Aurea von Fahlen verschleppt - Marion Scheer - E-Book

Aurea von Fahlen verschleppt E-Book

Marion Scheer

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Beschreibung

Aurea, ein hübsches wohlerzogenes Mädchen, das in einer reinen Frauengesellschaft zweitausend Jahre nach der nuklearen Katastrophe behütet aufgewachsen ist, wird von einem wilden Volk entführt. Die Fahlen leben im Urwald unter archaischen Bedingungen. Aurea und ihre mutige Schwester Proles kämpfen täglich ums Überleben in der Wildnis, während ihre Mütter verzweifelt einen Weg suchen, sie zurückzuholen. Für überraschend spannende Unterhaltung ist gesorgt.

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Seitenzahl: 212

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Umschlagsfoto:

„Mädchen“

(Aquarell von A. Launus)

Kapitelübersicht:

Das Matriarchat

Recht und Gesetz

Unter Wilden

Befruchtung

Untersuchungen

Petitionen (Ein Jahr später)

Mutterfreuden

Geburtstagsfeierlichkeiten

Frieden

Handel

Freundschaftsdienste

Dorfleben

Ernte

Schwierigkeiten

Fortschritte

Vorbereitungen

Freundinnen

Handarbeiten

Krankheit

Akklimatisierung

Wiedersehen

Strategien

Wächterinnen

Genesung

Zukunftsängste

Reinigung

Begegnung

Wahrheiten

Höhlenbewohner

Expedition

Flucht

Entscheidung

Studien

Strategien

Überraschung

Das Matriarchat

Anima fühlte sich, nach einer weiteren von Albträumen geschüttelten Nacht, wie zerschlagen. Träge hockte sie auf ihrem Lager, während der Pflegerobo geduldig auf seinen Einsatz wartete. Die wirren Gedanken in ihrem Kopf wollten ihr absolut nicht gehorchen und ließen sich in keinerlei geordnete Bahnen lenken. Sie erhob sich, um das angrenzende Bad aufzusuchen. Der Robo folgte ihr wie ein Schatten. Während sie sich ihm bereitwillig für ihre Morgentoilette auslieferte, kreisten ihre Gedanken ausschließlich um Roxi.

Der Streit zwischen ihnen war erneut aufgeflammt, weil Anima ihr schreckliche Vorwürfe wegen Proles gemacht hatte. Sie fand Roxis Verhalten verantwortungslos. Es ging ihr dabei weniger um die Strafbarkeit der Handlung, als um ihre Kurzsichtigkeit, was die schrecklichen Folgen für Proles betraf.

Wie konnte eine Wissenschaftlerin sich derart in ihren Arbeitsehrgeiz versteigen, dass sie ein Wesen zeugte und gebar, das halb Frau und halb Tier war? Und ihre liebreizende unschuldige Tochter Aurea war letztendlich von diesem Monster verschleppt worden! Sie schauderte bei diesem Gedanken, was den Pflegerobo für einen Moment irritiert innehalten ließ.

Ihre Lebensgefährtin Roxi hatte die Wohngemeinschaft vor vier Tagen verlassen, weil sie Animas offene Vorhaltungen, sowie ihre anklagenden Blicke, nicht mehr ertragen konnte. Sie war mit all ihren persönlichen Gegenständen wieder in eine Stadtwohnung gezogen.

Das große Haus auf dem Land war nun so leer und ruhig, dass Anima es dort kaum mehr aushielt. So versuchte sie, seit ihr Hausarrest aufgehoben worden war, wieder viel Zeit in ihrem Institut zu verbringen.

Sie hatte bei einer Befragung durch die Wächterinnen versichert, ihre Tochter Aurea sei nicht die Schuldige gewesen, sondern die wilde Proles. Da Aurea hervorragende Beurteilungen seitens der Schule und der Psychologin erhielt, denen Roxi mit ihrer Mutanten-Tochter nichts entgegenzusetzen hatte, gingen die Wächterinnen schließlich auch von einer Entführung aus. Obwohl im Grunde keiner eine Ahnung von den tatsächlichen Zusammenhängen hatte, durch die die beiden Mädchen so plötzlich verschwunden waren.

Anima war am späten Vormittag vor das Matriarchat bestellt worden, um sich dort einer weiteren Befragung, diesmal durch die drei ersten Frauen der Gesellschaft, zu unterziehen. Dieser Termin machte sie nervös. Es war durchaus nicht an der Tagesordnung, eine Frau vor dieses hohe Gremium, das als höchste Rechtsinstanz agierte, zu laden. Wenngleich sie eine der führenden Wissenschaftlerinnen war, hatte sie das imposante Staatsgebäude bisher nur bei ihrer beruflichen Vereidigung aufsuchen müssen.

Sie wählte besonders elegante Kleidung in einem gedeckten Grau, um bei den wichtigen Persönlichkeiten einen tadellosen Eindruck zu machen. Das verhärmte Gesicht musste der Robo mit viel Schminke einigermaßen ansehnlich zurecht malen. Das Haar ließ sie heute zu einer kunstvollen Frisur hochstecken. Ihr Spiegelbild blickte ihr schließlich ziemlich fremd und äußerst ernst aus trüben Augen entgegen. Ohne Frühstück verließ sie das Haus auf dem Gleiter.

Der Tag war klar und sehr schön sonnig. Sie hatte jedoch keinen Blick für die blühende Natur unter sich. Ganz in Gedanken versunken wandte sie sich wieder in Richtung des Grenzwalls und flog wie immer einige Minuten daran entlang. Die Wächterinnen kannten sie schon. Jeden Tag tauchte sie auf, mit dem vagen Gedanken, ihre Tochter Aurea warte dort irgendwo hinter dem Wall sehnsüchtig auf sie.

Natürlich durfte sie die Absperrung nicht durchbrechen, und die wachhabenden Frauen wechselten auch kein Wort mit ihr. So blickten sie einander nur aus einiger Entfernung an und musterten sich gegenseitig, bis Anima wieder enttäuscht weiterflog.

Als sie die Stadt erreichte, gab sie ihr Ziel ein und ließ den Gleiter autonom steuern. Es waren hier immer viele Frauen unterwegs, deshalb erschien die Automatik-Einstellung besser geeignet, um Zusammenstöße zu vermeiden. Sie selbst war auch im Augenblick viel zu unkonzentriert.

So konnte sie sich ganz ihren Gedanken und der Sehnsucht nach ihrer geliebten Tochter überlassen. Unter ihr lagen die sauberen Wege mit den aneinandergereihten Geschäften, Restaurants, Wellness-Tempeln und Kontaktbars. Sie nahm ein reges Treiben auf den sonnenbeschienenen Plätzen wahr. Überall waren Sitzecken oder Re laxliegen aufgestellt mit Sonnenschutz in vielen bunten Farben.

Neben ihr ragten immer wieder die Kristallfassaden der Wolkenkratzer auf. Sie wirkten so durchsichtig und zerbrechlich, als seien sie aus dem gefrorenen Atem eines Riesen entstanden. Endlich erkannte sie in der Ferne einen monumentalen freien Platz, der mit zarten Mosaiken und prachtvollen Anpflanzungen exotischer Blumen und Bäume geschmückt war. In der Mitte lag geschickt eingebettet ein monumentaler zweistöckiger sternförmiger Bau aus blauem Kristall. Er funkelte in der Sonne wie ein überdimensionaler kunstvoll geschliffener Edelstein. Unwillkürlich spürte sie die achtungsgebietende Kraft, welche von diesem Ort ausging. Angesichts dessen fühlte sie sich klein und unbedeutend.

Anima gab den Gleiter in die Obhut des dafür zuständigen Robos und hielt ihr MFA (Multifunktionsarmband) in Richtung der Eingangstür. Mit einem melodischen Dreiklang wurde ihr der Durchgang ermöglicht. Die Eingangshalle war vollkommen leer bis auf mehrere dienstbereite Robos, von denen einer auf sie zukam, um sie zu der Verabredung zu geleiten.

Die Wissenschaftlerin wurde an ihre Vereidigung vor vielen Jahren erinnert. Die Eingangshalle hatte sich seitdem nicht merklich verändert. Die zahlreichen Blumenarrangements mussten andere sein, aber sie wirkten genauso geschmackvoll und geschickt platziert wie damals, als sie mit den vielen anderen Frauen in bedeutenden Positionen und ihren engsten Angehörigen in den großen Sitzungssaal drängte. Damals hatte ihre Mutter noch gelebt. Traurig erinnerte sie sich daran, wie die noch rüstige Frau kurz danach freiwillig aus diesem Leben geschieden war. Sie hatte die Beweggründe nicht verstanden und diesen Verlust nie verwunden. In ihrer Gesellschaft wurden inzwischen viele Frauen bei leidlicher Gesundheit über hundert Jahre alt.

Sie zwang die negativen Erinnerungen nieder, während der Robo sie mit der Luftschleuse in die obere Etage geleitete. Er führte sie einen gegen Trittschall gedämpften Gang entlang. Alles war in blau gehalten. Nur die Türen trugen große Spiegelflächen, sodass Anima sich im Vorbeigehen ständig selbst entgegenblickte. Nach der zehnten Tür machte sie das zunehmend nervös.

Endlich blieb der Geleitrobo vor einem solchen Spiegel stehen – die Frau hätte nicht sagen können, der wievielte es war – und veranlasste, dass er sich lautlos zur Seite schob.

Anima schaute in einen freundlichen hellen mit stilvollen Gemälden geschmückten Raum, der nicht allzu riesig wirkte. Die großen Fenster waren verspiegelt. Auf einem Podest der Tür gegenüber saßen drei in dunkelblaue Roben gekleidete Frauen in einer Reihe. Sie trugen gleiche weiße Perücken mit ordentlich frisierten halblangen Locken. Die Gesichter wirkten einheitlich geschminkt, was aber nicht glaubhaft vortäuschen konnte, dass es sich um Drillinge handelte. Anima war ja auch bekannt, dass die Frauen keineswegs Schwestern waren, sondern regelmäßig aus einer Anzahl von hervorragenden Bewerberinnen gewählt wurden. Da die Wahlperiode immer acht Jahre betrug, schloss die Wissenschaftlerin, dass sie nicht von diesen Damen des Matriarchats vereidigt worden war, auch wenn ihr erster Anschein ein anderer war.

„Friede sei mit euch, edle Matriarchinnen!“ Anima legte wie vorgeschrieben beide Hände zum Gruß aneinander und zum Zeichen ihrer Vertrauenswürdigkeit.

„Friede sei mit dir, Anima Tochter der Viktoria, nimm bitte auf dieser Sitzgelegenheit Platz!“ Die drei edlen Damen sprachen vollkommen gleichzeitig, als ob sie jahrelang das Synchronsprechen geübt hätten.

Dann wandten sie sich ihr aber einzeln im ständigen Wechsel zu. Für Anima war das Verhör anstrengend. Sie hatte das unangenehme Gefühl, die Frauen wüssten einfach alles über sie und durchschauten sofort, falls sie lügen würde.

So versuchte sie, um ihre Freundin Roxi zu schützen, einige wesentlichen Sachverhalte zu verschweigen. Als sie sich aber in die Enge getrieben fühlte, entschlüpfte ihr die Bezeichnung „Monster“ für die wilde Proles, der sie die Schuld am Verschwinden ihrer Tochter gab. Aurea wäre aus freien Stücken selbständig niemals auf die Idee gekommen, ihrer Mutter solchen Kummer zu bereiten, davon war sie zutiefst überzeugt.

„Warum bezeichnest du die Tochter deiner Lebensgefährtin als Monster?“, fragte die mittlere Matriarchin, und das Facettenauge auf ihrer Stirn blinkte aufmerksam. „Ich bitte um eine genaue Erklärung“, fügte die rechte Frau streng hinzu. Und die linke edle Dame ergänzte mit leicht arroganter Gelassenheit: „Du hast die Zeit, die du brauchst!“

Anima begann zu zittern. Ihr Facettenauge flackerte unter der seelischen Belastung. Sie schwankte nur noch einen kleinen Moment zwischen der moralischen Solidarität mit ihrer ehemaligen Lebensgefährtin und dem Wunsch diesem Albtraum endlich zu entfliehen, um ihre geliebte Tochter wieder in den Armen zu halten.

Wenn sie nicht die volle Wahrheit sagte, würde wahrscheinlich niemand ernsthaft nach Aurea suchen. Die Mädchen waren in einem Alter, indem die Gesellschaft der Frauen ihnen zutraute, sich notfalls allein durchzuschlagen. Schließlich wurden sie bald volljährig und damit selbstverantwortlich.

Während Anima widerwillig Roxis Geheimnis enthüllte, hörten die edlen Matriarchinnen ihr mit vollkommen ausdruckslosen Minen zu. Sie wurde nicht von ihnen unterbrochen.

Als die Wissenschaftlerin schließlich betreten zu Boden blickte und in ein hilfloses Schweigen verfiel, meinten die Damen wieder völlig synchron: „Du berichtest uns da von einem unvorstellbaren Verbrechen gegen die Weiblichkeit, ist dir das klar?“

Anima nickte nur stumm.

„Da es um deine Lebensgefährtin geht, hättest du auch schweigen können.“ Die Mittlere sah sie mitfühlend an. „Ich denke, du hast aus Angst um deine Tochter gesprochen“, führte die Rechte sachlich aus. Die Linke hob die Hand wie zum Schwur und rief: „Dem Recht und Gesetz muss Genüge getan werden!“

Darauf folgte wieder der Synchron-Sprechchor: „Die Schuldige wird der gerechten Strafe nicht entgehen!“

Recht und Gesetz

Am nächsten Tag musste Anima als Zeugin nochmals vor den Matriarchinnen erscheinen. Sie hatte die Nacht über kein Auge zugetan, weil sie sich nicht mehr sicher war, ob der Verrat an Roxi wirklich notwendig gewesen war. Sie schämte sich, wie noch nie in ihrem Leben.

Die edlen Damen hatten ihr zwar zugesagt, dass sie sich um die Auffindung von Aurea bemühen würden, aber sicher konnte sich Anima nicht sein, ob dieses Unterfangen auch von Erfolg gekrönt sein würde. Vielleicht hätte sie sich besser, in einer gesetzmäßigen Grauzone, mit Roxi und Doktorin Pokratia zusammenschließen und auf eigene Faust nach den im Urwald verschollenen Mädchen suchen sollen.

Als sie zum Gerichtssaal schritt, war sie so verzweifelt, wie lange nicht mehr. Sie hatte wirklich alles verloren, was ihr etwas bedeutete. Selbst an ihrer Arbeitsstelle im Institut wurde bereits nach einem Ersatz für sie gesucht, weil ihr Leumund geschädigt war. Roxi und Pok konnten sich als Angeklagte kaum schlimmer fühlen!

Es war ein ehrenhaftes Recht und eine Bürgerinnenpflicht, für die Gesellschaft der Frauen in der Wissenschaft oder an sonstiger einflussreicher Stelle tätig zu sein. Dabei ging es nicht in erster Linie um die monatlichen Zuwendungen, die sich bei solchen Ämtern zwangsläufig erhöhten, sondern um die Ehre, die diesen geachteten Frauen zuteil wurde. Jede drängte sich nach diesen Positionen.

Die Gesellschaft war wohlhabend, mitfühlend und gerecht, daher musste keine Frau darben, auch wenn ihre Gaben und Veranlagungen für keine noch so geringe Tätigkeit reichten. Ebenso wurden Alte und Kranke von den Frauen liebevoll betreut und von Robos gepflegt. Die jungen Mädchen erhielten alle eine Schulbildung, die ihren Begabungen entsprach. Es gab keine Ausgrenzung oder Armut in der Gesellschaft der Frauen. Ihre heilige Urmutter war weise und gütig gewesen. Ihrem Vorbild zu folgen, war allen Frauen ein besonderes Anliegen.

Die historischen Populationen der frauenähnlichen Wesen, vor der großen nuklearen Katastrophe, die sich in der Vergangenheit Menschen nannten, waren von Neid und Missgunst, von Zank und Streit, großer Ungerechtigkeit und der Gier nach materiellem Wohlstand geprägt gewesen. Das hatte den verheerenden Krieg zwischen Arm und Reich heraufbeschworen, aus dem nur wenige Wesen heil entkommen konnten. In dessen Folge wäre beinahe die Erde als Lebensraum zerstört worden. Allen Frauen der modernen Gesellschaft war klar, dass die Welt nie mehr auf dieses Niveau absinken durfte.

Roxi und Pok wurden, begleitet von vier Wächterinnen, ebenfalls zum Gerichtssaal geführt. Sie warfen Anima kurze forschende Blicke zu, wurden aber von den strengen Begleiterinnen daran gehindert, sie anzusprechen.

Im Inneren des großen Saales gab es eine strenge Sitzordnung. Auf einem Podest thronten wieder die drei, Anima schon bekannten, edlen Matriarchinnen. An beiden Seiten saß noch je eine weitere Frau. Es handelte sich um die Fürsprecherinnen. Die beiden waren in weiße schlichte Gewänder gehüllt und verbargen ihr Haar unter großen weißen Kopfbedeckungen. Sie waren den Angeklagten zugeordnet worden, um zu ihren Gunsten zu sprechen.

Unten vor dem Podest waren die beiden Angeklagten zwischen den muskulösen Wächterinnen positioniert. Anima, als Zeugin, saß in einigem Abstand dahinter in der zweiten Reihe der recht unbequemen harten Sitzgelegenheiten. Neben ihr waren noch andere ihr unbekannte Frauen in den Zeugenstand berufen worden.

Danach folgten für Zuschauerinnen mehrere Sitzreihen, die erheblich besser gepolstert waren. Diese Reihen füllten sich zusehends, denn es handelte sich hier um einen spektakulären Schauprozess, der alle Frauen interessierte und innerlich aufwühlte. Das heute angeklagte Verbrechen war nicht zu vergleichen mit den normalen Gerichtsverhandlungen, bei denen es meist um kleine Streitigkeiten aus unterschiedlichen geschäftlichen oder privaten Gründen ging. Heute wurde ein Verbrechen verhandelt, das in seiner Brisanz höchstens in jeder Dekade einmal vorkam. Das durfte keine Frau versäumen.

Als die letzte Sitzgelegenheit belegt war, riegelten die Robos den Saal ab. Die Frauen, welche an der Verhandlung teilnehmen wollten, aber keinen Platz fanden, entfernten sich ohne Widerstand. Sie hatten wie üblich die Möglichkeit alles über das MFA mitzuverfolgen. Die Vernetzung der Gesellschaft war allumfassend und unmittelbar. Es gab nur wenige individuelle Bereiche oder geheime Staatsbelange, die davor geschützt wurden.

Die Matriarchinnen erhoben sich und mit ihnen alle Anwesenden. Dann folgte der einstimmige Gruß: „Friede sei mit euch!“ Und schon nahmen die Frauen wieder ihre Plätze ein. Es herrschte vollkommene Stille in dem schmucklosen ganz im beruhigenden zarten Grün gehaltenen Gerichtssaal.

Die mittlere edle Dame trug mit gleichmäßiger fester Stimme alle Punkte der Anklage vor. Anima hörte nur das Wort Hochverrat und schon gefror ihr das Blut zu Eis. Jetzt wurde ihr plötzlich klar, dass Roxi mit der Höchststrafe zu rechnen hatte. Was sollten die Fürsprecherinnen da noch in die Waagschale werfen, um den Schaden zu begrenzen?

Roxi und später auch Doktorin Pokratia erhielten die Gelegenheit, ihre eigene Darstellung des Sachverhaltes in aller Ausführlichkeit zu schildern. Sie sprachen beide mit eher leisen traurigen Stimmen.

Roxi hatte ein verweintes Gesicht und war in eine Art schlichtes schwarzes Büßergewandt gekleidet, das Anima niemals vorher an ihr gesehen hatte, weil sie normalerweise bunte ihre Figur betonende Kleidung bevorzugte. Pok trug ein weißes tailliertes Kostüm, das ihr exotisches Aussehen hervorhob. Das schöne schwarze Haar hatte sie mit einem weißen Seidentuch durchflochten und zu einem beachtlichen Turm auf ihrem Kopf drapiert. Dadurch wirkte sie etwas größer als gewöhnlich.

Die Frauen im Zuschauerraum schienen ständig vor Entsetzen den Atem anzuhalten, bei den unglaublichen Vorgängen, die ihnen während der Schilderungen zu Ohren kamen. Normalerweise wurden Schwangerschaften in der Gesellschaft so stark reglementiert und sorgfälltig medizinisch betreut, dass es unvorstellbar erschien, was den beiden Angeklagten vorgeworfen wurde. Wie war es ihnen gelungen, die Zeugung einer Mutantin aus dem Samen eines Homomaskulinen und der Eizelle einer Frau so lange zu verheimlichen?

Schließlich wurden noch die Zeuginnen gehört. Auch Anima musste ihre Aussage wiederholen. Da inzwischen ihr tiefes Mitgefühl für die beiden beschuldigten Frauen überwog, versuchte sie wenigstens an deren guten Absichten keinen Zweifel zu lassen. Sie und auch die Fürsprecherinnen konnten am Ende jedoch das strenge Urteil nur wenig abmildern.

Als sich die Matriarchinnen mit den Fürsprecherinnen in Klausur zurückzogen, ging ein Raunen durch die Menge. Während die Angeklagten mit demütig geneigten Köpfen der Urteilsverkündung entgegensahen, diskutierten die Zuschauerinnen die Anklagepunkte und gaben über das MFA jeweils ihre Bewertungen ab. Auch die übrigen vernetzten Frauen waren dazu angehalten, ihre Meinungen zu äußern.

So konnten die Richterinnen gleichzeitig ein gesellschaftliches Meinungsbild abfragen und ihr Urteil gegebenenfalls darauf gründen. Sie waren jedoch so frei, sich auch darüber hinwegzusetzen, wenn es dafür wichtige Gründe gab. Das Urteil musste immer einstimmig fallen. Manchmal konnten die Beratungen deshalb lange dauern. Die Robos bedienten die Anwesenden währenddessen mit Getränken und kleinen Snacks.

Anima fühlte, dass ihr Magen knurrte. Sie hatte in den letzten Tagen nur wenig zu sich genommen. So nahm sie dankbar das Angebot des Robos an. Sie knabberte nun an einem Getreideriegel und nippte an dem anregenden warmen Koffeindrink.

Auch sie durfte natürlich ihre Meinung zu den Anklagepunkten kundtun. Aber selbst wenn sie auf unschuldig plädiert hätte, würde das keine Auswirkungen auf das Urteil haben. Sie hörte die erregten Stimmen der Zuschauerinnen, die aufgebracht die Höchststrafe verlangten.

Wie konnten die beiden Angeklagten auf Milde hoffen, wo sie das wertvolle Erbgut der Frauen mit dem von maskulinen Versuchstieren unrechtmäßig vermischt und dadurch eine lebende Mutantin erzeugt hatten? Bei diesem grausigen Verbrechen gegen die Gemeinschaft fehlten vielen Zuschauerinnen die Worte. Und die Erwartung des strengen Urteils ließ eine ständig aufund abschwellende Welle der Erregung durch die Stuhlreihen wallen.

Nach etwa einer Stunde Beratung fanden sich die Matriarchinnen wieder im Gerichtssaal ein. Sofort wurde es still unter den Zuhörerinnen. Während die fünf wichtigen Damen auf dem Podest Platz nahmen, wiesen die Wächterinnen die Angeklagten an aufzustehen. Die beiden ungleichen Frauen gehorchten umgehend. Roxi schluchzte leise, was an ihren zuckenden Schultern zu erkennen war.

„Vor diesem hohen Gericht aus schwerwiegenden Gründen angeklagte Frauen, vernehmt nun das einstimmige Urteil des Matriarchats!“ Die drei edlen Matriarchinnen sprachen wieder synchron.

Dann erhob sich die mittlere und wandte sich zuerst an Roxi: „Wissenschaftlerin Doktorin Ferox, Tochter der Liberia, du bist beschuldigt des Hochverrats an der Gesellschaft der Frauen. Du hast durch die unzulässige Vermischung von Erbgut ein unverzeihliches Verbrechen gegen die Weiblichkeit begangen. Zu deinen Gunsten spricht nur, dass du bisher unbescholten warst und in dem festen Glauben handeltest, der Wissenschaft und dem Fortschritt einen Dienst zu erweisen. Wir haben deshalb von der Höchststrafe abgesehen und verurteilen dich zu zehn Jahren Vereisung. Wir alle sind der Meinung, dass wir die Gesellschaft der Frauen für diese Zeit vor dir schützen müssen.“

Roxi begann hemmungslos zu weinen und wurde auf einen Wink von der Matriarchin durch zwei stattliche Wächterinnen hinausgeführt.

Dann wandte sich die Sprecherin mit derselben emotionslosen Stimme an die andere Angeklagte: „Ärztin Doktorin Pokratia, Tochter der Luna, du bist der Beihilfe zum Hochverrat an der Gesellschaft der Frauen beschuldigt. Durch dich wurde ein unverzeihliches Verbrechen gegen die Weiblichkeit möglich gemacht. Zu deinen Gunsten spricht allerdings, dass du bisher unbescholten warst, außerdem versucht hast, deine ehemalige Partnerin umzustimmen und dass du letztlich aus liebender Freundschaft handeltest.“

Pok schwankte und musste von den Wächterinnen gestützt werden. Die Matriarchin fuhr, ohne eine Regung zu zeigen, in ihrer Urteilsverkündung fort: „Wir alle sind der Meinung, dass du für immer aus deinem Berufsstand entfernt werden musst. Wir geben dir aber die Chance, nach einem Hausarrest von zwei Jahren, ein neues achtbares Leben zu beginnen.“

Die Wächterinnen stützten Doktorin Pokratia auf dem Weg hinaus. Dann erhoben sich wieder alle Anwesenden. Die Matriarchinnen sprachen gleichzeitig: „Wir haben heute Recht gesprochen zum Wohle der Gesellschaft der Frauen und im Sinne unserer heiligen Urmutter. So gehet hin in Frieden!“

Anima stand eine Weile wie gelähmt an ihrem Platz. Die Zuschauerinnen strömten diskutierend an ihr vorbei dem Ausgang zu. Sie wurde schließlich von einem Robo höflich genötigt, das Gebäude ebenfalls zu verlassen. Erst als sie auf ihrem Gleiter saß und automatisch aus der Stadt herausgeflogen wurde, kam sie langsam zu sich.

Vereisung! Ja, sie wusste, dass dies die Höchststrafe war. Das Strafmaß von zehn Jahren war allerdings nicht das höchstmögliche. Soweit ihr bekannt war, gab es Strafen bis zu fünfzig Jahren. Wenngleich sie sich nicht erinnerte, ob diese in den letzten Jahrzehnten jemals verhängt worden waren.

Die Vereisung war die einzige Strafe, die die Angeklagte nachhaltig aus der zu schützenden Gesellschaft entfernte. In einem streng abgeriegelten Gebäude lagerten die eingefrorenen Verbrecherinnen in großen Eisschränken auf körperbreiten Liegen in verschlossenen Fächern übereinander und nebeneinander. Anima war nicht bekannt, wieviel Räume gefüllt waren mit diesen gefrorenen nackten Leibern von straffällig gewordenen Frauen. Eigentlich war schwere Kriminalität kein Problem ihrer Gemeinschaft.

Die Vereisung wurde erst ab einer Strafe von über zwei Jahren angeordnet. Weil die längerfristige Überwachung im Hausarrest zu aufwendig war. Während sie im Kälteschlaf lagen, mussten die Frauen weder überwacht, noch ernährt oder betreut werden. Sie brauchten keine privaten Robos, keine Gleiter und keine Wohnungen. Das sparte Kosten, die besser für wichtige soziale Projekte verwendet werden konnten.

Nach abgelaufener Strafe wurden diese Frauen wieder aufgetaut und allmählich in die Gesellschaft eingegliedert. Allerdings sank durch das Gefrieren die Lebenserwartung um ungefähr dieselbe Zeit.

Die abschreckende Wirkung dieser Strafe war enorm. Schließlich verlor eine Frau durch die Jahre der Vereisung wichtige Lebenszeit. Die Entwicklung in der Gesellschaft ging weiter. Der Arbeitsplatz wurde von anderen Frauen übernommen. Die einem nahestehenden Frauen und Mädchen suchten sich andere Freundinnen oder Partnerinnen. Möglicherweise musste sich eine geliebte Tochter an fremde Betreuerinnen gewöhnen. Vielleicht starb eine alte Mutter in der Zeit und die Verurteilte konnte sie nie wieder in ihre Arme schließen.

Anima sah die lebensfrohe Roxi vor sich, wie sie nackt auf eine kalte Liege geschnallt in den Eisraum geschoben wurde. Sie hatte gehört, dass die Frauen durch das Schockgefrieren nicht lange bei Bewusstsein blieben. Sie schliefen sozusagen sofort ein. Niemand wollte die Verbrecherinnen unnötig grausam quälen. Die vollständige Isolierung für die Dauer der Strafe, sollte der Gesellschaft als Genugtuung reichen.

Doch Anima weinte jetzt in bangem Entsetzen um ihre Freundin. Sie schluchzte noch, als sie das Haus betrat, lief sofort in ihr Zimmer und warf sich tränenüberströmt auf ihre Schlafstätte.

Da bemerkte sie plötzlich ein leichtes Zupfen an ihrem Gewand. Erschreckt hob sie den Kopf und blickte auf die verstört wirkende Largiri. Vorsichtig streckte sie die Hand nach Aureas Katze aus und streichelte sie zart. Das kleine Tierchen mit dem langen lila Fell begann dankbar zu schnurren und kuschelte sich zitternd an sie. Unendlich müde und erschöpft zog sie es an ihre Brust und fiel im selben Moment in einen tiefen traumlosen Schlummer.

Unter Wilden

Es war dunkel in der hölzernen Behausung, in der Aurea seit ihrer Entführung untergebracht war. Sie hatte viele Stunden in Bewusstlosigkeit verbracht. Danach wurde sie hin und wieder aus der bleiernen Müdigkeit geweckt, damit sie Wasser oder einen seltsam schmeckenden schleimigen Brei zu sich nehmen konnte.

Sie wusste nicht welcher Tag und welche Stunde es war. Die Dunkelheit wurde nur manchmal kurz erhellt, wenn das Wesen, welches ihr Nahrung reichte, durch eine verschließbare Öffnung nach draußen verschwand. Schemenhaft hatte sie mehrmals sehr fahle Haut gesehen. Sie war jedoch viel zu matt, um irgendetwas in ihrer seltsamen Umgebung einzuordnen.

Nun riss man sie sehr brutal aus ihrer Lethargie und zerrte sie aus der Hütte. Sie erstarrte vor dem, was sie plötzlich wahrnahm. Vier fahlhäutige Wesen mit kahlen Schädeln packten sie und zwangen sie in einen halbierten ausgehöhlten dicken Baumstamm. Er war von innen bearbeitet, sodass er sie warm und glatt, wenn auch unangenehm hart, in sich aufnahm.

Mit schnellen geschickten Griffen entkleideten die Wesen sie. Aurea startete einen hilflosen Versuch, sich zu weigern, hatte aber gegen die vielen starken Arme keine Chance. Sie sah nun, dass es sich ausnahmslos um weibliche Wesen handeln musste, da sie voll entwickelte Brüste nackt zur Schau stellten. Alle trugen auf dem Oberkörper rankenartige schwarze Verzierungen. Ihre Unterleiber waren von groben sackartigen Beinkleidern verhüllt. Die Füße waren nackt. Um die Fesseln lagen bunte Schmuckbänder, ebenso um ihre Hälse.

Als sie Aurea entkleidet hatten, begannen sie eine braune seltsam riechende Paste auf ihrem Körper zu verteilen. Sie gingen dabei wieder sehr flink zu Werke, aber das Mädchen bemerkte an den Berührungen und den erstaunten Ausrufen, die sie nicht verstand, wie diese Wesen sie neugierig erforschten.

Schließlich wandten sie sich ihrem seidigen goldenen Haar zu und zupften unter lautem Geplärr daran herum. Dann brachten einige andere Weibchen Tonkrüge mit Wasser und schütteten es über Aurea aus.

Sie hielt erschreckt die Luft an und prustete entsetzt in dem seltsamen nicht gerade warmen Wellnessbad. Die Wesen schrubbten energisch mit dem Wasser die Paste von ihrem Körper, bis sie offensichtlich der Überzeugung waren, sie sei nun sauber genug.

Diese Behandlung hatte so gar nichts mit der sanften Säuberung durch die Pflegerobos gemeinsam, schoss es Aurea durch den Kopf. Dann holten sie die zitternde Gefangene auch schon aus der braunen Brühe heraus.

Das verstörte Mädchen wurde mit groben Lappen getrocknet und dann mit einem blumigen Öl am ganzen Körper gesalbt. Als sie schließlich, duftend wie eine Sommerwiese und glänzend wie eine Nacktschnecke, in der Mitte dieser Weibchen stand, trällerten sie begeistert und zupften lachend an ihrem feuchten Haar.

Die beiden größten von ihnen, sie überragten Aurea etwa um Haupteslänge, nahmen sie dann in ihre Mitte. Eine hielt sie an der rechten, die andere an der linken Hand. Sie sprachen beruhigend auf das Mädchen ein und blickten sie dabei aus ihren roten Augen freundlich an. Immer wieder bleckten sie ihre makellosen weißen Zähne, während sie sie unaufhaltsam mit sich fortzogen. Die zurückbleibenden Wesen verfielen derweil in lautes fröhliches Gekreische.

Aurea fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie war nun glücklicherweise wieder sauber, zumal sie in der Hütte in ihren eigenen Exkrementen gelegen hatte, aber auch unübersehbar nackt. Das Öl tat seinen glänzenden Anteil daran, diese Tatsache noch zu unterstreichen.

Als sie ein kleines lichtes Wäldchen durchquert hatten, wurde Aurea noch unruhiger. Auf einer großen mit hölzernen Barrikaden umzäunten Lichtung standen zahlreiche primitive Holzhütten. Dazwischen brannten Feuer, und es wuselten fahle Wesen in verschiedenen Größen und Entwicklungsstufen umher.