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Die verkohlte Leiche der obdachlosen Jule wurde in einer ausgebrannten Hausruine entdeckt. Hauptkommissarin Lina Eichhorn wird von den Kollegen aus Emden angefordert, um erneut in einer SoKo an der Aufklärung des Falles mitzuwirken. Ein weiterer Wohnungsloser landet kurz darauf brutal zusammengeschlagen im Krankenhaus. Gibt es zwischen den Taten eine Verbindung? Agiert hier gar ein Serientäter? Jugendliche geraten ins Visier der Ermittler. Die Recherchen sowohl im Umfeld der Opfer, als auch der möglichen jungen Täter erfordern Geduld und Einfühlungsvermögen. Für spannende Unterhaltung hat die Autorin wieder gesorgt.
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2024
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„Abbruchhaus“
(Erwin de Buhr, 2021)
1. Rituale
2. Jule
3. Blut und Feuer
4. Fußball
5. Eine neue SoKo
6. Ermittlungsgrundlagen
7. Am Tatort
8. Zusammenarbeit
9. Schwester Beatrice
10. Hintergründe
11. Anwohnerbefragung
12. Im Hospiz
13. Tagesaufenthalt
14. Fundsache
15. Samurai
16. Gerichtsmedizin
17. Zeugenbefragung
18. Freundschaft
19. Neue Hinweise
20. Im Krankenhaus
21. Frustrationen
22. Befürchtungen
23. Öffentlichkeit
24. Perfide Pläne
25. Telefonaktion
26. Ein Date
27. Jonas
28. Melissa
29. Hacke
30. Recht und Gesetz
31. Endspurt
32. Ehre den Toten
33. Epilog
Zur Autorin
Danksagung
Jonas würgte mit schmerzverzerrtem Gesicht an einem schleimigen Kloß, der drohte ihm den Atem zu nehmen. Wenn ihm jetzt auch noch Tränen in die Augen träten, hätte er keine Chance mehr sein Gesicht zu wahren.
Schließlich und endlich war er der Ältere von ihnen beiden. Was sollte Hacke von ihm denken? Sie waren Blutsbrüder und als solche einander auf Leben und Tod verbündet, egal was geschah. Hacke hatte ihn nach langer, langer Zeit der Prüfung für würdig befunden, den Pakt mit ihm zu schließen. Nun würde Jonas nicht bei der erstbesten Gelegenheit den Schwanz zwischen die Beine kneifen und flennen wie ein Mädchen.
Sie waren Männer, echte Macher!
Hacke hatte ihm klar gemacht, dass in anderen Kulturen Jungen mit dreizehn schon zu Männern erklärt und als Erwachsene behandelt wurden. Sie übernahmen Verantwortung für die Ernährung der Familie und natürlich deren Verteidigung. Sie trugen Waffen, gefährliche tödliche Waffen, und sie scheuten sich nicht diese gegen den Feind einzusetzen. Er hatte ihm im Internet verstörende Bilder von ganzen Horden waffenstrotzender Kinder gezeigt, die teilweise sogar noch jünger wirkten. Er hatte sich gewundert, dass diese Zwerge die schweren Waffen überhaupt tragen konnten. Aber es war immerhin der Beweis, dass Hacke ihm keinen Scheiß erzählt hatte. Und auch wenn sein Gefühl ihm sagte, dass mit diesen fremden Kulturen irgendetwas nicht stimmen könne - Hacke war soviel klüger als er. Er musste das schließlich wissen. Er sprach fließend Englisch und Französisch, wo hingegen Jonas bereits zweimal die Versetzung verpatzt hatte.
Sie besuchten auch nicht dieselbe Schule. Während Jonas auf der IGS die Kurse mit den geringsten Anforderungen nur mit Mühe absolvierte, meisterte Hacke das Gymnasium ohne irgendeine Anstrengung. Er hatte nebenbei noch reichlich Zeit, sich mit Nachhilfe ein beachtliches Taschengeld zu verdienen.
Seltsamerweise waren sie sich damals in der vierten Grundschulklasse nähergekommen. Jonas der Sitzenbleiber und Hacke der Überflieger, neu zugezogen aus Nordrheinwestfalen. Der Neue hatte es anfangs schwer gehabt in ihrer Klasse. Er war körperlich klein und schwächlich gewesen, ein Spätentwickler. Jonas dagegen war älter als die anderen und profitierte von den Genen seines Vaters. Er schoss ins Fleisch, wie seine Oma ganz stolz bei jeder sich bietenden Gelegenheit verkündete.
Aus „Geist“ und „Fleisch“ hatte sich dann nach und nach ein bizarres Wesen mit zwei Körpern entwickelt, das letztendlich eine blutsbrüderliche Symbiose bildete, die inzwischen niemand zu stören wagte.
Jonas hatte die feuchten Augen hypnotisch auf das seltsame Geschehen gerichtet. Schon dieses verfallene alte Gemäuer mit den teils gefährlich herabhängenden Deckenbalken konnte ihm einen Schauer über den Rücken jagen.
Er ging niemals einem Beet aus dem Weg und hatte körperlich noch selten den Kürzeren gezogen. Ja, manchmal versuchte ihn jemand hinterhältig aufs Glatteis zu führen oder zu verarschen. Dann zeigte er ihm nur seine mächtige Faust, und das sorgte für Ruhe. Allerdings jagte die Art, wie Hacke die Dinge regelte, ihm oft eine Gänsehaut über den schwammigen Körper.
In der Mitte des Raumes loderte ein Lagerfeuer. Der Rauch hatte in dem verfallenen Gebäude keine Schwierigkeiten einen Weg nach draußen zu finden. Allerdings brannte er Jonas trotzdem in den Augen.
Sie waren beide ganz in Schwarz gekleidet und trugen Sturmmasken, die nur die Augen freiließen. Hacke - eigentlich hieß er Daniel Hackenbruch, aber er hasste diesen Namen wie die Pest - hatte aus einer Tüte ein rotes Pulver in Form eines fünfzackigen Sterns um die Feuerstelle gestreut. Nun ergriff er den zappelnden Sack und entnahm ihm das weiße Huhn, das Jonas auftragsgemäß bei Bauer Wübbens „besorgt“ hatte, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu bitten.
Das Tierchen zappelte und gackerte verzweifelt, als Hacke es brutal bei den Füßen packte und immer wieder über das Feuer schwenkte. Er trug diesen entrückten Ausdruck in den Augen, den Jonas schon bei einigen anderen verstörenden Gelegenheiten an ihm beobachtet hatte. Dann begann er in einer fremden Sprache irgendwelchen Singsang von sich zu geben. Bis Jonas schon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
Warum mussten sie sich wieder mal die halbe Nacht an irgendeinem gruseligen Ort um die Ohren schlagen? Er hätte lieber auf der Couch vor seinem Fernseher gechillt und Gin-Cola geschlürft. Oder es gefiel ihm noch viel besser, wenn sie irgendwelche Frauen und Mädchen aus der Nachbarschaft heimlich durch die Fenster beobachteten und sich dabei einen runterholten.
Jetzt bückte sich Hacke nach dem Samurai-Schwert, das er unbemerkt aus der Waffensammlung seines Vaters „ausgeliehen" hatte. Jonas klangen noch die Ohren von dem langen Vortrag, den der Blutsbruder ihm auf dem Weg zu dem verfallenen Gehöft gehalten hatte. Nur die Hälfte von dem Gerede über die Geschichte der Samurai und deren Kampfkunst hatte er überhaupt verstanden. Und wirklich erinnern konnte er sich inzwischen nur daran, dass die Schwerter extrem scharf und gefährlich waren. Diese Kämpfer brachten sich angeblich selbst damit um, wenn sie keinen Ausweg aus einer Bredouille sahen. Seltsame ausländische Sitten gab es!
Nun betrachtete Jonas die Waffe genauer. Hacke ließ sie mehrmals in seiner Hand kreisen und durch den Feuerschein schwingen, ähnlich wie vorher das zappelnde Hühnchen, das nun in der anderen Hand kopfüber an seiner linken Seite baumelte. Die blanke Klinge spielte mit dem warmen Licht der hell lodernden Flammen in aufreizenden Reflexen. Jonas konnte seine Augen nicht abwenden und hatte mit einem Mal den Kloß im Hals vollkommen vergessen.
Noch zwei, drei fast tänzerische Einlagen des schwarzen drahtigen Jungen, dann ein markerschütternder Schrei, und Hacke schlug dem Huhn mit einem unvermittelten Streich den Kopf ab. Zischend landete der in den Flammen. Den Körper der Huhns schleuderte der Junge gekonnt in eine Ecke. Dort hetzte das blutbesudelte Tierchen noch eine Weile im Kreis herum, als wüsste es nicht, dass es tot war, bis das Blut aus seiner Wunde zu sprudeln aufhörte und es endlich liegen blieb.
Jonas stand stumm da. Er war gleichermaßen erregt wie schockiert. Gelähmt beobachtete er seinen Freund, der zu dem Kadaver trat, ihn lässig mit der Schuhspitze antippte und sich dann ganz entspannt zu ihm umdrehte.
„Hey, Jonas, pack das elende Viech und schmeiß es ins Feuer. Wir wollen es brennen sehen!“, kommandierte er. Jonas erweckte den Anschein einer Marionette, als er seine massigen steifen Glieder in Bewegung setzte und wortlos gehorchte. Die Federn verbrannten mit einem beißenden Gestank, den er nie vergessen würde.
Nach diesem verstörenden Erlebnis sahen sich die beiden Jungen eine Weile nicht. Hacke fuhr mit seinem Vater auf die Jagdhütte nach Bayern. Dort verbrachten die Hackenbruchs regelmäßig einen Teil der Sommerferien in der Natur, mit dem Hobby des Alten und endlosen Wanderungen beschäftigt.
Jonas Eltern hingegen waren arbeitsam aber nicht sehr betucht. Er konnte sich nur an eine einzige gemeinsame Urlaubswoche auf Malle erinnern, und da hatten sie auch noch Regenwetter gehabt. Nun dummte er in seinen Sommerferien herum, ohne die notwendigen Schulaufgaben nachzuarbeiten (was wegen der Corona-Pandemie angeblich besonders wichtig gewesen wäre) oder sonst einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen.
Sein Vater hatte ihn schon mehrfach missmutig darauf hingewiesen, dass er selbst bereits mit sechzehn Jahren auf dem Bau angefangen hatte, sein eigenes Geld zu verdienen. Aber die Mutter, als Bäckereiverkäuferin keiner Überstunde abgeneigt, nahm ihn immer wieder in Schutz.
Sie drückte ihm regelmäßig einen dicken Schmatzer auf die Wange, wenn sie ihn beim Heimkommen auf dem Sofa vor dem Fernseher antraf. Dann zwickte sie ihn spielerisch mit Daumen und Zeigefinger in die Nase und meinte: „Du sollst es mal besser haben, als Papa und Mama. Aus dir soll ein richtig feiner Herr werden, vor dem sie alle Respekt haben!“ Anschließend wandte sich die kleine pummlige Frau der Küche zu, wo sie sich leise trällernd eine bunte Schürze umband und in Windeseile etwas Essbares zusammenbraute.
So schlichen seine kostbaren Ferientage dahin – einer so öde wie der andere.
Schließlich war Jonas sehr erleichtert, vielleicht sogar freudig erregt, als Hacke ihm auf dem Handy mitteilte, dass er wieder in Emden zurück sei und ihn treffen wollte.
Wir sehen uns um 22 Uhr am Treffpunkt in üblicher Montur, schrieb er. Jonas antwortete, wie meistens mit: OK. Dabei konnte er wenigstens keine Rechtschreibfehler machen, die ihm der andrere sonst tagelang vorhielt. Er hatte schon mal auf Hackes Anordnung eine ganze Seite mit dem Satz: Ich kann leider nicht kommen, weil ich helfen soll, fehlerfrei abschreiben müssen.
Als ob das nun so wichtig wäre, dass ein Wort groß, klein oder mit zwei n, m oder l geschrieben wurde. Hauptsache war für ihn, man verstand, was gemeint war. Und das zumindest hatte er genau verstanden: Er sollte um 22 Uhr an der Bushaltestelle sein und die schwarze Verkleidung tragen.
Was mochte Hacke diesmal geplant haben?
Jule entdeckte endlich die Abbruchbude, von der Anton ihr vorgeschwärmt hatte. Beinahe hätte sie vorzeitig aufgegeben, um sich einfach erschöpft in irgendeine halbwegs geschützte Ecke am Rand des nicht enden wollenden Weges zu kuscheln. Sie war sogar an einer ganz passablen überdachten Bushaltestelle vorbeigekommen. Solche Wartehäuschen schätzte sie gewöhnlich als gute Quartiere. Sie schützten vor Wind und Wetter, waren nachts verlassen, befanden sich aber trotzdem an öffentlichen Orten. Wer Böses plante, musste mit unerwünschten Zeugen rechnen.
Aber es war noch zu hell gewesen, um ungestört pennen zu können. Inzwischen wirkten die Straßen bereits wie ausgestorben. Das liebte sie an den ländlichen Gegenden. Manchmal führte jemand abends einen Hund Gassi, aber sonst blieb es meistens ruhig und friedlich.
Sie hievte den großen Einkaufstrolli durch die Türöffnung. Im warmen Licht der untergehenden Sonne wirkte das Gebäude, trotz des desolaten Zustandes, auf sie heimelig. Es roch ein wenig feucht aber auch nach dem reifen Duft des Spätsommers auf dem Land. Darunter mischte sich eine Spur Holzfeueraroma. In ihr stiegen Bilder auf von unbeschwerten warmen Grillabenden, die ihrem früheren Leben angehörten. Bevor sie jedoch in sentimentale Stimmung abrutschen konnte, wischte sie diese innerlich beiseite.
Immerhin besser als die verlausten stinkenden Nachtquartiere, die uns Obdachlosen hier und da zur Verfügung stehen. Ich brauche frische Luft, dachte sie seufzend. Außerdem hatte sie in Gruppenunterkünften schon üble Erfahrungen gemacht. Dass man beklaut wurde, war noch das geringste. Bevor sie vor Jahren auf der Straße gelandet war, hätte sie niemals geglaubt, dass eine nicht besonders gepflegte ältere Frau sich sogar vor sexuellen Übergriffen fürchten musste.
Sie schaute sich in der Schummerigkeit des großen Raumes um, der wohl mal eine gemütliche Stube beherbergt hatte. Nun waren die Fenster zersplittert, die roten Fußbodenfliesen teilweise geborsten. Von den Wänden blätterte der Putz mitsamt einer altmodischen Blümchentapete, die ihn hier und da noch krampfhaft zusammenhielt, und die Deckenbalken hingen an einer Seite nicht gerade Vertrauen erweckend herab.
Im schwindenden Tageslicht suchte Jule sich eine trockene Ecke aus, stellte den Trolli ab, entrollte die dicke Isoliermatte und warf den Rucksack mit einer Geschmeidigkeit von sich, die ihr niemand zugetraut hätte. Sie kramte eine kleine Weile darin herum, bis sie ein Feuerzeug in der Hand hielt. Damit wandte sie sich der Feuerstelle zu, die irgendein Vorgänger in der Mitte des Raumes angelegt hatte.
Es lagerte genug trockenes Holz in einer Ecke, das hatte ihr Anton auch noch gesteckt, bevor er die Pulle leerte und nur noch unverständlich lallen konnte. Ja, der leidige Alkohol! Es lebten wenige auf der Straße, die ihm nicht verfallen waren. Er war die billigste Droge, die alles für den Moment erträglicher erscheinen ließ.
Sie selbst war inzwischen davon weg. Ohne Hilfe hatte sie das jedoch auch nicht geschafft. Noch heute war sie den Freunden dankbar, die sie aus der Scheiße gezogen hatten. Ja, wirklich herzensgute Menschen traf man überall da, wo sie keiner vermutete!
Inzwischen knisterte ein kleines gemütliches Feuer im Raum und ließ ihn wohnlich erscheinen. Jule öffnete eine Dose mit Eintopf und stellte sie einfach in die Flammen. Es würde warmes Abendessen geben – ein wahrer Luxus!
Während sich der Inhalt der Dose erhitzte, machte sich die Alte ein gemütliches Lager zurecht aus allem, was sie so bei sich führte. Die wenigen Wertsachen und ihre Papiere packte sie unter die Matte, dort waren sie am besten geschützt. Auch wenn der Ort vollkommen menschenleer und sehr friedlich wirkte, verlor sie nie ihre schmerzhaft erworbene Vorsicht.
Was war sie für ein naives Hühnchen gewesen, als ihr Lebensgefährte vor vielen Jahren an einem plötzlichen Herztod verstarb! Seine Kinder aus erster Ehe hatten die Beerdigung nicht einmal abgewartet, sondern sie gleich aus dem Haus geworfen. Sie hatte mit ihrer Trauer zu kämpfen gehabt und sich deshalb nicht einmal dagegen gewehrt, dass sie ohne ihre liebsten Sachen - nur mit einem einzigen Koffer - ihr behütetes bürgerliches Zuhause verlassen musste.
Zunächst gab es ein paar Verwandte und auch zwei Freundinnen aus besseren Tagen, die sie für eine Weile bei sich wohnen ließen. Aber ihre Traurigkeit wollte einfach nicht nachlassen. So hatte sie nicht den Mut gefunden, sich eine Arbeitsstelle und eine kleine eigene Wohnung zu suchen. Wie lange machen Verwandte und Freunde so etwas mit, bis sie einen nur noch loswerden wollen?
Es war unabdingbar, dass sie schließlich auf der Straße landete. Dort hatte sie viele Menschen mit ähnlichen Schicksalen getroffen. Aber nur wenige wurden zu Freunden. Auf der Straße herrschte ein anderer Ton und meistens das Recht des Stärkeren. Die Gefühle, welche hier aufeinanderprallten, waren ursprünglicher und ungefiltert von den üblichen Konventionen. Das galt für die positiven Emotionen genauso wie für die negativen. Da hatte Jule viel einstecken und unter schwierigsten Umständen die härtesten Tatsachen lernen müssen.
Sie holte den Eintopf mit einem dicken ausgefransten Lappen geschickt aus der Feuerstelle, stellte ihn auf den Fußboden und rührte mit einem Esslöffel langsam und sorgfältig um. Vorsichtig führte sie den Löffel dann zum Mund und kostete begeistert, während ein Strahlen in ihre alten Augen trat.
„Hm, Labskaus!“
Für eine kleine Weile waren Not und Elend vergessen. Sie füllte ihren knurrenden Magen konzentriert und überaus dankbar mit der warmen appetitlich duftenden Mahlzeit.
Dieser Sommer hatte leider nicht gehalten, was sich jeder von der schönen Jahreszeit verspricht. Es war sehr wechselhaftes oft regnerisches Wetter gewesen. Das machte das Leben auf der Straße nicht angenehmer. Sonst liebte sie es ab Mai in die kleinen beschaulichen Orte an der Nordseeküste abzuwandern. Die Menschen waren hier in Urlaubsstimmung und zeigten sich großzügig. Auch für Jule waren das dann irgendwie entspannte Urlaubswochen. Sie liebte das Meer und hatte schon unzählige Male in warmen Nächten am Strand geschlafen. Außerdem gab es überall Milchwirtschaft. Die Bäuerinnen erlebte sie durchweg als herzlich und großzügig, wenn sie um ein Glas Milch gebeten hatte.
Der Sommer, der gerade zur Neige ging, hatte sie aber enttäuscht. Zum einen diese blöde Viruserkrankung, wodurch die Leute auf Abstand blieben und nur noch mit Gesichtsmasken herumliefen, weil sie sich vor Ansteckung fürchteten. Und dann noch dieser dauernde Regen, der ihre Klamotten beinahe vor Feuchtigkeit verschimmeln ließ. Deshalb schlug sie sich nun bereits eine Weile in Emden durch. Bei schlechtem Wetter waren Städte besser geeignet. Hier gab es wenigstens einige brauchbare Hilfsangebote.
Während sie sich den Mund mit dem Handrücken abwischte, dankbar rülpste und die leere Dose in Richtung Feuerstelle kickte, fasste sie den Entschluss, schon am nächsten Tag in Richtung Leer zurückzuwandern. Dort würde sie bei ihrer Schwester, die Anfang des Jahres Witwe geworden war, die kalte Jahreszeit zubringen dürfen. Das war ein besonderes Privileg, das ihr Herz erwärmte. Satt und entspannt, unter einem schützenden Berg von alten Textilien geborgen, dämmerte sie hinüber in das Reich der Träume.
Jonas lungerte schon eine ganze Weile an der menschenleeren Bushaltestelle in Hilmarsum herum, als er seinen Freund von weitem kommen sah. Er schien einen Hund an der Leine zu führen. Das konnte keinesfalls der furchterregende Jagdhund sein, den Dr. Hackenbruch abgerichtet hatte und dem der Junge mit großem Respekt lieber aus dem Weg ging.
Als Hacke in den Schein der Straßenlaterne trat, nahm sein Freund einen kleinen Yorkshire in Augenschein, der an seiner Leine zitterte, obwohl es ein recht angenehmer und ausnahmsweise trockener Spätsommerabend war.
„Das soll ja wohl erst mal ein Hund werden, wie?“ Jonas lachte schallend und hielt sich den fetten Bauch. Aber sein Blutsbruder warf ihm nur einen kurzen eisigen Blick zu, um das blöde Gelächter im Keim zu ersticken.
„Ist mir sozusagen zugelaufen, die Ratte. Das kommt uns natürlich sehr gelegen.“ Er blinzelte vielsagend und schlug mit der flachen Hand auf das Schwert, welches in einer Scheide an seiner Schulter baumelte. Dann wechselte er sofort das Thema, erzählte von seinem Urlaub, wobei er sich wie immer über den strengen Vater und die endlosen Wandertouren beklagte. Anschließend fragte er leutselig, wie es Jonas so ergangen sei.
Natürlich war Zuhause in Emden nichts Weltbewegendes abgegangen. Aber Jonas hätte sowieso nicht unbefangen erzählen können. Er sah nun schattenhaft das verfallene Haus vor sich, dem sie mit jedem ihrer Schritte auf dem einsamen Weg zustrebten. Zwischendurch blickte er immer wieder auf den kleinen Hund, der sich, als habe er eine böse Vorahnung, an der Leine störrisch hinterher ziehen ließ.
Sein Magen begann zu rebellieren. Würde er das blutige Ritual in gesteigerter Form noch einmal durchstehen? Er räusperte sich laut und vernehmlich. Ein Spuckklecks landete in einem Bogen seitlich im Gras.
„Benimm dich Jonas Fokken! Du bist hier nicht auf dem Fußballplatz. Wir sind keine Proleten“, schimpfte Hacke, als sei er sein eigener Vater, der strenge Dr. Hackenbruch seines Zeichens Hals-Nasen-Ohrenarzt.
Jonas verstand nicht wirklich, was er meinte, hielt sich aber mit dem Spucken zurück und versuchte gegen das Unwohlsein anzuschlucken. Das alte Gemäuer war bald erreicht. Es gab keine Möglichkeit mehr, zu entkommen. Er schickte sich innerlich in das Unvermeidliche.
Plötzlich hielt Hacke inne. Er lüpfte die Sturmhaube und streckte die Nase witternd in den Wind.
„Riechst du das? Da scheint jemand unser Feuer angezündet zu haben.“ Der hochaufgeschossene drahtige Junge legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und sah Jonas bedeutungsvoll an. Dann zupfte er die schwarze Haube wieder zurecht und schlich langsam zum kaputten Fenster des Gebäudes.
Die beiden schwarzen Gestalten lugten argwöhnisch durch die total verschmutzten gesplitterten Scheiben. Sie sahen das nur noch schwach kokelnde Feuer, unweit davon, im milden Schimmern der Glut, einen Haufen, der aus Altkleidern zu bestehen schien. Keine Menschenseele war zu entdecken.
Hacke fasste seinen Freund mit erstaunlicher Kraft am Handgelenk und zog ihn ohne einen einzigen Laut hinter sich her zur schwarzen Öffnung der ausgebrochenen Eingangstür, die seither schräg an der Wand lehnte. Der Yorkshire, Witterung aufnehmend, zog nun ungeduldig an der Leine, um ins Innere zu gelangen. Die beiden Blutsbrüder schlichen vorsichtig in den Raum mit dem leise knisternden Feuer.
Da riss sich das Hündchen unvermittelt los, jagte auf den Wäscheberg zu und begann mit einer lauten Stimme zu kläffen, die ihm keiner zugetraut hätte. Jonas stand noch immer verwirrt in der Tür, während Hacke das blanke Samurai-Schwert mit beiden Händen fasste, um sich notfalls dem Teufel und seiner Armee entgegen zu stellen.
Bewegung kam in die bunten Lumpen. Ein struwweliger grauer Kopf erhob sich. Dann starrten die beiden in ein verwittertes Gesicht mit zwei schlaftrunken um sich blickenden wasserblauen Augen.
Das Hündchen sprang auf den Kleiderberg und kläffte, als gelte es sein Leben. Die Alte stimmte sofort mit einem grellen langgezogenen Schrei ein. Es klang zum Gotterbarmen schrecklich, als haben sich die Pforten der Hölle geöffnet.
Jonas nahm wie in einem Traum wahr, dass das blanke Metall plötzlich im Feuerschein glänzte, als Hacke einen Ausfallschritt machte. Ohne zu zögern holte er mit beiden Händen zu einem gewaltigen Schlag aus, der das graue Haupt mit einem unvergleichlich ekelerregenden Geräusch scheinbar mühelos vom Rumpf trennte.
Stille!
Blut spritzte wie eine Fontäne an die ausgeblichene Blümchentapete, auf den Berg von alten Klamotten und sogar bis zu Hacke. Jedoch schluckte die schwarze Kleidung die Flüssigkeit ohne sichtbare Spuren. Vom blanken Schwert triefte hingegen der rote Lebenssaft in mehreren Rinnsalen anklagend herab. Der jugendliche Täter ließ es für diesen Moment auf die Fliesen sinken, als sei es ihm zu schwer geworden. Mit einem seltsam entrückten Gesichtsausdruck wanderte sein Blick über das Schlachtfeld, welches er im Bruchteil einer Sekunde heraufbeschworen hatte.
Jules Kopf war seitlich herab gestürzt und ein Stück in Richtung des Feuers gerollt. Jonas starrte entsetzt in die gebrochenen Augen unter dem wirren blutbesudelten Haarschopf. Die Zunge steckte zwischen den lückenhaften Schneidezähnen fest, und aus dem durchtrennten Hals quoll es dunkelrot hervor. Der Junge würgte und übergab sich schmerzhaft in eine Ecke des Raumes, dann begann er hemmungslos zu schluchzen.
„Was hast du getan? Oh, was hast du nur gemacht?“ Stotterte er und sank in die Knie, weil die zitternden Beine seinen massigen Körper nicht mehr tragen wollten.
„Ist doch besser, als der elende mickrige Köter, findest du nicht? Das war echt wyld, sag ich dir! Da kommt nichts ran, was ich bisher erlebt hab. Das ist wie auf Dop - nur noch geiler.“ Hacke beachtete seinen zusammengesunkenen Freund überhaupt nicht. Er wirkte so, als führe er ein Selbstgespräch.
Zögernd hob er das Schwert vom Boden auf, wog es eine Weile ehrfürchtig in den Händen, als wolle er es begutachten, dann ergriff er ein ihm am nächsten liegendes Kleidungsstück und begann damit das Blut sorgsam, fast liebevoll von der Klinge zu wischen.
Jonas rieb sich derweil die Tränen aus den Augen und beobachtete erstaunt, dass Hacke ganz unberührt von dem grausigen Geschehen penibel seinem Sauberkeitsfimmel frönte.
Sein erster vernünftiger Gedanke galt dem kleinen Hund, der inzwischen kläffend das Weite gesucht hatte und noch einmal mit dem Leben davon gekommen war.
Aber was sollte nun werden? Hacke hatte die alte Pennerin getötet. Das würde ein Nachspiel haben. Das war Mord. Dafür ging man in den Bau. Und er selbst hatte tatenlos dabei zugesehen!
„Was machen wir nur? Verflucht, was sollen wir jetzt nur tun?“, jammerte der Fleischberg und begann wieder zu wimmern.
„Hey, ich dachte du bist ein Macher? Dann flenne gefälligst nicht, wie so‘n albernes Girlie!“ Hacke hatte sich mit dem blanken Schwert in der Hand ein, zwei Schritte auf Jonas zu bewegt. Der hob erschreckt den Kopf von den Knien und hörte sofort mit dem Heulen auf.
„Na also, geht doch! Und nun überlegen wir wie zwei erwachsene Männer, was am besten zu tun ist.“ Er schob mit äußerster Entschlossenheit die scharfe Waffe zurück in die Scheide und hockte sich dann im Schneidersitz neben das Feuer, um nachzudenken.
Jonas beobachtete den Freund mit unverhohlener Bewunderung. Er wusste zwar nicht, was ein Samurai genau war und schon gar nicht, wie einer aussah, aber gewiss war Hacke diesen legendären Kämpfern ebenbürtig.
Er hatte nach der Grundschule mit japanischem Kampfsport angefangen. Dr. Hackenbruch ließ ihm Privatunterricht geben, weil sein Sohn sich in keinen Sportverein wirklich einfügen wollte. Aber seither hatte sich sein Äußeres allmählich verändert. Inzwischen war er fast genauso groß wie Jonas, nur dass er einen schlanken geschmeidigen Körper besaß, der durch Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer beeindruckte.
Wenn Jonas es auch bereitwillig mit fast jedem Gegner aufnehmen könnte, gegen Hacke würde er kneifen. Der hatte bodenlose Tricks auf Lager und kannte keine Gnade.
„Wir werden den ganzen Scheiß abbrennen! Wenn sie die verkohlte Alte überhaupt irgendwann finden, denken die, dass sie im eigenen Feuerchen verschmort ist. Lass die Hexe brennen!“ Hacke lachte wie irre und konnte gar nicht mehr aufhören. Jonas rappelte sich mühsam auf. Er versuchte ein breites Grinsen, was ihm allerdings entgleiste und ihn wie einen bedauernswerten Trauerkloß aussehen ließ.
„Nur eine kleine Trophäe muss ich mir mitnehmen“, murmelte der vermeintliche schwarze Samurai. Er ergriff den leeren Rucksack der Alten, dann packte er den grauen Kopf bei den Haaren und stopfte ihn ohne Zögern hinein.
Jonas beobachtete das Geschehen mit offenem Mund und entsetztem Blick.
„Nun halte hier nicht Maulaffenfeil, wir haben zu tun!“ Routiniert schulterte Hacke das Schwert und stellte den Rucksack neben die Tür. Anschließend kommandierte er Jonas herum, bis sämtliches Holz in der Feuerstelle loderte. Geschickt legte er eine Spur aus den alten Textilien von der Lagerstatt bis in die Glut und ließ die munteren Funken hungrig danach greifen.
Gierig begannen in der Hausruine die Flammen überall zu züngeln, bis es innerhalb kürzester Zeit lichterloh brannte. Die beiden Jungen, die sich rechtzeitig davon gemacht hatten, bezogen einen Beobachtungsposten in sicherer Entfernung versteckt in einem Gebüsch.
Das Flammeninferno, unterstützt von einem böigen Spätsommerwind, breitete sich unaufhörlich aus und ergriff schon bald das morsche Dach. Als dieses schließlich mit dumpfem Getöse in sich zusammenbrach, machten sich die Freunde auf und davon.
Jeder der beiden strebte seinem behüteten Zuhause entgegen, um in ein gemütliches Bett zu kriechen, als sei überhaupt nichts geschehen.
Lina Eichhorn hatte sich an diesem Freitag dem 13. Freigenommen, und sie hoffte, dass das Datum kein schlechtes Omen war. So lange hatte sie ihrem alten Vater schon versprochen, mit ihm nach Hamburg zu einem Fußballspiel zu fahren, und es hatte einfach nicht klappen wollen. Meistens lag es an ihrem Dienstplan. Das Verbrechen richtete sich eben nicht nach den privaten Vorhaben der Kriminalisten.
Aber zusätzlich war diese vermaledeite Viruspandemie dann gekommen. Das hatte zum einen noch mehr Arbeit für die Polizei gebracht und zum anderen Fußballspiele in leeren Stadien ohne Zuschauer nach sich gezogen. Sie hatte wegen der Ansteckungsgefahr phasenweise ihren Vater im Altenheim nicht einmal besuchen dürfen. Nun schienen diese schwierigen Zeiten, Dank der zur Verfügung stehenden Impfung, glücklicherweise dem Ende zuzugehen
Endlich saßen sie auf ihren Plätzen im Stadion am Millerntor und fieberten dem Derby entgegen, das sich der 1. FC St. Pauli mit dem Hamburger SV heute liefern würde.
Eigentlich hatte Lina mit der Bahn anreisen wollen, aber es kam ihnen ein Streik in die Quere, so dass sie sich mit dem PKW über verstopfte Straßen plagen mussten. Vor dem Stadion waren dann zahlreiche Einsatzkräfte damit beschäftigt Krawalle beizulegen, die sich unter den gegnerischen Fans entzündet hatten. Sie beneidete die Kollegen nicht um diese Aufgabe.
Ihr Vater, ein eingefleischter HSV-Fan, war sehr nervös, weil er einen Sieg seiner Mannschaft herbeisehnte. Er hatte während der Fahrt von nichts anderem gesprochen, als dass der Gewinner dieses Spiels die Tabellenführung übernehmen würde und damit natürlich dem Aufstieg in die erste Liga wieder ein Stück näher rücken könnte.
„Der HSV ist ein Traditionsverein. Der muss unbedingt wieder erstklassig werden. Das Gedümpel in der zweiten Bundesliga dauert mir schon viel zu lange. Heute könnten die den Durchbruch schaffen“, zeterte der Alte auch jetzt, während der Schiedsrichter das Spiel endlich anpfiff. Die Zuschauer ringsum brachen in Jubel aus. Das Stadion bebte von der freudigen Erwartung auf das lange vermisste Privileg, ein solches Spiel Live zu erleben.
Leider schien dieser Freitag der 13. für den HSV kein Glückstag zu werden. St. Pauli schoss das erste Tor und nur mühsam gelang den Gegnern ein 1:1 gegen Ende der ersten Halbzeit. Der Vater war nicht mehr ganz so euphorisch, als sie sich in der Spielpause ein Getränk gönnten.
„Hoffentlich vergeigen die das nicht wieder! Nun sind wir extra hergefahren, und du musstest dir auch noch frei nehmen. Das wäre ja wirklich blöd, wenn sie das vermasseln, bei der tollen Stimmung, die hier ist.“ Der alter Herr sah sie traurig an.