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Nach mehreren Jahren verschlägt es die Hauptkommissarin Lina Eichhorn wieder einmal nach Ostfriesland. Im Rahmen einer SoKo der Emder Kripo ermittelt sie in dem grausamen Fall eines tot aufgefundenen Kindes. Wer ist die kleine Tote, und was musste sie erleiden? In welchem Milieu ist der Täter zu finden? Das Verbrechen scheint überregionale Kreise zu ziehen und bringt die örtlichen Ermittler teilweise an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Spannende Unterhaltung wird garantiert.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2021
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„Ems-Sperrwerk in Gandersum“
(Erwin de Buhr, 2021)
Grausiger Fang
Der Fundort
Der Zeuge
Organisatorisches
Joe Kokker
Die Wohnung
Pathologie
Big Boss
Samstagmorgen
Kulturelle Unterschiede
Erinnerungen
Im Flüchtlingsheim
Fragen und Antworten
Familie
Teamwork
Hinweise
Das Ekel
Weitere Befragungen
Reflektionen
Unterstützung
Neue Erkenntnisse
Nachtaufnahmen
Täterspuren
Konfrontationen
Abschlussberichte
Abendessen
Zur Autorin
Epilog
Joke Huismann kratzte sich ausgiebig am Kinn. Das Rasieren hatte er sich heute erspart. Es war sein Männerwochenende. Da stellte er Körperpflege hintenan, weil ihm für gewöhnlich keiner zu nahe kam, den das irgendwie interessierte. Seine Frau Ingrid war wieder einmal für drei Tage zu ihrer alten Mutter gefahren, und er hatte sturmfrei.
Wenn man so lange verheiratet ist, wie wir beide und sich Tag für Tag auf die Nerven gehen kann, ist so ein bisschen Erholung vom anderen auch mal ganz schön, dachte er bei sich. Er warf mit gekonnten Powerwürfen seine Angelköder weit hinaus und machte es sich dann am Ufer der Ems so bequem, wie es eben möglich war. Wie immer angelte er mit zwei Ruten gleichzeitig. Neben ihm griffbereit lag der Kescher, um den Fang vorschriftsmäßig an Land zu hieven.
Im Oktober war das Wetter in Emden schon sehr durchwachsen. Er hatte für warme wetterfeste Kleidung und einen zeltartigen Schutz gesorgt, unter dem er nun sehr zufrieden mit sich und der Welt hockte. Die Fische bissen bei schlechtem Wetter immer besser, als bei Sonnenschein, redete er sich ein. Er war keiner von den ehrgeizigen Anglern, sondern betrieb den Sport nur gelegentlich, um dem häuslichen Einerlei zu entfliehen oder einfach mal seine Ruhe zu haben. Wenn er dann noch einen schönen Leckerbissen für die Pfanne fing, machte ihn das besonders glücklich. Ingrids kritische Augen strahlten jedes Mal vor ehrlicher Freude, und sie war in solchen Momenten richtig stolz auf ihn.
Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und lehnte sich in freudiger Erwartung auf den großen Fang, von dem jeder Angler insgeheim träumt, relaxt zurück. Sein Blick wanderte über das sanft fließende dunkle Wasser bis zum anderen Ufer Richtung Ditzum. Langsam bewegte sich ein größerer Kahn gegen die träge Strömung. Er folgte dem Schiff mit seinen Augen, bis es das Sperrwerk passierte und aus seinem Gesichtsfeld verschwand.
Nun war er wieder allein mit sich und der Natur. Entspannt nahm er die alte grüne Kappe ab und kratzte sich sehr genüsslich die Halbglatze. Sein Freund Enno, ein passionierter Angler, warnte ihn dauernd, der Fischbestand habe sich in den letzten Jahren so verringert, dass es kaum noch Sinn mache, hier zu angeln. Der hatte sich inzwischen ganz auf das Fliegenfischen umgestellt und fischte nur noch im Ausland. Manchmal flog er dafür sogar bis nach Canada.
„Die Ems ist ein verschlickter sterbender Fluss. Die existiert doch nur noch, damit die riesigen Kreuzfahrtschiffe von der Werft in Papenburg auf diesem Weg in die Nordsee gebracht werden können“, hatte er lamentiert. „Ha, Hochwasserschutz soll das sein! Wir hier vor dem Sperrwerk saufen alle ab, wenn tatsächlich mal wieder eine Sturmflut kommt.“ Aber Enno war immer schon so negativ gewesen, und er strebte nach höherem. Trotzdem hielt ihre Freundschaft bereits seit der gemeinsamen Schulzeit. Gute Freunde sind fast das wichtigste im Leben, philosophierte Joke und nahm zur Bekräftigung noch einen tüchtigen Schluck aus der braunen Flasche.
Dann musste er doch mal nach den Angeln sehen! Immerhin hatte er keine Mühe gescheut und sich an der Knock Wattwürmer als Köder ausgegraben. Damit hatte er in seiner Jugend schon wundervolle dicke Aale und manchmal auch einen großen Butt gefangen. Die Leine war natürlich mit Blei beschwert, damit sie mühelos bis zum Grund gelangte.
Als er die erste Angelrute kontrollierte, nahm er eine leichte Bewegung der Rutenspitze wahr. Erfreut machte er sich daran, den frühen Fang einzuholen. Gekonnt drehte er die Rolle, um die Schnur einzuziehen. Das Biest leistete Widerstand! Das schien ja ein gewaltiger Brocken zu sein, den er da an der Angel hatte. Breitbeinig stemmte er seine Füße mit aller Kraft in den weichen Boden. Vielleicht hatte er das Glück einen kapitalen Aal zu fangen. Er beglückwünschte sich für die Eingebung, eine starke Schnur gewählt zu haben, weil die ausgewachsenen Tiere gewaltig Kraft besaßen, und ließ nicht locker.
Da sich die Angelegenheit als ziemlich mühsam herausstellte, kam ihm für einen Moment der Gedanke, dass sich der Angelhaken vielleicht in einem Gegenstand verhakt habe, der auf dem Grund des Gewässers dahintrieb. Manchmal entsorgten Leute bei Nacht und Nebel ihren Müll oder Schrott in der Ems. Hier am Sperrwerk war das besonders einfach, weil man auf einer asphaltierten Straße mit dem Wagen bis zum Parkplatz direkt an der Anlage fahren konnte.
Ihm trat schon der Schweiß auf die Stirn von der Anstrengung. Gleichzeitig musste er vorsichtig agieren, damit die Schnur nicht zerriss. Dann wäre der schöne Fang endgültig verloren.
Schließlich ließ sich die Rolle dann doch einigermaßen drehen. Es ging langsam voran, aber Zeit war ja nicht sein Problem.
„Düvel nomool“, fluchte er vor sich hin. Dabei hielt er die Angelrute mit aller Kraft umklammert, während er allmählich etwas großes Dunkles, das nun keinerlei Widerstand mehr leistete, unterhalb der Wasseroberfläche auf sich zutreiben sah.
Bald erkannte er, dass es sich wohl doch nicht um den Riesenfisch handelte, den er liebend gern als Trophäe mit nach Hause genommen hätte. Der Angelhaken schien sich in einem großen Kleiderbündel festgehakt zu haben. Er bemerkte einen leichten Ärger in sich aufsteigen.
Wieder mal alle Mühe vergeblich!
Nun musste er das Bündel vorsichtig ans Ufer ziehen, um seine Angelschnur und den Köderhaken unbeschädigt davon zu lösen. Mit seinen hohen Gummistiefeln näherte er sich äußerst achtsam dem modrigen Wassersaum. Wenn er nun auch noch aus Ungeschicktheit auf dem glitschigen Schlick ausrutschte und ins Wasser fiele, wäre der Tag für ihn gelaufen!
Das war aber auch ein verdammt großes Bündel. Wie konnten die Leute bloß alles so achtlos in die Natur entsorgen?
Dann fixierte sein Blick die rosa Haarspange!
Feines dunkles Haar fächerte sich in den leichten Wellen auf und bewegte sich sanft in der trüben Brühe. Wie unter einem inneren Zwang stehend, holte er den leblosen Körper unaufhörlich mit der Angel ein. Sein Kopf war vollkommen leer vor Entsetzen. Mechanisch fasste die Hand schließlich das Bündel und hievte es ans Ufer. Die Kleidung hatte sich mit Wasser vollgesogen, aber dennoch benötigte er keine große Kraftanstrengung für die Bergung der Leiche.
Es handelte sich um ein zartes Kind. Ein kleines Mädchen.
Joke begann zu weinen. Das tote Mädchen lag jetzt vor ihm im Ufergras. Es hatte das Gesicht demütig zur Erde gewandt. So als wolle es ihm dadurch ersparen, in die leblosen Augenhöhlen zu blicken und den kleinen verzerrten Mund, der wie zu einem letzten Schrei erstarrt war, mit in seine Träume zu nehmen.
Tränenbäche rannen über sein Gesicht, als er die bleichen Füßchen aus dem Kleidergewirr ragen sah. Die dünnen Arme waren mit einem derben Ledergürtel um den mageren Leib der Kleinen gefesselt. Zarte elfenbeinfarbene Hände standen wie die gebrochenen Flügel eines Engels hilflos zu beiden Seiten ab.
Unter dem haltlosen Schluchzen, während er mit zitternden Fingern den Angelhaken aus dem leichten dunkelblauen Kleidchen löste, dachte Joke immer nur, wie gern er und seine Ingrid eigene Kinder gehabt hätten. Es war ihnen versagt geblieben. Und hier entsorgte jemand ein kleines unschuldiges Mädchen in der Ems!
Es dauerte eine Weile ehe Joke Huismann sich soweit gefangen hatte, dass er vernünftig reagieren konnte. Dann stapfte er mit bleiernen Füßen zurück zu seinem Lagerplatz und suchte sein Handy.
Die Notrufnummer war schnell gewählt. Er stammelte aber immer noch unter Tränen, als er seinen Standort und den Grund des Anrufes nennen sollte. Danach sackte er auf dem Klappstuhl neben seiner Flasche Bier zusammen, als sei alles Leben aus ihm gewichen und kam erst wieder richtig zu sich, als er die Sirene des Polizeiwagens vernahm.
Hauptkommissarin Lina Eichhorn erreichte den Leichenfundort als Letzte. Sie war an diesem Freitagvormittag gleich aus Oldenburg losgefahren, als sie der äußerst dringliche Anruf der Kollegen aus Emden mit der Bitte um Unterstützung erreichte.
Es lag Jahre zurück, dass sie zuletzt bei verschiedenen Sonderkommissionen in ostfriesischen Städten mitgewirkt hatte. Emden war noch nie dabei gewesen. Das Kommissariat war dafür bekannt, dass es sich vorwiegend allein durchschlug oder allenfalls Unterstützung aus Leer anforderte.
Der Dienststellenleiter wollte jedoch in diesem Fall unbedingt eine weibliche Beamtin zur Unterstützung seines Teams haben, und das gestaltete sich offenbar etwas schwierig angesichts der Herbstferienzeit in Niedersachsen.
Linas Tochter Carina war längst erwachsen und hatte selbst Familie, deshalb legte die Hauptkommissarin ihren Urlaub schon lange nicht mehr in die Zeit der Schulferien.
Als sie jetzt, nach einer fast sechzigminütigen Autofahrt, beim Hinweisschild von der Hauptstraße links abbog und auf das beeindruckende Sperrwerk in Gandersum zufuhr, war ihr etwas mulmig, denn sie wusste bereits, dass sie eine Kinderleiche vorfinden würde.
Die, durch einen zermürbenden Baustellenstau auf der Autobahn bei Bad Zwischenahn und den Ferienverkehr Richtung Küste, ungewöhnlich anstrengende Fahrt hatte ihre Nervosität noch gesteigert, und sie fühlte sich ein wenig überfordert, als sie dem Dienstwagen entstieg. Langsam zog sie ihre warme Jacke über, denn der Wind blies kühl und feucht von der Ems über den ungeschützten Parkplatz und ließ sie leicht erschaudern. Während sie den Reißverschluss fast bis zum Kinn hochzog, betrachtete sie aus einiger Entfernung die bereits fleißig bei der Arbeit befindlichen ostfriesischen Kollegen.
Sie strich ihre widerspenstig im Wind flatternde lockige Haarmähne zurück und schritt, forscher als sie sich fühlte, auf die Gruppe zu.
Ein jüngerer Polizeibeamter in Uniform kam sofort eifrig angelaufen, um sie an der Absperrung aufzuhalten. Routiniert zog sie ihren Dienstausweis aus der Jackentasche und stellte sich kurz vor. Er ließ sie daraufhin freundlich passieren.
Als sie zu dem weißen Zelt kam, das über der Kinderleiche aufgespannt war, traf sie auf die Leute von der Spurensicherung und zwei Beamte von der Kriminalpolizei aus Emden.
„Ach, Sie sind dann sicher Hauptkommissarin Eichhorn, unsere freundliche Unterstützung aus Oldenburg!“, kam ein älterer untersetzter Mann auf sie zu. Er grinste sie kurz an, zog dann seinen Kollegen, der ihn um mindestens zwanzig Zentimeter überragte, unwirsch aus dem Zelteingang und stellte sie beide vor: „Das ist Hannes Küpper, und ich bin der kommissarische Dienststellenleiter Andreas Pantekook. Wir freuen uns sehr, dass Sie endlich da sind. Es ist ein wirklich grausiger Fund. Und wir sind für jede Hilfe dankbar, bei der Unterbesetzung, die im Augenblick herrscht.“ Sein Gesicht wirkte jetzt eingefallen und blass. Lina sah ihm die Überarbeitung förmlich an. Sie konnte nicht verhindern, dass ein tiefes Mitgefühl in ihr aufstieg, als sie die kalten Hände der Kollegen schüttelte und sie freundlich begrüßte.
„Wir sind jetzt hier fertig. Das Kind kann abtransportiert werden. Die genaue Untersuchung in der Pathologie wird natürlich etwas dauern. Dass es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, scheint ja offensichtlich. Das Mädchen wird sich sicherlich nicht selbst gefesselt haben und dann in die Ems gesprungen sein. Wir werden Ihnen natürlich schnellstens akribische Ergebnisse liefern und dadurch jegliche Unterstützung bei der Aufklärung dieses perfiden Verbrechens zukommen lassen“, wandte sich der ganz in Schutzkleidung gehüllte Gerichtsmediziner in etwas gestelzter Sprache an die Beamten, als er in diesem Moment aus dem Zelt kam.
„Einen schönen Tag brauche ich Ihnen ja sicher nicht zu wünschen“, fügte er betreten hinzu. „Es gibt Fälle, die können selbst wir Pathologen nicht so einfach abschütteln.“ Er ergriff seinen Koffer und schlich davon, als laste ein bleiernes Joch auf seinen Schultern.
Jetzt hielt Hauptkommissar Pantekook den Eingang des Schutzzeltes offen, damit seine Kollegin aus Oldenburg ebenfalls einen ersten Blick auf die Kinderleiche werfen konnte.
Das tote kleine Mädchen war sehr zierlich. Die Haut wirkte unnatürlich bleich und wächsern. Sie bildete einen harten Kontrast zu dem langen schwarzen Haar, das fast bis zum Po reichte und das einzig Üppige an der winzigen Gestalt darstellte. Der leere Zinksarg stand offen da. Die Kleine lag immer noch auf dem feuchten Gras des Emsufers. Der Arzt hatte sie während der ersten Untersuchung in die Rückenlage gebracht.
Lina hatte schon vieles in ihrem langen Leben im Kampf gegen das Verbrechen gesehen, aber der trostlose Anblick dieses toten Kindergesichtes ließ sie vor Entsetzen erstarren.
Während sie wie ferngesteuert die Schutzhandschuhe ganz mechanisch überstreifte, damit sie keine genetischen Spuren an der Toten hinterlassen konnte, kämpfte sie die Tränen nieder. Die toten Augen schienen jede ihrer Bewegungen zu verfolgen. Der kleine Mund, in dem einige Zähnchen fehlten, war in einem letzten Krampf zu einer verzerrten dunklen Öffnung entstellt. Lina spürte innerlich den Nachhall des finalen Schreies, der alle Angst und Verzweiflung des kleinen Mädchens vergeblich in diese so grausame Welt geschleudert haben mochte.
Die Hauptkommissarin fühlte die große Verantwortung, die nun auf ihr lastete, wie eine schwere Bürde. Sie blickte in die gebrochenen Augen, die von unfassbar seidigen dichten Wimpern umrahmt waren. Die schwarzen Härchen bargen noch immer einige glänzende kleine Wassertropfen. Wie Tränen krochen sie nach und nach über die bleichen Wangen, um verloren im dichten Haarschopf zu versickern.
Während die Hauptkommissarin sich schweigend und mit großer Behutsamkeit der Kinderleiche näherte, um die Kleidung, den Ledergürtel, die Haarspange und Hände und Füße genauer in Augenschein zu nehmen, ließen die beiden Kollegen sie ohne ein Wort gewähren. Das entsetzliche Verbrechen schien ihnen die Sprache verschlagen zu haben.
„Wer hat das Mädchen gefunden?“, fragte Frau Eichhorn schließlich in die beklemmende Stille hinein. Und ihre eigene Stimme erschien ihr dabei seltsam fremd und blechern.
„Ein Angler hier aus der Gegend hat sie am Haken gehabt. Er heißt Huismann und war so verstört, dass wir ihn nach einer ersten Befragung nach Hause geschickt haben. Küpper hat die Adresse aufgeschrieben.“
„Ja, gut! Ich muss mich auf jeden Fall nochmal mit ihm unterhalten. Jetzt lassen wir das arme Kind erst einmal abtransportieren. Je eher sie in der Gerichtsmedizin auf dem Tisch liegt, umso früher erhalten wir die Ergebnisse der Untersuchungen.“ Frau Eichhorn richtete sich auf, streifte die Einmalhandschuhe ab und schritt zügig aus dem Zelt in die frische Nordseeluft. Während die Kollegen sich darum kümmerten, dass man die kleine Leiche ordnungsgemäß einsargte und der Pathologie zuführte, bewegte sie sich einige Schritte vom Fundort weg und sog die kühle Luft in ihre Lungen.
Vor ihr ragte das Sperrwerk der Ems auf. Sie hatte es kürzlich im Fernsehen gesehen, als in den Nachrichten die Überführung eines Kreuzfahrtschiffes von der Werft in Papenburg über die Ems bis in die Nordsee gezeigt wurde. Das Schiff hatte riesig und grotesk die schützenden Deiche überragt, die von Schaulustigen dicht bevölkert waren.
Die Passage durch das Emssperrwerk war jedes Mal Präzisionsarbeit und erfolgte nach genauer Abwägung aller natürlichen Faktoren, wie Gezeiten sowie Windstärke und –richtung, im Zeitlupentempo. So konnten die Bewunderer dieser Kreuzfahrtriesen sie aus nächster Nähe ganz genau bestaunen und fotografieren. Ihr war bekannt, dass sich daraus eine beliebte Tourismusattraktion entwickelt hatte.
Nun lag das Sperrwerk aber eher unspektakulär vor ihr, auch wenn es hier an der Ems ein recht beeindruckendes Bauwerk darstellte. Der Fluss strömte träge dahin, gelegentlich von kleinen Wellen gekräuselt. Graue Wolken hatten sich darüber zusammengeballt. Sie konnte das andere Ufer ohne Schwierigkeiten ausmachen. Ein Kirchturm überragte eine kleine Ansiedlung von Häusern. Sonst wirkte die Gegend zu beiden Seiten eher landwirtschaftlich genutzt.
„Frau Kollegin“, wurde die Hauptkommissarin nun aus ihren landschaftlichen Betrachtungen gerissen, „wir wären dann hier soweit fertig. Die Leute von der Spusi haben alles ringsum abgesucht. Hier gibt es leider keine Reifenspuren. Sie haben ja sicher gesehen, dass die Straße zum Sperrwerk ganz normal befestigt ist. Da halten auch dauernd irgendwelche Leute an, zumal es dort eine öffentliche Toilette gibt.“ Hauptkommissar Pantekook deutete frustriert in Richtung Sperrwerk.
„Ja, ich dachte mir schon sowas. Der Fundort wird auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Tatort sein. Sobald wir wissen, wie lange die Kleine im Wasser gelegen hat, können wir die Bevölkerung um Mithilfe bitten. Wenn hier so eine rege Fluktuation herrscht, hat vielleicht jemand was beobachtet. Eventuell gibt’s sogar Überwachungskameras?“ Frau Eichhorn sah ihren Kollegen forschend an.
„Das wäre natürlich möglich! Wir müssen mit den Leuten dort reden. Soll ich Hannes Küpper sofort hinschicken, während wir zur Dienststelle fahren?“, bot der Kollege an.
„Das ist keine schlechte Idee. Heute wird da doch sicherlich gearbeitet. Wir brauchen auch die Dienstpläne der Angestellten und Namen von Besuchern, der - “, sie dachte einen Moment nach, „letzten zwei Tage. Länger lag das Mädchen bestimmt noch nicht in der Ems, so wie der Leichenzustand wirkte.“ Der Kollege aus Emden nickte dienstbeflissen, dann winkte er den jungen Mann heran, um ihm die Instruktionen zu erteilen.
Anschließend gingen Frau Eichhorn und Andreas Pantekook zum Parkplatz hinauf.
„Können wir mit Ihrem Wagen fahren?“, fragte Pantekook freundlich. „Denn sonst kommt Hannes nicht zurück nach Emden. Die von der Spusi sind auch gleich weg, und die haben ja auch einen anderen Weg.“
„Selbstverständlich, Herr Pantekook, aber ich möchte gern erst ein paar Worte mit dem Angler wechseln, der das Kind gefunden hat. Sie sagten doch, dass der aus der Gegend ist und sie die Adresse notiert haben.“
„Klar, das ist hier ein paar Straßen entfernt in Petkum. Da kommen wir sowieso vorbei. Aber nennen Sie mich doch einfach Andreas. Wir arbeiten ja jetzt eine Weile eng zusammen, da kann man sich die Formalitäten doch sparen.“ Er sah sie etwas unterwürfig von der Seite an. Lina vermutete, dass er befürchtete, sie könne sein Angebot ablehnen.
„Ja, schön, dann nennen Sie mich Lina. Wir wollen hoffen, dass unsere Zusammenarbeit von schnellem Erfolg gekrönt sein wird. Auch wenn ich nichts dagegen habe, nach langer Zeit mal wieder mit ostfriesischen Kollegen zu arbeiten.“ Sie lächelte ihn freundlich an, während sie die Fahrertür öffnete und ihm ein Zeichen gab, ebenfalls einzusteigen.
Petkum war ein Stadtteil von Emden, wirkte aber auf Lina Eichhorn wie ein eigenständiges kleines Dorf. Es besaß eine schöne Kirche, einen eigenen Friedhof und eine Grundschule. Geschäfte gab es leider, wie in vielen dieser kleineren Ansiedlungen, nicht mehr aber immerhin noch eine Bäckerei, eine Bankfiliale und ein, zwei Kneipen beziehungsweise Restaurants.
Nach Anweisung ihres Emder Kollegen bog die Hauptkommissarin von der Hauptstraße in eine neuere Siedlung ab und hielt schließlich vor einem sauberen kleinen Bungalow in einer Sackgasse. Die Straßen hatten hier klangvolle Blumennamen und unterschieden sich nicht sehr voneinander. Die vorbildlich gepflegten Vorgärten waren von gerade geschnittenen niedrigen Hecken oder kleinen ordentlich gestrichenen Holzzäunen umgeben, die zu sagen schienen, dass hier niemand was zu verbergen hatte.
Die beiden Kollegen auf Zeit entstiegen dem Dienstwagen und näherten sich dem Haus. Gegenüber meinte Lina bereits eine Gardine in neugieriger Bewegung wahrzunehmen. Hier wurde jeder Fremde sofort ausgiebig beäugt und taxiert, da war sie sich ganz sicher.
Für polizeiliche Ermittlungen waren derartige Wohnverhältnisse von großem Vorteil. In solchen gewachsenen Dörfern gab es meistens keine Geheimnisse untereinander. Man musste bei Ermittlungen nur das Glück haben, auf auskunftsfreudige Nachbarn zu stoßen, ging ihr durch den Kopf.
Während die Hauptkommissarin noch ihren Gedanken nachhing, hatte sich auf das energische Klingeln ihres Kollegen die Haustür bereits geöffnet. Vor ihnen stand ein verstörter Joke Huismann. Er war noch immer bleich vom Schock, seine stark geröteten Augen huschten hilflos zwischen den beiden Beamten hin und her. Schließlich schien sein Gehirn Pantekook zu erkennen, mit dem er am Sperrwerk bereits gesprochen hatte.
„Moin! So, kommen Sie doch rein“, stammelte er und ließ die Kriminalbeamten eintreten.
„Ich hab meine Kollegin, Frau Hauptkommissarin Eichhorn aus Oldenburg mitgebracht. Sie möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen, wenn wir nicht ungelegen kommen.“ Andreas Pantekook sprach leise und sanft mit dem Zeugen. Lina hätte dem Kollegen so viel Einfühlungsvermögen gar nicht zugetraut. Sie hatte bereits registriert, dass der Zeuge noch immer unter Schock stand.
Huismann hatte sich noch nicht umgezogen. Nur seine grüne Kappe und die Gummistiefel lagen unordentlich unter der Garderobe im Flur. Er lief auf dicken Socken, die feuchte Fußabdrücke auf den dunklen Bodenfliesen hinterließen, während er die Beamten in die Küche führte. Dort wirkte alles sehr sauber und aufgeräumt. Das schnurlose Telefon lag griffbereit auf dem Tisch. Daneben stand eine leere Bierflasche, die der Mann jetzt eilig in die Spüle stellte.
„Leben Sie hier allein, Herr Huismann?“, fragte Frau Eichhorn besorgt.
„Nein, mit meiner Frau. Aber sie besucht an diesem Wochenende ihre Mutter in Hamburg. Was wollen Sie mich denn noch fragen? Ich hab doch schon alles erzählt.“ Joke Huismann ließ sich kraftlos auf einen der Küchenstühle sinken und starrte die Hauptkommissarin aus blutunterlaufenen Augen an.
„Das ist alles nur Routine, Herr Huismann, machen Sie sich darüber keine unnötigen Gedanken! Ich glaube, das schreckliche Erlebnis hat Sie gewaltig mitgenommen. Kann Ihre Frau vielleicht den Besuch abbrechen, damit Sie hier nicht allein sind? Oder gibt es jemanden, den Sie bitten könnten, Ihnen beizustehen?“ Lina Eichhorn hatte ebenfalls am Küchentisch Platz genommen und versuchte den Zeugen nicht noch mehr aufzuregen. Er schien ein sehr empfindsames Gemüt zu besitzen.
„Ich hab schon mit Ingrid telefoniert. Sie will bis heute Abend zurück sein, damit ich in der Nacht nicht allein bin“, erklärte er bedrückt.
„Könnten Sie so lieb sein, und mir nochmal wiederholen, wie sie das tote Mädchen gefunden haben? Und was Sie danach genau gemacht haben, bis die Polizei eingetroffen ist. Ich schalte das Aufnahmegerät ein, wenn es Ihnen recht ist. Das ist für mich einfacher, als ein Protokoll zu führen“, verdeutlichte die Hauptkommissarin freundlich.
Lina Eichhorn ließ den verstörten Mann stotternd noch einmal wiederholen, wie er die Kinderleiche gefunden und aus dem Wasser gezogen hatte. Sie stellte keine Zwischenfragen, um Huismann nicht aus dem Konzept zu bringen. Als er geendet hatte, nickte sie ihm freundlich zu und sagte: „Sie haben uns wirklich sehr geholfen und alles vorbildlich gemacht. Überlegen Sie aber bitte nochmal ganz genau, ob sie das gesamte Bündel genauso an Land abgelegt haben, wie sie es aus dem Wasser gezogen hatten. Sind nicht etwa Teile der Kleidung oder Haarschmuck zum Beispiel, abgefallen und im Wasser geblieben?“