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Ein neuer Fall verschlägt die attraktive Hauptkommissarin Lina Eichhorn aus Oldenburg nach Norden - Norddeich, wo die Leiche einer harmlosen Radfahrerin grausam zugerichtet am Deich aufgefunden wird. Diesmal muss sie neben ihrem kriminalistischen Instinkt auch Hundeverstand unter Beweis stellen. Verwirrende Gefühle machen ihr die Ermittlungen nicht gerade leichter.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Umschlagsfoto:
„Fahrrad auf dem Deich“
Marion Scheer (2018)
Marion Scheer wurde 1952 in Düsseldorf geboren. Im Anschluss an eine Banklehre und einige Jahre als Sachbearbeiterin bei einer Düsseldorfer Großbank, studierte sie Mathematik, Geografie und Geschichte auf Lehramt. Sie lebt und arbeitet seit fast vierzig Jahren an der ostfriesischen Nordseeküste und ist mehrfache Mutter und Oma. Solange sie schreiben kann, betreibt sie in ihrer Freizeit die Schriftstellerei. Dabei verarbeitet sie vorwiegend tatsächliche Begebenheiten und Erlebnisse zu Fantasiegeschichten. Leider verhinderten mehrere schwere Schicksalsschläge, dass ihre Romane schon früher veröffentlicht wurden.
Heute lebt die Schriftstellerin mit ihrem jetzigen Ehemann zurückgezogen in der Nähe von Emden.
Kontakt: [email protected]
In Norden
Der Tatort
Die Familie
Erste Recherchen
Geheimnisse
Nervensache
Kleine Unterbrechungen
Befragung der Schwester
Der Liebhaber
Kaffeepause
Trainingseinheit
Die Beerdigung
Der Querulant
In Lütetsburg
Sonntagsbeschäftigungen
Hinweise
Das Verhör
Wechselbäder
Die Anwälte
Epilog
Danksagung
Der April machte seinem Namen wieder einmal richtig Ehre, als Lina Eichhorn in Norden eintraf. Sie fuhr gerade auf den Parkplatz neben dem Polizeirevier und suchte verzweifelt nach einer geeigneten Lücke für ihren Wagen, da wurde ein sintflutartiger Regenguss blitzartig von strahlendem Sonnenschein abgelöst. Es hob ihre Stimmung, dass sie nun vollkommen trocken in die Amtsstube gelangen konnte.
Trotz des zu bearbeitenden Tötungsdeliktes, ließ sich auf dem Norder Revier scheinbar niemand aus der Ruhe bringen. Sie musste einige Minuten warten, bis der diensthabende Beamte hinter der Glasscheibe Zeit für sie hatte. Dann ging aber alles doch ziemlich zügig vonstatten. Er prüfte ihren Dienstausweis, führte ein kurzes Telefonat, betätigte den Öffner für die Durchgangstür und bat sie in der zweiten Etage einen Kollegen namens Schumann aufzusuchen.
Das Gebäude war ziemlich alt. Mit ihren hohen Hacken hatte sie einige Schwierigkeiten auf den ausgetretenen Stufen elegant und schnell nach oben zu gelangen. Eine junge Polizistin kreuzte, eine Teekanne in der Hand, ihren Weg und grüßte kurz. Frau Eichhorn hatte das Gefühl, dass sie etwas mitleidig von ihr beäugt wurde. Endlich erreichte sie die zweite Etage. Gleich am Anfang des Ganges fand sie ein Schild mit der Aufschrift 'Kommissar Schumann'. Die Tür daneben stand einladend offen.
Lina Eichhorn klopfte trotzdem vorsichtshalber auf den schlecht gestrichenen Türrahmen und trat dann ohne Zögern ein. Das Zimmer war hell und gemütlich. Aus dem Doppelfenster konnte man über den Marktplatz auf die Ludgerikirche sehen. An einem großen mit Papieren förmlich überhäuften Schreibtisch saß ein freundlicher älterer Herr.
"Moin, Frau Eichhorn! Na, Sie bringen uns ja den Sonnenschein ins Haus." Er erhob sich schwerfällig von seinem Schreibtischstuhl und kam auf sie zu. Seine Augen unter dicken buschigen Brauen zwinkerten lustig, als er freundschaftlich ihre Hand drückte.
Hauptkommissarin Eichhorn war erleichtert, diesen netten Kollegen hier anzutreffen. Sie erinnerte sich gleich daran, dass sie ihm schon einmal begegnet war.
"Schönen guten Morgen, Kollege Schumann. Wir kennen uns doch von einer dieser ätzenden Fortbildungs-Veranstaltungen in Hannover, wenn ich mich nicht irre."
"Ja, jetzt erinnere ich mich. Das ist schon einige Zeit her. Wir hatten damals aber mordsmäßig Spaß. War das nicht irgendwas mit Computer? - Hasse ich bis auf den heutigen Tag, diese Dinger!"
Er kratzte sich nachdenklich am Kinn und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Unter seinem nicht unbeträchtlichen Gewicht ging das strapazierte Möbelstück stark quietschend in die Knie.
Seine attraktive Kollegin aus Oldenburg nahm ihm gegenüber auf einem der Besucherstühle Platz, nachdem sie ihren Regenmantel achtlos irgendwo abgelegt hatte.
Kommissar Schumann kramte unter einem Aktenstapel einige Papiere hervor, die für den zu bearbeitenden Kriminalfall relevant waren und begann ohne aufzuschauen sehr konzentriert vorzulesen:
"Weibliche Leiche ohne Papiere, bekleidet mit dunkelgrauem Jogginganzug der Marke Adidas, passenden Sportschuhen desselben Herstellers, Regenjacke gelb mit roten Streifen und roter Wollmütze, ohne Ausweispapiere. Unweit der Leiche wurde ein Damen Hollandfahrrad sichergestellt.
Fundort der Leiche: Deichvorland in Höhe der Gemarkung Westerloog auf dem geteerten Befestigungsstreifen. Gesicht der Leiche stark deformiert und blutüberströmt, rechtes Hosenbein und Teile der übrigen Kleidung zerrissen, mehrere Fleischwunden.
Soweit der Bericht der beiden Polizisten, die den Tatort nach einem Anruf aus der Bevölkerung als erste in Augenschein nahmen." Der Kommissar blickte auf und rückte seine Brille leicht zurecht.
Seine Kollegin nutzte die Pause, um ihm zu erklären, dass sie bereits im Groben über den Fall informiert sei, aber sich für die neuesten Laborbefunde und sonstige Hinweise der Abteilung Spurensicherung oder auch der möglichen Zeugen interessiere.
"Ja, ja!" Er nickte zustimmend und gleichzeitig beschwichtigend. "Natürlich brauchen die Untersuchungen immer ihre Zeit. - Aber wem sag ich das! - Sie sind ja schließlich die Fachfrau aus Oldenburg. Mit Ihrer Unterstützung werden wir Dorftrottel dann doch sicher schnell alles auf den Streifen kriegen - wie man so sagt." Er grinste breit aber nicht die Spur unverschämt.
Lina war nicht beleidigt. Sie kannte die Probleme aus langjähriger eigener Erfahrung, wenn aus Gründen der Unterbesetzung einzelner Außenreviere Kriminalbeamte aus der nächsten größeren Stadt abkommandiert wurden. Es war weder für die Beamten vor Ort noch für die fremden ein besonderes Vergnügen. Aber bei komplizierten Kapitalverbrechen war es üblich, Sonderkommissionen zu bilden, deren Mitglieder aus verschiedenen Kriminalkommissariaten zusammengewürfelt wurden.
Sie lächelte sehr freundlich zurück und sagte schelmisch: "Die längere Diensterfahrung dürften Sie ja wohl haben, außerdem sind Ihnen die Verhältnisse in Norden und Umgebung besser vertraut als mir. Aber ich will mich natürlich kräftig bemühen, hier gute Arbeit zu leisten."
Er senkte sichtlich zufrieden wieder sein graues Haupt und wanderte mit dem Blick über die Papiere. "Wir haben die Anruferin genauestens überprüft. Sie ist vollkommen unverdächtig, hat keinen Hund und war nur Joggen. Sie konnte leider nichts zur Aufklärung beitragen. Die Identität der übel zugerichteten Frau ließ sich verhältnismäßig schnell klären, weil sie schon am Mittag von ihrer Familie als vermisst gemeldet wurde. Sie wohnte nur etwa fünf Kilometer vom Tatort entfernt und war eine harmlose Radfahrerin. Hinterlässt drei Kinder, das jüngste ist gerade mal fünf Jahre alt und einen kranken Mann, der im Rollstuhl sitzt. Böse Sache das ganze, verflixt böse Sache!"
Er kratzte sich erneut am Kinn. Dann begann er behäbig in dem Papierwust zu graben bis er ein weiteres dicht beschriebenes Blatt in den Händen hielt. Nach einem langen prüfenden Blick, entschied er sich dafür, dieses Schriftstück seiner Kollegin zur eigenen Lektüre hinüberzureichen. Wahrscheinlich war es ihm zu mühselig alles laut vorzulesen.
Die Hauptkommissarin hatte abwartend dagesessen, ohne den älteren Kollegen mit weiteren Fragen zu bedrängen und dadurch möglicherweise zu irritieren. Jetzt nahm sie erleichtert den Bericht des Gerichtsmediziners entgegen, aus dem der vermutete Todeszeitpunkt und die Todesursache hervorgingen. Sie las zügig und sehr interessiert, dass die vierzigjährige Frau am Montagmorgen letztendlich durch einen Genickbruch zu Tode gekommen sei. Die blutenden Fleischwunden stammten aller Wahrscheinlichkeit nach von Hundebissen. Vermutlich sei die Radfahrerin von einem oder mehreren Hunden angefallen und dadurch auf einen der großen Steine gestürzt, die als Wellenbrecher der Deichsicherung dienten. Durch den Aufprall sei der Genickbruch verursacht worden.
Frau Eichhorns scharfer Verstand begann sofort zu kombinieren und den Fall in alle Richtungen zu durchleuchten. Nach einem geplanten Mord sah die Sache im Augenblick nicht gerade aus. Aber in diesem frühen Stadium war ein Irrtum erfahrungsgemäß noch leicht möglich. Sie wandte sich an ihr Gegenüber, um das weitere organisatorische Vorgehen zu besprechen. Sie brauchte einen Platz, wo sie ungestört arbeiten konnte und ein Quartier für den Aufenthalt, da sie nicht beabsichtigte, dauernd zwischen Oldenburg und Norden zu pendeln.
Der Kollege Schumann war, trotz seiner umständlichen Art, kooperativ und sehr hilfsbereit, so dass die Grundvoraussetzungen für Lina Eichhorns Ermittlungsarbeiten bald geschaffen waren. Das kleine Büro wirkte zwar etwas verstaubt aber durchaus anheimelnd. Der unverzichtbare Computer und ein Telefon waren vorhanden, damit stellte sie sich zufrieden. Die Unterstützung der Norder Beamten, soweit sie abkömmlich waren, wurde ihr ausdrücklich zugesichert.
Auch die Unterbringung machte keine großen Probleme. Da die Ostersaison bereits vorbei war, fand Frau Eichhorn schnell ein sauberes Zimmer mit Frühstück in der Nähe des Tatortes. Die Vermieterin war sichtlich erfreut, dass sie die Kriminalbeamtin beherbergen durfte, wahrscheinlich nicht nur wegen der unerwarteten Zusatzeinnahme in der Nebensaison.
Die große verhärmte Frau kochte extra Tee für ihren unverhofften Gast. Die Hauptkommissarin nahm gerne in der einfachen blitzsauberen Küche Platz und ließ sich das anregende Getränk nach den vorausgegangenen Anstrengungen munden.
Während die Vermieterin schleppend übers Wetter redete, funkelten im absoluten Gegensatz dazu ihre beinahe grasgrünen Augen aufgeregt in Erwartung eines kleinen Informationshäppchens, dass sie stolz an ihre Nachbarinnen weitergeben könnte. Aber Lina Eichhorn schlürfte nur ihren Tee und nickte ab und zu freundlich. Sie war in Gedanken so bei ihrer Arbeit, dass sie dem Wetterbericht der Frau Eilers weiter keine Beachtung schenkte.
Dann blickte sie die einfach strukturierte Frau plötzlich so unvermittelt an, dass diese erschreckt zusammenzuckte, rot anlief und beinahe die geblümte Teetasse fallen ließ.
"Haben Sie hier einen Hund?", platzte es aus ihr heraus.
"Ja, ja!", stotterte Frau Eilers verwirrt, als würde sie verhört. "Wir haben einen kleinen Mischlingshund. Der ist aber ordnungsgemäß angemeldet und auch ganz brav. Was ist mit dem Hund? Haben Sie vielleicht eine Allergie?"
Die Hauptkommissarin bemerkte, dass ihr Ton etwas unangemessen gewesen war. Schließlich handelte es sich bei der Vermieterin nicht um eine Verdächtige, obwohl streng genommen im Moment jeder Hundebesitzer aus der Gegend verdächtig sein konnte.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich ihn mir nachher für einen kleinen Deichspaziergang einmal ausleihen. Ich muss nämlich die Gegend etwas erkunden", erklärte sie freundlich.
Die Frau nickte erleichtert, fügte dann aber in schulmeisterlicher Manier hinzu: "Auf dem Deich dürfen sie mit dem Hund nicht laufen. Das ist wegen der Schafe und Vögel verboten. Die Hunde jagen. Das ist eben ihre Natur. Und dann sollen wohl auch die Haufen für Schafe gefährlich sein, wegen irgendwelchen Krankheiten."
Das ließ Frau Eichhorn aufhorchen.
"Ach, Hunde sind auf dem Deich verboten? Ist das überall in dieser Gegend so?"
Die Vermieterin nickte.
"Dann werde ich erst einmal ohne Ihren Hund losgehen. Aber vielleicht brauche ich ihn irgendwann doch noch einmal. Wenn Sie dann so freundlich sein möchten."
Sie verließ die Teetafel mit herzlichem Dankeschön und zog sich für den Erkundungsgang um. Ohne den Tatort selbst genau in Augenschein genommen zu haben, fühlte sie sich wie ein blinder Zuschauer in der Theaterloge.
Mit wetterfester Kleidung ausgerüstet, stapfte die Hauptkommissarin unentwegt gegen eine steife Nordwestbrise in Richtung Deich. Ihr Quartier lag glücklicherweise nur etwa zweihundert Meter von ihrem Ziel entfernt. Genüsslich ließ sie die gesunde frische Luft durch ihre Lungen pusten und vergrub die Hände tief in den Taschen. Dort ertastete sie einen leicht zerdrückten Müsliriegel. Er erinnerte sie daran, dass sie noch nicht besonders viel gegessen hatte. Also knabberte sie ihn für den Rest des Weges auf, ohne das geringste davon zu schmecken. Das Papier steckte sie sehr sorgfältig wieder ein, denn sie hasste nichts mehr, als in der Landschaft herum liegenden Müll.
An der Stelle, wo die Straße auf den Deich traf, gab es zwei Zugänge. Beide Törchen waren mit Hundeverbotsschildern und entsprechenden Erklärungen der Deichacht versehen. Lina Eichhorn entschied sich dafür, statt des geteerten schräg angelegten Weges die steile Treppe zu benutzen. Das Eisentor quietschte jämmerlich in den Angeln und schlug hinter ihr selbsttätig mit lautem Krachen ins Schloss. Sie schien an diesem Vormittag hier am Deich völlig allein zu sein. Schnell nahm sie die Stufen und hatte bald den höchsten Punkt des künstlichen Schutzwalls erreicht. Zum Wasser hin fiel er seichter ab, um den Wellen beim Auflaufen die Kraft zu nehmen.
Sie wusste bereits aus dem Schulunterricht, dass Deiche Wunderwerke physikalisch mathematischer Berechnungen waren. Damit sie als Schutz vor Überflutungen erfolgreich wirkten, mussten sie vor allem sehr haltbar sein und hoch genug. Um den Erdwall vor Erosion zu schützen, ließ man Gras darauf wachsen, das von Schafherden kurz und gesund gehalten wurde. Nur am Deichfuß dienten in Teer eingelassene Steine als Befestigung und Wellenbrecher.
Das führte sie unvermittelt zu ihrem aktuellen Fall zurück. Auf einem dieser scharfkantigen Steine war die bedauernswerte Frau zu Tode gekommen.
Es dauerte nur wenige Minuten bis sie die Reste der rotweißen Absperrungsmarkierung erreichte. Das Blut der Verstorbenen klebte noch an der Steinkante, sodass Lina Eichhorn sicher sein konnte, den Fundort der Leiche vor sich zu haben. Vorsichtig näherte sie sich und schaute dabei sehr intensiv nach Spuren, die von den örtlichen Beamten vielleicht übersehen oder als nicht wichtig erachtet worden waren. Sie wusste aus ihrer langjährigen Erfahrung, dass dies trotz aller Akribie, mit der Tatorte inzwischen untersucht wurden, doch immer wieder vorkommen konnte.
Sie zog das Foto der Leiche aus ihrer Jackentasche. Der Anblick war verstörend, nicht nur, weil der plötzliche gewaltsame Tod ihr von solchen Tatortabbildungen immer entgegenblickte. Hier war das Opfer regelrecht zerfleischt worden. Und was die Hundebisse nicht bewirkt hatten, wurde postmortal von Möwen erledigt, die sich an der Leiche gütlich getan und ihr dabei unter anderem die Augen ausgepickt hatten.
Dass sie noch solches Entsetzen spüren konnte, obwohl sie schon jahrelang mit allen Formen von Gewalt und Verbrechen vertraut war, schob sie darauf, dass dies eine Frau in ihrem Alter gewesen war und die Situation, in der sie aus dem Leben gerissen wurde, profaner nicht hätte sein können.
Da bricht eine ganz normale Ehefrau und Mutter zu einer kleinen Radtour auf und kehrt nicht mehr davon zurück.
Mitten in ihren Betrachtungen rutschte die Hauptkommissarin plötzlich aus und hätte sich fast auf den Hosenboden gesetzt, weil sie auf dem abschüssigen grasbewachsenen Deich nicht sofort das Gleichgewicht wiederfand.
„Oh, Mist!“ sagte sie laut und besah sich ihren linken Schuh, der in einem großen Hundehaufen steckte. Ihren Ekel unterdrückend kramte sie ein Papiertaschentuch hervor, um den gröbsten Dreck zu beseitigen. Die Sohle ließ sich im feuchten Gras oberflächlich abstreifen, aber die Schuhspitze hatte auch etwas abbekommen. Sie war froh, älteres rustikales Schuhwerk für die Arbeit im Gelände mitgenommen zu haben.
Während der unangenehmen Reinigungsbemühungen, die von einem penetranten starke Übelkeit erzeugenden Gestank begleitet waren, kam ihr plötzlich in den Sinn, dass der Hundekot eventuell von einem der beteiligten Tiere stammen könnte. Sie zog also einen ihrer Plastikbeutel, die sie für Beweisstücke eingesteckt hatte, aus der Jackentasche und legte das völlig verdreckte Tuch vorsichtig hinein. Falls der Hund dingfest gemacht werden konnte, wäre der Beweis seiner Anwesenheit auf dem Deich damit vermutlich zu erbringen.
Sie fand nichts weiter außer einem goldenen Bonbonpapier einer sehr bekannten Marke und einer etwas entfernt liegenden Zigarillo-Kippe, die natürlich überhaupt nichts mit dem Fall zu tun haben mussten, von ihr aber trotzdem vorsorglich eingesammelt wurden. Die drei Beutelchen mit den möglichen Beweisstücken verschloss sie sorgsam und verstaute sie in der Jackentasche neben dem Müsliriegelpapier.
Sie musste sich wohl oder übel so schnell wie möglich mit der Familie der Getöteten beschäftigen, weil sie sonst keinerlei Anhaltspunkte für eine Aufklärung des Falles hatte. Glücklicherweise hatte sie am Tatort wie gewöhnlich Einmalhandschuhe getragen, sodass ihre Finger vom Hundekot verschont geblieben waren.
Sie hätte hier am einsamen Deich schwerlich eine Gelegenheit gefunden, sich die Hände zu waschen, obwohl das Meer ja unmittelbar vor ihrer Nase lag. Erstens war gerade Ebbe, oder Niedrigwasser, wie die hiesige Bevölkerung das nannte, und das Wasser hatte sich fast bis zum Horizont zurückgezogen. Und zweitens war der Deich gegen die in regelmäßigen Abständen anrollenden Flutwellen durch die in Teer gelegte dicke Steine geschützt. Lina hätte es nicht gewagt, diese glitschige stark abschüssige Schräge hinunter zu schlittern, um sich die Hände in einer der kleinen Pfützen, die hier und dort auf dem schwarzglänzenden Wattboden übriggeblieben waren, abzuspülen. Wahrscheinlich wäre sie hinterher weitaus schmutziger wieder herausgekommen.
Sie ging also zur Straße zurück und rief bei der Norder Polizeiwache an, um einen Wagen herbeizuordern. Der Kollege am Telefon war dienstbeflissen und versprach, dass der in Norddeich stationierte Polizeibeamte sie schnellstens mit dem Dienstfahrzeug abholen würde.
Ein junger Kollege von der Streife brachte sie zügig mit einem Polizeiwagen zu der Adresse der Getöteten. Es war eine derart kurze Strecke, dass es kaum zu einer Unterhaltung zwischen ihnen kam. Der Bursche schien aber pfiffig zu sein und war ihr auf Anhieb sympathisch. Sie bat ihn bei ihrer ersten Begegnung mit der Familie dabei zu sein. Es war immer von Vorteil, einen aufmerksamen Beobachter bei einer Befragung im Hintergrund zu wissen.
Das Haus des Opfers lag abseits der Küstenstraße an einem holprigen Pfad, der zum Deich führte. Die Gegend nannte sich Osterpolder, wie sie einem Ortsschild entnommen hatte. Es handelte sich um einen sehr ländlichen dünn besiedelten Ortsteil von Norden. Ihr Blick wanderte ungehindert über ausgedehnte Felder und im Hintergrund erhob sich wie eine gezogene Linie der Deich am Horizont.
Es hatte leider wieder zu regnen begonnen, und sie standen im Eingang des alten Klinkerhauses im eiskalten Wind. Erst nach dreimaligem Läuten öffnete sich die schwere Eichentür zögerlich. Ein Mädchen von etwa zehn Jahren schaute ihnen aus einem verheulten Gesicht misstrauisch entgegen.
„Wir sind von der Polizei und würden gern mit deinem Vater sprechen. Dürfen wir reinkommen?“, sprach die Hauptkommissarin die Kleine freundlich an. Das Mädchen tauchte einen Zeigefinger in seine rotblonde Lockenpracht und begann verlegen an einer Haarsträhne zu zwirbeln, während es den uniformierten jungen Mann mit offenem Mund ängstlich anstarrte.
„Hallo, junge Dame!“, rief Lina nun etwas ungeduldig. „Wir sind gleich völlig durchnässt. Ist dein Vater zu sprechen oder ist er nicht zuhause?“
„Was ist dort los?“, drang eine ungeduldige Männerstimme aus dem Innern des Hauses und gleich darauf folgte ein polterndes Geräusch.
Das Mädchen zuckte zusammen und gab sofort die Tür frei, um die Beamten eintreten zu lassen. Dann rannte sie vor ihnen her durch das angrenzende Zimmer. Fokko, so hieß Linas Begleiter, schloss die Tür und mit einem Mal umhüllte sie Wärme und Geborgenheit.
Das große alte Haus war in gut renoviertem Zustand und sehr gemütlich eingerichtet. Das Zimmer, welches sie als erstes betraten, schien der zentrale Wohnraum zu sein. Es war der Einrichtung anzumerken, dass hier eine große Familie mit Kindern lebte. Alles wirkte praktisch und benutzt. Dies war keine Vorzeigestube, wie Lina schon viele gesehen hatte, sondern ein Lebensraum. Trotzdem herrschte Sauberkeit, Ordnung und Schlichtheit in einem angenehmen Sinne.
Lina fühlte sich spontan sehr wohl in dieser Umgebung. Auch die Pastellfarben, in denen die Wände und Vorhänge gehalten waren, sprachen sie an. Der Fußboden war mit warmroten Fliesen belegt, passend zu den typisch geklinkerten Außenmauern des Hauses. Sie und ihr Kollege standen abwartend in dem von einem Kachelofen beheizten Raum und warteten auf den Hausherrn. Es roch schwach nach verbranntem Holz gemischt mit dem ganz speziellen eigenen Duft dieser Familie.
Das Mädchen war ohne ein erklärendes Wort in einem der benachbarten Zimmer verschwunden und hatte die teilweise verglaste Tür hinter sich krachend ins Schloss geworfen.
„Kommen Sie, Fokko, wir setzen uns hier an den Esstisch. Wer weiß, wie lange es dauert, bis der Herr Siebert hier erscheint“, sagte Lina und zog sich auch schon einen Stuhl hervor, um darauf Platz zu nehmen.