehr das kleine dumme Mädchen aus der 10b, sie war eine Frau mit einem Plan für ihr Leben und einem klaren Ziel. Sie war jetzt endlich angekommen.
16 Monate vorher.
Es war keine gute Idee gewesen, den Schreibtisch ans Fenster zu stellen. Nimet hatte ganze zwei Wochen gebraucht, um das zu erkennen. Denn der erhoffte Blick ins Freie endete sechs Meter weiter an der Brandmauer des Nachbarhauses, die, warum auch immer, schwarz getüncht war und den Hof noch dunkler erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Es war der Kompromiss, den sie eingegangen war, als sie das ehemalige Schlafzimmer ihrer Eltern übernahm. Der kleine Wintergarten, der nach vorn hinausging und zum Wohnzimmer gehörte, war in ihren Augen absolut keine Alternative, die piepsigen Stimmen der Soap-Opera-Stars, die sich Sibel, ihre Mutter, am liebsten reinzog, hätten sie wahnsinnig gemacht. Und hell war auch etwas anderes.
Seit sie nach der Scheidung ihrer Eltern in dieser beengten Zweieinhalbzimmerwohnung lebten, bestand Sibel darauf, dass die schweren Außenjalousien den ganzen Tag lang fast ganz runtergelassen wurden, nur einen kleinen Spalt duldete sie, vermutlich, damit sie überhaupt noch etwas von den Tageszeiten mitbekam. Selbst wenn sie arbeiten war, in dieser türkischen Bäckerei, wo sie manchmal bis zu zehn Stunden am Tag Sesamringe knetete, durfte Nimet die Jalousien nicht hochziehen. Einmal hatte sie es doch gemacht, als Sibel unseligerweise früher als erwartet von der Arbeit nach Hause kam und sich tatsächlich furchtbar darüber aufregte, dass die Sonne durch die Scheiben ins Wohnzimmer fiel. Der Grund: Die Fenster waren schmutzig, und das konnten nun alle Nachbarn sehen. Nimet wusste, auch wenn die Fenster sauber wären, würde Sibel das Tageslicht nicht zulassen. Das Abgedunkelte war ein Ausdruck ihres Seelenzustandes.
Nimet googelte sich noch einmal die ganzen Feng-Shui-Ratschläge zusammen, machte sich Notizen und fing an, ihre Möbel neu zu arrangieren. Den Schreibtisch stellte sie so, dass sie daran mit dem Rücken zur Wand saß und in den Raum blickte, das Bett wurde so lange hin und her geschoben, bis das Fußende nicht mehr zur Tür wies, und der Spiegel, der musste ganz weg. Die Kommode hatte sie letzte Woche erst rosa gestrichen und mit Blumenornamenten verziert, jetzt aber störte sie dieses Dekor. Weiß wäre doch besser gewesen, dachte sie, weiß schien Nimet gerade überhaupt die Lösung für alles zu sein, am besten alles hell und freundlich, schlechte Energie in gute umwandeln.
Leider hatte sie die Vorstellung, dass das Zusammenspiel von Möbeln und Räumen eine Harmonie entstehen lassen kann, die Wohlbefinden schafft, erst vor einigen Monaten entdeckt, als sie im Fernsehen zufällig in eine Reportage zappte, die den etwas pompösen Titel trug: »Auf der Suche nach Glück«. Darin wurden Menschen gezeigt, die für sich, jeder auf ganz unterschiedliche Weise, einen Weg gefunden hatten, ihr Leben »glücklicher« zu gestalten. Da war sie hängen geblieben.
Das Porträt der Psychofrau, die ihr Glück darin gefunden hatte, jedes seelische Wehwehchen einer psychoanalytischen Betrachtung zu unterziehen, hatte Nimet dabei weniger zugesagt. Die Vorstellung, ihre Kindheit aus den Tiefen ihrer Erinnerung hervorzukramen, ängstigte sie. Sie wollte lieber Cupcakes backen, sich die Nägel bunt lackieren, Feng-Shui passte da genauso gut wie ein Buttermilch-Lemon-Shake mit frischer Minze – das Leben konnte manchmal schön sein, selbst mit einer nervigen Mutter.
Wäre sie früher auf diesen Feng-Shui-Trip gekommen, hätte sie sich bestimmt keinen schwarzen Schreibtisch gekauft, diese Schwarz-Einkäufe unterliefen ihr immer dann, wenn es ihr nicht gutging. Schwarze Oberteile, schwarze Haarfarbe, schwarzer Nagellack, Cayenne konnte sich dann tagelang darüber lustig machen und nannte sie »kleiner Emo«. Sie spielte damit auf die Jungs und Mädchen aus ihrer Schule an, die sich gern schwarz kleideten und es hip fanden, sich mit angeritzten Armen, Unter- oder Übergewicht und schlechter Laune zur Schau zu stellen.
Sie war gerade dabei, den schweren Spiegel von der Wand zu heben, als die Zimmertür aufging und Dilara mit verheulten Augen, ein Küchentuch an den Mund gepresst, ins Zimmer trat und, noch bevor Nimet fragen konnte, was passiert war, laut zu weinen begann.
»Also doch wieder! Warum machst du das, Dilara? Warum? Reicht es dir nicht endlich? Willst du wirklich so leben?«
Dilara zog den Saum ihres T-Shirts hoch und wischte sich damit Rotz und Blut aus dem Gesicht. Nimets Blick fiel dabei auf ihren geröteten Bauch – Spuren eines Kampfes. Immerhin, sie musste sich gewehrt haben, sonst sähe sie nicht so zerkratzt aus. Allein das war ja schon ein kleiner Fortschritt.
Die Beziehung ihrer Schwester zu diesem »Nichtsnutz« Baran war für Nimet vom ersten Moment an, als sie davon erfuhr, der Beweis dafür, dass es so etwas wie schicksalhafte Fügungen gab. Jungs, die besonders nett, in Dilaras Augen »soft« waren, hatten nie eine Chance bei ihr gehabt – Dilara wollte endlich »einen richtigen Mann« kennenlernen, das hatte sie oft gesagt. Sie meinte damit zwar eigentlich einen, der sich um seine Frau kümmert, immer weiß, wo sie ist und was sie macht – aber Baran verstand unter einem »richtigen Mann« etwas anderes.
Ihre letzte Beziehung zu Jamil, halb Araber, halb Deutscher, war daran gescheitert, dass er keine Lust hatte, sich von Dilara vorschreiben zu lassen, mit welchen Mädchen er reden durfte oder nicht. Ihre nervigen Eifersuchtsanfälle konnten Dilara zu einem Zombie werden lassen, der den eigenen Freund stundenlang heimlich bei der Arbeit in der Eisdiele beobachtete, nur um zu sehen, ob er nicht doch zu nett zu anderen »Weibern« war. Irgendwann flogen ihre Spanner-Aktionen auf, eine Kollegin von Jamil hatte Dilara mehrfach dabei beobachtet, wie diese sich hinter einem Busch versteckte und Jamil mit Argusaugen verfolgte. Natürlich steckte sie das Jamil, der sich daraufhin von hinten an Dilara heranschlich, sich vor sie hinstellte und wortlos mit dem Kopf schüttelte. Und damit war diese Beziehung, die immerhin ganze sechs Monate gehalten hatte, beendet. Jamil wechselte nach diesem Erlebnis kein Wort mehr mit Dilara, und die fiel erst einmal neun Monate lang in Trauer.
»Verlustängste sind was für Schwache«, hatte Nimet ihrer Schwester oft höhnisch zugerufen, wenn sie deren Eifersuchtsanfälle mitbekam, aber sie wusste, dass Dilara immun war gegen solche realistischen Einsichten – warum sonst hockte sie zusammen mit Sibel immer wieder vor diesen türkischen Serien, deren Dialoge und verlogene Geschichten über Liebe, Leid und Intrigen sie mit einem Ernst wiedergab, als handle es sich bei diesen Schmachtfetzen um das wirkliche Leben.
Dilara öffnete vorsichtig den Mund und trat ganz dicht an ihre kleine Schwester heran, Nimet legte den Spiegel aufs Bett, packte ihre große Schwester am Arm und zog sie wie ein kleines unartiges Kind zu sich.
»Guck mal bitte, Nimet, sieht es schlimm aus?«
»Na ja, ich würde sagen, ein Volltreffer. Den hätte mein Zahnarzt auch nicht besser hingekriegt.«
Dilaras unterer Schneidezahn war in der Mitte waagerecht so akkurat angebrochen, dass es aussah, als hätte ihn jemand mit einer Säge durchtrennt.
»Wie hat er das denn hingekriegt?«
Dilara, die, immer noch verrotzt, mit den Tränen kämpfte, schluchzte, ließ ihre Handkante jetzt aber wie bei einem heftigen Karateschlag durch die Luft sausen, so dass Nimet blitzschnell ihren Kopf zur Seite drehen musste, um dem Schlag auszuweichen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und landete so unglücklich auf dem Spiegel, dass dieser krachend in tausend Splitter zerbrach.
Dilara unterbrach ihr Gewimmer und sagte plötzlich stocknüchtern: »Sieben Jahre Unglück für mich, und ich selbst habe das verursacht.«
»Lieber sieben Jahre Unglück, Naturkatastrophen, Pest und Cholera als ein Leben lang Baran. Es gibt nur dieses eine Leben, wann wachst du endlich auf? Das ist keine Liebe, das hat nicht mal annähernd was mit Liebe zu tun, es ist krank, es ist Hass, es ist Selbstaufgabe! Ach, was rede ich eigentlich, ist mir doch egal, wenn du dich so wegwerfen willst! Geh zum Zahnarzt, und dann schick Baran die Rechnung für die Krone, oder lass dir deinen kaputten Zahn in eure Eheringe einarbeiten – als Liebesbeweis!«
»Er liebt mich. Warum sollte er sonst so ausrasten, wenn ich ihm sage, ich mach Schluss?«
»Weil er, genau wie du, ziemlich viel Scheiße im Hirn hat, sonst hätte er schon längst gemerkt, dass deine ständigen Ich-verlasse-dich-Baran-Drohungen keinen Furz wert sind. Du bist so ehrlos, Dilara, aber gut, du bist meine Schwester, ich habe Mitleid mit dir. Und jetzt geh dir bitte das Gesicht waschen, wenn Mama dich so sieht, kann ich den Soda Club gleich wieder vergessen.«
»Ich wusste, dass ich dir nicht vertrauen kann! Du willst nicht, dass ich glücklich bin! Nur weil für dich keiner sterben würde, denkst du, alles an Baran ist schlecht. Stimmt ja, er hat sich manchmal nicht unter Kontrolle, aber er spart jeden Pfennig für unsere Hochzeit, und ich habe ihn provoziert. Eigentlich ist es meine Schuld.«
»Was war eigentlich der Grund, dass du ihn jetzt wieder verlassen wolltest? Hat seine Mutter wieder gestresst? Hat sie wieder einmal gesagt, dass du kein gutes Mädchen für ihn bist?«
Nimet wusste, dass die Abneigung von Barans Familie gegenüber ihrer Schwester eine große Kränkung für Dilara war, wollte sie doch zu gern eine geliebte Schwiegertochter sein. Dabei war sie bereit, vieles dafür zu tun, vermutlich sogar mit ihrer eigenen Familie zu brechen, hätte Barans Mutter ihr nur einmal das Gefühl gegeben, dass Dilara ein angesehenes Mitglied der Familie Türkoglu werden könnte. Doch Dilaras Vorleben hatte sich längst im Viertel herumgesprochen, sie hatte schon mehr als einen Freund vor Baran gehabt, und damit war der Verdacht, sie habe womöglich schon Sex mit einem Mann erlebt, in der Welt. Für türkische Mütter, die ihren Söhnen nur das Beste wünschen, was nichts anderes hieß als ein »sauberes« Mädchen, war sie inakzeptabel, unten durch, bevor sie je die Chance bekommen hatte, ihre Talente als gute Hausfrau und zukünftige Mutter unter Beweis zu stellen.
Für Baran hingegen war die Situation recht komfortabel, seine Mutter drängte ihn nicht zur Heirat mit Dilara, denn sie gönnte ihm den Spaß mit einem Mädchen und empfand es als natürlich, dass Jungen in seinem Alter sich die Hörner abstießen. Dilara konnte in dieser Beziehung keine großen Ansprüche stellen, denn der Faden, an dem ihre Beziehung hing, war ohne den Zuspruch von Barans Mutter ohnehin hauchdünn, und er wusste nur zu gut, dass allein sein Heiratsversprechen, das er in Konfliktsituationen immer mal wieder auffrischte, Dilara das Gefühl gab, den Richtigen gefunden zu haben. Sie wollte ihn nicht verlieren.
Nimet wiederholte ihre Frage noch lauter: »Warum?«
Dilara wurde ernst, man konnte ihr ansehen, dass sie mit sich rang, jetzt lieber nichts zu sagen. Nimet hatte sie mit dieser Frage überrumpelt, eigentlich hatte sie sich nur ein bisschen ausheulen und ihre Wunden lecken wollen. Dann wäre auch schon wieder alles gut gewesen.
»Sag schon, … oder soll ich raten? Er hat gesehen, wie du mit einem anderen Jungen geredet hast.«
Nimet musste lachen, sie konnte einfach nicht anders, in ihren Augen war es so absurd, dass ihre ältere Schwester, die doch Abitur machen und studieren wollte, die gern Krimis las und eigentlich zu intelligent war, um auf türkische Herzschmerz-Musik hereinzufallen, es aber trotzdem tat, weil Baran ständig Arabesk-Lieder im Auto hörte, dass diese Schwester, die lange ihr Vorbild gewesen war, jetzt ein Leben lebte, das tragischer war als eine dieser Daily Soaps aus den Filmstudios am Bosporus.
»Er sagt, er braucht das einfach. Weil er ein Mann ist.«
»So etwas Krankes hab ich ja noch nie gehört! Er muss dich schlagen, weil er ein Mann ist??? Was für ein Wichser, dieser Hu…!«
Noch bevor Nimets Empörung sich weiter in üble Beschimpfungen und Flüche entladen konnte, hauchte Dilara mit heiserer Stimme, fast unhörbar: »Sex!«
»Ich versteh dich nicht. Sex? Er braucht Sex?«
»Er war letztes Wochenende in diesem Club mit Freunden, ich sollte nicht mitgehen, es sollte ein Männerabend werden. Weißt du, dieser Murat und der Mohammed waren auch dabei, diese Zuhältertypen, die jedes Mädchen poppen, das nicht gleich wegrennt.«
Nimet unterbrach ihre Schwester: »Ich glaube nicht, dass Baran besser ist.«
Dilara flippte fast aus: »Was willst du damit sagen, hast du ihn etwa je mit einer anderen gesehen, hä? Wie kannst du so was behaupten? Er sagt mir immer alles, immer …«
Nimet wusste, dass es völlig nutzlos war, Dilara auf die schlechten Seiten ihres Typen hinzuweisen. Es war, als würde man einem Heroinjunkie erzählen, dass Drogen nicht gut für die Gesundheit sind. Völlig zwecklos. Deshalb biss sie sich jetzt lieber auf die Zunge und versuchte, wieder einzulenken. Denn hängen lassen wollte sie ihre Schwester auch nicht. Sie schaute Dilara an und nickte einsichtig mit dem Kopf.
»Na ja«, fuhr Dilara fort, »auf jeden Fall haben die drei sich zusammen eine Flasche Wodka bestellt und sich an einen Tisch gesetzt, um einfach mal unter sich zu feiern, sie wollten halt trinken und labern und so. Aber du weißt ja, wie die Weiber sind, wenn sich da ein paar Jungs ’ne Flasche bestellen, kommen diese Nutten gleich an den Tisch, weil sie denken, guck mal, die haben Kohle und Autos. Diese Weiber machen doch alles für ein Glas Wodka, die gehen sogar mit den Männern zum Ficken aufs Klo …«
»Jetzt übertreibst du aber voll!«
»Nee, nee, Baran hat mir erzählt, dass Mohammed mit so einer Türkin auf Klos verschwunden ist.«
»Echt, ’ne Türkin? Krass!«
»Ja, Mann, was denkst du denn? Denkst du etwa, die sind Engel oder was? Das sind doch die Schlimmsten, vielleicht tragen die tagsüber sogar Kopftuch. Ich sag dir, heutzutage gibt es alles!«
»Ich will das alles gar nicht wissen, ist ja voll widerlich. Und was war mit Baran?«
»Der hat dann auch ein Angebot bekommen. Von der Freundin der Türkin, die hat sich wohl auf seinen Schoß gesetzt.«
Nimets Gesicht glühte vor erwartungsvoller Spannung, sie konnte kaum abwarten zu erfahren, mit welcher Lüge Baran ihre Schwester beschwichtigt hatte, denn für sie stand fest, Baran war auf das Angebot eingegangen, sie war überzeugt, dass der doch nur eins im Kopf hatte: seinen Schwanz irgendwo unterzubringen.
»Er hat sie beschimpft und von seinem Schoß geschubst.«
Nimet musste bei der Vorstellung, dass die Türkin dabei vielleicht sogar mit ihrem dicken Hintern auf dem Boden gelandet war, kreischend auflachen, und für einen Moment stimmte Dilara in das Gelächter ein, weil sie glaubte, Nimet lachte über die Abfuhr, die Baran dieser Frau erteilt hatte. Doch dann stockte sie plötzlich, Nimet lachte einfach zu anhaltend, zu schadenfroh, irgendetwas daran war auch gegen sie gerichtet, das spürte Dilara.
»Glaubst du ihm etwa nicht?«
Nimet wollte jetzt keinen weiteren Fehler machen, nur nicht die Wahrheit sagen, bloß sich nicht verplappern.
»Voll cool von Baran, dass er die Schlampe weggeschubst hat.«
Durch Dilaras geschwollene Lippe schimmerte ein Lächeln.
»Und deswegen hat er dich gehauen?«, wollte Nimet wissen.
»Er meint, so kann das mit uns nicht weitergehen, dass wir keinen Sex haben.«
»Waaaaas??? Jetzt aber mal im Ernst: Ihr habt noch nicht, oder?«
Dilara verzog beleidigt das Gesicht: »Was denkst du eigentlich von mir, wir sind gerade erst drei Monate zusammen. Würdest du gleich mit ’nem Typen schlafen, wenn du gar nicht weißt, ob ihr zusammenbleibt? Es ist doch das Einzige, was ich habe. Wenn ich das jetzt einfach so verschenke, dann kann er alles mit mir machen, verstehst du? Dann wäre ich ihm doch total ausgeliefert!«
»Na, dann machst du doch alles richtig. Was willst du denn? Warum heulst du dann überhaupt?«
»Er will dafür aber mehr Freiheit.«
»Ach, jetzt hab ich verstanden! Er will gerne rumpoppen, und du sollst die Klappe halten und Jungfrau bleiben! Und weil dir das nicht passt, hast du Schluss gemacht, und dafür hat er dir eine reingehauen.«
»Ich kann das einfach nicht!«
Nimet sah ihrer Schwester an, wie verzweifelt sie war und wollte jetzt kein böses Wort mehr über Baran verlieren.
»Komm, Dilara, ich hab noch 50 Euro von Papa. Wasch dir das Gesicht, und dann lass uns ein bisschen bummeln gehen.«
Eigentlich wollte sie ja Cayenne im Soda Club treffen, aber manchmal konnte Nimet einfach nicht anders, als ihrer Schwester ein Angebot machen, das sie eigentlich gar nicht machen wollte. Dilara tat ihr dann leid, ebenso wie Sibel ihr regelmäßig leidtat. In Wahrheit fühlte sie sich unbehaglich dabei, dass sie es war, die die Familie zusammenhielt. Und zu wissen, dass es ihr selbst besser ging als den beiden, hinterließ bei ihr oft ein zweifelhaftes Überlegenheitsgefühl, bei dem sie aufpassen musste, dass es nicht in Verachtung für ihre Familie umschlug.
Ihre Schwester war ein hoffnungsloser Fall, sie konnte doch ohnehin nicht von diesem Typen Baran lassen, sie liebte ihn auf eine bedingungslose, geradezu masochistische Art, wie eigentlich nur Hunde lieben. Im Grunde genommen hatte Baran sogar recht, wenn er sie manchmal einen Hund nannte.
Für Nimet war die Wehrlosigkeit Dilaras, ihre Bereitschaft, sich von diesem Typen immer wieder demütigen zu lassen, ein ständiger Anlass zu Zornesausbrüchen, die sie kaum kontrollieren konnte. Dabei verhielt Dilara sich nur so, wie viele Mädchen in der Nachbarschaft, das Sagen hatten »die Jungs«. Und deren ungeschriebene Gesetze, die das Leben im Viertel bestimmten, ertrug Nimet kaum. Züchtig, das war das Wort der Stunde, die Jungs hatten irgendwann beschlossen, dass ein Mädchen nur dann Respekt verdiente, wenn es sich »züchtig« verhielt. So altmodisch wie das Wort waren auch die damit verbundenen Vorstellungen der meisten Jugendlichen, die Nimet kannte: kein Sex vor der Ehe, alles andere, wie Küssen und Petting, bitte nur mit jemandem, bei dem man sich hundertprozentig sicher sein konnte, dass er der Ehepartner wird. Deshalb war es für alle auch so wichtig, möglichst früh mit dem Sparen zu beginnen, damit das Geld für die Hochzeit rechtzeitig zusammenkam.