Das Netz ist politisch – Teil I - Adrienne Fichter - E-Book

Das Netz ist politisch – Teil I E-Book

Adrienne Fichter

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Beschreibung

eVoting, Contact Tracing, Desinformation, Google-Schulen, Echtzeit-Gesichtserkennung – die Themen in der Internetwelt sind vielfältig und haben doch einen gemeinsamen Nenner: Sie zeigen, dass die Digitalisierung niemals ein neutraler Vorgang ist. Bei Gestaltung von Technologien geht es um Entscheidungen und Abwägungen von politischen und gesellschaftlichen Werten, Businessmodellen, Möglichkeiten, Abhängigkeiten und Innovationen. Genau für diese Prozesse interessiert sich Adrienne Fichter, Politologin und Tech-Jounalistin des digitalen Magazins «Republik». Seit Jahren recherchiert und analysiert sie zu Technologien mit Demokratierelevanz. Das Buch «Das Netz ist politisch» ist eine Chronik der bewegten Technologie-Welt der Jahre 2018-2020 und damit auch ein zeitgeschichtliches Dokument. Adrienne Fichter liefert mit dem ersten Band eine bunte Sammlung journalistischer Beiträge aus dem Magazin «Republik» mit zusätzlichen aktualisierten Einordnungen. Denn: viele Fragen und Konflikte wie etwa eVoting oder der technologische Handelskrieg sind ungelöst und dominieren heute noch die politische Agenda von internationalen Gremien und der Schweiz.

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Das Netz ist politisch – Teil I

#evoting #schülerüberwachung #contacttracing #gesichtserkennung

Das Netz ist politisch – Teil I von Adrienne Fichter wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

© 2020 – CC-BY-NC-ND (Werk), CC-BY-SA (Texte)

Autorin: Adrienne FichterVerlag & Produktion: buch & netz (buchundnetz.com)Umschlaggestaltung: buch & netz (buchundnetz.com)ISBN:978-3-03805-302-6 (Print – Hardcover)978-3-03805-301-9 (Print – Softcover)978-3-03805-345-3 (PDF)978-3-03805-346-0 (ePub)978-3-03805-347-7 (mobi/Kindle)Version: 0.86-20201214

Die Texte wurden ursprünglich im digitalen Magazin «Republik» publiziert.

Dieses Werk ist als buch & netz Online-Buch und als eBook in verschiedenen Formaten, sowie als gedrucktes Buch verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL: https://buchundnetz.com/werke/das-netz-ist-politisch-teil-1.

Inhalt

EditorialEs brodelt in der Youtube-HölleWarum Island keine eigene Verfassung hat. Eine nordische SagaDer Jäger der missbrauchten DatenDas heikle Geschäft mit der DemokratieEuropa vs. Big TechDas Märchen des unfähigen StaatesMargrethe die GrosseDer Spion im Schulzimmer360°-Überwachung «made in Turkey» - jedes Gesicht in Sekunden identifiziertDer kalte Tech-KriegWie sich die ETH den USA unterwirft«Made in Switzerland» wird zum löchrigen KäseDie Digitalisierung ist politisch«Die Zahl der Todesfälle haben wir aus Wikipedia entnommen»Die pragmatischen PuristenWie die Pandemie die EU-Digitalpolitik entzaubert

1

Editorial

Diese Zeilen schreibe ich im Home-Office. Als Tech-Journalistin, die sich mit gesellschaftlichen und politischen Implikationen von Technologie auseinandersetzt, fasziniert mich die aktuelle Periode. Denn die derzeitige Pandemie hat uns gezeigt, dass nicht nur das Gesundheitswesen das Prädikat «Systemrelevanz» verdient. Sondern auch eine funktionierende digitale Infrastruktur. Kein Chief Technological Officer, kein Innovationsprojekt, kein Extrabudget konnte die digitale Transformation von Schulen, Verwaltungen und Unternehmen so sehr beschleunigen wie das 2019 entdeckte Coronavirus. Der von Regierungen verhängte Lockdown oder Shutdown wurde zum Katalysator der digitalen Transformation, die man an einigen Stellen – Schule, Parlament, Unternehmen, Bundesverwaltung – jahrelang aufgeschoben hat.

Das Coronavirus zwang uns – Eltern, Lehrerinnen, Bundesangestellte und Managerinnen – sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die wir jahrelang bis ins Jahr 2020 wegprokrastinierten.  Schliesslich reichte ja für den Alltagsbetrieb zu einem grossen Teil die physische Präsenz. Nun zeigt sich, wie sehr die Digitalisierung zu einem grossen Teil Verhandlungsmasse ist. Und Entscheidungsprozesse beinhaltet, in denen wir zwischen verschiedenen Werten, Prinzipien, Geschäftsmodellen oder Algorithmen austarieren müssen: Etwa wenn wir uns mit der Wahl des richtigen Videokonferenzwerkzeugs für unsere Home-Office-Umgebungen beschäftigen. Was ist uns wichtig: pragmatischer Benutzerkomfort, eine funktionsfähige Leitung, die nicht zusammenbricht, oder eine Ende-zu-Ende-verschlüsselte und datensparsame Videoverbindung? Oder bei Fragen, wie eine nationale Contact-Tracing-App ausgestaltet werden soll: maximal privatsphärenfreundlich, aber damit auch epidemiologisch untauglich?

Viele der obigen Fragen tangieren verschiedene ethische Werte und Designprinzipien, die manchmal synergetisch und harmonisch vereinbar sind. Oder sich manchmal klar widersprechen.

Privatsphäre, Nutzerkomfort, einfache Bedienbarkeit, hohe IT-Sicherheit, Transparenz durch Open Source, konstruktives oder fehlgeleitetes schädliches Verhalten aufgrund von algorithmischen Anreizen. Genau um diese Werte, ihre Widersprüche und aber auch Kongruenzen dreht sich mein Buch. In verschiedenen Recherchen, Analysen und Hintergrundgeschichten versuche ich, das Spannungsverhältnis zwischen maximaler Vernetzung, grosser Reichweite und den potenziellen Einbussen an Selbstbestimmung und Privatsphäre herauszuarbeiten.

Dieser Diskurs mag vielleicht abstrakt klingen, doch die letzten drei Jahre boten genügend Anschauungsmaterial, wie Sie den ausgewählten Texten für dieses Buch entnehmen können: Angefangen beim eVoting, wo die Frage nach der richtigen Abstimmungssoftware direkt die Säule der Demokratie betrifft. Weiter mit der Frage, wer der richtige Herausgeber für ein staatliches digitales Benutzerkonto sein soll: ein Privatunternehmen oder ein staatliches Passbüro? Dann zur brandaktuellen Thematik der Google-Schulen in der Schweiz und inwiefern ein Monopolist die persönlichen Daten von siebenjährigen Primarschülern verarbeiten darf. Bis hin zu ethischen Aspekten rund um die Contact-Tracing-App, dem geopolitischen Konfliktpotenzial von globalen Lieferketten rund um die Computerchips der ETHs und inwiefern Brüssel die globale Technologiewelt regulieren kann. Das Weltgeschehen bot soviel Recherche-Stoff, dass ich mich ständig in neue Dossiers einlesen musste.

Seit sechs Jahren schreibe ich über diese Schnittmenge von Technologie und Demokratie, zuerst gelegentlich als Social-Media-Redaktorin bei der NZZ. Nun hauptberuflich bei der Republik und als Herausgeberin des Buchs Smartphone-Demokratie, das im September 2017 erschienen ist. Mein Fokus wurde zu Beginn – also vor circa 8 Jahren – oft noch als Nischenthema bezeichnet. In deutschsprachigen Redaktionen wird Technologie und Software nicht als Politikum per se verstanden. Viele Journalistinnen und Journalisten konnten sich daher wenig unter der Schnittmenge von Digitalisierung und Demokratie vorstellen. Oft wurden die digitalen US-Kampagnen von Barack Obama und später von Donald Trump damit assoziiert, mehr nicht.  Dies, obwohl die Snowden-Enthüllungen 2013 eindrücklich gezeigt haben, welche Machtkonstellationen und -bündnisse hinter einem unsicheren und unverschlüsselten Internet stecken können.

Im angelsächsischen Raum würde man sich über den Begriff Nische wundern. Denn was in Europa noch als Nische definiert wird, wird dort zu eigenen personell gut dotierten Ressorts aufgerüstet. In den USA hatte sich das Verständnis von Technologie-Journalismus nach den Nullerjahren – in denen insbesondere Gadgetbesprechungen und Serviceartikel dominierten – weiterentwickelt. Immer mehr forschten Journalisten zu den Intersektionen von Technologie und Gesellschaft. Akribisch werden Schnittstellen, Voreinstellungen und Sicherheitslücken gesucht. Wer fündig wird und eine Schwachstelle entdeckt mit grosser Tragweite, landet einen «Scoop». Der Vorsprung verwundert nicht, schliesslich gilt Nordamerika als Hauptsitz für viele Datenkonzerne. Doch bereits in gewissen fachjournalistischen Kreisen würde selbst der Nischenbegriff «Tech-Journalismus» als zu überholt, zu allgemein und generisch gelten. Er enthält für viele dieselbe Unschärfe wie das Wort Politikjournalismus, wo längst zwischen einer Inlandreporterin oder Brüssel-Korrespondentin unterschieden wird.

In amerikanischen Fachmagazinen haben sich deswegen regelrechte Subdisziplinen herausgebildet. Im Technologiemagazin Motherboard von Vice Media haben sich einzelne Disziplinen herausspezialisiert. Cybersecurity-, Privacy-, Social-Media-Reporterinnen decken einen eigenen, weiten Fachbereich – einen eigenen Beat – ab. Sie beobachten neue Entwicklungen, unternehmen Recherchen, publizieren Analysen und Kommentare zu ihrem Subfachgebiet. Alleine schon den Themenkomplex IT-Sicherheit journalistisch und fachlich kompetent zu begleiten, erfordert ein grosses Netzwerk von Sicherheitsspezialisten, Behörden, eine Anlaufstelle für Whistleblower und fachkundige KollegInnen, die eine Journalistin für allerlei fachliche Fragen konsultieren soll.

Was sich in Europa allmählich langsam herausbildet, ist in den USA bereits etabliert. Vorbilder aus dem angelsächsischen Raum gibt es viele:  Motherboard, The Verge, Intercept. Doch wenn ich nur eine Person nennen müsste, dann wäre das die preisgekrönte Investigativjournalistin Julia Angwin und ihr neuestes Projekt The Markup. Angwin, die bereits bei der Non-Profit-Plattform ProPublica Recherchen publizierte, wollte sich mit Markup ganz auf die Technologien-Welt spezialisieren. Ihrer journalistischen Methode und Ausrichtung verpasste sie eine passende Bezeichnung, auch wenn sich diese schwer auf Deutsch übersetzen lässt: Sie verfolgt einen «evidence-based tech accountability journalism». Relevant sind hier vor allem die Begriffe «Evidenz» und «Accountability», also «Rechenschaftspflichtigkeit».

Die Redakteurinnen und Redakteure von Markup arbeiten datenbasiert, sie ersuchen um Datenauskunft bei Technologie-Unternehmen, probieren verschiedene Werbekampagnen aus, sie gehen von sich als Konsumentin oder Nutzer aus und betreiben sogenanntes «reverse engineering». Mit einem Auskunftsbegehren findet man nicht nur das Ausmass von gesammelten Daten durch eine Plattform, sondern erfährt auch mehr über deren Mechanismen und Funktionsweisen. Genau mit diesen technischen Recherchen kann die Black Box hinter Technologie geknackt werden. Die Geschichten werden also aus extrahierten Datenmustern herausdestilliert. So fand The Markup heraus, dass Facebook eine spezifische Werbekategorie für «Pseudowissenschaft» führt, die Unternehmen adressieren können und deren Zielgruppe anfällig ist für «alternative Fakten», gerade in der Corona-Krise.

In Zeiten der Technologie-Monopole und einem enormen Machtzuwachs in Richtung globale Plattformen ist Transparenz wichtiger denn je. Wenn wir verstehen, wie Netzwerke und Apps unsere Meinungen prägen, unsere Spuren zu umfangreichen Profilen verknüpfen und weiterverkaufen, können wir uns als Konsumentinnen und Bürger mündig wehren und mitbestimmen.

Und hier kommt die von Angwin immer wieder genannte «Accountability» zum Zug. Hinter Funktionen, Features und Updates stecken Entscheidungen und Handlungen von Akteuren. Angwin und ihr Team wollen diese Entscheidungen sichtbar und die Entscheidungsträger «accountable» – also verantwortlich – machen. Immer mehr neue Technologie-Journalismus-Projekte haben sich deshalb auch diesem Ziel verschrieben, so auch «Protocol», das neue Tech-Fachmagazin von Politico.

Die englische Sprache ist dabei präziser. Es kommt nicht von ungefähr, dass man im Englischen kaum vom Begriff Digitalisierung spricht, sondern eher von «digital transformation» oder viel gebräuchlicher und ganz sec: von «Tech». Der Terminus Digitalisierung suggeriert meiner Meinung nach Subjektlosigkeit und eine Homogenität eines abstrakten Vorgangs, der in der Realität so nicht existiert. Jeder versteht etwas anderes darunter: von Automatisierung, maschinellem Lernen, regelbasierten Algorithmen bis hin zu Robotern. Im englischsprachigen Raum ist jedoch kaum von «Digitization» die Rede. Der Begriff «Tech» bezieht sich konkret auf Technologieunternehmen und impliziert auch eine Handlungskompetenz und damit verbunden auch Rechenschaftspflichtigkeit.

Technologie-Konzerne fällen Entscheidungen und erarbeiten Geschäftsmodelle. Der Begriff Tech zeigt also, dass viele Endprodukte eine Frage von Alternativen sind. Das Unvermögen der deutschen Sprache bei gewissen Begriffen zeigt sich in der deutschen Übersetzung von Privacy: Datenschutz. Dabei wäre es zeitgemässer, von Privacy zu sprechen, denn was als privat erachtet und wie man öffentlich repräsentiert wird, ist Gegenstand aktueller Debatten. Datenschutz widerspiegelt diese Auseinandersetzung nur unzulänglich.

Ich versuche, meiner journalistischen Ausrichtung, aller sprachlichen Unschärfen zum Trotz, einen deutschen begrifflichen Deckmantel zu verpassen: demokratie-relevanter Tech-Journalismus. Den Begriff habe ich wohl selber kreiert. Wer diese Wortkonstellation in unterschiedlichen Suchmaschinen eintippt in deutscher Sprache, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit auf meinem Twitter-Profil und meinem Blog. Mit demokratie-relevantem Tech-Journalismus meine ich die kritische Beobachtung und Analyse von Technologien mit politischen und gesellschaftlichen Implikationen.

Die hier publizierten Republik-Beiträge sollen die Breite dieses Themengebiets aufzeigen: Bildung, Abstimmungshacking, Regulierungen, Handelskrieg, Gesichtserkennung, Wahlbeeinflussung, Google-Schulen, der digitale Pass etc. Ich habe aus dem Fundus von Texten diejenigen ausgewählt, die bis heute nicht an Aktualität und Relevanz verloren haben. Denn obwohl sie in der Vergangenheit erschienen sind, dominieren sie noch heute die politische Agenda oder beschäftigen noch manche Führungslenker von Datenkonzernen. Einige meiner Recherchen sind Konflikte, die bis heute noch andauern. Oder sie lösten Fragen aus, die bis heute unbeantwortet bleiben. Aus diesem Grund habe ich zu einigen älteren Texten aus den letzten Jahren ein Recherche-Update hinzugefügt, mit neu präsentierten Fakten und Kurzanalysen von mir. Die Buchreihe «Das Netz ist politisch» ist eine Chronik der Tech-Welt. Die Bände sollen die Schnittstelle von Digitalisierung und Gesellschaft fortlaufend dokumentieren und einordnen.

Mit dieser Buchreihe möchte ich zu einem aufgeklärteren Diskurs über den Einsatz von Technologien beitragen. Der Technologie-Journalismus im deutschsprachigen Raum steht trotz der enorm hohen Bedeutung und Tragweite für Staat und Gesellschaft immer noch am Anfang. Eine Diskussion über Qualitätsstandards oder etwa Ausbildungswege tut not und würde auch zu einer Professionalisierung dieser jungen journalistischen Disziplin beitragen.

Nur so werden Tech-Journalistinnen befähigt, die Unternehmenskommunikation von Technologie-Konzernen kritisch zu hinterfragen und einzuordnen. Nur so können Bürger informierte Entscheidungen fällen und Forderungen gegenüber Politik und FührungslenkerInnen der Konzerne stellen. Und nur so sind Politikerinnen imstande, demokratiefördernde und rechtsstaatlich konforme Gestaltungskriterien für Technologien zu formulieren, die an die Privatindustrie herangetragen und eingefordert werden.

Und nicht umgekehrt.

Ansonsten entscheidet der Markt für uns. Nicht immer mit gesellschaftlich erwünschten Folgen.

Adrienne Fichter, September 2020

Es brodelt in der Youtube-Hölle

Wo Michelle Obama ein Mann, eine College-Schiesserei nur inszeniert und Justin Trudeau ein Idiot ist: Die Google-Tochter Youtube ist zum Paradies für Verschwörungstheoretiker geworden. Nun reagiert der Konzern. Endlich.

Erschienen in der Republik, 31. Juli 2018

Diese Frage[1] hat Youtube-Chefin Susan Wojcicki geschmerzt: «Mutter, stimmt es, dass es biologische Gründe gibt, weshalb es weniger Frauen in Führungspositionen von Tech-Unternehmen gibt?»

Ihre Tochter hatte das Manifest von James Damore[2] gelesen. Der Google-Ingenieur versuchte darin, mit biologischen Argumenten zu erklären, weshalb Frauen weniger geeignet für Spitzenjobs seien als Männer.

Das Memo stiess im liberalen Silicon Valley auf viel Kritik. Google-Chef Sundar Pichai distanzierte sich, Wojcicki schrieb im Magazin «Forbes» eine vernichtende Kritik. Damore wurde im August 2017 geschasst, der progressive Frieden im Silicon Valley wiederhergestellt.

Doch Wojcicki blendete etwas Entscheidendes aus: welche Rolle ihre eigene Plattform Youtube – ein Tochterunternehmen von Google – bei der Bildung von Damores kruden Weltanschauungen spielte. Der damals 28-jährige Harvard-Absolvent verschlang nach eigenen Angaben[3] alle Videos von Jordan Peterson, einem umstrittenen kanadischen Psychologieprofessor, der berühmt ist für seine Anti-Transgender-Ansichten. So geriet Damore immer tiefer in den Sog von dessen pseudowissenschaftlichem Biologismus, Chauvinismus und Antifeminismus.

Klick-Müll bestrafen

Brandredner wie Jordan Peterson gibt es viele auf Youtube. Die Plattform wurde in den letzten Jahren immer populärer unter Konservativen und Rechtsextremen.

Der Grund dafür ist der Empfehlungsalgorithmus. Dieser präsentiert uns ein tägliches, individualisiertes Menü, und zwar aufgrund dessen, was wir früher gesucht haben, was uns jetzt interessieren könnte und was wir künftig wahrscheinlich suchen werden.

Dabei werden die Empfehlungen immer extremer[4]: Wer sich für Vegetarismus interessiert, erhält am nächsten Tag Veganismus-Empfehlungen. Wer sich Tipps für regelmässiges Jogging holt, bekommt später Marathonläufe angepriesen.

Die Konsequenz[5]: Wer nur Youtube konsumiert, glaubt nach einigen Wochen, Michelle Obama sei in Wirklichkeit ein Mann, die Erde flach, der Klimawandel inexistent und etliche Schulmassaker in den USA bloss «Inszenierungen».

Algorithmusoptimierung 2012

Das war nicht immer so. Das Geburtsdatum[6] für den heutigen Empfehlungsalgorithmus ist der 10. August 2012. Seit diesem Tag entscheidet im Besonderen die Verweildauer, ob ein Video in die Empfehlungsleiste befördert wird, und nicht mehr die Anzahl Aufrufe.

Damit soll Klick-Müll abgestraft werden, also Videos, die uns mit effekthascherischen Titeln und Vorschaubildern zwar zum Anschauen verleiten, die Erwartungen der Zuschauerin aber nicht erfüllen. Youtube wollte damit eigentlich auf Qualität setzen.

Der Schritt hat sich aus kommerzieller Sicht[7] ausbezahlt: Seit dieser Zäsur verbringt der durchschnittliche Zuschauer heute zehnmal so viele Stunden auf Youtube als zuvor. Der Konzern behauptet, das liege fast ausschliesslich[8] an den Empfehlungen auf der Seitenliste.

Extreme Videos machen süchtig

Aber offensichtlich haben die Youtube-Ingenieure einen zentralen sozialpsychologischen Befund unterschätzt: Menschen, denen immer extremere Meinungen und Behauptungen präsentiert[9] werden, verweilen länger auf den Seiten des Portals und schauen sich noch mehr Videos an. Wer den Youtube-Kosmos also einmal betreten hat, der bleibt. Und gerät dadurch in Parallelwelten wie der frühere Google-Mitarbeiter Damore.

Seit der Algorithmusänderung haben scharfe Kommentatoren und Laien ein leichtes Spiel, weil – wie übrigens auch auf Facebook – eine künstliche Intelligenz bei ihrer Selektion nach «Relevanz» nicht zwischen Verschwörungstheorie und faktenbasiertem Qualitätsjournalismus unterscheidet.

Gleichbehandlung aller Kanäle

Heute tummeln sich auf Youtube, der wichtigsten Informationsquelle für US-Teenager[10], die verschiedensten Akteure: Schönheitsbloggerinnen, Game-Spieler, Veranstalter von Wissenschaftsshows und auch etablierte Medien. Das Auswahlverfahren für die Empfehlungen ist höchst demokratisch. Jeder Kanal – unabhängig, ob er Schönheitstipps oder Dokumentarfilme zeigt – ist gleich viel wert, alle stehen im Wettbewerb zueinander.

Doch diese Gleichbehandlung hat zur Folge, dass man sich schon nach einigen Wochen in einer Parallelwelt jenseits des Faktischen wiederfindet.

Wenn man beispielsweise nach politischen Themen sucht, bekommt man von der Suchmaschine keinen ausgewogenen Medienspiegel vorgeschlagen, sondern die neuesten Videos von Alt-Right-Kommentatoren wie dem berühmten mittlerweile gesperrten Infowars-Kanal von Alex Jones. Oder Inhalte von Next News Network, einer auf den ersten Blick seriös aussehenden rechtspopulistischen Gerüchteschleuder.

Beide machen zuverlässig Stimmung für US-Präsident Donald Trump und diskreditieren liberale Entscheidungsträger wie zum Beispiel jüngst den kanadischen Premierminister Justin Trudeau.

Wenn Sie auf Youtube im Suchfenster «Justin Trudeau» eingeben[11], sehen Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit als Erstes ein Video des rechten Verschwörungstheoretikers Paul Joseph Watson mit dem Titel «Justin Trudeau Is a Complete Idiot».

Watson kommentiert eine Szene, in der Trudeau eine junge Frau ermahnt, von «peoplekind» und nicht von «mankind» zu sprechen, mit einer Geste, als ob er sich eine Pistole in den Mund halten würde. Dann rechnet er ab mit Trudeaus Political Correctness und lässt sich aus über die Symbolik seiner bunten Socken.

«Ausreisser»-Phänomen

Was Trudeau genau zum Idioten qualifiziert, bleibt bis zum Ende unklar. Die Spekulation allein hat gereicht, dass man in die Clickbait-Falle getappt ist. Verweildauer: 6 Minuten, 34 Sekunden. Die Zuschauerin beförderte mit ihrer Neugier, dass das Video[12] in der Empfehlungsleiste in den obersten Plätzen rangiert.

Das Justin-Trudeau-Phänomen zeigt sich bei vielen anderen liberalen und linken Politikern. Nur wenige Entscheidungsträger haben auf Youtube eine loyale Community[13], wie das bei Musikstars der Fall ist. Ihnen fehlen die «Fan-Videos», die gerade negative, rufschädigende Beiträge der Alt-Right-Bewegung ausbalancieren.

«Gerade in Fällen von geringer Nachfrage kann eine aktive Gruppe die Ergebnisse überproportional beeinflussen. Youtube nimmt somit einen Zusammenhang an, der objektiv gar nicht existiert», sagt der Youtube-Experte und Medienwissenschaftler Bertram Gugel.

Anti-Hillary-Videomaterial dominierte

Die extreme Rechte hatte auch 2016 die Nase vorn. Youtube ist im Kontext der US-Wahlen die am meisten unterschätzte Plattform[14], sagt Internet-Soziologin Zeynep Tufekci[15]. Nach Angaben von Google wurden in den Swing States – also in den Staaten, die am Ende den Ausschlag für die Wahl von Trump gaben – stundenweise Trump-Videos verschlungen.[16] Egal, nach welchem Kandidaten man auf Youtube suchte, der Trend ging fast immer in dieselbe Richtung: gegen Hillary Clinton. Mit absurden und erfundenen Geschichten.

Der ehemalige Youtube-Ingenieur Guillaume Chaslot[17] kann das belegen. Er verliess das Unternehmen 2013. Angeblich, weil er die Konsequenzen der Algorithmusänderung von 2012 nicht länger verantworten konnte.

Chaslot wies mit seiner Anwendung «Algo Transparency»[18] nach, dass siebzig Prozent aller Videos im US-Präsidentschaftswahlkampf Clinton-feindlich[19] gewesen seien. Am 7. November 2016 figurierten Videos wie «Alert Shocking! Anonymous to Reveal Bill Clinton Pedo Video Hillary for Prison!» (über eine Million Aufrufe) weit oben in fast allen wahlrelevanten Suchanfragen.

Das «Radikalisierungs-Netflix»

Während die Weltöffentlichkeit in den letzten Jahren auf Facebook eindrosch, hat sich Youtube ungestört zu einer Art «Radikalisierungs-Netflix» entwickelt. Hier ist die Fake-News-Problematik ausgeprägter als anderswo. Dennoch fehlte bislang der grosse Aufschrei rund um das Videonetzwerk von Google.

Das liegt unter anderem am Erwartungsmanagement der Plattformen. Auf Facebook präsentieren Algorithmen ein Kunterbunt an Filmchen, Memes, Status-Befindlichkeiten oder Boulevard-Artikeln. Das Überraschungselement ist gross, die Empörung über verstörende Propagandainhalte ebenso. Man fühlt sich fremdgesteuert.

Youtube suchen wir hingegen gezielt auf. Hier navigieren wir uns mit Klicks und Suchstichworten durch den Kosmos und schreiben uns eine grössere Eigenverantwortung an den Resultaten zu. Dabei ist unsere Autonomie aufgrund des ausgeklügelten Algorithmus genauso beschränkt.

Kosmetische Verbesserungen

Es ist nicht so, dass dem dreizehnjährigen Konzern diese negativen Entwicklungen unbekannt wären. Das Netzwerk reagierte bei jeder negativen Schlagzeile. Doch oft nur zögerlich und mit minimalen Verbesserungen. Ein Beispiel: 2017 listete die Londoner «Times»[20] in einem brisanten Bericht Werbespots auf, die im Vorfeld islamistischer Propagandavideos automatisch ausgespielt wurden.

Die Opfer – darunter der britische Rundfunk BBC und die Bank JP Morgan Chase – stoppten sofort ihre Werbegelder. Daraufhin kündigte Youtube-Chefin Susan Wojcicki, die das Unternehmen seit 2014 führt, Massnahmen[21] an: Kanäle, die weniger als tausend Abonnentinnen und wenig Verweildauer aufweisen, sollten gekappt werden. Damit sollten die problematischen Hetzerkanäle wegen fehlender kommerzieller Anreize von allein verschwinden.

Der Schritt verfehlte sein Ziel: Verschwörungstheoretiker wie Paul Joseph Watson haben ein Millionenpublikum. Nach der Logik von Wojcickis Massnahme bietet Watson Videos von «hoher Qualität».

Es wird wieder am Algorithmus geschraubt

Es brauchte Damores Google-Manifest und die verstörende Frage ihrer Tochter, die Youtube-Chefin Wojcicki zum Umdenken bewegte. Vor einigen Wochen präsentierte sie endlich einen Erfolg versprechenden Lösungsansatz: Sie lässt an den Komponenten ihres Erfolgsmodells[22], dem Empfehlungsalgorithmus, schrauben.

Neu ist nicht mehr nur die Verweildauer der wichtigste Parameter. Auch der Absender wird relevant. Seriöse Video-Anbieter wie Vox, SRF oder CNN sollen immer bevorzugt werden.

Bevorzugung nützt jedoch wenig, wenn kein Filmmaterial vorhanden ist. Die traditionellen Medien sind zu träge. Auch wenn Youtube die attraktivsten Produktionsbedingungen[23] bietet: Die meisten Medienhäuser priorisieren im Netz immer noch Textformate, weil die Videoproduktion zu aufwendig ist.

Rechte Vlogger sind dynamischer

Ihr Publikationsrhythmus ist länger als derjenige der Videoblogger (Vlogger). Um beim Beispiel Justin Trudeau zu bleiben: Einer der letzten Beiträge[24] von «Guardian» und CNN stammt vom 10. Juni, als der kanadische Premier am G7-Gipfel öffentlich Kritik an Donald Trumps Handelsrestriktionen führte.

Danach sorgte er kaum noch für Schlagzeilen. Dies bevorteilte wiederum die Youtube-Stars Ben Shapiro und Paul Joseph Watson. Die beiden konservativen Youtube-Berühmtheiten sind agiler, hauen im Wochentakt Filme raus und leben sogar davon.

Um den Medien Bewegtbildinhalte schmackhafter zu machen, gibt es eine einfache Lösung: mehr Geld. Es muss sich lohnen, Filmchen zu produzieren. Youtube hat das nun begriffen. Und Mitte Juli beschlossen, 25 Millionen Dollar[25] in den Aufbau von Video-Know-how in Medienhäusern zu investieren.

Gut für die Bürgerin

CEO Susan Wojcicki möchte aus Youtube eine seriöse Nachrichten-Bibliothek[26] formen. Auch andere Plattformen wie Facebook bekämpfen virale Fake-News-Videos, indem sie traditionelle Medien mit finanziellen Anreizen locken. Ironischerweise kopieren die sozialen Netzwerke damit immer mehr das totgeschriebene lineare Fernsehen.

Das Buhlen um etablierte Medien kommt immerhin uns Bürgerinnen zugute und damit der Demokratie. Vorausgesetzt, wir schauen uns die Nachrichtenvideos tatsächlich bis zum Schluss an. Und bleiben nicht beim pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuch eines Professors hängen, weshalb Frauen ungeeignet für Management-Positionen sein sollten.

Recherche-Update vom September 2020

Das Radikalisierungsproblem wurde mit Wojcickis Initiative noch nicht aus der Welt geschafft, jedoch in grossem Umfang reduziert. In der Zwischenzeit bestätigte eine Reihe weiterer publizierter Berichte das Extremismusproblem der populärsten Videoplattform: Im August 2019 – also im darauffolgenden Jahr – publizierte das FBI einen Report[27], der die Zunahme der Verschwörungstheorien und damit verbundenen Gefahren für die Meinungsbildung in Demokratien bestätigte. Guillaume Chaslot und seine Gruppe der University of California und der Mozilla Foundation stellen in einer neuen Studie[28] einen regelrechten Boom von Verschwörungsinhalten im Jahr 2018 fest. Weitere wissenschaftliche Evidenz lieferte ein Paper der brasilianischen Universität UFMG und der Lausanner EPFL, das im Herbst 2019 erschien. Im Beitrag «Auditing Radicalization Pathways on YouTube»[29] versuchten die Forscherinnen und Forscher sogenannte Radikalisierungspfade auf Youtube nachzuzeichnen. Ihr Fazit: Wer konservativere oder patriotische Gesinnung hat, bekommt nach einer gewissen Zeit nur noch extremere Alt-Right-Videos vorgeschlagen. Die Forscher haben dies unter anderem anhand des Kommentarverhaltens von Youtube-Nutzerinnen nachzeichnen können. Mit dem im August 2020 lancierten neuen Projekt von Tomo Kihara «Their.Tube»[30] kann man die einzelnen Personalisierungs- und Radikalisierungspfade nachverfolgen. Das Projekt kreierte dafür 6 verschiedene «Persona», etwa den Verschwörungstheoretiker, die Konservative, den Linken, die Klimaleugnerin etc. Je nach angewähltem Profil sieht man unterschiedliche Startseiten auf Youtube. Their.Tube ist Open Source und ein Teil der Mozilla Creative Media Awards 2020[31], einem Kunst- und Advocacy-Projekt für die Untersuchung von KI und ihres Effekts auf Medien und die Wahrheit.

Zwar bestritt Chief Product Officer von Youtube, Neal Mohan, dass die Betrachtungszeit ein Treiber für die Empfehlungsalgorithmen darstelle.[32] Doch bis heute verweigert der Konzern Transparenz darüber, wie genau die Empfehlungen ablaufen. Welche weiteren Variablen genau wie die Resultate beeinflussen, bleibt also eine Black Box. Youtube-CEO Susan Wojcicki kündigte zu Beginn 2019[33] an, neben der Einführung von informativen Wikipedia-Links neu auch Falschaussagen, die die Nutzer auf «schädliche Art und Weise» falsch informieren, herunterzustufen. Als Beispiel nannte sie die Flat-Earth-Bewegung. Gemäss eigenen Angaben konnte Youtube damit um 70 Prozent von extremistischen Inhalten reduzieren.[34] Diese nahmen 2019 im ersten halben Jahr effektiv durch die Interventionen ab.

Einer der grössten Kritiker, Guillaume Chaslot, behauptete, dass YouTube bewusst entschieden habe, manche «Falschinformationen» nicht herunterzustufen.[35] Diese These wurde auch von einem Insider-Bericht von Bloomberg von April 2019[36] gestützt, wonach Youtube-CEO Susan Wojcicki mehrfach von Moderatoren und Ingenieurinnen auf die Desinformationsproblematik hingewiesen wurde. Doch sie unterliess es lange Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.

Immerhin scheint Youtube bei der Corona-Krise einen besseren Job gegen Desinformation zu leisten. Offizielle Informationen des Bundesamts für Gesundheit werden prominent angezeigt, sobald man sich über das Corona-Virus informieren will. Die überwiegende Mehrheit der Videos hat keinerlei Bezug zu Verschwörungstheorien oder liefert keine Fundamentalkritik an den Corona-Massnahmen, bilanziert Spiegel Online[37] bei einer eigenen Auswertung zu den Suchbegriffen rund um das Corona-Virus. Nachrichtensendungen, Erklärformate und Reportagen von etablierten Medien werden in den ersten Suchrängen angezeigt.

Dennoch gibt es zahlreiche Reizthemen und auch Personen, bei denen verschwörungstheoretische Inhalte immer noch unter den Top 5 figurierten: So erschien am 24. Mai 2020 unter der Sucheingabe «Bill Gates» bei vielen deutschsprachigen Nutzerinnen und Nutzern unter den ersten Rängen ein Video des berühmten Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen unter seinem Kanal «KenFM». Unabhängig vom Status (eingeloggt/nicht eingeloggt) und der personalisierten Vorgeschichte, vorwiegend auf Windows und Android-Geräten.

Der Grund für diese prominente Platzierung mag in der Aktualität liegen. Das Video wurde erst am 23. Mai hinaufgeladen und errang in kurzer Zeit mehrere hunderttausende Views, was auf die prominente Platzierung einzahlte. Dies legt die Vermutung nahe, dass Moderatoren und Ingenieurinnen das entsprechende Video einfach noch nicht algorithmisch «abgestraft» hatten. Zwei Tage später war das Video praktisch von der Suchleiste verschwunden. Obwohl es an diesem Tag fast eine halbe Million Aufrufe verzeichnete. Das Downgrading des Jebsen-Videos fand also statt, wenn auch um Tage verzögert. Youtube hinkt damit der Agilität der Verschwörungstheoretiker stets hinterher.

Diese profitieren von den Newsbedürfnissen von Internetkonsumenten. Bei einem Anschlag produzieren Amateure oder gerade auch extremistische Bewegungen Videos, in denen sie das Geschehen gemäss ihrer Weltanschauung «einordnen», oft lange Zeit bevor Fakten über den Vorfall gesichert und verifiziert worden sind. Die Mainstream-Medien befinden sich in diesem Augenblick aber erst im Recherchestadium. Da sie Fakten zuerst seriös recherchieren möchten, verstreichen Stunden, bis ein erster publizierbarer Beitrag entsteht.

Dieses Informationsvakuum zu einem Suchbegriff wird gefüllt: von sogenannten Alt-Right-Youtubern wie Paul Watson, alternativen Medien und weiteren extremeren Bewegungen. Da helfen auch die im Text versprochenen Finanzspritzen von Youtube zugunsten der etablierten Medienmarken selbst wenig.

Dieses Phänomen nennen die beiden Forscher von Microsoft und Bing Danah Boyd und Michael Golebiewski übrigens «Data Voids». Gemeint ist die Informationslücke beziehungsweise das fehlende Informationsangebot von seriös recherchierenden Medien bei gewissen aufflackernden Themen. Die Alternativmedien preschen vor und füllen diese Lücke – gerade bei kritischen Zeitfenstern wie Terroranschlägen, politischen Grossereignissen etc. –  auf Suchmaschinen und Plattformen mit schnell produzierten, tendenziösen und hetzerischen Videos. Viele Views und Klicks perpetuieren dann die prominenten Ränge. Die Lösung dieses Problems wird die Plattformen und Suchmaschinen, die die Meinungsfreiheit nicht einschränken möchten, aber auch nicht zur Desinformationsschleuder verkommen wollen, sicherlich noch jahrelang beschäftigen.

<https://www.theguardian.com/technology/2017/aug/13/james-damore-google-memo-youtube-white-men-radicalization> ↵<https://gizmodo.com/exclusive-heres-the-full-10-page-anti-diversity-screed-1797564320> ↵<https://www.theguardian.com/technology/2017/aug/13/james-damore-google-memo-youtube-white-men-radicalization> ↵<https://www.theatlantic.com/politics/archive/2018/03/youtube-extremism-and-the-long-tail/555350/> ↵<https://medium.com/@guillaumechaslot/how-youtubes-a-i-boosts-alternative-facts-3cc276f47cf7> ↵<https://youtube-creators.googleblog.com/2012/08/youtube-now-why-we-focus-on-watch-time.html> ↵<https://www.wsj.com/articles/how-youtube-drives-viewers-to-the-internets-darkest-corners-1518020478> ↵<https://www.nbcnews.com/tech/social-media/algorithms-take-over-youtube-s-recommendations-highlight-human-problem-n867596> ↵<https://www.nytimes.com/2018/03/10/opinion/sunday/youtube-politics-radical.html> ↵<https://www.pewinternet.org/2018/05/31/teens-social-media-technology-2018/> ↵<https://www.youtube.com/results?search_query=justin+trudeau> ↵<https://www.youtube.com/watch?v=XSe3vQCRXvI> ↵<https://www.youtube.com/watch?v=Rj0akA2G_Kc&feature=youtu.be&t=23m24s> ↵<https://www.nytimes.com/2018/03/10/opinion/sunday/youtube-politics-radical.html> ↵<https://www.republik.ch/2018/03/27/menschen-wuerden-ihre-daten-verkaufen-wenn-sie-koennten> ↵<https://medium.com/google-news-lab/building-a-youtube-county-map-976bd2b1ec01> ↵<https://www.theguardian.com/technology/2018/feb/02/youtube-algorithm-election-clinton-trump-guillaume-chaslot> ↵<https://algotransparency.org/?candidat=is%20the%20earth%20flat%20or%20round?&file=ytrecos-science-2018-07-05&date=04-09-2019&keyword=> ↵<https://medium.com/the-graph/youtubes-ai-is-neutral-towards-clicks-but-is-biased-towards-people-and-ideas-3a2f643dea9a> ↵<https://www.thetimes.co.uk/article/global-brands-shun-google-p9zlr7bq7> ↵<https://www.heise.de/newsticker/meldung/Strengere-Regeln-fuer-YouTube-Kanaele-die-Geld-verdienen-wollen-3944497.html> ↵<https://youtube.googleblog.com/2018/07/building-better-news-experience-on.html> ↵<https://digiday.com/media/the-atlantic-focus-youtube/> ↵<https://www.youtube.com/watch?v=kWrGLKO2fOA> ↵<https://youtube.googleblog.com/2018/07/building-better-news-experience-on.html> ↵<https://www.hollywoodreporter.com/news/sxsw-youtube-ceo-enlists-wikipedia-curb-fake-news-videos-1094314> ↵<https://mashable.com/article/fbi-conspiracy-theories-domestic-terror-social-media/> ↵<https://arxiv.org/abs/2003.03318> ↵<https://arxiv.org/abs/1908.08313> ↵<http://www.their.tube/leftist> ↵<https://foundation.mozilla.org/en/blog/examining-ais-effect-on-media-and-truth/> ↵<https://www.nytimes.com/2019/03/29/technology/youtube-online-extremism.html> ↵<https://youtube.googleblog.com/2019/01/continuing-our-work-to-improve.html> ↵<https://blog.youtube/inside-youtube/the-four-rs-of-responsibility-raise-and-reduce> ↵<https://www.getrevue.co/profile/caseynewton/issues/an-ex-youtube-engineer-has-a-warning-for-democracy-95073> ↵<https://www.bloomberg.com/news/features/2019-04-02/youtube-executives-ignored-warnings-letting-toxic-videos-run-rampant> ↵<https://www.spiegel.de/netzwelt/web/corona-verschwoerungstheorien-und-die-akteure-dahinter-bill-gates-impfzwang-und-co-a-2e9a0e78-4375-4dbd-815f-54571750d32d> ↵

Warum Island keine eigene Verfassung hat. Eine nordische Saga

Nach der Finanzkrise wagten die Isländer eine weltweite Premiere: Sie schrieben ihre Verfassung neu – im Internet. Das Projekt scheiterte. Weil das alte Establishment zurückschlug.

Erschienen als optische Version mit Fotografien[1] in der Republik, 05. September 2018

Einzigartiges Inselvolk: Nach der Finanzkrise starteten die Isländer ein nie gesehenes Crowdsourcing-Experiment in Sachen Demokratie.Wenn die Isländerinnen die Geschichte ihrer gescheiterten Demokratie-Revolution erzählen, reden sie gern in Bildern. Sie erzählen von mäandrierenden Öltankern oder brennenden Schlössern. Von Helden und Bösewichten.

Die Guten, die Bösen, das sind dann gern Figuren aus berühmten Isländersagas. Wie beispielsweise Grettir Ásmundarsonar[2], einer der stärksten isländischen Wikinger. Nach seinem Sieg über Glámur, den bösen Untoten, wird er verflucht und am Schluss von seinen eigenen Anhängern verbannt.

In unserer Demokratie-Saga wirken Grettir und Glámur ebenfalls mit.

Der tragische Held Grettir: die Sozialdemokratische «Allianz».

Der nicht totzukriegende Glámur: die konservative Unabhängigkeitspartei.

Unsere Geschichte spielt in den Jahren 2009 bis 2013 – und das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.

Wieder eine bankrotte Vulkaninsel

Die Isländer akzeptieren nur eine Form von höherer Macht: die Natur. Die Erde lebt hier jede Minute. Auslaufende Gletscher, die den Strassenverkehr aufhalten. Eruptierende Vulkane, die den Flugverkehr stilllegen.