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Der Versicherungsdetektiv Holger Jaspers bespitzelt Jennie, eine junge Witwe, die im Verdacht steht, ihren Ehemann ermordet zu haben. Als er durch einen Auffahrunfall enttarnt wird, nimmt das Verhängnis seinen Lauf! Seine Arbeit und das Privatleben verflechten sich zu einem derart verworrenen Netz von unentrinnbaren Gefühlen, dass seine Welt aus den Fugen gerät. Die spannende Handlung, vor dem Hintergrund der beschaulichen Stadt Aurich sowie der Nordseeinseln Juist und Norderney, verspricht abwechslungsreiche Unterhaltung.
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Umschlagsfoto:
„Gefährliche Schönheit“
Erwin de Buhr (2016)
Blechschaden
Jennies Zuhause
Die Wirtin
Ärger mit Saskia
Abendessen mit Jennie
Ubbo Uphoff
Norderney
Am Strand
Hungrig
Eheszenen
Kinderspiele
Sternstunden
Tee am Abend
Fahrt in die Umgebung
Einkaufsvergnügen
Geheimnisse
Verführung
Verdachtsmomente
Dilemma
Abreise
Gewissensbisse
Beziehungskrise
Verletzungen
Genesung
Rückkehr
Endloses Warten
Trennung
Wiedersehen
Epilog
Danksagung
Die Bremsen seines Wagens gaben einen unangenehm quietschenden Ton von sich, und dann saß er auch schon auf ihrer Stoßstange. Das laute Krachen des Aufpralls und das knirschende Splittern von Glas waren nicht zu überhören.
"Scheiße, auch das noch!", entfuhr es ihm. Er stieg aus, um den Schaden abzuschätzen. Die junge Frau am Steuer des nagelneuen türkisfarbenen Golfs bewegte sich nicht von der Stelle. Sie schien zu weinen. Holger fühlte sich wie ein Vollidiot.
Der Schaden an den beiden Wagen hielt sich, soweit er es auf die Schnelle beurteilen konnte, glücklicherweise in Grenzen. Aber er hatte gerade den größten Fehler begangen, der einem professionellen Detektiv passieren konnte. Wie ein blutiger Anfänger, hatte er sich durch diesen vermeidbaren Auffahrunfall selbst enttarnt!
Holger hätte sich ohrfeigen mögen, während er zur Fahrertür ihres Wagens ging, um nachzusehen, ob sie unverletzt war.
Hinter ihnen begann gerade ein ohrenbetäubendes Hupkonzert, als er der Frau, die er seit drei Tagen beschattete, zum ersten Mal direkt in die Augen schaute.
Jennie kurbelte langsam das Autofenster herunter, nachdem sie mit einem Tempotaschentuch ihre Tränen weggewischt und kräftig die Nase geschnäuzt hatte. So etwas wie dieser blöde Unfall hatte ihr gerade noch gefehlt! Jetzt fing Tobias im Fond des Wagens lauthals an zu schreien. Hoffentlich fehlte ihrem kleinen Schatz nichts Ernstes.
"Ich weiß nicht, wie das passieren konnte", sagte sie etwas unsicher. Der gutaussehende Mann beugte sich geschmeidig zu ihr hinunter und sah sie mitleidig an.
Sie war sich nicht ganz sicher, wer Schuld hatte.
"Entschuldigen Sie bitte. Ich hab einen kleinen Moment nicht aufgepasst! Die Ampel wurde so plötzlich rot ...", stammelte sie deshalb und versuchte es instinktiv mit einem Augenaufschlag.
"Schon in Ordnung, es war meine Schuld. Aber sehen Sie besser jetzt nach dem Kind. Es ist hoffentlich nicht verletzt?" Holger sprach ruhig und freundlich. Dann öffnete er die Autotür und war ihr beim Aussteigen behilflich.
Jennies Knie gaben nach, so dass sie sich einen Moment auf Holgers Arm stützte, bevor sie endlich nach ihrem zweieinhalbjährigen Sohn sehen konnte. Tobias hatte sich offensichtlich nur erschreckt. Als seine Mutter sich über ihn beugte, lachte er schon wieder und wollte unbedingt aussteigen. Sie nahm ihn auf den Arm und drückte ihn inbrünstig an sich. Nicht auszudenken, wenn dem Kleinen etwas zugestoßen wäre!
Inzwischen herrschte ein absolutes Chaos an der Unfallstelle. Gaffende Leute umringten sie von allen Seiten, und die wartenden Autos standen in einer ungeduldigen Schlange. Hin und wieder setzte das nervige Hupen von neuem ein.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erschien ein Polizeiwagen mit Blaulicht und ohrenbetäubender Sirene. Schnell arbeiteten sich die beiden Polizisten zu ihnen vor. Als erstes sorgten sie dafür, dass der lahm liegende Verkehr wieder in Fluss kam. Dann stellten sie Fragen und nahmen Holgers und Jennies Personalien auf.
Es war Jennies erster Verkehrsunfall. Und obwohl sie absolut keine Schuld daran trug, konnte sie sich einfach nicht beruhigen. Ununterbrochen stiegen ihr Tränen in die Augen. Ihr leicht lädierter Golf stand inzwischen auf dem Seitenstreifen, und Tobias saß wieder ungeduldig glucksend in seinem Kindersitz. Er beobachtete jede Bewegung der Polizisten und wäre am liebsten mit ihnen ins Polizeiauto gestiegen.
"Bitte fahren Sie jetzt zügig Ihre Wagen weg, damit der Verkehr nicht unnötig behindert wird", bestimmte einer der Beamten, als die Formalitäten erledigt waren. Kurz darauf verließ die grünweiße Limousine auch schon die Unfallstelle.
"Können Sie denn in Ihrem Zustand fahren, Frau Uphoff? Ich befürchte, Sie stehen noch unter Schock!" Holger sah Jennie besorgt an. Sie wirkte so hilflos und zerbrechlich, dass er sie beinahe tröstend in den Arm genommen hätte.
"Ich weiß nicht ...", stammelte sie nur und sah Holger verwirrt an. Es kam ihr vor, als sei sie nicht recht bei Sinnen.
"Politei! Politei! Mama, Politei is weg!", brüllte ihr kleiner Sohn ununterbrochen.
Es half nichts! Hier konnten sie unmöglich länger stehen bleiben, also musste Holger eine Entscheidung treffen.
"Ich fahre meinen Wagen schnell auf den Parkplatz gegenüber. Dann bringe ich Sie nach Hause. Schließlich ist es ja meine Schuld, dass Sie diese Unannehmlichkeiten haben!"
Noch ehe Jennie ihm widersprechen konnte, saß er in seinem alten sehr gepflegten BMW und brauste davon. Die junge Frau setzte sich still auf den Beifahrersitz ihres Wagens und wartete. Tobias löcherte sie in Kleinkindmanier. Aber sie fühlte sich einfach unfähig, ihm zu antworten.
"Mama is taulich?", fragte er nach einer Weile leise. Die unsicheren Worte des Kindes brachten sie endlich wieder zur Besinnung.
Was war eigentlich Weltbewegendes geschehen? Sie hatte gänzlich unverschuldet einen kleinen Unfall gehabt! Die Versicherung des netten Mannes würde ihr den Blechschaden ersetzen, und außerdem wollte er sie sogar nach Hause bringen. Eigentlich kein Anlass für aufsteigende Depressionen.
Holger stieg an der Fahrerseite ihres Wagens ein und rückte sich den Sitz zurecht. Er war viel größer, als die zierliche Jennie, fast einen Meter und neunzig. Sportlich gab er Gas und fädelte sich gekonnt in den fließenden Verkehr ein. Obwohl er selbstverständlich durch seine bisherigen Recherchen längst genau wusste, wo Jennie wohnte, fragte er lächelnd: "Wohin darf ich sie bringen, Frau Uphoff?"
Jennie nannte ihm ihre Anschrift und fügte noch ein paar kurze Erklärungen zur Wegstrecke hinzu. Holger nickte nur. Er musste sich auf den starken Verkehr konzentrieren. Es war ein fürchterliches Gewühl an diesem Freitagvormittag in Aurich.
Am Monatsanfang, wenn die Leute das Geld in den Taschen zu quälen schien, waren ihm die Städte immer besonders unangenehm. Andererseits konnte er in dieser Hektik, wo keiner auf den anderen achtete, gut ungestörte Beobachtungen vornehmen. Das hatte er eigentlich auch heute beabsichtigt, als schließlich alles anders kam.
Jennie beruhigte sich inzwischen zusehends. Sie betrachtete ihren netten Chauffeur eingehend von der Seite. Er mochte etwa Vierzig sein, hatte graumeliertes sehr volles dunkles Haar, ein glattrasiertes männliches Gesicht mit sinnlichen Lippen und einem kleinen Grübchen im Kinn. Seine freundlichen Augen waren von schwarzen für einen Mann unverschämt langen Wimpern umrahmt. Die gesamte Erscheinung wirkte sportlich leger.
Jennie schaute auf den zerknitterten Zettel mit den Versicherungsdaten des Unfallverursachers, den sie noch immer verkrampft in der rechten Hand hielt. "Holger Jaspers" stand unter "Name". Es war eine Adresse in Düsseldorf angegeben. Der Mann machte gewaltigen Eindruck auf sie.
Mechanisch klappte sie die Sonnenblende herunter, um in dem kleinen Spiegel auf der Rückseite ihr Aussehen zu kontrollieren. Panisch kramte sie anschließend in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift. Viel konnte der jetzt zwar auch nicht mehr herausreißen, aber sie fühlte sich mit geschminkten Lippen wenigstens etwas wohler.
Holger pfiff leise eine bekannte Filmmelodie vor sich hin. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Jennies blinden Aktionismus amüsiert. "Sie sehen einfach bezaubernd aus, Make-up haben Sie doch gar nicht nötig!" Er meinte das wirklich ernst.
Seit er die junge Frau beobachtete, war ihm ihre anziehende Natürlichkeit besonders aufgefallen. Einige der Fotos hatte er sogar extra vergrößert und an seine Pinnwand gespießt, um ihr Gesicht eingehender betrachten zu können.
Sie lief rot an. "Ich tu, was ich kann — aber manchmal ist es eben nicht genug!", antwortete sie kokett und tastete mit den Fingern ordnend nach ihrem im Nacken zusammengebundenen kräftigen blonden Haar.
"Mama, Hause fahn", brabbelte Tobias auf dem Rücksitz.
"Ja, Tobias. Der nette Onkel fährt uns jetzt nach Hause, mein kleiner Schatz. Wir sind gleich da."
Jennie war plötzlich ausgezeichneter Laune. Seit Jahren war es ihr nicht mehr so gut gegangen. Dieser Holger Jaspers vermittelte ihr das Gefühl wichtig zu sein.
"Hoffentlich macht Ihre Frau keinen Ärger wegen dem Unfall", bemerkte Jennie scheinheilig.
"Nein, nein, keine Sorge, das ist mein Dienstwagen. Und verheiratet bin ich genau genommen nicht."
"Das ist prima!", rutschte Jennie heraus, und sie wurde schon wieder rot.
Holger bog in die Hauseinfahrt ein und stellte den Motor ab.
"Da wären wir, kleiner Mann! Siehst du, Onkel Holger hat Mama und dich gut nach Hause gebracht", sagte er nach hinten zu dem Kind gewandt und setzte ein breites Lieber-Onkel-Grinsen auf.
"Soll ich Ihnen ein Taxi rufen, Herr Jaspers? Oder wollen Sie vielleicht vorher noch einen Kaffee trinken?" Jennie sah den Traummann halb fragend, halb bittend an.
"Kaffee wäre nicht übel. Aber lassen Sie uns erst einmal den Kleinen aus seinem Sitz befreien." Tobias zerrte nämlich wie wild an seinem Sicherheitsgurt und drohte fast, sich damit zu erwürgen.
Jennie ließ ihren Sohn aussteigen, der sofort wie ein Kugelblitz im Garten hinter dem Haus verschwand. Dann schloss sie die Haustür auf. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass Holger Jaspers der erste Mann seit Ubbos Tod war, der mit ihr allein eine Tasse Kaffee trinken würde, von mehr ganz zu schweigen. Sie führte seither ein noch zurückgezogeneres Leben als in ihrer bedrückenden Ehe.
Für einen arbeitslosen Maurerpolier war das Einfamilienhaus erstaunlich groß und von einem Garten umgeben. Zwei symmetrisch angeordnete Apfelbäume ragten aus einer sauberen Rasenfläche ohne das kleinste Wildkräutlein. Ringsherum säumten braune glatt geharkte Beete das Grün. Am äußersten Ende des Gartens befanden sich eine Kinderschaukel und ein Sandkasten. Die hohe exakt geschnittene Hecke verwehrte allzu Neugierigen den Einblick. Auch der Detektiv war zunächst an ihr gescheitert. In dieser Stadtrandgegend kannte jeder jeden, und es war nicht ungefährlich, als Auswärtiger einfach unbefugt auf einem fremden Grundstück herumzustöbern.
Zum Ausgleich hatte er aber redselige Nachbarn gefunden, die ihm allen Klatsch über Jennie bereitwillig erzählten. Viel Verwertbares war leider nicht dabei gewesen. Sie kannten die zurückhaltende Frau kaum. Dass es sich bei dem Tod von Ubbo Uphoff um Selbstmord handelte, schlossen die Tratschtanten allerdings vehement aus. Da hätte seine Frau eher Grund gehabt, sich etwas anzutun. Denn der grobe Kerl sei ein Ekelpaket gewesen, war die allgemeine Meinung. So sah Holger es in dieser Hinsicht geradezu als einen Glücksfall an, dass Jennie ihn vertrauensselig in ihr Haus einlud.
Sie bat ihn, in der „guten Stube“ Platz zu nehmen. Das war ein Privileg, denn gewöhnlich wurden Besucher von ihr in der großen Wohnküche empfangen. Die Stube war bisher besonderen Anlässen, wie Weihnachten, Taufe und runden Geburtstagen, ja letztendlich auch der Trauerfeier für ihren Mann, vorbehalten gewesen. Deshalb stand sie fast immer leer und wurde auch im Winter selten beheizt. Nur Jennie ging zum Saubermachen und Lüften ab und zu hinein. Dann freute sie sich jedes Mal an den schönen üppigen Möbeln. Sie sahen noch so aus, als wären sie eben erst mit dem Möbelwagen geliefert worden, keine Kratzer, keine Abnutzungserscheinungen.
Holger versank in dem dicken grün geblümten Polstersessel, den Jennie ihm angeboten hatte, und sah sich interessiert um, während sie den Kaffee kochte. Das Zimmer war ihm entschieden zu plüschig. Gewöhnlich bezeichneten er und Saskia, seine Lebensgefährtin, solche Einrichtungen schmunzelnd als „Gelsenkirchener Barock".
Der große verschnörkelte auf Eiche getrimmte Schrank wirkte erdrückend auf ihn. Als einzige Auflockerung waren zwei dicke noch sauber in Folie verpackte Bücher und einige kleine Porzellanfigürchen, wie verloren, über die gesamte dunkle Fläche verteilt. Die üppig gerafften blütenweißen Gardinen erschienen ihm wie Staubfänger. Dunkelgrüne schwere Samtvorhänge grenzten die breite Fensterfläche gegenüber einer hellen, mit einem zarten Muster aus Gräsern bedruckten, Tapete ab. Der beige makellose Velourteppichboden war zum Betreten fast zu schade.
Vielleicht hätte er seine Schuhe besser vor der Tür zum Allerheiligsten abstellen sollen, dachte er einen Moment lang. Dann brachte Jennie ein Tablett mit duftendem Kaffee und selbstgebackenem Napfkuchen ins Zimmer und setzte es sehr vorsichtig auf die Marmorplatte des steifen rechteckigen Eichentisches.
"Oh, das riecht ja sehr verlockend!" Holger war ehrlich begeistert. Seit Jahren hatte er keinen selbstgebackenen Napfkuchen mehr bekommen. Jennie lächelte ihn dankbar an und holte behände ihr bestes Kaffeegeschirr, mit grünen Efeuranken auf weißem Grund, aus dem Schrank. Die selten bewegten Türen quietschten ehrfurchtsvoll beim Öffnen und Schließen. Nachdem sie den Kaffee eingegossen und den Kuchen auf die Tellerchen verteilt hatte, konnte sie sich endlich entspannt ihrem Gast widmen. Ihr Make-up hatte sie in Windeseile perfekt erneuert, während der Kaffee durch die Maschine lief. Auch ihre Frisur sah inzwischen wieder annehmbar aus. So fühlte sich die junge Witwe einigermaßen sicher.
"Schmeckt Ihnen der Kuchen? Er ist selbstgebacken." Sie sah Holger erwartungsvoll an und ihre Wangen trugen einen roten Hauch, der nicht von Make-up stammte.
"Ausgezeichnet! So etwas Gutes habe ich seit dem Tod meiner Großmutter nicht gegessen. Ich dachte, die Frauen von heute könnten gar nicht mehr richtig backen", antwortete Holger mit vollem Mund. Er nahm einen Schluck von dem kräftigen Kaffee.
"Ich hab's von meiner Schwiegermutter gelernt. Mein verstorbener Mann wollte immer eine gute Hausfrau heiraten. Ich war ja damals noch fast ein Kind und musste mir alles erst beibringen." Jennie sprach nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme. Irgendwie hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, ihr verkorkstes Leben im Griff zu haben.
"Ach, sie sind schon Witwe? Das ist sicherlich ein schwerer Schicksalsschlag für Sie gewesen!" Holger heuchelte Überraschung und Mitgefühl.
"Ja, es war ein schrecklicher Unfall vor einigen Wochen ...", stammelte Jennie, denn die beängstigenden Bilder drängten mit Macht völlig unvermittelt erneut in ihr Bewusstsein.
Sie sah Ubbo auf der Intensivstation, nicht ansprechbar, mit lauter Apparaten verbunden — ein lebender Leichnam. Dann quälten sie die endlosen peinlichen Befragungen durch die Polizei. Es war ihr so vorgekommen, als sollte ihr gesamtes Privatleben in alle noch so unwichtigen Einzelheiten zerpflückt werden. Auf ihren eigenen Seelenzustand und den der Kinder hatte niemand wirklich Rücksicht genommen.
"Es tut mir sehr leid!", murmelte Holger leise und ehrlich betroffen, als er Jennies Stimmungsänderung bemerkte.
Sie sah ihn mit dem Blick eines tieftraurigen kleinen Mädchens an, das Schreckliches erlebt hatte aber nichts verstand.
"Schon gut! Manchmal ist das Leben halt so", bemerkte sie ebenso leise und machte den Versuch zu lächeln. "Aber, erzählen Sie mir doch etwas von sich! Haben Sie an der Küste Ferien gemacht?"
Holger fühlte sich plötzlich in der Zwickmühle. Obwohl er von ihrem Kummer emotional berührt war, musste er Jennie ohne verräterisches Zögern eine klopffeste Lügengeschichte auftischen.
"Nein, nein, ich bin nicht zur Erholung hier, sondern beruflich", antwortete er und trank einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen.
"Ach, beruflich! Da kommen Sie ganz von Düsseldorf her? Was arbeiten Sie denn hier? Es gibt doch bei uns so wenig Arbeit und so viele Arbeitslose", fragte Jennie erstaunt. Ubbo hatte ihr immer erzählt, dass man in Nordrhein-Westfalen viel bessere Arbeit finden könnte.
"Ich bin für ein großes Architekturbüro in Düsseldorf tätig. Wir haben oft in Ostfriesland zu tun, einige bedeutende Aufträge im Rahmen von Stadtsanierungen und so. Verstehen Sie?" Er beobachtete Jennies Gesicht genau, während er die Worte professionell aneinander reihte. Sie schien auf eine naive Art beeindruckt zu sein.
Völlig an den Haaren herbeigezogene Ausreden liebte Holger nicht. Wenn ein Lügengespinst haltbar sein sollte, musste man immer einige Körnchen reiner Wahrheit hinein weben. Deshalb hatte er auch in diesem Fall nur die Realität ein wenig verdreht.
Saskia von Burg, die Frau mit der er in Düsseldorf lebte, führte ein angesehenes Architekturbüro, das für Kunden in ganz Deutschland arbeitete. Er half ihr ab und an bei dem lästigen Bürokram, wenn er selbst keinen wichtigen Auftrag hatte. Dafür wohnte er kostenlos in ihrem wundervollen alten Haus in der Nähe der Königsallee. Es war eine exklusive Wohngegend am Rande der pulsierenden Altstadt, grün und trotzdem zentral.
Seine Lebensgefährtin hatte das heruntergekommene Gebäude vor Jahren geerbt, es gefühlvoll restauriert und von innen vollkommen modernisiert. In den beiden oberen Etagen richtete sie ihre großzügige und komfortable Wohnung ein, der Rest diente ihr zu beruflichen Zwecken. Saskia wusste immer genau, was sie wollte, und sie bekam es auch. Im Moment zählte sie zu den erfolgreichsten Frauen ihrer Branche.
"Sie sind Architekt! Das ist ja ein guter Beruf", bemerkte Jennie ehrfürchtig. Der sympathische Mann entrückte in diesem Moment in für sie unerreichbare Sphären. Sie war intelligent genug, um sich ihrer mangelhaften Bildung bewusst zu sein. Woher sollte die auch kommen, wenn eine mit Sechzehn schwanger wurde und nachher nur noch für Mann und Kinder zu Hause schuftete, entschuldigte sie sich vor sich selbst.
Holger war erleichtert, dass die junge Frau seine Lüge ohne den geringsten Argwohn schluckte. Mit einem Gefühl von Überlegenheit lehnte er sich entspannt in den Sessel zurück und sah Jennie lächelnd an. "Ach ja, der Beruf ernährt mich ganz leidlich und macht meistens sogar Spaß. Ich komme viel herum und lerne interessante Menschen kennen. Aber nicht alle sind so nett wie Sie!"
Sein nicht gerade originelles Kompliment traf Jennie wie Amors Pfeil. Sie glaubte bis in die Haarspitzen zu erröten. Zitternd stellte sie ihre Kaffeetasse ab und fragte: "Möchten Sie vielleicht noch etwas Kuchen? Ich hab noch welchen in der Küche."
Holger bemerkte, dass sie ihn absolut hilflos anhimmelte. Und obwohl ihm die emanzipierte Saskia die letzten Reste seines ehemaligen Gockelverhaltens gehörig abgewöhnt hatte (genau wie das Pinkeln im Stehen), blähte stolze Männlichkeit in diesem Augenblick seine Brust. Es kam ihm in den Sinn, dass er ihre offensichtliche Sympathie für seine beruflichen Zwecke ausgezeichnet nutzen könne. So würde sich seine blöde Anfängerschlappe vielleicht doch noch zu einem Erfolg wenden lassen.
Er überlegte kurz und antwortete dann: "Nein danke! Ich kann von selbstgebackenem Kuchen zwar nie genug bekommen, aber ich muss meinen Wagen unbedingt noch heute in eine Werkstatt bringen. Mit kaputtem Scheinwerfer und ohne Blinklicht fährt es sich wirklich sehr schlecht bis Düsseldorf!" Er lächelte Jennie an und zwinkerte verschmitzt mit dem rechten Auge. "Vielleicht darf ich Sie am Wochenende als kleine Entschuldigung zum Essen einladen? Ich werde mir gewiss hier in der fremden Stadt ohne meinen Wagen sehr einsam vorkommen."
Jennie fühlte sich geschmeichelt. Von so einem klugen gutaussehenden Mann war sie noch niemals eingeladen worden. Eigentlich hatte sie überhaupt noch nie jemand zum Essen eingeladen. Während sie noch zögerte, ihm zu antworten, hörte sie plötzlich Sabrina und Nadine im Hausflur fürchterlich laut streiten.
"Du musst dir nicht dauernd einbilden, dass du was Besseres bist!"
"Ph! Du bist ja viel zu blöd zum Rechnen!"
"Ich bin älter als du, da wird alles viel schwerer! Wirste selbst noch sehen, eingebildete Schnepfe!"
"Blöde gemeine Ziege, ich sag alles Mama! Mama, Sabrina ärgert mich! Mama!"
"Mama, wo bist du?"
"Mama, ich hab in Mathe eine Zwei! Mama!"
Jennie ging schnell zur Tür, um die Rasselbande zu stoppen. Was sollte Herr Jaspers für einen Eindruck von ihren Kindern bekommen?
"Hier bin ich! Nun hört endlich mit dem Streit auf, wir haben Besuch", herrschte sie ihre beiden Töchter an. Sabrina machte Telleraugen, als sie ihre Mutter unvermittelt in der Tür zur guten Stube stehen sah. Was mochte das für ein Besuch sein, der an einem gewöhnlichen Wochentag so fürstlich empfangen wurde? Die Neugierde der Mädchen war geweckt, und der heftige Streit blieb derweil unvollendet in ihren schlecht gewaschenen Hälsen stecken.
Ehe Jennie noch irgendetwas erklären konnte, hatten die beiden Schwestern sie zur Seite gedrängt und starrten wie angewurzelt auf den ebenso erstaunten Holger Jaspers.
Die achtjährige Nadine fand zuerst ihre Sprache wieder: "Mama, wer ist denn deeer?" Sie deutete dabei höchst verunsichert mit ihrem Zeigefinger auf den Fremden, der wie selbstverständlich an einem normalen Freitagmittag in einem ihrer besten Sessel saß und es sich gut gehen ließ. Selbst die Polizisten und die aufdringlichen Leute von der Versicherung waren von Mama nach Papas Tod nicht in die Stube geführt worden.
"Mama, warum darf der Mann in unserer Stube sitzen und deinen Kuchen essen?", fragte Sabrina ziemlich unverschämt. Das kräftige zehnjährige Mädchen hatte den Kopf provozierend in den Nacken geworfen und betrachtete Holger von oben herab.
Seit ihr Vater tot war, spielte die Älteste sich gern als seine Nachfolgerin auf und versuchte ihre Mutter und die jüngeren Geschwister manchmal besserwisserisch zu tyrannisieren.
"Seid nicht so unhöflich zu Herrn Jaspers! Mein Auto war kaputt, da hat er mich und Tobias nach Haus gebracht", wies Jennie die beiden Mädchen zurecht.
"Das sind meine Töchter, Sabrina und Nadine. Bitte entschuldigen Sie ihr schlechtes Benehmen, ihnen fehlt der strenge Vater!"
Nadine wirkte etwas betroffen und knickste verlegen. "Hallo!", sagte das dunkelblonde hübsche Mädchen mit dem wachen Blick und lächelte unsicher.
Sabrina war von ganz anderer Natur. "Wieso ist unser nagelneuer schöner Wagen kaputt? Hast du etwa einen Unfall gebaut?", stellte sie ihre hilflose Mutter entrüstet zur Rede.
"Ich war nicht schuld. Es ist jemand aufgefahren", antwortete Jennie schwach.
"Ach, so! Hast du auch die Polizei geholt? Papa hat gesagt, dass du bei einem Unfall immer die Polizei holen musst!" Sie stemmte die Hände in die Hüften, dass sie aussah wie ein Henkeltopf.
"Deine Mutter hat sich vorbildlich verhalten, und der Schaden wird von der Versicherung vollkommen beglichen, junge Dame", kam Holger Jennie zu Hilfe. Sabrina blickte den Mann genau an. Er hatte eine schöne Stimme und war ihr plötzlich gar nicht mehr unsympathisch. Sie strich sich eine Strähne ihrer hellblonden Löwenmähne aus dem Gesicht und schritt dann mit eingezogenem Bauch und herausgedrückter Brust auf den attraktiven Fremdling zu, um ihm huldvoll lächelnd ihre Hand zu reichen.
Holger musste sich das Lachen verkneifen, während er die schwitzige Hand der kleinen Lolita ergriff und freundlich "Hallo, Sabrina!", sagte.
Sie schenkte ihm noch einen übertriebenen Augenaufschlag, drehte sich dann auf dem Absatz herum und verließ mit wiegendem Gang das Zimmer, dabei glich sie mehr einem betrunkenen Seemann als einem Model.
"Das Essen steht auf dem Herd. Ihr könnt euch schon auftun", rief Jennie hinter den beiden Mädchen her, die nun solidarisch in der Küche verschwanden. Holger erhob sich höflich aus dem Sessel. Er wollte die Familie nicht beim Essen stören. Außerdem wurde es auch höchste Zeit, dass er zur Werkstatt kam. Am Wochenende würde dort nicht allzu viel laufen, da wurden sicher nur gute Stammkunden bevorzugt bedient.
"Ich muss jetzt leider gehen. Nochmals herzlichen Dank für den Kaffee und den leckeren Kuchen. Wären Sie bitte so liebenswürdig, mir das Taxi zu rufen, Frau Uphoff?"
"Ja, das hab ich beinah vergessen! Natürlich, mach ich sofort!" Jennie eilte zum Telefon in der Diele und erledigte den Anruf. Holger stand während dessen etwas deplaciert in der offenen Stubentür.