Scherenschnitte - Marion Scheer - E-Book

Scherenschnitte E-Book

Marion Scheer

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Beschreibung

Dieses Buch schildert besondere Momente, die aus dem Leben drei verschiedener Frauen quasi herausgeschnitten wurden und der Leserin tiefe intime Einblicke gewähren. Jede einzelne dieser menschlichen Existenzen öffnet Ihnen ihr ureigenes Universum. Die umrissenen Schicksale entstammen unterschiedlichen Zeitabschnitten und sind wahren Erlebnissen nachempfunden. Für anregende Unterhaltung ist gesorgt.

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Seitenzahl: 178

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Umschlagsgestaltung:

Marion Scheer

Inhalt

Die Engelmacher

Die Flankenfrau

Schick mal Bild mit Pinsel

Epilog

Danksagung

Zur Autorin

Die Engelmacher

1.

Lore geriet in Panik. Wieder und wieder wischte sie mit dem Fetzen aus Altpapier zwischen ihren Beinen herum.

Nicht der kleinste Tropfen Blut zeigte sich!

Es begann jetzt schon der dritte Monat, in dem sie vergeblich auf ihre Periode hoffte. Dabei war sie fest davon überzeugt gewesen, noch gerade eben ein starkes Ziehen in ihrem Unterleib zu spüren, so als habe ihre Regelblutung endlich eingesetzt.

Tränen rannen ihr über die bleichen eingefallenen Wangen. So viele verworrene Gedanken kamen ihr in den Sinn. Immer und immer wieder hatte sie in den letzten Wochen versucht sich abzulenken und ruhig zu bleiben. Absichtlich hatte sie mit niemandem über den Verdacht gesprochen, der nun trotzdem zu einer Tatsache geworden war.

Sie fühlte sich wieder guter Hoffnung!

Schließlich war sie – trotz ihrer Jugend – keine unerfahrene Frau, die an der Veränderung ihres Körpers eine aufkeimende Schwangerschaft nicht wahrnehmen könnte. Alle Anzeichen wiesen schon länger in diese Richtung. Bei ihrem Töchterchen, das sie mit achtzehn bekommen hatte, war ihr morgens immer schwindlig und übel gewesen. Das war nun nicht der Fall. Es würde also ein Junge werden. Genau wie der kleine Herbert, bei dem sie eine blühende Schwangere gewesen war, ganz ohne gesundheitliche Probleme.

Die hormonellen Umstellungen waren dennoch vorhanden. Die Brüste wurden praller, obwohl sie gerade abgestillt hatte. Sie spürte Appetit auf die seltsamsten Dinge. Erst gelüstete es sie nach einem Salzhering und dann nach einem Stück Sahnetorte mit einer Zuckererdbeere. Genau von der Sorte, die in der Ausstellung der Konditorei Schulte die Kunden anlockte und soviel kostete, wie ihr für den ganzen Monat an Haushaltsgeld zur Verfügung stand. Im nächsten Augenblick gierte sie nach einem Tomatensalat. Dabei waren Tomaten mitten im Winter nirgends zu bekommen.

Sie schüttelte den Kopf, so als wolle sie die verrückten Gedanken herausschleudern. Sollte sie sich doch wieder zur Rheinbrücke aufmachen? Schon zweimal hatte sie in der letzten Zeit dort in der eisigen Kälte gestanden und einen inneren Kampf ausgefochten.

Gottfried, ihr Mann, war währenddessen auf Nachtschicht gewesen. Das bringt mehr Geld in die Haushaltskasse, meinte er immer, wenn sie sich darüber beschwerte.

Als die Kinder eingeschlafen waren, hatte sie sich den abgetragenen Wintermantel übergezogen, den ihr die Tante aus einem ausrangierten Armeemantel geschneidert hatte. Er war warm und strapazierfähig. Und so kurz nach Kriegsende liefen viele Menschen in seltsamen Sachen herum. Die Not hatte noch kein Ende gefunden, obwohl es merklich aufwärts ging. Sie sollte sich nicht beklagen. Ihr Gottfried hatte Arbeit in einem Stahlwerk. Sie durften gerade eine moderne Werkswohnung beziehen und waren glücklicherweise alle vier wohlauf.

Warum musste sie mit dieser Schwangerschaft nun alles zerstören, was sie so mühsam erreicht hatten? Wieder weinte sie bitterlich. Das Geld würde nicht reichen, um ein weiteres hungriges Mäulchen zu stopfen! Sie konnten sich schon jetzt keine neuen Schuhe leisten.

Obwohl in den Schaufenstern inzwischen wundervolle Sachen angeboten wurden, musste sie gesenkten Blickes daran vorbeischleichen, weil ihre Familie in erster Linie Essen benötigte. Den neuen Gasherd, den kleinen Kohleofen und das Radio hatten sie auf Raten erworben. Deshalb blieb nun am Monatsende trotz ihrer Sparsamkeit nicht eine Mark übrig. An manchen Tagen konnte sie das Haus nicht verlassen, weil sie keine intakten Strümpfe hatte. Selbst das Laufmaschenaufnehmen kostete Geld.

Ja, sie würde nach den beiden Kindern sehen. Und wenn sie friedlich schliefen, wollte sie ein letztes Mal zur großen Brücke über dem dunkel schimmernden Fluss laufen. Diesmal würde es ihr gewiss gelingen, ihrem Elend ein Ende zu setzen.

Sie schleppte sich von der Toilette – ja, sie besaßen in der neuen zwei Zimmer Wohnung ein richtiges Badezimmer mit einem Spülklosett!

Bis vor acht Wochen hatten sie bei ihren Eltern gewohnt. Es war sehr beengt gewesen, und das stille Örtchen befand sich auf dem Hof in einem Holzverschlag. Dort wurde man von Fliegen umschwärmt, und es stank erbärmlich, außer im Winter. Dann fror einem die Scheiße am Hintern fest, wie ihr derber Vater immer schimpfte. Oft nahm er einen Spaten zur Hand und schlug den gefrorenen Haufen, der sich schon fast über den Rand des Plumpsklos wölbte, in kleine Stücke. Diese eklige Erinnerung schüttelte sie.

Aufmerksam horchte sie nun an der Schlafzimmertür. Es war ruhig. Wahrscheinlich schliefen die Kleinen schon. Mit übertriebener Vorsicht drückte sie die Klinke hinunter und schlüpfte in den dunklen Raum.

Beinahe andächtig horchte sie auf das leise Schnorcheln ihres kleinen Sohnes. Er hatte immerzu eine verschnupfte Nase, deshalb machte er nachts diese Geräusche. Obwohl sie alle in einem Raum schliefen, hatte es sie aber bisher nie gestört. Besser sie hörte, dass die Kinder ruhig schliefen, als dass sie sich Sorgen um sie machen musste.

Ihre Tochter Evelyn hatte manchmal Durchschlafschwierigkeiten. Sie stand dann plötzlich auf und lief mit weit aufgerissenen Augen durch die Wohnung. Schlafwandeln hatte der Kinderarzt das genannt. Er hatte davor gewarnt, das Kind gewaltsam aufzuwecken. Sie sollten es möglichst vorsichtig wieder ins Bettchen geleiten. Das konnte manchmal dauern. Einmal hatte Evelyn sogar ohne aufzuwachen mit Gottfried zusammen Bratkartoffeln gegessen, als dieser hungrig aus der Spätschicht gekommen war.

Lore zog das warme Deckbett über die Schulter ihres Töchterchens. Die Kleine schlief in einem Klappbett neben dem Ehebett, weil das Gitterbettchen jetzt mit ihrem elf Monate alten Bruder belegt war. Die Mutter musste sich zwischen den Betten hindurchzwängen, um das seidige Haar des Mädchens zärtlich zu streicheln. Sie liegt da wie eine Puppe, dachte sie und wich vorsichtig zurück, um sie nicht zu wecken. Ihr Strumpf blieb an einer Schraube hängen, die aus dem metallenen Bettgestell ragte.

Verdammt, wieder eine Laufmasche, wurde ihr entsetzt bewusst, und sie presste die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Während ihr Tränen der Frustration in die Augen stiegen, schlich sie aus dem Schlafzimmer.

2.

Lore lag jetzt wach und wartete schweren Herzens auf Gottfried.

Draußen auf der stählernen Brücke um Mitternacht hatte der eisige Wind im blassen Mondenschein ihren Mantel ergriffen, als versuche er, sich seiner zu bemächtigen. Was wollte der blöde Wind mit diesem alten Mantel, hatte sie sich einen Augenblick gefragt und über ihre Naivität beinahe lachen müssen. Wahrscheinlich hatte das den unheilvollen Bann gebrochen. Die Gesichter der Kinder waren unvermittelt in ihr aufgestiegen - unschuldige Augen, die hilflos ihre Mutter suchten.

Sie hatte wieder nicht springen können!

Egal was Gottfried ihr vorhalten würde, egal was ihre strengen Eltern oder die neugierigen Nachbarn sagen mochten, sie würde nicht ins Wasser gehen. Ihre beiden Kleinen brauchten eine Mutter.

Dann hörte sie ihn an der Wohnungstür. Er klapperte immer so laut herum und warf anschließend die Tür krachend ins Schloss. Dass andere Leute um diese Uhrzeit noch schliefen, interessierte ihn nicht. Glücklicherweise wurden Evelyn und Herbertchen nicht wach.

Noch bevor Gottfried aus seinen Sachen schlüpfen konnte, um im Bad zu verschwinden, stand sie in der Küche hinter ihm. Der kräftige Kerl schreckte zusammen und starrte sie irritiert an.

Normalerweise blieb sie im warmen Bett, bis er sich frischgemacht und ein paar Brote verschlungen hatte. Dann kroch er zu ihr und wärmte sich an ihr auf. Es war ihre liebste Stunde des Tages. Die Kinder schlummerten selig, und sie hatten eine zärtliche Zeit für sich allein. Anschließend schlief er immer tief und fest, und Lore konnte ihren Tag mit den Kindern ungestört beginnen.

„Was schleichst du hier herum?“ Er wirkte verärgert. Sie störte seine Weltordnung. Demütig drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Er rang sich ein verkniffenes Lächeln ab und streichelte über ihr wirres Haar.

„Ich muss erst ins Bad und bisschen abschalten, Loreschatz“, stöhnte er genervt. Sie ließ ihn ungehindert ins Bad gehen und schmierte ihm währenddessen die Brote mit seiner Lieblingswurst. Dann schenkte sie ihm ein großes Glas Milch ein. Das würde ihn versöhnen. Vielleicht konnte sie nachher mit ihm reden. Sie hoffte sehr, dass er nicht wütend auf sie würde.

Während er im Schlafanzug zum Tisch kam, schnitt sie gerade eine Gewürzgurke für ihn zurecht und drapierte alles sehr hübsch auf dem Teller. Erstaunt zog er eine Augenbraue hoch und setzte sich auf den knarrenden Holzstuhl, der von seinen Eltern stammte.

Sie blieb erst einmal ganz ruhig. Das Haar hatte sie sich etwas zurecht gezupft, und nun sah sie ihm wohlwollend lächelnd beim Essen zu. Er nahm einen großen Schluck Milch und fragte dann zwischen zwei Bissen: „Ist irgend etwas besonderes, oder konntest du nicht schlafen?“

„Ach, iss erst in Ruhe zu Ende! Das hat Zeit“, murmelte sie.

„Wie soll man da in Ruhe essen, wenn die Frau einen mit verheulten Augen beobachtet? Ich sag dir, ich hatte eine anstrengende Schicht und bin nicht in Stimmung für deine schlechte Laune! Haben die Kinder was angestellt?“ Er hielt mit dem Essen inne, ballte die großen Hände zu Fäusten und legte sie auf den Tisch.

„Ich bekomme wieder ein Baby.“ Lore sagte es einfach so dahin, während sie den Kopf gesenkt hielt, weil sie ihm nicht in die Augen schauen konnte.

Gottfried entgleisten die Gesichtszüge. Er war derart außer Fassung, wie seine junge Frau es noch nie erlebt hatte. Ohne ein Wort sprang er auf und warf dabei fast den Stuhl um. Dann begann er in der Küche auf und ab zu marschieren. Das tat er immer, wenn er nervös war.

Schließlich stieß er wütend hervor: „Das ist ja sehr passend! Wie sollen wir denn noch ein Balg durchfüttern? Bist du sicher? Du hast doch behauptet, solange der Kleine die Brust bekommt, ist das ungefährlich.“

Lore begann leise zu weinen. Sie wusste sich keinen Rat. Und dass ihr Gottfried ärgerlich war, machte sie unglücklich. Nach einer Weile fühlte sie seine starken Hände auf ihren zuckenden Schultern. Er drehte sie zu sich herum und nahm sie fest in die Arme.

„Nun weine nicht, mein Loreschatz“, flüsterte er beschwörend an ihrem Ohr. „Wir müssen uns was einfallen lassen. Vielleicht weiß meine Mutter einen Rat. Ich gehe morgen am Nachmittag zu ihr und bespreche alles. Nun husch du wieder ins Bett! Ich komme gleich nach.“ Flüchtig drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn, um sich dann wieder an den Tisch zu setzen und nachdenklich sein restliches Brot zu vertilgen.

Die zärtliche Zweisamkeit fiel anschließend aus. Gottfried wickelte sich auf seiner Seite in die kalte Decke und schlief bald darauf ein, ohne noch eine einzige Bemerkung zu machen.

Gegen sieben Uhr holte Lore die Kinder leise aus den Betten. Dann nahm ihr Tag wie immer seinen Lauf. Sie musste die Arbeiten im Haus stets leise verrichten, um ihren schwer arbeitenden Mann nicht in seinem verdienten Schlaf zu stören.

Die Kinder wollten gleichzeitig beschäftigt werden, damit sie sich still verhielten. Im Winter war das besonders schlimm, weil Lore, wegen des schlechten Wetters und der Kälte, manchmal nicht mit ihnen vor die Tür gehen konnte. Heute stand außerdem noch die große Wäsche an.

Die Werkshäuser hatten eine Gemeinschaftswaschküche. Es gab einen festen Waschplan. Wenn ihr Waschtag war, musste sie die Gelegenheit wahrnehmen, sonst konnte sie alles in ihrem Bad mühsam auf der Hand waschen. Sie schleppte also die Wäsche und das Waschmittel hinüber ins Waschhaus. Dann holte sie die Kinder, damit sie in der Wohnung keinen Unsinn anstellten oder gar den Vater aufweckten. Es war für die Kleinen keine Freude in der kahlen von feuchtwarmen Nebelschwaden erfüllten Waschküche zu spielen. Lore musste immer sehr aufpassen, dass sie nicht mit der heißen Lauge in Berührung kamen.

Es war eine echte Plackerei. Die weiße Wäsche musste gekocht, mehrfach gespült und mittels einer Vorrichtung mit zwei Walzen ausgewrungen werden. Die dunkelblauen Arbeitsanzüge ihres Mannes musste sie auf einem Waschbrett sauberrubbeln. Dazu benötigte sie außer ihren geschundenen Händen auch eine Wurzelbürste. Ihre zarten Finger waren bald rot von der Lauge und der schweren Arbeit. Ihr Kopf schwirrte vom Geschrei der Kinder.

Wenigstens konnte sie bis zum frühen Nachmittag keinen Gedanken an ihre ungewollte Schwangerschaft verschwenden. Dann musste sie die Wäsche auf den Trockenboden hängen. Draußen trocknen fiel wegen des Wetters flach.

Schließlich packte sie ihre Sachen zusammen, setzte Herbertchen in den Kinderwagen, platzierte den Wäschekorb vorsichtig über seinen dicken Beinchen und nahm ihre Evelyn bei der Hand. So beeilte sie sich in ihre Wohnung zu gelangen.

Dort wartete das Essen darauf gekocht zu werden, damit ihr Mann sich für den Arbeitstag stärken konnte.

Es gab Eintopf. Der musste nur noch aufgewärmt werden. Den Kindern konnte sie davon etwas abfüllen und kleinstampfen. Gemüse war gesund. Fleisch gab es selten. Heute hatte sie für Gottfried allerdings eine dicke Bockwurst. Das würde ihn besänftigen.

Während ihr Ehemann zum Essen aufstand, kurz im Bad verschwand und sich anzog, hatte Lore die Kinder abgefüttert und zum Mittagschlaf in die Bettchen gesteckt. Sie wusste, dass die beiden manchmal nicht schliefen, sondern Unsinn machten, aber durch diese Regelung konnten sie und Gottfried die einzige warme Mahlzeit des Tages in aller Ruhe gemeinsam einnehmen.

Er wusste ihr Essen zu würdigen. Sie war, obwohl erst gerade über zwanzig, eine passable Hausfrau. Darauf hatte ihre Mutter geachtet. Und bei ihrem Pflichtjahr auf einem Bauernhof, hatte sie kräftig im Haushalt mit anpacken müssen. Ihr Mann kaute zufrieden an seiner Bockwurst und sah sie dabei forschend von der Seite an.

„Geht’s dir wieder besser, Loreschatz?“, fragte er schmatzend. Sie nickte nur und widmete sich wortlos ihrem halbvollen Teller. Es gefiel ihr nicht sonderlich, dass seine Familie nun vor ihrer eigenen von der Schwangerschaft erfahren sollte. Aber was konnte sie dagegen tun? Sie würde nicht so schnell eine Gelegenheit bekommen, bei diesem Wetter mit den Kindern zu ihrem Elternhaus zu gelangen. Der Fußweg dauerte über zwei Stunden, und für den Omnibus hatte sie kein Geld.

Gleich nach dem Essen machte sich Gottfried mit dem Fahrrad auf zu seinen Eltern. Er nahm seine Tasche schon mit. Von dort würde er gleich zur Arbeit aufbrechen. Vorher zu ihr nach Hause zu kommen, wäre ein unzumutbarer Umweg. Sie akzeptierte das. Er war schließlich ein schwer arbeitender Mann.

Nachdem er weg war, wusch sie das Geschirr ab und holte die Kinder wieder aus dem Schlafzimmer. Sie spielten in der Küche mit den Kochlöffeln Kasperletheater. Während sie Strümpfe stopfte, hörte sie das muntere Geplapper ihrer Tochter, die sich für das Brüderchen Geschichten ausdachte. Wie kommt die kleine Evelyn nur immer auf solche Ideen, dachte sie schmunzelnd. Herbertchen kreischte derweil vor Vergnügen, wenn die mit Schleifen und alten Lappen fantasievoll verzierten Kochlöffel sich gegenseitig über den Küchentisch jagten.

3.

Eine weitere Nacht wälzte sich Lore im leeren Ehebett herum, ohne in den Schlaf zu finden. Immer wieder lauschte sie auf das vertraute Geräusch der Wohnungstür, das ihren Gottfried ankündigen würde. Als sie es endlich vernahm, fühlte sie sich vor Müdigkeit und Frustration total erschlagen. Sie zögerte einen Moment mit dem Aufstehen, weil sie sich einer weiteren Auseinandersetzung mit ihrem Mann eigentlich nicht gewachsen fühlte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und raffte sich auf.

Als sie in die Küche kam, hantierte Gottfried bereits im Bad. Sie stellte einen Teller und alles was er benötigte auf den Tisch. Ihm die Brote zu schmieren, fehlte ihr die Kraft. Also ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen und schmiegte den bleischweren Kopf in ihre aufgestützten Hände.

Als er endlich in die Küche kam, blieb sie weiter so hocken, ohne sich zu rühren. Er streichelte ihr übers Haar und nahm dann ebenfalls am Tisch Platz. Noch bevor er mit dem Essen begann, sprach er mit ihr.

„Loreschatz, ich will es kurz machen. Es war keine angenehme Situation, die ich bei Vater und Mutter hatte. Aber das kannst du dir ja denken.

Die üblichen Vorhaltungen eben. Jedoch hat sich Tante Hiltrud am Schluss bereiterklärt, uns zu helfen. Sie kennt eine Engelmacherin.“

In diesem Augenblick schreckte Lore entsetzt vom Stuhl hoch und starrte Gottfried an.

„Setz dich wieder hin, Lore, und hör mir erst mal zu!“, befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Also gehorchte sie.

„Diese Engelmacherin hat einen ausgezeichneten Ruf. Tante Hiltrud kennt keine Frau, die sich je über sie beschwert hat. Sicherlich ist diese Lösung gesetzeswidrig und auch nicht billig, aber viele Familien gehen diesen Weg, wenn sie keinen anderen Ausweg sehen.“ Er legte eine kurze Pause ein, während er sich mechanisch die Brote zurechtmachte.

Lore begann wieder leise zu weinen.

„Nun hör endlich auf mit dem Geflenne, Frau! Es fällt mir auch nicht leicht, diese Entscheidung zu treffen. Und wir werden das Geld für die Engelmacherin, sobald es uns besser geht, an Tante Hiltrud zurückzahlen müssen. Und wer sie kennt weiß, dass sie jeden einzelnen Pfennig nachzählen wird. Ein drittes Kind würde aber entschieden teurer und könnte mich in den Schuldenturm bringen. Willst du das?“ Er hielt inne und betrachtete das schluchzende Häufchen Elend, das seine Ehefrau war, mit ungeduldigem Blick. „Nun lass das Heulen und sag ein Wort! Es ist und bleibt die einzige Möglichkeit. Wir haben keine andere Wahl!“, herrschte er sie an.

Lore brachte keinen vernünftigen Laut heraus. Ihre Zunge klebte dick und unbeweglich an ihrem Gaumen. Sehr leise stammelte sie etwas Unverständliches, wischte sich aber dann brav die Tränen aus den Augen und sah Gottfried unterwürfig an. Als sie seinen unbarmherzigen Blick wahrnahm, wusste sie, dass die Entscheidung bereits am Vortag im Haus seiner Eltern gefallen war. Sie hatte nichts mehr dazu beizutragen außer zu nicken.

Die Tante würde den Termin bei der Engelmacherin vereinbaren. An dem Tag wollten die Schwiegereltern die Kinder bei sich aufnehmen, damit sie aus dem Weg waren. Die Frau kam immer nur zu den Patientinnen in die Wohnung. Eine eigene Praxis wäre zu gefährlich gewesen, weil Abtreibungen gegen das Gesetz verstießen.

Es wurden drei entsetzliche Tage für Lore. Während sie auf den Termin der illegalen Abtreibung wartete, kamen ihr wieder die Gedanken an Selbstmord in den Kopf. Sie konnte sich nicht auf ihre Kinder und schon gar nicht auf die Hausarbeit konzentrieren. Zum ersten Mal brannte ihr das Essen an. Aber Gottfried übersah ihre tiefe Traurigkeit einfach und erwähnte die leidige Angelegenheit mit keiner Silbe mehr.

Viel zu schnell kam der Tag, vor dem sie sich so sehr fürchtete. Tante Hiltrud brachte die Engelmacherin morgens um zehn in ihre Wohnung. Sie hatte ihrer angeheirateten Nichte außer einem kurzen Gruß nicht viel zu sagen. Emotionslos nahm sie die beiden Kleinen mit sich fort, um sie vereinbarungsgemäß bei den Schwiegereltern abzuliefern, bis Lore sich von dem Eingriff erholt hätte.

Die sah Herbertchen und Evelyn aus dem Küchenfenster winkend noch eine Weile nach, bis sie hinter dem nächsten Wohnblock aus ihren Augen verschwanden. Während sich die Engelmacherin geduldig und mit kerzengeradem Rücken auf Gottfrieds Stuhl setzte, versuchte die junge Mutter das Drama, welches ihr nun bevorstand, hinauszuzögern.

„Ich geh dann nochmal auf die Toilette“, stammelte sie und verschwand ohne eine Antwort abzuwarten im Bad. Durch die geschlossene Tür hörte sie, dass ihr Mann offensichtlich aufgestanden war und mit der Engelmacherin redete. Seine Stimme wirkte aufgebracht. Schnell beendete Lore den Toilettengang und eilte wieder in die Küche zurück.

Dort stand ihr Gottfried mit freiem Oberkörper auf bloßen Füßen nur mit seiner dunklen Hose bekleidet und funkelte die Heilerin wütend an.

„Wer sind Sie eigentlich, dass Sie hier über mich bestimmen wollen. Wir bezahlen Ihnen einen Haufen Geld für diesen Dienst. Da könnten Sie sich wenigstens freundlich verhalten! Ich kann meine junge hilflose Ehefrau doch nicht einfach so einer Wildfremden ausliefern!“ Er stemmte die muskulösen behaarten Arme in die Hüften.

Die Engelmacherin war eine hagere große Frau mit einem silbergrauen Haarknoten. Alles an ihr wirkte sauber und adrett. Lore bemerkte aber auch, wie stark sie war. Das Leben und dieser seltsame Beruf mochten ihr eine übernatürliche Kraft verliehen haben, die sie noch an keiner anderen Frau je wahrgenommen hatte.

Ohne sich auch nur vom Stuhl zu erheben, sah die Alte den wütenden Mann einfach an und sagte dann ganz ruhig: „Ich mache hier die Regeln, junger Mann! Und Ehemänner kann ich bei dieser blutigen Prozedur nicht gebrauchen. Also ziehen Sie sich flugs etwas Warmes an. Der Wind weht nämlich heute eisig. Und dann trollen Sie sich bis wir das hier überstanden haben. In etwa zwei Stunden dürfen Sie mit einem kleinen Blumenstrauß für Ihre Frau wieder vorbei schauen.“

Gottfried klappte den Mund einmal auf und dann sofort wieder zu, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand. Nach einer Weile hörten die beiden Frauen die Wohnungstür zuschlagen.

4.

In einem freundlichen Tonfall wandte sich die Engelmacherin nun an ihre Patientin: „So, mein armes Mädchen, nun mach hier mal den Küchentisch frei! Wir benötigen eine Menge saubere Handtücher und heißes Wasser. Außerdem kannst du dir zwei kleine Kissen für unter den Kopf und den Rücken holen. Dann ist es ein bisschen bequemer. Der Tisch ist eben hart, aber hier hab ich hervorragendes Licht und die Schweinerei lässt sich anschließend einfacher beseitigen.“

Die Frau tätschelte ihre Wange und lächelte ihr aufmunternd zu.

Lore fühlte sich plötzlich geborgen. Die resolute Alte vermittelte ihr das Gefühl, nicht mehr allein mit dem schrecklichen Problem zu sein. Sie spürte instinktiv, dass sie bei ihr in den besten Händen sein würde.

Die Vorbereitungen für den schrecklichen Eingriff dauerten bei weitem länger, als die ganze Sache selber.

Lore sah natürlich ein, dass alles parat liegen musste, weil die Engelmacherin ja keine Helferin hatte. Und es war auch in ihrem eigenen Interesse, dass alles blitzsauber und steril sein würde. Aber ihre Geduld und körperliche Belastbarkeit traten immer mehr in einen Grenzbereich, wo sie einen totalen Zusammenbruch fürchtete.

Als es schließlich soweit war, und sie mit angewinkelten Beinen vollkommen nackt auf dem Küchentisch lag, konnte sie der ganzen Prozedur nichts mehr entgegensetzen – auch wenn sie es gewollt hätte.