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Hauptkommissarin Lina Eichhorn aus Oldenburg ermittelt undercover in dem mysteriösen Todesfall eines jungen Mädchens an der ostfriesischen Nordseeküste. Die zerstückelte Leiche wird in den Abwässergräben gefunden. Hat eine seltsame alte Dame mit dem Fall zu tun, oder handelt es sich um die Tat eines Wahnsinnigen? Da die Kriminalistin von ihrem tütteligen Vater und ihrer pubertierenden Tochter in den verschlafenen Ort begleitet wird, ist für abwechslungsreiche spannende Unterhaltung gesorgt.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2019
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„Abendrot über der Ostermarsch“
Marion Scheer (2001)
Marion Scheer wurde 1952 in Düsseldorf geboren. Im Anschluss an eine Banklehre und einige Jahre als Sachbearbeiterin bei einer Düsseldorfer Großbank, studierte sie Mathematik, Geografie und Geschichte auf Lehramt. Sie lebt und arbeitet seit fast vierzig Jahren an der ostfriesischen Nordseeküste und ist mehrfache Mutter und Oma. Solange sie schreiben kann, betreibt sie in ihrer Freizeit die Schriftstellerei. Dabei verarbeitet sie vorwiegend tatsächliche Begebenheiten und Erlebnisse zu Fantasiegeschichten. Leider verhinderten mehrere schwere Schicksalsschläge, dass ihre Romane schon früher veröffentlicht wurden.
Heute lebt die Schriftstellerin mit ihrem jetzigen Ehemann zurückgezogen in der Nähe von Emden.
Kontakt: [email protected]
Unfreiwillige Reise
Tatsachen und Vermutungen
Liebe geht durch den Magen
Erkundungsspaziergang
Tagesausklang
Wan
Medizinische Gespräche
Unangenehme Bekanntschaft
Familienrat
Ein abendliches Date
Sonntagmorgen
Floras Geheimnis
Im Strandbad
Verletzungen
Stammtisch
Gewitter
Ernste Gespräche
Vollmond
Puzzleteile
Familienbande
Saufgelage
Janas Geist
Abschied
Epilog
Danksagung
“Na, dann mal nicht so schüchtern. Freiwillige vor!”
Die Kriminalhauptkommissarin Lina Eichhorn hasste solche Situationen. Schon in der Schule hatte sie sich bei derartigen unverschämten Aufforderungen immer in sich selbst verkrochen und vollkommen taub gestellt. Nur nicht zeigen, dass dieses sarkastische Ansinnen überhaupt bis zum eigenen Gehirn vorgedrungen war! Obwohl sie nie ganz verstanden hatte, warum ihre Methode funktionierte, war sie meistens von Erfolg gekrönt gewesen. Vielleicht würde auch diesmal der Kelch an ihr vorübergehen, so als sei sie überhaupt nicht existent.
Aber da hatte sie die freundlichen Kollegen unterschätzt.
Jörg mit seiner fixen Klappe vorneweg: “Tut mir echt leid, wenn ich diesmal nicht mit von der Partie sein kann. Ich hab ab morgen Urlaub. Die Koffer sind schon gepackt. Und meine Moni würd‘ echt sauer, wenn die Ferien im letzten Augenblick platzten und der Flieger ohne uns starten müsste. Sie rät mir sowieso schon dauernd, lieber als Bodyguard zu arbeiten, weil das wesentlich besser bezahlt wird.”
Der Vorgesetzte hob missbilligend eine Augenbraue und musterte den jungen Mann. Dann huschte jedoch ein mildes Lächeln über sein verlebtes Gesicht mit den ausgeprägten Magenfalten und er brummte: “Na, warum sitzen Sie dann überhaupt noch hier herum? Nun verschwinden Sie schon zu Ihrer Moni! Und — gute Erholung auch.”
Lina Eichhorn kam die Geschichte von den zehn kleinen Negerlein in den Sinn, nur dass sie leider gerade halb so viele zählten. Sie versteckte sich geschickt hinter Martins breitem Rücken.
“So, ist noch jemand unter Ihnen, der wichtige Gründe anführen möchte, warum er den Fall nicht übernehmen kann. Dann bitte gleich raus damit, bevor wir weitere kostbare Zeit verschwenden!”, polterte der strenge Chef los, da ihm die Angelegenheit allmählich auf den empfindlichen Magen schlug.
Die Kollegen begannen wie aufgescheucht durcheinander zu reden. Jeder hatte etwas vorzubringen. Martins Frau stand kurz vor der Niederkunft. Andreas' Mutter lag im Krankenhaus.
Und Melanie musste einen wichtigen Gerichtstermin unbedingt wahrnehmen.
Alle Augen richteten sich auf Lina, die bisher stumm auf ihrem Stuhl geklebt hatte und sich nun ziemlich ertappt fühlte — wie in der dritten Klasse, als sie ihre Hausaufgaben vorlesen sollte und schuldbewusst das leere Heft angestarrt hatte.
“Nun, Frau Eichhorn? Sie wären wirklich sehr gut dazu geeignet, in diesem heiklen Fall Undercover zu agieren. Was meinen Sie dazu? Sie könnten wegen der besseren Tarnung auch gern Ihre Angehörigen mitnehmen. Das bedeutete dann schon fast soviel wie Familienurlaub an der Nordsee. Es soll da zurzeit herrlich sein”, versuchte ihr der Alte die Aufgabe schmackhaft zu machen. Undercovereinsätze wurden von ihm nie direkt erzwungen, der Gruppendruck tat meist ein übriges.
Da die erfahrene Hauptkommissarin spürte, dass das Los unabänderlich auf sie gefallen war, versuchte sie es erst gar nicht mit einer Ausrede, sondern fügte sich lächelnd in ihr Schicksal. Sie besaß das beneidenswerte Talent, als Verliererin stets genauso gelassen zu wirken, wie als Siegerin. Geschmeidig erhob sie sich von ihrem Stuhl, um die für den Fall wichtigen Unterlagen in Empfang zu nehmen. Im Vorübergehen trat sie dem lieben Kollegen Andreas wie unbeabsichtigt mit ihrem Absatz auf die linke kleine Zehe, dass er laut aufjaulte.
Kleine Erinnerung an deine alte kranke Mutter, die dir sonst auch ziemlich gleichgültig ist, dachte sie böse und grinste ihn mit einem bewusst schlecht gespielten Ausdruck des Bedauerns an.
“Sie können dann auch gehen, meine Herrschaften. Den Rest bespreche ich mit Frau Eichhorn allein”, schickte der Vorgesetzte die Mannschaft aus dem Raum. Anschließend wandte er sich sehr freundlich an die Hauptkommissarin, erklärte ihr kurz einige Einzelheiten und entließ sie schließlich mit einer dicken Akte.
Erst im Auto, auf dem Weg nach Hause durch die Oldenburger Innenstadt, wurde Lina Eichhorn klar, dass sie jetzt mindestens ein Problem mehr hatte. Wie sollte sie ihrem halsstarrigen Vater und ihrer erwachsenen Tochter klarmachen, dass die beiden sie für einige Tage in einen kleinen verschlafenen Ort an der ostfriesischen Nordseeküste begleiten dürften? Carina interessierte sich nicht die Bohne für die Arbeit ihrer Mutter. Der pensionierte Kriminalbeamte hingegen hasste das Meer, seit einer üblen Seekrankheit von anhaltendem Eindruck. Er verbrachte mit eigensinniger Konsequenz jeden Urlaub in Bayern.
Erfreulicherweise lösten sich jedoch die Befürchtungen schon bald in Wohlgefallen auf.
Ihre Tochter Carina packte begeistert die Koffer für einen willkommenen Kurzurlaub am Nordseestrand. Es störte sie ausnahmsweise überhaupt nicht, dass die Mutter dort zu arbeiten hatte. Ihr fiel schon seit Tagen zu Hause die Decke auf den Kopf, weil sie nach der Abitursprüfung nun jede Menge Zeit totschlagen konnte und irgendwie total die Luft raus war.
Linas Vater war gierig darauf, wieder einmal hautnah an einem Kriminalfall mitzuarbeiten. Er löcherte seine Tochter am Telefon derartig mit Fragen, dass es ihr schon fast leid tat, ihn um seine Hilfe gebeten zu haben.
Aber unauffälliger als mit einem lieben, trotteligen alten Vater und einer lebenshungrigen hübschen Tochter konnte sie sich eine Undercoverbeamtin beim besten Willen nicht vorstellen. Dass ein kleiner unerzogener Dackel als Tarnung auch nicht übel gewesen wäre und bestimmt weniger anstrengend, schoss ihr für einen Moment durch den Kopf, aber den Hund konnte sie leider so schnell nicht auftreiben.
Nachdem Lina ebenfalls einige Urlaubs-Utensilien eingepackt hatte, warf sie sich auf ihr breites gemütliches Bett, in dem sie leider gewöhnlich allein schlief, und schmökerte noch für längere Zeit in der Akte.
Riedersiel nannte sich der kleine Küstenort. Er zählte nur etwa zweihundert Einwohner und besaß nicht einmal eine eigene Kirche. Die Leute lebten hier wie überall an der ostfriesischen Küste vorwiegend von den Einnahmen aus dem Fremdenverkehr. Arbeitsplätze waren außerhalb der weißen Industrie rar. Die Arbeitslosenquote lag mit über fünfzehn Prozent in der oberen Hälfte der traurigen Statistik für die gesamte Bundesrepublik einschließlich der neuen Länder.
Eigentlich hatte die sogenannte Wiedervereinigung Deutschlands den Ostfriesen wenig Vorteile beschert. Die landschaftlich schönen Gegenden an der Ostsee stellten sehr schnell eine ernstzunehmende Konkurrenz am heiß umkämpften Touristikmarkt dar. Viele Subventionen, die früher dem strukturschwachen Ostfriesland als willkommene und durchaus notwendige Finanzspritze verabreicht wurden, mussten wegen der leergefegten Kassen inzwischen entfallen. Als Reisender merkte man das am ehesten den Straßen an. Sie waren inzwischen stellenweise in einem fast so desolaten Zustand, wie die berühmtberüchtigten Verkehrswege in der ehemaligen DDR.
Aber die kleinen rot geklinkerten Häuschen mit den gepflegten Gärten wirkten noch immer freundlich und zufrieden, genau wie ihre einfachen Bewohner.
Wenn jemand anspruchslos war, konnte er in dieser Gegend gewiss ein beschauliches naturverbundenes Leben führen, sein eigenes Gemüse ziehen, sowie von den Küchenabfällen ein paar Hühner und vielleicht gar ein fettes Schwein halten.
In der Sommersaison wurde die Beschaulichkeit zwar von den Vergnügen und Entspannung suchenden Urlauberströmen irritiert. Im Gegenzug dazu klingelten die Kassen an der Küste dann aber schöner als die hellsten Glocken. Das war eine wundersame Musik, die die gewöhnlich wortkarg in sich ruhenden Einheimischen für einige Wochen in zuvorkommende miteinander wetteifernde Gastgeber verwandelte.
Kriminalhauptkommissarin Eichhorn und ihre Tochter, die im Fond des Wagens saß und sich zwischen zwei powernden Ohrenstöpseln beinahe das Gehirn wegpusten ließ, sahen das gelbe Ortsschild gleichzeitig. Lina konnte die Rhythmik der grellen Klänge noch auf dem Fahrersitz wahrnehmen, obwohl sie den Regionalsender im Autoradio eingeschaltet hatte. Ihr Vater war auf dem Beifahrersitz eingenickt.
“He, Big Boss, aufwachen! Wir sind gleich da”, brüllte Carina.
“Schrei doch nicht so, ich bin noch nicht taub!” Der pensionierte Kriminalbeamte war erschreckt zusammengezuckt und reagierte ungewöhnlich ärgerlich auf seine geliebte Enkelin.
“Nur ruhig Blut! Wir müssen uns jetzt links halten und von der Küstenstraße abfahren in Richtung Deichlinie.” Lina betrachtete während der Fahrt die grobe Skizze, die vorsichtshalber am Armaturenbrett klebte.
“Dass wir aber auch unbedingt direkt am Wasser wohnen müssen …“, murmelte der Alte unzufrieden.
“Hast du eine Ahnung! Am Deich zu wohnen bedeutet hier nicht, dass du unmittelbar am Meer bist. Vor der alten ehemaligen Deichlinie dort findest du die letzten Häuser und dahinter liegen die Polder. Das sind große Flächen, die einst mühsam dem Meer abgetrotzt wurden. Sie werden als Ackerflächen und Weiden genutzt. Dann folgt der eigentliche Schutzdeich. Er ist viel mächtiger als der so genannte Schlafdeich und gibt, wenn du auf ihm stehst, endlich den Blick auf die vorgelagerten Salzwiesen und das Wattenmeer frei. Wenn nicht gerade Ebbe ist, kannst du dann auch Wasser sehen”, erklärte die Hauptkommissarin ihrem alten Vater geduldig, während sie dem Ziel immer näher kamen.
“Wenn ich dich richtig verstehe, kann ich mich also hier auch längere Zeit aufhalten ohne überhaupt das Meer zu Gesicht zu bekommen? Die Deiche sind ja ungefähr wie Berge — wenn auch künstliche …“ Er brummelte noch etwas Unverständliches vor sich hin, schien aber plötzlich sichtbar besser gestimmt zu sein.
Carina nahm die Beschallungsvorrichtung aus ihren Ohren und packte den Discman sorgsam ein. Sie ging fast liebevoll mit diesem Geschenk ihres großzügigen Vaters um, den sie leider nur selten sah, weil er in der Schweiz lebte.
“Sind wir hier auch richtig? Sieht ja fast aus wie Saigon”, rief sie und deutete fröhlich lachend aus dem Autofenster, während ihre Mutter den Wagen geschickt in die Einfahrt eines der kleinen roten Klinkerhäuser steuerte.
Auf dem Nachbargrundstück arbeitete eine fünfköpfige offenbar vietnamesische Familie emsig in einem höchst intensiv genutzten Gemüsegarten. Nicht ein Quadratzentimeter des kostbaren Bodens schien sich selbst überlassen zu sein. Überall grünte und reifte, was die fruchtbare Ackerkrume hergab für einen vitaminreich und phantasievoll gedeckten Tisch. Die mit großen gelben Strohhüten vor der Sonne geschützten Personen, es waren zwei Männer und drei Frauen, sahen kurz von der Arbeit auf, als der Wagen vorfuhr. Sie lächelten alle sehr freundlich, verneigten sich wortlos zu einer Art Gruß, um sich aus dieser Bewegung heraus fast synchron gleich wieder den üppigen Gemüsebeeten zuzuwenden.
“Denkt bitte daran, dass wir ganz unbedarfte schrecklich normale Touristen sind! Alles klar?”, wandte sich Hauptkommissarin Eichhorn eindringlich an ihre beiden Lieben, bevor sie alle das Auto verließen.
Eine wunderbar erfrischende Briese umfing sie im selben Augenblick. Es duftete nach blühenden Gräsern, fruchtbarer Gartenerde und Meersalz. Carina breitete begeistert die Arme aus und drehte sich wie ein kleines Mädchen jauchzend um sich selbst. Der pensionierte Kommissar hielt sich den schmerzenden Rücken und atmete tief ein.
“Ah, endlich wieder Sauerstoff! Hatte fast vergessen, wie die Luft ohne diese elenden Abgase riecht.”
Aus dem Haus trat eine adrette ältere Dame mit umgebundener Küchenschürze auf sie zu. Das silbergraue Haar trug sie zu einem ordentlichen Knoten im Nacken zusammengehalten. Die Kleidung war trotz der sommerlichen Temperaturen dunkel und bedeckt. Ihr rosiges liebes Gesicht stand in einem krassen Widerspruch zu der sonst eher strengen Erscheinung, die irgendwie an eine altertümliche Gouvernante erinnerte.
“Sie müssen die Familie Eichhorn sein! Herzlich Willkommen miteinander!" Die Frau streckte ihnen beide Hände entgegen. "Ich hoffe, sie hatten eine angenehme Reise?”.
Lina Eichhorn ergriff ihre Rechte und drückte sie herzlich. “Dann sind Sie wahrscheinlich unsere Vermieterin, Frau Feldmann. Wir freuen uns, dass Sie so kurzfristig noch eine Wohnung für uns frei hatten. Bei diesem herrlichen Wetter ist es in der Stadt wirklich nicht auszuhalten. Eine wundervolle Luft haben Sie hier!”, plauderte die Kriminalbeamtin ungezwungen drauflos.
Selbst ihr kauziger alter Herr rang sich einige freundliche Worte für die sympathische Vermieterin ab.
Carina stand abseits und beobachtete aus ihren Augenwinkeln den etwa gleich alten Sohn der vietnamesischen Nachbarn beim Unkraut jäten. Das verschwitzte Muskelshirt und seine fleckige graue Arbeitshose konnten nicht verbergen, dass es sich hier um einen wohlproportionierten jungen Mann von edlem Wuchs handelte. Seine Bewegungen wirkten ausdauernd und geschmeidig, wie die eines exzellenten Karatekämpfers. Die junge Dame war so fasziniert von dem harmonischen Bild, dass ihre Mutter sie mehrfach ansprechen musste, bevor sie sich endlich anschickte, leise stöhnend ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.
Die Ferienwohnung lag im Dachgeschoss. Sie war nicht sehr groß. Die beiden Räume fassten aber alles Nötige für einen Urlaubsaufenthalt von vier Personen und wirkten sauber und hell. Mochten die Möbel auch nicht mehr ganz dem modernen Geschmack entsprechen, so waren sie aber bequem und in ordentlichem Zustand. Das kleine blitzsaubere Bad enthielt neben der Dusche, ein Waschbecken und das WC. Im Schlafzimmer befand sich zu Carinas großer Erleichterung ein weiteres Waschbecken mit Spiegel. So würde sie sicher ausreichend Gelegenheit für ihre Schönheitspflege finden.
Frau Feldmann stand bereits in der Tür um sich zu verabschieden. Sie mochte nicht aufdringlich sein. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Sommergäste bei ihrer Anreise meistens müde und gereizt waren. Außerdem sollten sie ihre Sachen in aller Ruhe in der Wohnung verstauen. Dabei störte eine schwatzende neugierige Vermieterin nur.
“Ich gehe dann wieder nach unten. Wenn Sie irgendetwas benötigen, schauen Sie einfach bei mir rein. Ich bin fast immer zu Hause. Übrigens, sollten Sie an einem regelmäßigen Mittagstisch interessiert sein: Ich koche gute Hausmannskost!” Die alte Dame sah die Gäste fragend an.
Gleichzeitig erklangen drei unterschiedliche Antworten:
“Oh, danke nicht nötig!” Die Hauptkommissarin war fest entschlossen, auf ihre Figur zu achten.
“Nee, ich bin Vegetarierin!” Carina hatte Angst, dass sie fettes Fleisch essen sollte.
“Das ist ja wirklich prima!” Big Boss begeisterte sich für den Gedanken, täglich bekocht zu werden.
Die drei Eichhorns sahen sich an und lachten.
“Vater, du kannst gern mittags bei Frau Feldmann essen. Dann könnten wir uns das Kochen während der Ferien vollkommen ersparen. Carina und ich kommen auch mit Salat und Sandwiches zurecht. Einverstanden?”
Bei einer Tasse Tee saß die Familie, nachdem alles in den Schränken verstaut war, einträchtig beieinander.
“Du könntest jetzt aber mal die Hosen runterlassen und uns einige Informationen zu deinem mysteriösen Einsatz geben”, drängte der pensionierte Kommissar neugierig.
“Ja, das finde ich auch. Nicht, dass wir uns hier völlig ahnungslos in Lebensgefahr begeben. Das ist sowieso kein Job für eine Frau, wie du es bist!”, stimmte seine Enkelin ein.
“Ich verbuche das mal als Kompliment. Aber, Spaß beiseite! Es ist nicht besonders günstig, wenn Ihr zu viel über meine Arbeit hier wisst. Ihr könntet euch nur verraten und dadurch die Aufklärung dieses brutalen Verbrechens behindern”, versuchte die Hauptkommissarin ihre beiden Nervensägen zu beschwichtigen.
Vater und Tochter gingen aber fast in die Luft vor Empörung.
“Glaubst du vielleicht, ich will mir hier nur die Eier schaukeln, während du in aller Heimlichkeit deinen Mordfall aufklärst?”, schimpfte der Alte.
“Du kannst mich wenigstens darüber aufklären, aus welcher Ecke mir hier ein Mörder entgegen springen könnte, bevor ich mich in naiver Leichtsinnigkeit den gewünschten Urlaubsaktivitäten hingebe”, maulte Carina.
Hauptkommissarin Eichhorn gab sich bald geschlagen und räumte schließlich ein, dass es vielleicht auch Vorteile mit sich bringen könnte, zwei unauffällige absolut loyale Komplizen zu besitzen.
“Es handelt sich um den Mord an einem siebzehnjährigen Mädchen aus diesem Ort, wahrscheinlich erinnert Ihr euch an den Fall. Er ging durch alle Medien. Die zerstückelte Leiche wurde in mehreren Entwässerungsgräben in der Umgebung gefunden. Nur durch Zufall hatte ein Landwirt einen halbverwesten Unterschenkel entdeckt, der aus dem beinahe trockengefallenen Schlamm ragte. Mehrere Leichensuchhunde von den Kollegen aus Delmenhorst mussten danach in einer höchst mühevollen tagelangen Aktion, sämtliche Körperteile des Mädchens aufspüren. Die Arbeit war auch nur von Erfolg gekrönt, weil die Gräben durch die sommerliche Trockenheit nicht wie gewöhnlich vollkommen mit Wasser gefüllt waren. Sehr schnell konnten die sterblichen Überreste identifiziert werden, da bereits eine entsprechende Vermisstenanzeige vorlag.
Unsere Pathologen fanden außerdem heraus, dass die Ermordete im sechsten Monat schwanger war und vergiftet wurde, bevor man ihre Leiche zerstückelte. Das Tranchiermesser fand man ebenfalls in einem der Gräben. Leider gibt es bisher, trotz intensivster Bemühungen, keinen brauchbaren Hinweis auf den oder die Täter. Die Leute hier halten zusammen wie Pech und Schwefel. Dadurch verliefen alle Befragungen vollkommen ergebnislos. Der einzige vage Hinweis führte zu diesem Haus, in dem wir uns nun eingemietet haben.
Die liebe alte Dame ist nach Meinung der meisten Dorfbewohner eine Hexe, die Gifte zusammenmischt und die Zukunft voraussehen kann."
Lina Eichhorn sah zwischen ihrem Vater und Carina ratlos hin und her. "Ehrlich gesagt, scheint mir diese Spur eiskalt zu sein, zumal eine vorsorgliche Hausdurchsuchung keine Bestätigung dieses Verdachtes brachte.” Sie nahm einen großen Schluck Tee.
“Man kann sich in Menschen irren!”, meinte der ehemalige Kripobeamte tief in Gedanken versunken.
Doch bevor er damit beginnen konnte, einen seiner berühmten ehemaligen Fälle zum Vergleich heranzuziehen, platzte Carina heraus: “Hexe, Giftmischerin, Zukunftsorakel — ich glaube, wir sind im falschen Film! Leben die Leute hier vielleicht noch im tiefen Mittelalter?”
Ihre Mutter sah sie ernst an.
“Es mag sein, dass die Menschen hier auf dem Lande andere Dinge wichtig nehmen, als wir in unserer lauten anonymen Großstadt. Die Gemeinschaft der Dorfbewohner bildet wahrscheinlich eine Art großer Familie, in der sich einer auf den anderen verlassen kann. Natürlich gibt es da auch Streitereien, manchmal sogar sehr heftige, aber gegen alles Fremde, Bedrohliche steht man treu und fest zusammen. Ich kann mir vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten die Kollegen zu kämpfen hatten, um überhaupt etwas über die Tote herauszubekommen, zumal sie ohne Trauschein schwanger war, was hier noch immer als Schande gilt. Selbstverständlich will niemand etwas davon gewusst haben.”
“Aber sie war schon im sechsten Monat, das kann doch den Eltern nicht verborgen geblieben sein!”, protestierte Carina und warf beinahe ihre Teetasse um, weil sie so heftig gestikulierte.
“Ich erinnere mich sogar an einen Fall, da hat eine Fünfzehnjährige ihr Baby auf der Bahnhofstoilette entbunden, und niemand wusste Bescheid. Solche Dinge kommen zuweilen vor, natürlich vorwiegend in Familien, wo jeder nur mit sich selbst beschäftigt ist. Das hat noch nicht einmal etwas mit dem sozialen Status zu tun und schon gar nicht mit dem Wohnort”, erklärte der Großvater.
“Das Mädchen wohnte hier mit seinem Vater allein. Vielleicht war der mit der Erziehung überfordert. Wir sollten ihn jedenfalls genauer unter die Lupe nehmen", schlug die Hauptkommissarin vor. "Carina, du könntest eventuell etwas über die freundschaftlichen Beziehungen der Toten herausfinden. Sicher wird es dir besser gelingen, Kontakt zur Dorfjugend herzustellen, als meinen Kollegen.”
Carina schmollte. “Das werden schon ein paar Spacken sein, die hier rumlaufen! Was soll ich mit denen denn reden? Die leben doch bestimmt total hinterm Mond — ohne Disko und so …!”
Der pensionierte Kommissar schnitt ihr gnadenlos das Wort ab. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass seine Enkelin in die Ermittlungen eingeschaltet werden sollte und er, als Kriminalist mit jahrzehntelanger Erfahrung, offenbar nicht.