Das Paradies des Vergessens - Urs Widmer - E-Book

Das Paradies des Vergessens E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Das Paradies des Vergessens versucht sozusagen die Quadratur des Zirkels: denn wie soll eine Geschichte geschrieben werden, die vom Verschwinden der Erinnerung spricht? Ja, obwohl ohne Gedächtnis gar keine Geschichten erzählt werden können, scheint diese Geschichte, wie ambivalent auch immer, das Erlöschen des Gedächtnisses zu preisen. Wieviel Schreckliches quält den Erinnerungslosen nicht mehr!

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Seitenzahl: 103

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Urs Widmer

Das Paradiesdes Vergessens

Erzählung

Die Erstausgabe erschien

1990 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Pieter Bruegel d. Ä., ›Zwei angekettete Affen‹,

1562 (Ausschnitt)

Foto: Copyright © Artothek/Hans Hinz

Für Daniel Keel

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22513 6 (2.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60582 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

[7] Immer schon habe ich jene lockeren Dichter bewundert, die mit den Manuskripten ihrer Meisterwerke, von denen sie keine Kopien besaßen, unbekümmert U-Bahn fuhren oder Sauftouren durch Vorstadtkneipen veranstalteten. Natürlich waren die Manuskripte dann weg, verloren nach einer kalten Nacht unter den Neonlampen eines New Yorker Eiscafés oder aus dem Gepäckträger des Fahrrads gerutscht, auf dem die Dichter im ersten Morgensonnenlicht – Kuckucksrufe ringsum – nach Hause radelten, aus dem Bett einer Geliebten kommend, die jetzt schlummerte und der sie zuerst das ganze Buch vorgelesen hatten, bevor sie sich mit ihr auf den Weg in einen Himmel machten, der uns Sterblichen verschlossen bleibt. Keins dieser Bücher wurde jemals wiedergefunden, und bis heute haben wir nur die Erinnerung an etwas Wunderbareres als alles andere, was die Dichter sonst noch so geschrieben und nicht verloren hatten.

Über Jahre hin hatte ich mir vorgenommen, dereinst so stark zu sein, so voller Fülle, daß ich ein dickes Buch schriebe, in das ich mein Ganzes legte, [8] fünfhundert Seiten, und das ich dann verlöre. Denn das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch.

Ich schrieb dann tatsächlich so etwas – mein Verleger, der es sah, aber nicht dazu kam, es zu lesen, nannte es sofort einen Roman – und versuchte auch gleich, es zu verlieren. Entgegen meinen Gewohnheiten machte ich lange Straßenbahnfahrten und sprang irgendwo überstürzt ins Freie. Aber immer kamen mir ein netter Mann oder eine freundliche Dame nachgerannt, he und hallo Sie rufend, und überreichten mir mein Buch. Ich bedankte mich überschwenglich. – Einmal saß ich im Restaurant Rose bis lange nach der Polizeistunde und schob dann den beiden Polizisten, die uns Säufer freundlich auf die Straße beförderten – und dem Wirt die Schließung seines Lokals androhten, wenn er sich in Zukunft nicht wenigstens andeutungsweise an die Gesetze halte –, das Manuskript in die Regenmanteltaschen, in zwei ähnlich dicke Packen aufgeteilt. Aber beide – sensible Beamte – spürten sofort das höhere Gewicht ihrer Uniform und drückten mir mein Werk wieder in die Hände, nicht ohne ein bißchen darin herumgeblättert zu haben. »Nicht übel«, sagte der eine, und der andere: »Weitermachen!« Ich lächelte und trollte mich nach Haus, wo ich das Buch auf den Kompost warf, von dem es der Hausbesitzer am nächsten Morgen weghob [9] und in meinen Milchkasten legte, mit einem Zettel drauf, auf dem er schrieb, er, der Hausbesitzer, glaube, ich spräche ein bißchen zu heftig den starken Getränken zu. Aber das Buch sei Spitze.

Es gab noch viele Versuche. Ich flog sogar nach Ibiza und mietete ein Fahrrad, aber die Frau, mit der ich schlief – eine Lehrerin für Schwererziehbare aus Birmingham – schlummerte nach meinem Weggehen keineswegs, sondern rannte mir nackt über den Hotelflur nach und rief, es sei ein Meisterwerk – »ay masterpiece, darling!« – und sie lasse es nicht zu, daß ich es auf dem Gepäckträger dieses lausigen Fahrrads in meinen Bungalow fahre, und her damit! Also händigte ich ihr mein Buch aus – es hieß, wenn ich mich recht erinnere, Der Fluch des Vergessens – und schob das Fahrrad bis vor mein eigenes Bett. Im Morgengrauen schon stand sie davor, küßte mich und legte das Manuskript auf meinen Bauch.

Der letzte Versuch scheiterte dann so: Ich war zu den Solothurner Literaturtagen gefahren, genauer gesagt zu dem Fest, das immer am Samstagabend im Restaurant Kreuz stattfindet, und ließ die von mir beschriebenen Seiten – nach einer Nacht, in der ich mit einer Lyrikerin aus Bern Rock'n'Roll getanzt hatte – auf dem Tisch mit den vervielfältigten Texten aller Teilnehmer liegen. Hier, dachte ich, [10] würden sie in der Papierflut untergehen und als Wellen eines viel größeren Meers irgendwo im Nichts verschwinden. Aber wie es der Teufel wollte, oder Gott, das Buch fiel in die Hände eines Germanisten, der eigentlich seine Reisetasche mit seinem Pyjama suchte, und der las es am selben Abend noch im Hotelbett und hatte natürlich gleich heraus, von wem es war. Er rief mich ein paar Tage später an – ich suhlte mich schon in meinem Triumph –, und ich stotterte, daß mir ein Stein vom Herzen falle und daß ich ihm von Herzen dankte. Ob ich ihm das Buch, wenn es dann erscheine, widmen dürfe? Nach kurzem Zögern sagte er, ja, natürlich, gern, er wolle mir aber, um der Wahrheit willen, doch noch sagen, daß ihm nach einer Strukturanalyse meiner Prosa zwar sofort klar gewesen sei, daß sie von einem Schweizer der jungen Generation stammen müsse – es sei ständig von Geld die Rede, und von Bergen –, daß er aber vor mir dennoch – in dieser Reihenfolge – Max Frisch, Franz Böni, Rainer Brambach, der aber schon tot gewesen sei, und Peter Bichsel angerufen habe. Dieser gestand mir beim Literaturfest des folgenden Jahrs, er habe damals den Bruchteil einer Sekunde lang gezögert, ob er sich das unbekannte Manuskript nicht unter den Nagel reißen solle, denn 450Seiten, nicht wahr, das sei schon eine Versuchung.

[11] So gab ich das Buch endlich resigniert dem Verleger, der am frühen Nachmittag bei mir hereingeschaut hatte und am späten Abend immer noch dasaß, hinter leeren Veltlinerflaschen verschanzt. »Paß auf!« rief ich ihm nach, als er, mit meinem Buch auf dem Gepäckträger, im diffusen Licht des Vollmonds davonradelte. »So ein Buch schreibe ich nicht jeden Tag!« Er drehte sich nochmals um, winkte und bog dann klingelnd um eine Ecke. Ich ging nachdenklich ins Haus zurück. Da flatterte es nun hinaus in die böse weite Welt, mein Werk, und ich hatte es nicht daran hindern können.

Eine Weile später klingelte das Telefon. Der Verleger. Seine Stimme klang belegt oder verhetzt, wahrscheinlich war er mit seinem Rad, das eine Zehngangschaltung hatte, zu schnell gefahren. »Das Manuskript!« schrie er. »Das Manuskript ist weg!« »Bist du wahnsinnig?« brüllte ich ebenso laut in den Hörer hinein. »Wie stellst du dir das vor? Ich habe keine Kopie!«

Es war still am andern Ende der Leitung. Dann sagte der Verleger mit einer gänzlich anderen Stimme – sie klang plötzlich wie der Anrufbeantworter eines Immobilienberaters –, er stelle sich das so vor, daß das Buch nun halt im Eimer sei und daß er selbstverständlich für allen entstandenen Schaden aufkomme. Ob 750Franken o.k. seien? Ich [12] stammelte Ja und Nein und Doch und warte heute noch auf das Geld, obwohl sich der Verleger schon einmal, anläßlich meines dritten Romans, meine Kontonummer notiert hatte.

Der Roman handelte, wenn ich mich recht entsinne, von einem Mann, der, alt geworden, mehr und mehr das Gedächtnis verlor. Er konnte sich an nichts mehr erinnern – fragte zuweilen seine Tochter, wer sie sei, und, nachdem er die Antwort bekommen und vergessen hatte, um wen es sich denn bei ihm selber handle –, saß ganze Nächte wach im Bett und träumte von Dingen, die ihn an nichts erinnerten. Anemonen in hellgrün sprießenden Wäldern. Seine Krankheit hatte einen Namen, den ich vergessen habe. Etwas wie Schopenhauer oder Sontheimer. Sonst brauchte der alte Mann viele Minuten, bis, beim Pinkeln, die Harntröpflein den Durchschlupf an seiner geblähten Prostata vorbei gefunden hatten, und starrte derweilen auf sein schrumpeliges Schwänzchen, das ihn auch an nichts gemahnte. Die paar Tropfen, die dann dennoch kamen, schwenkte er ungeschickt durchs ganze Klo. Am Morgen schmerzte ihn der Rücken, und am Abend, wenn er den Morgen vergessen hatte, auch. Er saß in Cafés und bestellte Dinge, die es nicht mehr gab. Sagte »Einen Zweier Zwicker [13] bitte«, weil ihm der Begriff in einem Winkel des Kopfs haften geblieben war, und staunte über das, was ihm die Kellner brachten. Zuweilen lachten sie, und die Gäste auch, und es war ihm egal. Er fühlte sich, obwohl es das in seiner Stadt nicht gab, den griechischen Greisen verwandt, die irgendwann einmal, schwarz gewandet, auf einen Stuhl sinken, vor einer weiß gekalkten Mauer, und nie mehr aufstehen. Immer an Ostern, wenn die Jüngern, die noch stehen, die Mauer neu weißen, werden die Stühle mit ihnen drauf um ein paar Meter verschoben und dann wieder zurückgestellt. Das sind die weitesten Reisen der alten Männer in Griechenland, und mancher hat dabei ein unbekanntes Stück Hafen gesehen, oder einen Blick in ein vergessenes Fenster geworfen, auf eine junge Frau, die er dann ein Jahr lang zu vergessen versuchen konnte.

Ja. Der alte Mann beobachtete den Aufstieg eines Käfers über seinen Kittel und dachte überhaupt nicht mehr an das Getränk, das ihm der Kellner irgendwann hingestellt hatte. Im Supermarkt klaubte er so lange in seinem Portemonnaie herum, bis ihn die andern Kunden beiseite schoben. Zuweilen fiel ihm etwas zu Boden, und er bückte sich, und dann fiel er selber um und kam nur mühsam wieder auf die Beine, vor sich hinschimpfend, und wenn er dann endlich stand, lag sein Hausschlüssel [14] immer noch tief unten auf der Treppenstufe. Einmal schiß er in die Hosen, ohne daß ihn zuvor etwas gewarnt hätte, mitten auf der Straße. Menschen grüßten ihn, und er grüßte zurück. Aber wer mochten sie sein? In seinem Haus, dessen Einzelheiten er immer undeutlicher wahrnahm, herrschte ein immer größeres Durcheinander, in dem zuweilen eine fremde Frau, die wie ein jäher Schrecken zur Tür hereinbrach, mit Besen und Staubsauger herumfuhrwerkte. Er hilflos lächelnd in irgendeiner Zimmerecke, die nicht naßgeschwemmt war. Über aufgerollte Teppiche stolpernd. Endlich nahm sie ihm, der immer noch lächelte, das Portemonnaie aus der Tasche und einige Scheine daraus und ging; in denselben Geldbeutel tat dafür ein Postbote Geld hinein, sagte freundlich »So!« und schob alles wieder in die Hosentasche des alten Mannes zurück. »So!« Der sah ihm nach, wie er die Treppe hinabging. Er fragte sich, wer ihm dieses Geld schickte, und gab sich eine Antwort, die er vergaß, so wie ich vergessen habe, was er sonst noch alles tat in meinem Buch.

Jeden Tag jedenfalls ging er aus dem Haus – ein Trieb –, und da er, einmal auf der Straße, nur nach rechts oder nach links gehen konnte, landete er immer entweder im Restaurant Rose – das war, wenn er nach rechts – oder auf einer Bank im Park: falls er [15] sich nach links wandte. Das heißt, gegenüber waren die Werkstätten des Städtischen Opernhauses, in die er sich zuweilen auch verirrte. Einmal stapfte er stundenlang im Märchenwald für Zar und Zimmermann herum und fand nicht mehr heraus, bis ihn eine Bühnenbildassistentin, die auf Befehl des Bühnenbildners alle roten Blumen in blaue ummalen mußte, schlafend mitten im Jungbrunnen fand, in den das Zauberwasser, in dem sich abends dann, von Musik gewiegt, alle alten Weiblein und Männchen der Oper in Junge verwandeln sollten, noch nicht eingefüllt war.

Lange war der Park, wenn man von der Rose absah, sein einziges Ziel. Er saß auf einer der Bänke beim Kinderspielplatz und fütterte Tauben, deren Sprache er zu verstehen begann. Gurrte stundenlang. Ließ sich von Kindern von früher berichten, während er ihnen das Jetzt erklärte. Hielt strickenden Müttern die Wolle und ließ sich die Schuhe binden. Zuweilen setzte er sich auf eine der Schaukeln und lachte, bis den Mamas die Tränen kamen. (Die Kinderzeit kann das Paradies sein.) Einmal lieh ihm ein Junge sein BMX-Rad, und der alte Mann umkurvte Eichen und setzte über Erdschanzen hinweg und kam zurück. Erst als er sich auf die Bank setzen wollte, stolperte er. Kurz darauf bewunderte er den Jungen, ein kaffeebraunes Kind mit krausen [16]