Die Frau des Quacksalbers - Marion Scheer - E-Book

Die Frau des Quacksalbers E-Book

Marion Scheer

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Beschreibung

Hauptkommissarin Lina Eichhorn aus Oldenburg ermittelt als Leiterin einer Soko in der Herrlichkeit Dornum. Die Gattin eines Arztes wurde erstochen in der Praxis aufgefunden. Handelt es sich um einen Lustmord oder um eine Eifersuchtstat des flüchtigen Ehemannes? Die Ermittlungen der charmanten Kriminalistin in der typisch ostfriesischen Kleinstadt sind kurzweilig und von unerwarteten Hindernissen begleitet.

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Zur Autorin

Marion Scheer wurde 1952 in Düsseldorf geboren. Im Anschluss an eine Banklehre und einige Jahre als Sachbearbeiterin bei einer Düsseldorfer Großbank, studierte sie Mathematik, Geografie und Geschichte auf Lehramt. Sie lebt und arbeitet seit fast vierzig Jahren an der ostfriesischen Nordseeküste und ist mehrfache Mutter und Oma. Solange sie schreiben kann, betreibt sie in ihrer Freizeit die Schriftstellerei. Dabei verarbeitet sie vorwiegend tatsächliche Begebenheiten und Erlebnisse zu Fantasiegeschichten. Leider verhinderten mehrere schwere Schicksalsschläge, dass ihre Romane schon früher veröffentlicht wurden.

Heute lebt die Schriftstellerin mit ihrem jetzigen Ehemann zurückgezogen in der Nähe von Emden.

Kontakt: [email protected]

Kapitelübersicht:

Unterwegs

Der Empfang

Das Quartier

Der Tatort

Teamwork

Familienprobleme

Untersuchungen

Hilfsbereite Nachbarn

Routinearbeit

Klatsch und Tratsch

Befragung

Im Fischladen

Cafébekanntschaft

Erstes Resümee

Verdachtsmomente

Mordkonstruktionen

Veränderungen

Tante Frieda

Spuren im Schnee

Feierabend

Spaziergang am Meer

Zahnschmerzen

Der Hauptverdächtige

Nachtgedanken

Komplikationen

Stadtführung

Stein des Anstoßes

Zweisamkeit

Das Geständnis

Abschluss

Epilog

Unterwegs

Der Zug schien sich über die Strecke von Oldenburg nach Norden zu quälen. Jedenfalls empfand es Lina Eichhorn so. Sie fuhr selten mit der Bahn, streng genommen nur einmal im Jahr, wenn sie ihren regelmäßigen Winterurlaub in der Schweiz antrat. Dann ging es aber in die südliche Richtung, und sie war bester Laune, weil ihr eine wundervolle Zeit der Entspannung bevorstand. Außerdem wurde sie auf diesen Reisen gewöhnlich von ihrer munteren Tochter begleitet, die während der Fahrt keine Langeweile aufkommen ließ. Inzwischen war aus dem niedlichen kleinen Fratz eine selbstbewusste Achtzehnjährige geworden, die bereits ihren eigenen Führerschein besaß.

Und genau das war der eigentliche Grund, weshalb Hauptkommissarin Eichhorn an diesem frostigen Dezembermorgen in einem leeren Eisenbahnabteil saß und Richtung Nordseeküste tuckerte. Ihre Tochter Carina benötigte das Auto.

Frau Eichhorn sah seufzend aus dem Abteilfenster. Die Landschaft war flach und öde. Weiße Fetzen eines allzu frühen Wintereinbruches überzogen die abgegrasten Weiden und die umgepflügten Felder. Nur hie und da hatte eine kahle Baumgruppe sich behaupten können. Der Himmel hing bleiern über der tristen Szenerie. Das richtige Wetter für Depressionen! Die resolute Hauptkommissarin beschloss entschieden gegen die aufkommende emotionale Verstimmung anzugehen und zog etwas unwirsch eine Akte aus ihrer Reisetasche.

‚SoKo Dornum‘ stand auf dem grauen Pappdeckel. Man hatte sie zur Leiterin einer Sonder-Kommission ernannt, die einen Mordfall in der Herrlichkeit Dornum aufklären sollte. Über den Fall ließen sich erste Informationen aus den Berichten der örtlichen Polizei entnehmen.

Eine fünfunddreißigjährige Frau, in kinderloser Ehe mit einem Arzt verheiratet, war das Opfer. Der seit der Tat flüchtige Ehemann wurde als Hauptverdächtiger bezeichnet. Da er gebürtiger Grieche war, lag die Vermutung nahe, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Die internationale Fahndung nach ihm lief bereits auf Hochtouren. Die Obduktion-Ergebnisse standen leider noch aus. Aber der Leichenbeschauer hatte bereits festgestellt, dass die Frau erstochen worden war.

So weit die Fakten.

Lina Eichhorn betrachtete die beigefügten Fotos vom Tatort. Die Tote lag nur mit einem leichten Nachthemd bekleidet auf dem gefliesten Fußboden der Arztpraxis. Die brutalen Einstiche hatten das zarte hellblaue Bekleidungsstück total zerfetzt und blutdurchtränkt. Da hatte jemand mit brutaler Gewalt oder blinder Wut zugestochen. Auffällig war, dass das Gesicht der Leiche völlig entspannt und ätherisch wirkte — wie das eines Engels. Es musste zu Lebzeiten eine sehr schöne Frau gewesen sein.

Dabei stellte die Kriminalbeamtin wieder einmal erstaunt fest, wie traurig und wütend sie der gewaltsame Tod eines Menschen immer noch machte, obwohl die Beschäftigung mit derartigen Verbrechen seit fast zwanzig Jahren Routinearbeit für sie bedeutete. Doch mit Mord konnte und wollte sie sich nicht kühl und gelassen beschäftigen!

Sie schloss die Akte und blickte abermals aus dem Fenster. Der Zug ratterte gerade an einer kleinen Ansiedlung vorbei. Die roten Klinkerhäuser mit ihren weit heruntergezogenen Dächern und den weißen Sprossenfenstern vermittelten den ersten Eindruck von Ostfriesland. Sie schienen sich wie Zwerge mit übergroßen roten Zipfelmützen förmlich in die ebene Landschaft zu ducken, um gegen Wind und Wetter besser geschützt zu sein. Eine große Gruppe mächtiger Windräder, die kurze Zeit später das Auge fesselte, wirkte als versuche sie mit ihren gleichmäßig drehenden riesenhaften Propellerflügeln den düsteren Himmel anzukratzen und sein strahlendes Blau zum Vorschein zu bringen.

Ein grüner Traktor quälte sich in langen wie mit dem Lineal gezogenen Reihen über eine Anbaufläche von beachtlicher Größe. Dahinter scharrten und pickten weiße Möwen und große pechschwarze Krähen in dem frisch gepflügten feucht glänzenden Ackerboden nach Fressbarem.

Die Gedanken der Hauptkommissarin schweiften ab. Was mochte sie in Dornum erwarten? Sie kannte weder den kleinen ostfriesischen Ort, noch die dort auf sie wartenden Kollegen persönlich.

Aus anderen derartigen Einsätzen wusste sie aber bereits, dass sie in solchen Fällen meistens als Eindringling betrachtet und auch behandelt wurde. Ihr einziger Vorteil war, dass sie es als Frau verstand, ihren Charme spielen zu lassen. Wenn sie den männlichen Kollegen die Möglichkeit gab, sich wie Gentlemen zu benehmen, hatte sie meist schon gewonnen. Sie versuchte Unterlegenheitsgefühle bei den Beamten vor Ort gar nicht erst aufkommen zu lassen, indem sie sich anfangs etwas hilflos anstellte. Später hatte sie dann gewöhnlich die Lage voll im Griff.

"Wenn andere dich unterschätzen, werden sie unvorsichtig und geben sich Blößen. Du bekommst dadurch die Gelegenheit, eine Situation in aller Ruhe realistisch zu beurteilen und dir deine Strategie zurechtzulegen. Später, wenn du zu voller Form aufläufst, kannst du sie immer noch mit deiner überlegenen Geistesschärfe überflügeln und gegebenenfalls routiniert zur Strecke bringen", bremste ihr Vater sie oft. Er war selbst Polizeibeamter gewesen und betätigte sich noch heute gern als ihr heimlicher Ratgeber.

Im Augenblick ging es ihm gesundheitlich nicht gut. Frau Eichhorn fürchtete, dass sein Herz zu schwach war, um ihn nach der abklingenden Infektionskrankheit wieder auf die Beine zu bringen. Glücklicherweise war Carina sehr verlässlich. Sie würde sich während ihrer Abwesenheit liebevoll um den Großvater kümmern, da konnte die Hauptkommissarin ganz beruhigt sein.

Trotzdem war sie es im Grunde ihres Herzens nicht. Sie hatte sehr früh ihre Mutter verloren und hing nun mit zärtlicher Liebe an ihrem alten Vater. Ihn innerlich loszulassen, war ihr bis jetzt nicht gelungen. Und sie ahnte, dass sein Tod ein brennendes Loch in ihr Herz reißen würde.

Um sich abzulenken, wendete sie ihre Gedanken erneut dem aufzuklärenden Mordfall zu. Ihr Verbindungsmann in Dornum war ein Kommissar Menke. Sie hatte am Vortag schon kurz mit ihm telefoniert. Er sprach mit leicht ostfriesischem Akzent und hörte sich nicht gerade teamwillig an. Aber davon ließ sie sich erst einmal nicht abschrecken. Außer ihm würde es bestimmt noch eine Reihe anderer freundlicher oder wenigstens dienstbeflissener Kollegen vor Ort geben.

Der Zug fuhr ratternd in den Norder Bahnhof ein. Von hieraus sollte es mit dem Bus weitergehen, da Dornum keinen eigenen Bundesbahn-Anschluss besaß.

Frau Eichhorn schleppte ihre vollgepackte Reisetasche zum Bahnschalter in der ungemütlichen kalten Halle, um sich nach der Weiterfahrt zu erkundigen. Der rotblonde Ostfriese hinter der Scheibe strahlte sie mit freundlichem Lächeln an. Wahrscheinlich war es ihm langweilig hier ganz im Norden fast auf verlorenem Posten. Im Winter gab es nur wenige Touristen, die seine Dienste in Anspruch nahmen. Er schien wirklich erfreut über die kleine Ablenkung, kratzte sich umständlich am Kopf und fletsche mehrfach seine bräunlichen schiefen Zähne, bevor er umständlich zur Sache kam.

"Moin, Moin! No Dornum wüllen Se? Is en mojes Fleckchen! De Bus fährt als in fiev Minuten, pünktlich Klock tein. Do achtern!"

Er deutete in die Richtung der Haltestelle. Lina Eichhorn bedankte sich höflich. Sie hatte verstanden, obwohl das Hochdeutsch des Mannes stark zum Platt hin verzerrt war.

"Beste Erholung denn ook!", rief ihr der Beamte noch hinterher, als sie die Halle verließ.

Die feuchte Kälte schlug ihr unangenehm entgegen. Eine kleine gemütliche Kaffeepause wäre jetzt das richtige gewesen, aber dazu war hier weder Zeit noch Gelegenheit.

Das Bahnhofsrestaurant wirkte als sei es seit Wochen geschlossen. Ein großer Kiosk auf der anderen Seite der breiten Straße, die sämtlichen Verkehr von und zur Nordseeküste aufnehmen musste, hatte zwar geöffnet, aber weil der Bus bereits dastand, stieg sie vorsichtshalber sofort ein. Sie konnte nicht riskieren, ihre Ankunft am Schauplatz des Verbrechens noch viel länger hinauszuzögern. Vielleicht machten die Kollegen in ihrem Übereifer sonst Fehler, die sie hinterher auszubügeln hatte. Schließlich gab es in so einem verschlafenen Ort nicht jeden Tag einen Mord aufzuklären. Da konnte manch kleiner Beamter zu blindem Ehrgeiz angestachelt werden.

Pünktlich setzte sich der Reisebus nach kurzer Zeit in Bewegung. Die wenigen Fahrgäste ließen sich an einer Hand abzählen. Gegenden wie diese rissen böse große Löcher in die Statistiken des öffentlichen Nahverkehrs. Die ständigen Einsparungen riefen den Menschen dies immer wieder schmerzlich ins Bewusstsein. Nicht nur, dass scheinbar unrentable Bahnhöfe geschlossen wurden, auch die Preise erhöhten sich regelmäßig und die Busverbindungen waren völlig unzureichend. Ohne eigenen PKW schien man hier aufgeschmissen zu sein.

Die Kriminalbeamtin hoffte, dass sie keine allzu lange Zeit in dieser frostigen Einöde verbringen müsse, während der Bus sie mit gefährlich überhöhter Geschwindigkeit durch die flache wenig abwechslungsreiche Landschaft ihrem Ziel näher brachte.

Es gab außer wenigen kleinen Siedlungen nur noch einzeln stehende typisch ostfriesische Landarbeiterhäuser und weit verstreute baumumstandene Gehöfte, nachdem sie die Kleinstadt Norden hinter sich ließen.

Die Nordsee wurde durch die dunkle schützende Deichlinie vom Land abgegrenzt und war deshalb unsichtbar.

Riesenhafte Windräder, die der Reisenden bereits vorher aufgefallen waren, majorisierten stellenweise das Landschaftsbild. Düster und massig ragten sie in großen Ansammlungen links und rechts der Straße aus dem Boden — einer futuristische Bedrohung nicht unähnlich.

Der Empfang

Endlich näherte sich die Reise ihrem Ende. Der Bus verließ in einer scharfen Rechtskurve die eintönige Strecke. Frau Eichhorn wurde unsanft gegen die Fensterscheibe gedrückt und erwachte dadurch aus ihrer Lethargie.

Ein typischer schmucker Ferienort bot sich ihren erfreuten Augen dar. Zwar ließ das Wetter noch sehr zu wünschen übrig, denn es hatte zu allem Überfluss angefangen zu regnen, aber dem angenehmen keineswegs aufdringlichen Flair des kleinen Ortes konnte das nicht viel anhaben. Der Bus zwängte sich durch zwei malerische enge Gässchen und hielt schließlich unweit des Dornumer Schlosses an.

Bevor sie ausstieg kramte Lina Eichhorn noch eiligst ihren Knirps aus der Tasche. Ihre nagelneue Dauerwelle sollte sich nicht unbedingt in eine unkämmbare Pudelkrause verwandeln, bevor sie den Kollegen zum ersten Mal begegnete. Sie schlug den Kragen ihres dunkelblauen Wollmantels hoch und öffnete den Schirm.

Der Wind blies so kalt, dass sie froh über ihre Lederhandschuhe war. In den kahlen Baumwipfeln des Schlossparks saßen Hunderte von schwarzen Krähen. Abwechselnd ließen sie ihr eindringlich anklagendes Krächzen vernehmen. Irgendwie erinnerten sie diese Rabenvögel an die hohen Herren der Justiz in ihren schwarzen Roben, die sich oft so überaus wichtig nahmen.

Die Hauptkommissarin machte sich eilig zur Polizeistation auf den Weg. Der Busfahrer hatte ihr dazu die nötigen Hinweise gegeben.

Sie kam sich ziemlich verlassen vor in der kleinen fremden Ansiedlung, wo man außer hinter einigen erleuchteten Fenstern kaum eine Menschenseele erblickte. Oldenburg war für nördliche Verhältnisse eine Großstadt. Es besaß sogar eine eigene Universität. Dornum versetzte den Betrachter in eine völlig andere Welt, obwohl nur eine gute Autostunde zwischen den beiden so unterschiedlichen Orten lag.

Eine unberechenbare Windböe, die zwischen zwei Häusern hervorbrach, ergriff den Schirm der Kriminalbeamtin, entriss ihn unsanft ihren Händen und schleuderte ihn kraftvoll über einen weiß gestrichenen Gartenzaun.

Die Frau schimpfte leise und machte sich schnell daran, die Reste von ihrem guten Stück einzusammeln. Das teure Ding war völlig verbogen und unbrauchbar. Sie zog den Kopf fröstelnd etwas tiefer zwischen ihre Schultern und steckte den unnütz gewordenen Schirm im Weitergehen wütend zwischen die Zaunlatten. Dann stapfte sie durch den Regen entschlossen ihrem Ziel zu.

Die Amtsstube befand sich in einem dieser typischen Klinkerhäuschen und wirkte schon von außen freundlich und gemütlich. An den erleuchteten Fenstern waren selbstgebastelte Weihnachtsdekorationen befestigt. Als sie die Tür öffnete, strömte ihr der Duft von frischem Kaffee entgegen und eine wohlige Wärme umfing sie. Alle Türen standen einladend offen. Sie vernahm fröhliche Radioklänge und hörte, dass sich mehrere Personen auf Plattdeutsch unterhielten.

In dem langgestreckten Flur hing eine Garderobe. Also entledigte sie sich, noch unbemerkt von den diensthabenden Beamten, ihres nassen Mantels und warf schnell einen Kontrollblick in den schmalen langen Spiegel. Die Frisur war natürlich hin. Kämmen würde alles in diesem Moment nur schlimmer machen. Also zupfte sie den wilden feuchten Lockenkopf nur ein wenig zurecht, zog ihre Lippen nach und tat einfach, als sei alles bestens mit ihrem Outfit. Selbstbewusstsein war eben das A und O!

"Guten Morgen, meine Herren, da bin ich!" Frau Eichhorn begrüßte die anwesenden Beamten mit strahlendem Lächeln. Die schauten verdutzt von ihren Kaffeetassen auf und starrten sie wortlos an als sei sie ein Gespenst.

Der älteste Kollege, er musste kurz vor der Pensionierung stehen, fand zuerst die Sprache wieder. Er reckte genüsslich seine kräftigen Arme aus dem aufgekrempelten gelben Hemd, rückte die gestreiften Hosenträger zurecht und schob gemächlich die vor ihm ausgebreitete Tageszeitung zur Seite.

"Moin, junge Fru. Un nu mol longsom un immer de Reihe no!" Er rückte Papier und Bleistift zurecht: "We is de werte Nome? Wullen Se en Onzeege mochen?"

"Ewer Hinni, dat is doch de Hauptkommissarin ut Oldenburg!"

Der Sprecher war ein ganz passabel aussehender dunkelblonder Mittdreißiger. An Lina gewandt fuhr er fort: "Guten Morgen, Frau Eichhorn. Wir haben Sie schon früher erwartet. Hier geht seit diesem Mord wirklich alles drüber und drunter."

Er bot ihr seinen Stuhl an und verschwand dann im Nebenzimmer um eine Tasse Kaffee zu besorgen. "Wie trinken Sie Ihren Kaffee, schwarz oder mit Milch und Zucker?", fragte er betont distanziert.

Die Hauptkommissarin sah ihn dankbar lächelnd an und antwortete: "Danke, ich nehme nur etwas Milch, wenn Sie haben. Ihr Kaffee ist wirklich das erste Angenehme, was mir heute widerfährt. Die Anreise mit Bahn und Bus war die reinste Himmelfahrt und dann dieses entsetzliche Wetter. Die Wolken berühren ja fast den Boden."

Sie seufzte tief und nahm einen Schluck von dem wirklich guten Filterkaffee. Über den Rand der Tasse hinweg betrachtete sie die anwesenden Kollegen mit gespielt unschuldigem Blick etwas genauer.

"Jo,jo, dat Wedder is al so, we dat Wedder even is!", philosophierte der alte Hinni gleichmütig und vertiefte sich augenblicklich wieder in seine Morgenlektüre.

"Ach, Sie sind nicht mit dem Wagen hier? Wir hätten Sie doch in Norden oder Emden abholen können. Warum haben Sie nicht angerufen?" Das schmale Gesicht des hageren hellblonden jungen Beamten war gänzlich mit Sommersprossen bedeckt. Er hatte sich aufgeregt von seinem Platz am Fenster erhoben und wirkte sehr dienstbeflissen.

"Die Frau Hauptkommissarin wird schon wissen, was sie tut, Hilko! Nun seid nicht so unhöflich, sondern stellt euch erst mal ordentlich vor. Ich bin Kommissar Rudolf Menke, wir hatten miteinander telefoniert, Frau Eichhorn." Der Mann im saloppen Pullover und billigen Jeans nickte ihr zur Begrüßung leicht zu, aber seine Augen blieben dabei kühl und abschätzend.

Eiskalter Typ — geht notfalls über Leichen, hakte die Hauptkommissarin innerlich ab. Und während sie ihm ihr unwiderstehlichstes Lächeln schenkte, bedauerte sie aufs Äußerste, dass er trotzdem so attraktiv auf sie wirkte.

"Ich bin Anwärter Hilko Groothuusen, Frau Hauptkommissarin. Immer zu Ihrer Verfügung!" Der Junge verbeugte sich fast bis auf den Schreibtisch und wurde puterrot vor Aufregung.

"Freut mich, Sie kennen zu lernen", strahlte Frau Eichhorn ihn an und reichte ihm ihre Hand.

Der alte Büttel sah nur kurz von der Zeitung auf und brummte: "Wochtmeester Hinni Oldewurtel. Bin de Deenstöldeste!" Das letzte Wort betonte er, als handele es sich hierbei um eine besondere Auszeichnung.

"So, so!", bemerkte die Hauptkommissarin scheinbar anerkennend aber ebenso wortkarg wie er.

Außer diesen drei Personen schien sie hier niemand zu erwarten. Und auch denen war sie offenbar nicht uneingeschränkt willkommen.

"Bleiben wir eine so kleine Gruppe?", wagte sie bescheiden anzufragen.

"Ja, leider müssen Sie mit uns Dreien vorlieb nehmen. Da wäre noch Wachtmeister Fokko Claassen - im Moment leider auf Jahresurlaub und Frau Nanninga, die Sekretärin. Die ist aber nur dreimal die Woche am Nachmittag da. Wachtmeister Oldewurtel steht Ihnen auch nur beschränkt zur Verfügung. Die anderen laufenden Fälle sollen ja ebenfalls erledigt werden! Sie wissen, vor Weihnachten haben Einbrecher und Trickdiebe Hochsaison. Dann noch die ganzen diffusen Zimmerbrände ..." Kommissar Menke stöhnte, als müsse er persönlich sämtliche vorweihnachtlichen Verbrechen Deutschlands aufklären.

"Sie bekommen aber selbstverständlich ein eigenes Arbeitszimmer. Wenn es Ihnen recht ist, können wir es außerdem als Kommandozentrale für die SoKo nutzen. Unsere weitere Vorgehensweise in diesem brutalen Mordfall muss unbedingt exakt koordiniert werden. Die Presse und die Vorgesetzten sitzen uns schon jetzt unangenehm im Nacken", führte er weiter aus, während sein junger Kollege fortwährend zustimmend nickte, wie ein Wackel-Dackel hinter der Heckscheibe eines Mittelklassewagens.

"Ich merke schon, Sie haben die Lage hier voll im Griff, Herr Menke. Dass unsere Truppe zahlenmäßig klein ist, wird uns bestimmt nicht davon abhalten, hervorragende Arbeit zu leisten — da bin ich ganz sicher!"

Teilweise musste sich die Hauptkommissarin damit selbst Mut zusprechen. Das Häuflein der zweieinhalb Aufrechten, die ihr zur Seite gestellt waren, wirkte auf sie doch allzu lächerlich.

"Würden Sie mir bitte meinen Schreibtisch zeigen, damit wir keine kostbare Zeit mehr verschwenden", bat sie den gutaussehenden Kommissar mit perfekt gespieltem Augenaufschlag. Er führte sie ohne Regung aber immerhin unverzüglich in ein geräumiges Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Das große Fenster gab den Blick auf einen kargen winterlich tristen Garten frei.

Es regnete noch immer in Strömen. Die anhaltende Dämmerung ließ nicht vermuten, dass es inzwischen kurz vor Mittag war. Aber Linas Magen knurrte böse, um sie daran zu erinnern, dass sie außer Kaffee noch nichts zu sich genommen hatte.

Schnell begutachtete sie den großen Schreibtisch, dessen Fächer alle leer und sauber waren. Ein kurzes Probesitzen auf dem recht bequemen Schreibtischstuhl, Sortieren des bereitliegenden Schreibwerkzeuges, Durchblättern der Akte, kurzes Checken des vorgefundenen Computers, und sie erhob sich zufrieden nickend.

"Ja, das ist soweit alles bestens! Doch jetzt brauche ich schon wieder Ihre Hilfe, meine Herren: Ich bin entsetzlich hungrig und benötige auch ein Quartier für die nächsten Nächte!" Sie sah Menke und Groothuusen, die etwas deplaciert im Zimmer herumstanden, hilflos lächeln an.

"Ich glaube, Sie werden alles finden was Sie suchen", meinte der Kommissar bewusst zweideutig und grinste überlegen. Dann wandte er sich im Befehlston an das arme Würstchen von Anwärter: "Groothuusen, bring die Frau Hauptkommissarin zum Muschelhaus. Sag, dass du von mir kommst."

Das Quartier

Das Muschelhaus war ein gemütliches Restaurant mit angeschlossenem Hotel. Im Gegensatz zu den roten Klinkerbauten, strahlte es weiß getüncht und mit zahlreichen Muschelverzierungen versehen.

Die Rahmen und Sprossen der kleinen Fenster waren taubenblau gestrichen. Und eben diese beiden Farben Weiß und Blau herrschten auch im Inneren vor. Glücklicherweise befand es sich nur wenige Meter von der Polizeistation entfernt.

Hilko Groothuusen trug höflich die schwere Reisetasche seiner Chefin und legte dabei mit seinen überlangen Beinen einen Schritt vor, dass diese große Mühe hatte ihm auf ihren hohen Absätzen zu folgen. Der Regen prasselte noch immer unbarmherzig und eiskalt herab. Lina Eichhorn war von Kopf bis zu den Füßen pudelnass, als sie schließlich im hell erleuchteten Foyer des kleinen Hotels standen.

Die Besitzerin, eine mollige Frau mittleren Alters, schien sie schon erwartet zu haben. Jedenfalls kam sie ihnen, bereits einen Zimmerschlüssel in der Hand haltend, freundlich entgegen.

"Moin, Moin, de Heerschaffen. Dat is jo als weer en Wedder! Nee, nee, zun Gotterbarmen, is dat!"

"Moin, Tant Tinni! De Inspekter schickt üns. Hesst een Komer för de Fru Kommissärin us Oldenburg?", legte der eifrige Beamtenanwärter gleich los, während er den Regen von seiner Mütze schüttelte.

"Is doch klor, Hilko. Se sull de best Komer han, de we beeten künn!" beruhigte ihn die Wirtin gutmütig lächelnd. An Frau Eichhorn gewandt fügte sie auf Hochdeutsch hinzu: "Herzlich willkommen! Sie bekommen selbstverständlich unser bestes Zimmer mit Blick auf das Schloss — jedenfalls, wenn das Wetter es zulässt!" Sie lachte fröhlich und nicht gerade leise. Dann reichte sie Lina den Schlüssel mit dem schweren Messingkegel auf dem die Nummer 13 stand, kramte unter dem Tresen eine Kladde hervor und bat: "Bitte, wenn Sie sich hier eintragen möchten — es ist so Vorschrift."

Lina Eichhorn war bis jetzt noch nicht zu Wort gekommen. Auch ihr freundliches "Guten Tag!" war im plattdeutschen Geplauder untergegangen. Aber das konnte ihr nur recht sein. Sie befand sich noch in der allerersten Orientierungsphase und das hieß für sie: dumm stellen, aber Augen und Ohren offen halten! Jetzt zog sie ihren Dienstausweis aus der Tasche, um sich ordnungsgemäß zu legitimieren und trug Namen und Adresse in das Gästebuch ein.

"Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie ein Zimmer für mich frei haben. Noch länger durch den Eisregen zu laufen, hätte ich wahrscheinlich nicht ausgehalten. Meine Schuhe sind schon völlig ruiniert — von der Frisur ganz zu schweigen!"