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Dies ist ein fantastischer Zukunftsroman über eine Gesellschaft, die zweitausend Jahre nach einer großen nuklearen Katastrophe auf unsere Erde existiert. Sie besteht nur noch aus Frauen. Die wenigen maskulinen Wesen können lediglich im zoologischen Garten bestaunt werden. Aurea, ein hübsches wohlerzogenes junges Mädchen, wird durch ihre neue wilde Schwester Proles in einen Strudel von Abenteuern gezogen, der sie beide über die Grenzen der zivilisierten Gesellschaft hinaus wirbelt. Für Überraschungen und spannende Unterhaltung ist gesorgt.
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Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Zoobericht
Festtagsstimmung
Doktorin Ferox
Fama
Zuwendungen
Pläne und Fragen
Proles
Kritische Stimmen
Nervensache
Doktorin Sella
Im Labor
Umzugsvorbereitungen
Das neue Heim
Urlaubspläne
Zerwürfnisse
Beziehungsprobleme
Eiszeit
Verbotene Pläne
Flucht
Urwald
Der See
Seltsame Erfahrungen
Verschiedenartige Genüsse
Mütterleid
Geheimnisse
Unerwünschter Besuch
Unwetter
Aufbruch
Die Bestie
Eine Trophäe
Nachwuchs
Trennung
"Dein Bericht über unseren Zoobesuch ist besonders lebendig, Aurea. Wenn die anderen einverstanden sind, werden wir ihn für den Schülerinnen-Wettbewerb vorschlagen." Frau Opis wedelte mit dem winzigen Speicherkristall durch die Luft, so als könne irgendjemand im Klassenraum darauf etwas von dem Text erkennen.
Aurea errötete. Sie stand nicht gern im Mittelpunkt. Die Mitschülerinnen neideten ihr, dass sie durch ihre guten Leistungen bei den Lehrerinnen besonders beliebt war. Eigentlich hatte sie in der Oberstufe aus diesem Grund schon keine Freundin mehr.
Das war ziemlich hart für sie. Zumal auch ihre Mutter wenig freie Zeit hatte. Sie arbeitete als Wissenschaftlerin im bedeutenden naturwissenschaftlichen Zentrum der Stadt und kam manchmal tagelang nur zum Schlafen nach Hause.
Eine freundliche kleine Hausmeisterin hielt zwar die Wohnungsroboter unter Aufsicht, aber außer einiger belangloser Worte erhielt das junge Mädchen auch von ihr keine Zuwendung.
Die Amme war bereits aus ihren Diensten ausgeschieden, als Aurea zehn Jahre alt wurde. Sie war lieb und mollig gewesen, ihre Lenis, eine richtig knuddelige Mami. Und wenn sie jetzt daran dachte, wie sie als kleines Mädchen in ihren weichen Armen gekuschelt hatte, wurde sie vor Sehnsucht ganz traurig.
Ja, wenn sie eine echte Freundin hätte, eine, der frau alles anvertrauen könnte, eine, mit der frau durch dick und dünn gehen könnte, eine, die nicht vor Nähe und Zärtlichkeit zurück schreckte ...
"Aurea, Aurea, schläfst du?", brüllte die hyperaktive Lehrerin sie lachend an. "Bist du nun damit einverstanden, uns das Kapitel über die Primaten selbst vorzutragen?"
Die Schülerin schüttelte ihre Erinnerungen ab und wandte sich etwas widerwillig ihrer Klasse zu, während sie tonlos und ohne jegliche Begeisterung zu sprechen begann: "Wenn ihr es hören wollt, gern."
Dann schob sie das Kristallplättchen in die Vorrichtung an ihrem Multifunktions-Armband, kurz MFA genannt, und mit einem einzigen präzisen Gedanken fand sie sofort die richtige Stelle ihres Berichtes. Der Text wurde, so schnell sie es wünschte, gleich in die entsprechende Gehirnstelle eingespeist. Nun entschied sie sich selbstverständlich für das Sprachzentrum und die Geschwindigkeit, mit der die Übertragung stattfand, wurde automatisch ihrem Sprechrhythmus angepasst.
Wie bei allen ihren Zoobesuchen hatte sie sich in der Primatenabteilung besonders lange aufgehalten. Entsprechend interessant und umfangreich war ihr Bericht darüber dann ausgefallen.
Der Zoo befand sich nicht weit von ihrem Zuhause. Und da ihre Mutter im Institut unmittelbar daneben arbeitete, hatte Aurea bei den vielen exotischen, teilweise unter schwierigsten Bedingungen nachgezüchteten Tieren, so etwas wie eine zweite Heimstatt gefunden.
Schon als ganz kleines Mädchen war sie mit Lenis im Gleiter mal über und mal zwischen den verschiedenen Freilandgehegen und Käfigen umhergeflogen. Die riesigen stark behaarten Elefanten trompeteten jedes Mal aufgeregt, und die Giraffen reckten die langen gefleckten und seltsam buckligen Hälse nach ihnen. Nur die sanften schwarz weißen Kühe mit den schlanken gezwirbelten Hörnern schwenkten ihre bodenlangen dicken Schwänze und ließen sich nicht eine Sekunde beim Grasen stören.
Zwischendurch gab es regelmäßig eine Pause mit irgendeiner Leckerei bei der Schimpansen-Familie. Meistens war Aureas Begeisterung groß, wenn sie die fröhlichen Tierchen mit den vier starken Gliedmaßen bei ihren Turnübungen oder bei ihren seltsamen Essgewohnheiten beobachten durfte. Aber je älter sie wurde, zog eine andere Abteilung der frauenähnlichen Wesen sie viel mehr an.
Das war das Haus der Homomaskulinen.
"Es ist warm im Glashaus der Homomaskulinen. Die Sonne scheint blendend durch die blanken fast unsichtbaren Scheiben in den üppig bepflanzten Garten. Ein seltsam strenger Geruch dringt bis auf die Zuschauerterrasse.
Ich bin den anderen vorausgeeilt, habe die Abteilung der heimischen Tierwelt mit Bären, Luchsen, Wölfen und den großen Greifvögeln ausfallen lassen, um einige Momente in Ruhe meinen intensiven Betrachtungen zu widmen.
Sie streiten wieder. Heute wirken sie aggressiv und laut. Obwohl ich gerade die einzige Zuschauerin bin. Sie scheinen erneut Rangkämpfe auszutragen. Es ist Frühjahr, das macht sie immer sehr unruhig.
Zwei riesige muskulöse Exemplare mit struppigen langen Bärten und dunkler Körperbehaarung ringen miteinander. Sie stoßen dabei die typischen unartikulierten Schreie aus. Der Rest der Herde kauert am Boden und wohnt dem faszinierenden Schauspiel mit offensichtlicher innerer Beteiligung bei.
Es erschallen Laute, die Anfeuerungsrufe sein könnten. Wem von den beiden Kämpfern sie gelten, kann ich leider nicht feststellen. Einige jüngere Homos sondern sich jetzt ab und beginnen das Kampfgeschehen nachzuahmen. Sie haben keine richtigen Bärte und ihre Körper sind noch unbehaart. Aber nur stellenweise schimmert helle Haut zwischen dem Schmutz hervor, in dem sie sich ständig suhlen.
Sie kämpfen ungelenk und hitzig. Schon bald liegen mehrere von ihnen übereinander und ziehen sich gegenseitig die nackten Schwänzchen lang. Während sie kreischen und blaffen, geht der echte Kampf in voller Härte weiter. Die Gegner haben sich mit den scharfen Krallen und großen gelben Zähnen gegenseitig blutende Wunden zugefügt. Ein zitternd dabei hockender Greis hält sich abwechselnd die Augen zu und laust dann wieder ein auf seinem Schoß sitzendes Jungtier.
Mit einem durchdringenden Schmerzensschrei quittiert der offenbar schwächere Kämpfer einen soeben eingesteckten Tritt in den Unterleib. Er windet sich anschließend blutend am Boden. Bevor der Überlegene nachsetzen kann, erscheint die Wärterin mit der Betäubungspistole.
Die Frau ist kräftig und furchtlos.
Die Homomaskulinen wissen, dass sie ihre Herrin ist. Sie flüchten winselnd bis in die äußerste Ecke des Gartens. Nur der Schwerverletzte bleibt erschöpft liegen.
Der Sieger hingegen richtet sich zu voller Größe auf. Er mag an die zwei Meter messen. Sein Haar ist blutverschmiert. Eine nässende Wunde klafft an seinem Oberschenkel. Er ballt die Hände zu Fäusten, trommelt damit auf seine mächtige Brust und stößt ein ohrenbetäubendes Triumphgeheul aus. Dabei dreht er sich im Kreise, so als wolle er seinen Sieg in alle Himmelsrichtungen verkünden.
Kurz streift mich sein wilder Blick.
Ich erstarre beinahe zu Eis vor Grauen, bei der Begegnung mit seinem gierigen Augenpaar, das eine brutale ursprüngliche Macht offenbart. Dann trifft ihn der Strahl der Waffe. Sein kraftvoller Schrei erstirbt zu einem gurgelnden Laut. Der Koloss sackt betäubt in sich zusammen."
Die Mitschülerinnen saßen atemlos mit weit aufgerissenen Augen da und lauschten Aureas Erzählung. Nicht mit einem einzigen Wort hatte sie ihre Beobachtungen während des gemeinsamen Zoobesuches erwähnt.
Als die Gruppe beim Haus der Homomaskulinen aufgetaucht war, hatte die Wärterin die beiden verletzten Exemplare längst weggeschafft. Schließlich kamen die Zuschauerinnen zu ihrer Erbauung in den Zoo und sollten hier keine blutverschmierten Tiere präsentiert bekommen. Es musste immer alles ordentlich, artgerecht und sauber wirken.
"Ist ganz passabel, der Bericht. Aber ich glaube, da ist wieder die Fantasie mit Aurea durchgegangen. Die Homos sind zwar stinkende gierige Wesen, sie würden sich jedoch nicht gegenseitig fast umbringen." Es war Fama, die sich wie immer gegen sie stellte.
Aber Frau Opis ergriff sofort die Partei ihrer Lieblingsschülerin: "Fama, ich glaube du hast das Biologieprogramm nicht sehr intensiv bearbeitet. Sonst wäre dir sicherlich bekannt, dass die Homomaskulinen höchst aggressiv und deshalb, wie die großen Raubkatzen, nicht zu domestizieren sind. Dass sie mit ihrer Gewalttätigkeit auch nicht vor der eigenen Spezies haltmachen, haben sie im Verlauf der Frühgeschichte schon ausreichend unter Beweis gestellt. Oder ist die Historie etwa auch nicht deine Stärke?"
Es entwickelte sich eine rege Diskussion. Aurea war vorerst froh, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses stand.
Bei einer sachlichen Debatte hatte sie immer gute Argumente, weil sie die vorgeschriebenen Schulprogramme nicht nur unreflektiert in ihr Gehirn abspeicherte. Sie beschäftigte sich oft tagelang mit einem Kapitel, bis sie alle Lerninhalte vollkommen durchdrungen hatte. Das zahlte sich bei Diskussionen und Prüfungen aus. Sie bemerkte auch, dass sie nach und nach immer leichter und schneller lernte.
Ihre Gehirnkapazität hatte schon fast ihr Maximum erreicht, und manchmal fühlte sie sich den Lehrerinnen sogar überlegen. Diese waren immer nur Expertinnen für einen bestimmten Lernbereich. Aurea hingegen beschäftigte sich seit Jahren mit sämtlichem vorhandenen Wissen. Ihre Sammlung an Lernchips war fast vollständig. Es fehlten nur noch wenige Bereiche auf dem Gebiet der Staatslehre.
Sie musste ehrlich zugeben, dass sie sich für gesellschaftliche Belange nicht so sehr interessierte, wie für die Naturwissenschaften. Vielleicht war das ein Erbe ihrer Mutter, oder es lag an ihrem nicht gerade ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl. Glücklicherweise war diese Wissenslücke bisher noch von keiner Lehrerin wirklich bemerkt worden.
Der theoretische Unterricht war für heute beendet. Die Schülerinnen zerstreuten sich schnell. Fast alle bewegten sich in kleinen Gruppen den Aufenthaltsorten für die Mittagspause zu. Die meisten nahmen an der gemeinsamen Mittagstafel in der Schule teil. Einige benutzten auch ihre Gleiter, um für zwei Stunden nach Hause zu fliegen.
Aurea hatte es nicht sehr weit. Sie schlenderte gern durch die gepflegten hellen Straßen, an bunten flimmernden Werbe-Hologrammen vorbei zu ihrer Wohnung im nächsten Stadtviertel.
Gemeinsam mit ihrer Mutter lebte sie in einem riesigen, sehr schön begrünten, Terrassenhaus. Sie konnte von dem geräumigen Balkon über die Stadt bis zur Schule und an der anderen Seite bis zum Zoo sehen.
Gern zog sie sich hierher in den Mußestunden zurück. Meistens lag die Wohnung mittags verlassen und friedlich da. Die Möblierung war hell und freundlich. Die Wohnungsroboter sorgten unaufdringlich für Ordnung, Sauberkeit, gute Belüftung und jeglichen Service, den eine Frau innerhalb ihrer eigenen vier Wände benötigte.
Aurea näherte ihr MFA kurz der Markierung an der Wohnungstür. Sie erhielt gleichzeitig mit dem Piep-Ton, der die Tür öffnete, das Signal, dass sich bereits jemand in der Wohnung befand. Ihr Herz begann erregt zu schlagen, so dass die kleine Leuchtdiode an ihrem Handgelenk, die ihre sämtlichen Körperfunktionen ständig überwachte, für kurze Zeit blinkte. Konnte es möglich sein, dass ihre Mutter um diese ungewöhnliche Zeit zu Hause war?
"Friede sei mit dir, Aurea! Isst du heute nicht in der Schule?", kam die schlanke große Frau auf ihre Tochter zu. Sie gab ihr einen flüchtigen Kuss und drückte sie kurz an ihr Herz.
"Hi, Anima! Friede mit dir! Ich esse doch fast nie in der Schule. Aber was machst du heute so früh schon zu Hause? Hast du etwa Urlaub bekommen?", antwortete die Tochter erstaunt und erfreut zugleich.
"Na, ja, nicht direkt. Aber ich habe in der letzten Zeit soviel gearbeitet, dass ich heute mal ein wenig ausruhen darf. Ich bestelle uns jetzt etwas Ausgefallenes zum Essen, ja? - Wir haben übrigens Besuch."
Die Mutter zog das Mädchen hinter sich her ins Speisezimmer. Dort rekelte sich eine üppige Brünette bereits auf einem der Sitzkissen um den niedrigen Tisch, als ob sie hier ebenfalls zu Hause wäre.
Aurea wirkte nicht gerade begeistert, als Anima die Fremde vertraut um die Schultern fasste und liebreizend lächelnd vorstellte: "Das ist Doktorin Ferox, eine ganz entzückende Kollegin aus dem Institut. Ich habe sie heute zum Essen eingeladen."
Die Brünette drückte Anima einen zärtlichen Kuss auf die Wange, erhob sich dann und nahm die widerstrebende Aurea in den Arm, um sie zu begrüßen. Das Mädchen spürte den vollen weichen Busen der Frau. Es war eine andere Berührung, als die ihrer schlanken kühlen Mutter. Ferox schob sie nun mit ausgestreckten Armen von sich, um sie eingehend zu betrachten. "Eine wunderhübsche Tochter hast du da, Anima. Wenn sie wirklich so intelligent ist, wie du erzählt hast, wird sie eine glänzende Zukunft haben."
Aurea blieb bei der Begrüßungszeremonie völlig passiv. Sie fand die Frau nicht unsympathisch. Aber irgendwie vermutete sie, dass Mutter zu ihr eine tiefere Beziehung hatte. Die kindliche Eifersucht regte sich heftig in ihr. Sie mochte diese Art von besten Freundinnen ihrer Mutter überhaupt nicht. Sie entrissen ihr auch noch das letzte bisschen Liebe und Zuwendung der viel beschäftigten Frau.
Schweigend hockte Aurea am Esstisch. Der Bedienungsroboter brachte die Reinigungstücher für die Hände und bekam von der Hausfrau die Bestellung vermittelt. Kurze Zeit später erschien er mit den Speisen in warmen Schüsseln.
Die beiden Frauen beachteten Aureas Verstimmung nicht, sondern unterhielten sich sehr angeregt über ein neues Fitnessprogramm. Das Mädchen löffelte das schmackhafte Algengericht wortlos in sich hinein und trank dazu aromatisiertes mit Vitaminen angereichertes Wasser.
Plötzlich schien der Mutter aufzufallen, dass Aurea sich wie ein ausgemusterter Gleiter vorkommen musste.
"Habe ich dir erzählt, dass Doktorin Ferox Versuche mit Homomaskulinen macht? Du interessierst dich doch so sehr dafür. Vielleicht berichtet sie dir gelegentlich davon. Oder du kannst sie sogar mal im Institut besuchen", verkündete sie aufmunternd.
Die Üppige sah sie lächelnd an und nickte zustimmend, dann meinte sie: "Aber heute wollen wir richtig ausspannen und nicht über die Arbeit reden. Einverstanden?"
Anima gab der Freundin einen bestätigenden Kuss auf die Wange.
"Ich schlage vor, dass wir nach dem Essen etwas entspannen und dann ins Freizeitzentrum gleiten. Aurea, wenn du am Nachmittag nichts anderes zu erledigen hast, kannst du gern mit uns kommen."
"Ich weiß nicht recht - eigentlich muss ich auf dem Gebiet der Staatslehre noch einiges einspeichern. Aber besonderen Spaß macht mir der Gedanke gerade nicht." Aurea war unentschlossen. Insgeheim hatte sie Angst davor, sich das Geturtel der beiden Verliebten den ganzen Nachmittag ansehen zu müssen. Sie kannte ihre Mutter diesbezüglich nur zu gut. Solange eine Beziehung sehr frisch war, stellte sie leicht alles andere dafür zurück.
Aber ihre Liebschaften kühlten sich immer genauso plötzlich wieder ab, wie sie begonnen hatten. Zu einer Wohngemeinschaft, wie sie viele andere Frauen pflegten, hatte es bei Anima niemals gereicht. Vielleicht war die Mutter einfach zu anspruchsvoll, was ihre Partnerinnen anging.
Während Aurea sich auf ihrem Silikonbett ausruhte, ließ sie sich von sanfter Musik, die mit Vogelgezwitscher untermalt war, beruhigen. Wohltuende zarte Lichtreflexe, wie sie in einem Frühlingswald vorkommen, umgaben sie ringsum.
Der Wohnungsroboter sorgte für das passende Luftgemisch mit dem entsprechenden Aroma. Aber ihre Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. Anstatt in die gewünschte tiefe Meditation zu verfallen, beschäftigte das Mädchen sich mit Vorstellungen über die eigene Zukunft.
Ob sie selbst auch in ständig wechselnden Beziehungen ihre Befriedigung finden würde, wie ihre Mutter? Oder war es ihr beschieden eine oder mehrere feste Partnerinnen für eine Wohngemeinschaft zu finden?
Das war eigentlich in ihrer Gesellschaft gar nicht so selten. Famas Mutter lebte sogar mit vier Frauen gleichzeitig zusammen. Die Mitschülerin bildete sich darauf einiges ein, weil sie zu Hause jede Menge Zuwendung bekam. Sie wohnte mit der Mutter und deren Lebensgefährtinnen in einem supermodernen Haus am Stadtrand, gleich vor der unüberwindlichen Grenze zur Wildnis.
Nachts konnte sie angeblich die Schreie der wilden Tiere hören. Aber Fama machte sich gern wichtig. Sie wollte vor etwa einem Jahr tatsächlich beinahe von einem ausgebrochenen Homomaskulinen gekidnappt worden sein. Aurea fragte sich lächelnd, wer von ihnen beiden zu viel Fantasie besaß.
Plötzlich sprang ihr mit einem mächtigen Satz ein mittelgroßes lila Wollknäuel auf die Brust. Es entpuppte sich als ihre Katze Largiri, ein Geburtstagsgeschenk der Mutter.
Largiri war eine von den vielen neuen Züchtungen, die durch interessante genetische Experimente zustande kamen und auf den Wunschlisten der Mädchen an erster Stelle rangierten. Aurea kraulte Largiri hinter den übergroßen Ohren, bis das Tierchen dankbar schnurrte. Dann zauste sie das seidige lila Fell und zwickte sie in den buschigen kurzen Schwanz.
Die Katze liebte es, so mit ihr zu spielen, und Aurea hatte ebenfalls viel Spaß dabei. Sie vergaß für einige Minuten ihre Einsamkeit und die missgünstigen Schulkameradinnen. Largiri biss sich spielerisch in Aureas langem goldenen Haar fest und drehte sich fast ganz darin ein, so dass das Mädchen Mühe hatte, sich wieder von seiner drolligen Spielgefährtin zu befreien.
"Largiri, Schluss jetzt! Du reißt mir noch mein Haar aus. Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr! Was sollen Anima und ihre neue Freundin von mir denken, wenn ich wie ein zerrupfter Wuschel aussehe?"
Aurea rollte sich von ihrem Lager auf den Fußboden, um dem anhänglichen Schmusekätzchen zu entkommen. Da hörte sie auch schon die Stimme ihrer Mutter durch das MFA nach ihr rufen. Schnell richtete sie sich auf, strich ihr Haar ordentlich aus dem Gesicht und setzte Largiri in ihre kleine Schlafhöhle in einer Ecke des Zimmers. Dann begab sie sich eiligst in den Gemeinschaftsraum.
Doktorin Ferox hielt Anima fest umschlungen. Die beiden Frauen trugen bereits ihre Freizeitanzüge aus einem seidig glänzenden elastischen Material. Es wirkte wie eine zweite Haut, weil sich sämtliche Körperformen exakt abzeichneten.
Anima löste sich sanft aus der Umklammerung, als die Tochter den Raum betrat und meinte eine Spur vorwurfsvoll: "Aber Mädchen, du siehst ja ganz zerzaust aus und fertig umgezogen bist du auch noch nicht. Möchtest du den Nachmittag nicht mit uns verbringen?"
"Ach, Largiri hat mich nur gerade überfallen. Aber wenn ich es mir recht überlege, ist es wahrscheinlich besser, heute noch ein wenig zu lernen. Ich bekomme sonst diese fürchterliche Staatsgeschichte niemals in mein Gehirn."
Doktorin Ferox lachte wie eine helle Glocke.
"Staatsgeschichte mochte ich auch nie besonders. Nur die Frühgeschichte hat mich immer fasziniert - natürlich auch wegen der Homomaskulinen. Aber heute werde ich dir das nicht näher erläutern, denn dann kommen deine Mutter und ich überhaupt nicht zu unserem schönen freien Nachmittag."
Während die beiden Frauen miteinander scherzend das Haus verließen, verschwand Aurea im Pflegebereich.
Ein Roboter aus weichem angenehm warmem Material nahm ihr die Kleidung ab und begann mit der Körperpflege. Nach der feuchten Reinigung wurde die Haut im milden Luftstrom getrocknet und anschließend gesalbt und leicht massiert. Auch das schöne glänzende Haar pflegte der künstliche Diener mit einer wohlriechenden Lotion seidig und bürstete es mehrfach gut durch. Aurea fühlte sich jetzt angenehm frisch und wieder voll leistungsfähig.
Spielerisch drückte sie dem hilfreichen Pflegerobo einen Kuss auf den Deckel der Schaltzentrale. Danach beobachtete sie lachend, wie er mit einem Hygienetuch versuchte die Verunreinigung sofort zu beseitigen.
Sie wusste aus ihrer Erfahrung, dass er es nicht schaffen konnte, weil seine Greifarme dafür wenige Zentimeter zu kurz waren. In dem Nachfolgemodell war dieser Mangel beseitigt worden. Aber Anima hatte den alten Robo auf Aureas Bitten nicht auswechseln lassen. Sie hing an ihm, weil er sie schon als kleines Mädchen gepflegt hatte.
Jetzt entfernte sich die komplizierte Maschine, um sofort die Wartungszentrale aufzusuchen und den kleinen fettigen Lippenabdruck von Aureas sinnlichem Mund beseitigen zu lassen.
Ein Pflegerobo musste nämlich vor allem selbst immer hygienisch rein sein, sonst hätte er wohlmöglich Krankheitserreger von einer Frau zur anderen übertragen können. Außerdem pflegte er selbstverständlich auch noch Largiri. Aurea hätte sich schön bedankt, bei der Zahnpflege plötzlich auf lila Katzenhaare zu beißen!
Ein kleines Liedchen trällernd, bummelte sie wieder durch die belebten Straßen zur Schule zurück. Nachmittags wurden ihnen keine festen Auflagen für bestimmte Aktivitäten gemacht. Es gab jedoch viele gute Angebote, so dass fast keine Schülerin gern der Schule fern blieb.
Die Kreativlehrerinnen waren allesamt jung und wirklich sehr in Ordnung. Da hatte Aurea immer die Qual der Wahl. Am meisten Freude bereitete ihr das freie Gestalten von Plastiken aus verschiedenen modernen Materialien aber auch aus echtem Baumholz. Das Naturmaterial hatte diesen eigenen harzigen Geruch und fühlte sich auf eine seltsame Weise lebendig an, so dass Aurea es ganz besonders liebte, damit zu arbeiten.
Es war aber gerade nicht der Nachmittag der bildenden Künste, sondern der Musik.
Aurea steuerte zielsicher den Ort der Ruhe an. Sie hatte heute ausnahmsweise einmal nicht die Absicht, laute oder leise Klänge, aus welchen Instrumenten auch immer, zu erzeugen oder auch nur rezeptiv an ihr Ohr dringen zu lassen.
Mit dem MFA öffnete sie geräuschlos die Tür, die sich ebenso hinter ihr schloss. In dem runden Kuppelraum befand sich im Augenblick keine andere Schülerin. Aurea legte, wie es Vorschrift war, die Fußbekleidung ab. Dann näherte sie sich vorsichtig tastend einen Fuß vor den anderen setzend der Mitte.
Dort stand in einer gläsernen Vase eine wundervoll duftende zarte Blume. Es war jeden Tag eine andere Art mit einem anderen betörenden Aroma. Aurea hielt kurz vor dem kleinen grauen Podest inne, sog die Luft tief durch ihre Nase ein und ließ sie bis in ihre Lungenflügel strömen. Dann beugte sie die Knie und sank geschmeidig mit ihrem gesamten Körper auf den weichen wohl temperierten Boden.
Arme und Beine abgespreizt lag sie dort und drückte ihre Stirn in den gelartigen aber nicht klebrigen Bodenbelag. Irgendwie war es ein Gefühl, als schwämme sie ohne nass zu werden.
Ihre Gedanken kreisten noch eine Weile um die aufregenden Tagesereignisse, wurden dann aber zusehends träger. Schließlich kam eine wundersame Ruhe über sie. Zeit und Raum wurden eins, und dann waren sie kaum noch wahrnehmbar. Auch Aurea existierte nicht mehr. Sie wurde für kurze selige Minuten aufgesogen von der allmächtigen Urmutter, der alles Sein entsprang und zu der es am Ende zurückkehren würde.
Als Aurea morgens die Augen aufschlug, schien die Sonne ihr mitten ins Gesicht. Blinzelnd erinnerte sie sich, dass sie am Vorabend den Robo entsprechend programmiert hatte, sie auf diese Art zu wecken. Sie zog die leichte warme Decke über ihren Kopf und murrte leise.
Dann fiel ihr plötzlich ein, dass es ein ganz besonderer Termin war. Es handelte sich um den zweitausendsten Jahrestag der großen Rettung durch die heilige Urmutter!
Schon seit vielen Wochen und Monaten liefen die Vorbereitungen für diesen fröhlichen Feiertag. Keine Frau im Land sollte an diesem Tag einer Arbeit nachgehen. Und deshalb hatte auch Anima den ganzen lieben langen Tag frei. Frei für ihre Tochter Aurea!
Das Mädchen saß sofort hellwach auf ihrem Lager und wischte sich den Schlaf aus den Augen. "Mach das Licht aus und die Fenster auf", herrschte sie den Robo aufgeregt an. Der reagierte prompt. Von draußen strömte sofort klare Frühlingsluft ins Zimmer, und die echte Sonne stand strahlend am azurblauen Himmel.
"Ja, warum denn nicht gleich so?" Sie hüpfte aus dem Bett, breitete beide Arme aus und sang laut aus dem Fenster: "Oh, holde gnädige Urmutter, danke, dass du unsere Ahnfrauen vor dem Untergang bewahrt hast, und danke, dass wir heute den ganzen Tag feiern dürfen!"
Zwar sollte das Feiern in sehr geregelten Bahnen ablaufen, aber Aurea und ihre Mutter würden den Feierlichkeiten Seite an Seite, wenn nicht gar Hand in Hand, beiwohnen können. Nur für einige kurze Momente würde Aurea die Mutter verlassen müssen, nämlich dann, wenn sie im Schulchor der Göttin huldigen sollte. Aber dadurch hatte sie ja das Vergnügen, Anima als stolze Mutter im Zuschauerraum zu beobachten.
Welche Freude! Welche Freude!
Aurea konnte sich kaum zügeln. Sie ließ die Morgentoilette im Eiltempo über sich ergehen, so als habe sie an einem Schultag nicht früh genug aus dem Schlaf gefunden. Dann ordnete sie an, den Frühstückstisch zu decken und begab sich noch halb nackt ins Schlafzimmer der Mutter.
Der Raum war vollkommen dunkel. Sie hörte leise gleichmäßige Atemzüge. Wie sie es als kleines Kind manchmal getan hatte, kroch sie vorsichtig unter Animas Decke und kuschelte sich an.
"Huch, hast du aber kalte Beine", hörte sie eine fröhliche klare Stimme sagen. Es war nicht der Tonfall ihrer Mutter. Die rekelte sich erst jetzt und murmelte schlaftrunken: "Was ist denn hier los am frühen Morgen?"
"Deine Tochter ist gerade zu uns aufs Lager gekommen. Aber zu Dritt ist es hier ein bisschen eng. Außerdem hat das Mädchen schrecklich kalte Haxen. Hast du vielleicht in deinem jugendlichen Alter schon Durchblutungsstörungen?"
Aurea hatte die Stimme inzwischen als Doktorin Ferox identifiziert und antwortete etwas betreten: "Nein, ich war bloß so freundlich mich schon um das Frühstück zu kümmern, dabei ist mir etwas kühl geworden. Ich ziehe mich aber sofort richtig an." Enttäuscht verließ sie das Nachtlager der Mutter, während diese lachend den Befehl zum Öffnen der Fenster gab.
Aurea kleidete sich lustlos mit Hilfe des Robos in ihre weißen seidig schillernden Feiertagsgewänder. Da hatte sie sich schon seit Wochen so sehr auf diesen Termin gefreut und nun das!
Wenn Doktorin Ferox beabsichtigte, den ganzen Tag mit Anima zu verbringen, würde sie selbst keine Chance haben, die Aufmerksamkeit der Mutter für sich zu beanspruchen.
Anfängliche Wut ging langsam in eine lähmende Trauer über. Sie verspürte keinerlei Appetit mehr auf das angerichtete Frühstück. Sie hatte es ja auch nur für zwei Personen herrichten lassen. Sollte sich doch diese Ferox gleich am Morgen auf ihren Platz setzen! Sie würde auf dem Zimmer warten, bis es an der Zeit war, die Halle des Friedens aufzusuchen, um an den feierlichen Umzügen und den anschließenden Theateraufführungen teilzunehmen.
Largiri kam leise schnurrend aus ihrer Schlafhöhle. Ganz sanft, als spüre sie Aureas Seelenqualen, strich sie um das lange seidige Kleid. Das Mädchen nahm die Katze hoch und drückte das traurige Gesicht in das lila Plüschfell. Drei verlorene Tränen lösten sich dabei von den langen dichten Wimpern.
"Ach, süße Largiri, du bist wirklich die einzige Freundin, die ich auf der Welt habe", seufzte sie tief und ließ sich mitsamt dem Tierchen rücklings auf ihr Lager fallen. Dass ihr hübsches Festtagskleid dabei total verknitterte, interessierte sie nicht ein bisschen.