Der Kongreß der Paläolepidopterologen - Urs Widmer - E-Book

Der Kongreß der Paläolepidopterologen E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Dieser Roman handelt von Gustav Schlumpf, Instruktionsoffizier der Schweizer Armee und Begründer der Paläolepidopterologie, einer jungen Wissenschaft, die sich mit versteinerten Schmetterlingen befasst; von seinen Reisen zu verschiedenen Kongressen und nicht zuletzt von seiner lebenslangen Leidenschaft zu Sally, jener rosigen Kämpferin für die Freiheit.

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Urs Widmer

Der Kongreß der Paläolepidopterologen

Roman

Diogenes

1

Als Gusti den Tod Sallys erfuhr – im Sommer 1980 –, saß er in der Bar des einzigen Hotels am Toten Meer, einem in die Steinwüste geworfenen Fertigbau aus Zementplatten, der entweder nie fertig geworden war oder schon wieder zerfiel. Löcher im Verputz und eine Leuchtschrift – Dead Sea Motel –, deren Glasbuchstaben zerklirrt waren. Hinter dem Hauptgebäude etwa zehn Bungalows. Der ganze Komplex hatte wohl weniger Gäste als es die Besitzer einst erwartet hatten, denn fast alle Touristen fuhren am selben Tag wieder nach Jerusalem zurück. Gusti allerdings hatte hier genau das gefunden, was er gesucht hatte: ein einsames Zimmer mit einem Bett, das weit weg von dem vollklimatisierten Viersternekasten war, in dem er in Jerusalem logierte und durch dessen Korridore unentwegt seine Kollegen gingen, Paläolepidopterologen wie er. Er war nicht allein ans Tote Meer gekommen, sondern mit einer Frau, die sich ihm drei Tage zuvor mit dem Ruf »Hallo, ich bin Ihr Sicherheitsoffizier!« vorgestellt hatte. Sie hieß Esther und trug nun keine Uniform mehr, weil sie nicht im Dienst war; und während Gusti am Tresen dieser spartanischen Bar saß, Bier trank und fassungslos auf den Brief mit der unbegreiflichen Nachricht starrte, versuchte sie, mit den paar Tropfen Wasser, die in dem rostigen Tank auf dem Dach sein mochten, das Salz wegzuduschen, das das Meer auf ihrer Haut hinterlassen hatte.

Gusti hatte gleich am ersten Morgen des Kongresses ein Auto gemietet, einen schwarzen Ford Fiesta, und war mit Esther an den See Genezareth gefahren, in einer unglaublichen Hitze. Heute, am zweiten Tag, hatten sie zuerst – lange zwischen steinigen Hügeln umherirrend – nach Bethlehem gesucht, das tatsächlich so unscheinbar geworden war, daß es keinen einzigen Gasthof mehr hatte, der sie beherbergen wollte; und so waren sie an diesem in der Sonnenglut dampfenden Salzsee gelandet, in dem sie badeten, obwohl das Wasser eine ölige Brühe war, Gusti mit einem umgebundenen Handtuch und Esther in khakifarbenen Armeeunterhosen und einem altmodisch gepanzerten Büstenhalter. In Jerusalem wollte Esther nicht mit Gusti zusammen gesehen werden, oder nur in ihrer offiziellen Rollenverteilung, er als der Nestor seiner Wissenschaft – der Kongreß feierte den zwanzigsten Geburtstag seines Buchs, das die Bibel aller Paläolepidopterologen geworden war –, und sie als seine Beschützerin vor arabischem Terror. Wäre sie in sein Zimmer gegangen, auf der Stelle wäre sie ihr privilegiertes Kommando losgewesen. Aber schon auf der Fahrt zum See Genezareth – weit und breit kein Vorgesetzter – hatten sie sich ständig geküßt, so daß das Auto über die holprigen Straßen der Westbank schlingerte wie das eines angeschossenen Attentäters. Als sie in ein menschenleeres idyllisches Tal gelangten – Blumen, Olivenbäume, Ginstergestrüppe –, hielten sie an und liebten sich zwischen riesigen roten Mohnblumen. Lagen dann nebeneinander im Staub, sahen in den tiefblauen Himmel und über die in der Hitze flimmernden Felsbrocken hin und wurden endlich auch vieler Schafe und eines Hirten gewahr, der wie eine monumentale Krippenfigur über ihnen hockte – oder wie ein Teil der Landschaft –, mit einem meterhohen Stock in der Hand. Schwarze Augen. Sie zogen sich an und fuhren weiter. Der See war dann so warm, daß er ihnen keine Kühlung brachte. Sie saßen trotzdem stundenlang darin und trauten sich erst nach Sonnenuntergang wieder in ihr Auto; tatsächlich glühte dieses immer noch wie ein Ofen. Sie fuhren durch eine mondlose Nacht nach Jerusalem zurück, wo die Kollegen entgeistert riefen, ob sie verrückt geworden seien, in der Dunkelheit mitten durch die Westbank, und Gusti sagte, wieso denn, er habe ja seinen Sicherheitsoffizier bei sich gehabt. Seine Kollegen waren, genau wie er, Erforscher der geheimnisvollen Welt versteinerter Schmetterlinge: aber alle jünger, dynamische Buben, die wichtige Lehrstühle in Amiens oder Warwick innehatten. Gusti wurde inmitten ihres lebenslustigen Geschnatters immer mißmutiger und veränderte sein Referat, zu dem er nur ein paar Stichworte mitgebracht hatte und das den Kongreß beschließen sollte, im Kopf immer mehr, bis es zu einer gnadenlosen Abrechnung mit dieser Paläolepidopterologie geworden war, die ihm sowieso seit Jahren immer flatterhafter vorkam. Jetzt trug er im Latz des Blaumanns, der seine einzige Kleidung geworden war, eine auf eine knappe Minute geschrumpfte Summe seines Denkens mit sich, die er Esther, kurz nachdem sie Bethlehem endlich gefunden hatten, auf deutsch vorgetragen und die sie mit einem Kugelschreiber auf englisch in ein winziges Heft notiert hatte. Am nächsten Tag, um 14 Uhr, war sein Auftritt. Wenn sie nicht allzu lange im Bett blieben, waren sie mittags längst wieder in Jerusalem. Dann konnte er sein Referat sogar noch einmal üben, am Fenster des Hotels, das auf dem Ölberg stand, genau da, wo Jesus in der Nacht vor seinem Tod auf die Knie gefallen war und seinen Vater beschworen hatte, ihn aus seinem Plan, die Menschen zu retten, zu entlassen. Die Jordanier hatten es, als ihnen der Berg noch gehörte, mit amerikanischem Geld mitten in den jüdischen Friedhof hineingebaut, aus den Grabplatten der Väter ihrer Feinde. Wenn Gusti im Bett lag und den Kopf hob, sah er die goldene Kuppel des Felsendoms und das zugemauerte Tor, das aufsprang, wenn ein Messias dran klopfte.

Er war allein in der Bar, wenn er vom Barkeeper absah, einem schnauzbärtigen Araber, der wie ein braver Familienvater aussah und, allein hinter dem Tresen, laute Selbstgespräche führte. Zuerst hatten sie ein bißchen miteinander geplaudert, aber da der Barmann nur einen einzigen englischen Satz konnte – »It’s all bluff!« –, gab Gusti bald auf und kramte in seinen Taschen nach etwas Lesbarem. Er fand zwei Briefe, die am Morgen im Schlüsselfach des Hotels gelegen hatten: der eine eine Einladung der Holy-Land-Tours zu einer Busreise ans Tote Meer, der andere von einer Mrs. Smith aus Los Angeles, deren Namen er noch nie gehört hatte. Sie erwies sich als die Tochter Sallys und schrieb, ihre Mutter sei gestorben, plötzlich, einundachtzig Jahre alt.

Gusti war achtundfünfzig – Esther Mitte zwanzig – und fühlte seine eigene Sterblichkeit nur in Augenblikken wie diesem. Er starrte auf den Brief und sah so vor den Kopf geschlagen aus, daß der Barmann einen zweiten Satz versuchte. »Problems, Mister?« Gusti schüttelte zuerst den Kopf, nickte dann und bestellte ein neues Bier.

In diesem Augenblick trat Esther durch die Tür. Der Barmann begann mit einem Beilchen auf Eisklötzen herumzuschlagen, und Gusti saß so verloren auf seinem Hocker, daß Esther sich räusperte und sehr laut eine kalte Limonade bestellte. Da wachten beide auf, der Barmann und Gusti, und dieser schob Esther eilfertig einen Stuhl hin, während jener unter der Theke verschwand und mit unsichtbaren Flaschen klirrte. Esther sah sich das Getue der beiden Männer an und fragte: »Was ist denn los?«

»Meine Freundin Sally ist gestorben«, sagte Gusti.

2

»Sally«, sagte Gusti, »war, glaube ich, eine Französin, oder vielleicht auch aus Irland, denn sie hatte jede Menge Sommersprossen. Ein Faß, mit Mistspritzern übersät. Sie sprach ein Französisch als rollten Kiesel aus ihr, allerdings auch Englisch wie ein Goldwäscher. Was weiß ich. Sie hatte es mit den Sprachen. Beherrschte sogar den bizarren Dialekt, den ich normalerweise spreche. Baselbieterdeutsch. Man hätte sie mit einem Fallschirm über einer Kopfjägerinsel abwerfen können, und sie hätte den anstürmenden Wilden das Kopfjagen in ihrer eigenen Sprache ausgeredet, die sie während der Landung aus dem näherkommenden Palavern gelernt gehabt hätte.«

Esther setzte sich auf ihrem Hocker zurecht. »Hm!« sagte sie.

»Vielleicht ist sie«, sagte Gusti, »mit ihren Flügeln schlagend in den Himmel geflattert.«

»Vielleicht.«

Sie sahen dem Barmann zu, der immer noch auf das Eis einhieb. »Als ich sie kennenlernte«, fuhr Gusti fort, »war ich siebzehn. Ein Bub! Sie vierzig. Das war kurz vor dem Krieg. Ich fragte mich nicht, wieso es eine wie sie in die Schweiz verschlagen hatte, und just in den Häuserhaufen, in dem ich groß geworden bin. Eine Hauptgasse, drei Querstraßen. In jedem Haus ein Restaurant, denn Liestal hat eine Kaserne.«

»Wir haben im Offizierslehrgang eure Armeestruktur behandelt«, sagte Esther, die sich mit allerlei Geschützen auskannte. »Ihr seid unser Vorbild.«

»Ich habe ein halbes Leben in der Armee zugebracht.« Jetzt lachte Gusti. »Dabei bin ich in Bulgarien zur Welt gekommen, in Varna, an den Gestaden des Schwarzen Meers, auch wenn ich heute kein Wort Bulgarisch kann. Als ich elf Jahre alt war, verließen die Eltern ihre Heimat auf der Flucht vor dem letzten Zaren, der eine Meise hatte und fürchtete, von einer Revolution weggefegt zu werden. Das geschah dann auch. Von meinem Zimmer aus sah ich seine Sommerresidenz, durch dünne Birkenstämme hindurch.«

»Wie schön«, sagte Esther. Sie war mit der Wendung versöhnt, die ihr Abend genommen hatte, und trank einen Schluck Limo, die der Barmann ihr hingestellt hatte.

»Ich war ins Bett gegangen, mit meinem Teddy im Arm, der mich schützte«, sagte Gusti. »Als ich aufwachte, lag ich zwischen Kisten eingeklemmt in einem kleinen Boot, das entsetzlich schaukelte. Der Vater trug den Stallanzug, mit dem er immer die Pferde versorgte. Mein Teddy war nicht mitgekommen. Später gingen wir irgendwo an Land. Ich taumelte zwischen zwei Händen, im Gehen schlafend. Nachher schlief ich dann wirklich und wachte in einem Gasthof auf, in dem alle Frauen mit schrillen Stimmen sangen. Richtig wach wurde ich allerdings erst in diesem Liestal, in dem wir landeten, weil da ein Barackenlager für Flüchtlinge war. Lange lebten wir in einem Schlafsaal voller lärmender Menschen – die meisten waren Serben, aber es gab auch schon deutsche Juden und sogar einen alt gewordenen Weißrussen –, und später in einem Zimmer derselben Anlage, das so eng wie ein Wandschrank war. Und darin stand sogar noch die Drehbank, auf der der Vater, bevor er starb, mechanische Spielzeuge hergestellt hatte: Soldaten mit schmerzverzerrten Gesichtern, die sich ans Herz greifen konnten; Männchen mit hohen Zylindern, die eine Schräge hinabstolperten und dabei ein Glied nach dem andern verloren; Paare mit gegenpoligen Magneten im Bauch, von denen man, wenn man sie einander näherte, nie wußte, ob sie sich nun küßten oder schlugen. Alles unverkäuflich. Ich vergaß alles Bulgarische. Wir hießen nicht mehr Sloum, sondern Schlumpf.«

Der Barkeeper hatte das zerkleinerte Eis in Plastikbeutel gefüllt und in der Tiefkühltruhe gestapelt. Er wischte mit einem Lappen auf dem Tresen herum und hörte inzwischen ziemlich unverstellt zu.

»Du wolltest von Sally erzählen«, sagte Esther.

»Ja. Sally. Ich lernte sie in einer Hütte kennen, einem kleinen lottrigen Haus, das hoch über Liestal in den Reben stand und dem Kommandanten der Kaserne gehörte. Er benützte es als Rebhaus, das heißt, sein Sohn, ein schreckliches Arschloch, veranstaltete dort zuweilen Feste. Um jenes schwitzende Biersaufen ein Fest zu nennen! Keine Ahnung, wieso ich eingeladen wurde – ich war noch ein Bub mit einer hohen Stimme; und auf Flüchtlinge stand der Sohn des Kommandanten nicht –, und wieso ich hinging. Wahrscheinlich war ich einsam. Der Sohn und ich hatten so etwas wie eine geschäftliche Verbindung. Es waren fast nur Männer da, junge Burschen, die dem Sohn ähnlich sahen und bald laute Lieder sangen. Immerhin mit dröhnenden Bässen. Es gab eine einzige Frau, Sally eben, die in einem rot leuchtenden Rock still in einer Ecke saß, ein Gebirge, das nicht dick war, weil es diese Fülle zu brauchen schien. Sally war die Geliebte des Sohns; aber das Gesinge gefiel ihr nicht. Ich setzte mich zu ihr, und wir sprachen von diesen entsetzlichen Liedern und dann von Hitler. Irgendwann auch von den Sicherungsbolzen, die ich auf der vom Vater geerbten Drehbank herstellte und die dann von der Bührle in irgendwelche Maschinenpistolen eingebaut wurden – der Sohn hatte mir den Auftrag vermittelt –, und sie war so verblüfft, daß ich versprechen mußte, ihr einen zu zeigen. Keine Sekunde lang ging uns der Gesprächsstoff aus. Es war dann nur natürlich, daß ich mit Sally den Rebweg hinabging, und nicht der Kommandantensohn, der unseren Aufbruch gar nicht bemerkte, weil die ganze Bande inzwischen von der Wacht am Rhein grölte. Wir taumelten unter einem mondlosen Himmel bergab – Sternschnuppen sprühten wie ein Feuerwerk –, aßen halbreife Trauben, küßten uns bald und dann immer heftiger und versanken schließlich unter der Tür ihres Hauses ineinander, im Eingang eines hohen schwarzen Wohnblocks, hingerissen und gehetzt, weil jederzeit jemand kommen konnte. Ich mit ausgebreiteten Armen diese ungeheuren Hinterbacken umfassend, sie gegen die Hauswand gelehnt. Tatsächlich kam dann jemand, alle Bewohner des Hauses kamen – Sally stieß kleine schrille Schreie aus, und ich tobte wie ein toller Kasper –, in Nachthemden und Lockenwicklern und mit Kindern im Arm und einer mit einem Karabiner mit aufgepflanztem Bajonett, und wir standen jäh im grellsten Licht zwischen Mülltonnen und Briefkästen und sprangen auseinander und zogen die Hosen hoch, von starren Frauen, Männern und Kindern begafft, und das alles, weil Sally sich mit beiden Händen auf alle Klingelknöpfe abgestützt und sie nicht mehr losgelassen hatte.«

Gusti trank sein Bier leer, und der Barmann schob ihm ein neues hin. Er beugte sich so weit vor, daß seine Nase die Gustis berührte. »Meinen Sie, ich bin freiwillig hier?« sagte er viel zu laut, in einem tadellosen Englisch. »Ich habe ein Haus in Hebron! Eine Frau! Wissen Sie was?! Sie spricht nicht mit mir! Kein Wort! Ich bin einer, der sprechen muß! Sprechen!« Er schnaubte Gusti an, als habe er ein Geständnis gemacht, das zu formulieren ihm bis jetzt noch nie gelungen war. Gusti bewegte sich nicht. Endlich zog sich der Barkeeper zurück, griff unter die Theke, holte eine Cognacflasche hervor und goß ein Glas voll. Stürzte es hinunter und schenkte sich nach.

»Aber hier ist es ja noch stiller«, sagte Esther.

»Es war mein erstes Mal«, murmelte Gusti, und es blieb unklar, ob er mit Esther oder mit dem Barmann oder mit beiden sprach. »Jetzt bin ich dem letzten Mal nahe.« Er sah nachdenklich auf einen Ölfleck auf seinem Blaumannlatz. »Übrigens, Sally war nicht beschämt. Sie fand es komisch. Als ich mich von ihr verabschiedete, stammelnd und die Hosen mit beiden Händen haltend, lachte sie. In sich hineinprustend ging sie zwischen den glotzenden Hausbewohnern davon, die eine Gasse bildeten. Ich rief ihr etwas nach – ›Bis morgen!‹ – und merkte, daß ich eine neue Stimme hatte. Einen tiefen Baß.«

Der Barkeeper schaltete den Fernseher ein – er drückte auf alle Knöpfe, aber es gab nur ein Programm –, und sie schauten eine Weile zu, wie israelische Patrouillen zwischen Frauen flanierten, die Kürbisse auf den Köpfen trugen. Dann sprachen der Barmann und Esther plötzlich laut und erregt miteinander – ihm schwollen die Adern an den Schläfen an, und sie kriegte ein Kinn wie eine Schaufel –, und Esther sprang vom Hocker und rannte durch die Tür als sei sie zu einem Einsatz kommandiert worden. Gusti hörte ein paar Minuten lang zu, wie der Barkeeper mit der Nachrichtensprecherin diskutierte, trank sein Bier aus und ging Esther nach. Sie stand an eine aus Beton gegossene korinthische Säule gelehnt und weinte. Er legte einen Arm um ihre Schultern und wollte ihre Wange küssen, traf aber, weil sie sich wegbeugte, ihr Ohr. Über ihnen ein naher Mond.

»Wie oft machst du das?« schluchzte Esther. »Frauen flachlegen in irgendeinem Puff?«

»Ich mache das zum ersten Mal«, sagte Gusti.

»Du lügst.«

»Zum zweiten Mal.«

»Sally mitgezählt?«

»Nein.«

Als habe er die Wahrheit gesagt – er hatte –, wurden ihre Muskeln wieder weich, sie wischte sich die Tränen weg, schneuzte sich, und sie gingen in den Bungalow und schliefen ein.

Am nächsten Morgen fuhren sie in aller Herrgottsfrühe über eine kurvenreiche Straße nach Jerusalem zurück. Esther zeigte Gusti Beduinen, die neben Quellen ohne Wasser hockten und dennoch lebten. Blaue Zelte. Kamele wie Steine. Im Hotel ging sie in einem Anfall trotzigen Stolzes mit Gusti ins Zimmer, zum Abschied, und dann war auch die Zeit für sein Referat gekommen. Obwohl ihm sechzig Sekunden genügt hätten, hörte ihm keiner zu, und die Paläolepidopterologie existierte weiter. Am gleichen Abend noch flog er mit einem Jumbo der Swissair nach Hause und war um Mitternacht in seiner Wohnung. Er setzte sich an den Küchentisch und brach in Tränen aus. Weinte bis er einschlief, zum letzten Mal.

3

Jahre, viele Jahre früher: Am Morgen nach jener Nacht, in der er Sally gegen die Klingeln ihres Hauses gepreßt hatte, stand der verliebte glückselige Gusti so früh auf, daß die Barackenkammer – seine Heimat, und die der Mutter – noch dunkel war. Nebel füllte sie bis in alle Ecken. Er hatte vor Begeisterung kein Auge zugetan. Die Mutter im andern Bett schlief, kaum zu sehen in der Trübnis, obwohl das Zimmer keine drei Schritte breit war. Sie hatte ihrem Sohn – es war sein Geburtstag – einen Kuchen gebacken und ihn auf einen Schemel neben das Bett gestellt. Eine dicke rote Kerze genau in der Mitte. Er brach ein Stück ab, aß es und zog sich an: die Knickerbocker, die er schon am Vorabend getragen hatte, ein Hemd ohne eine besondere Farbe, einen grauen Pullover, den ihm die Mutter noch in Varna gestrickt hatte und der ihm längst viel zu eng war, und eine rote Mütze, deren wulstiger Rand beide Ohren bedeckte. Auf der Drehbank suchte er einen besonders glänzenden Sicherungsbolzen, rieb ihn am Pulloverärmel bis er strahlte und zog leise einen der Fensterflügel auf, weil er nicht durch die Korridore schleichen wollte, deren Dielen entsetzlich knarrten. Während er sich in den Nieselregen hinausschwang, brummte er Töne vor sich hin, die ihm unvertraut waren und ihn an gestern abend erinnerten. Seine Stimme war immer noch ein Baß.

»Шср цукву вшср тшу дщыдф ыыут!« murmelte die Mutter und wälzte sich herum. Gusti erstarrte, die Hände am Fensterrahmen, und spürte, wie sein Hintern, den er in den Regen hinausreckte, naß wurde. Aber die Mutter schlief weiter. Ihr Stupsnäschen schnupperte jetzt zur Zimmerdecke hoch, und ein nackter Fuß ragte unter der Decke hervor als wolle er winken.

Gusti glitt zwischen den Blüten und Dornen eines Rosenspaliers zum Erdboden hinunter und hielt einen riesigen Strauß in den Händen, als er unten war. Die Rosen, an denen er sich festgehalten hatte. Sie tarnten ihn, während er über die Lagermauer stieg – am Tor vorn lauerte der Verwalter, ein grober Mensch –, und sie schützten ihn auch, während er quer durch das Städtchen zu Sallys Haus rannte. Seine Hände waren voller Dornen und bluteten, und er war klatschnaß, als er erneut vor der Haustür stand. Aber diesmal sah er die vermaledeiten Klingeln und merkte, daß er den Nachnamen seiner neuen Freundin nicht wußte. Sally was? Die Hausbewohner hießen Schaub oder Liechti, und so drückte er auf den einzigen Klingelknopf, neben dem nichts stand. Tatsächlich schaute, als er den Daumen einige Minuten lang darauf gehalten hatte, seine verschlafene Geliebte aus der ersten Tür im Parterre, in einem Pyjama und mit wirren Haaren. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf sie und wollte sie mit Küssen bedecken und vom herrlichen Leben sprechen und in ihr Bett und den Rest des Tags mit ihr frühstücken. »Sally!« Aber Sally hielt ihn mit ausgestreckten Armen auf und sagte etwas, was er nicht verstand. »Was??« rief er. Sie bewegte den Mund wieder und deutete auf seinen Kopf.

»Wenn ich die Mütze aufhabe, höre ich nichts«, sagte er und nahm sie ab. »Es hat mich bis heute nie gestört.« Er drückte ihr den Sicherungsbolzen in die linke und den Rosenstrauß in die rechte Hand. »Hier! Die Bolzen sind mit einer Toleranz von einem Zehntelmillimeter gedreht. Die Rosen sind aus dem Lagergarten.«

»Weißt du, wieviel Uhr es ist?« sagte Sally, während sie den Bolzen wie ein mißtrauischer Juwelier beäugte.

»Nein. Wieso?«

»Es ist sechs. Wenn du um neun wiederkommst, machen wir einen Spaziergang zusammen, ja?«

Sie verschwand – mit den Blumen – in ihrer Wohnung und schloß die Tür. Gusti starrte einige Sekunden lang auf das Guckloch, das ihn musterte, setzte sich dann auf die Fußmatte und war bald wieder so sehr mit seinem Schicksal versöhnt – er liebte! wurde geliebt! –, daß er die Zeit nicht mehr fühlte. Während er die Dornen aus seinen Händen zupfte und sein Körper trocknete, schwamm seine Seele in einem herrlich klaren Meer, in dem Delphine sprangen. So war er regelrecht überrascht, als Sally plötzlich über ihm stand, wetterfest ausgerüstet: in kräftigen Schuhen, einem Regenmantel, mit einem Kopftuch, das ihr Gesicht verbarg, und mit einem Fotoapparat vor der Brust.

»Dann mal los«, sagte sie.

Hand in Hand gingen sie die Hügel hinauf, von Nebel verhüllt, über zerfetzte Herbstzeitlosen, bis zu einem Wald, der im Dunst dampfte. Sie wateten im Laub und strotzten bald vor Dreck. Gusti füllte den Herbstwald mit seinem Gesang, und Sally fotografierte ihn: einmal mit einer Astgabel über dem Kopf, als Hirschbock verkleidet; dann auf dem Kopf stehend im Laub, so daß er wie geköpft aussah; oder zwischen Knollenblätterpilzen hockend. Schließlich gerieten sie sogar in eine militärische Übung – rußgeschwärzte Soldaten stürmten schießend, von Maschinengewehrfeuer unterstützt, just die Anhöhe, auf der sie Blumen pflückten –, und sogar jetzt drückte Sally auf den Auslöser ihrer Leica, durch Margeriten und Ginster hindurch, während links und rechts die Erde hochspritzte. Als Gusti es endlich mit der Angst zu tun bekam und sich zu Boden warf, stürzte sie sich über ihn und küßte ihn leidenschaftlich, ohne auf die Schreie des Leutnants zu achten, der mit einem schwarzen Gesicht nähergerannt kam. Zuerst tobte er, und dann entschuldigte er sich, von Sallys Unschuld besiegt. Sie waren in ein Sperrgebiet geraten, aber alles konnten junge Verliebte ja nicht wissen. Schließlich drückte der Leutnant ihnen sogar die Hand, und sie gingen – die Kämpfer winkten – auf dem erlaubten Fußweg bergab und aßen in einem Gasthof Speck und Brot.

Zu Hause wollte Gusti mit in die Wohnung, aber Sally schüttelte den Kopf, und bevor er »Warum?« sagen konnte, sah er durch die offene Tür einen Mann, der am Ende eines langen Korridors stand, vom Licht der Abendsonne beschienen. Er trug einen crèmefarbenen Anzug, der eher nach Monte Carlo gepaßt hätte, und war kahl. Ein paar Haare, sorgfältig über die Glatze gekämmt. Ein schmaler Schnurrbart. Sie starrten sich an, dann verschwand die Erscheinung in einer Tür. Sally sagte: »Mein Cousin.« Sie war rot geworden und gab Gusti einen Kuß. »Er ist unser Geheimnis, gell?« Sie streichelte seine Wange – schnell, wie ein Lufthauch – und schloß die Tür hinter sich.

Gusti tanzte nach Hause, von Flügeln getragen. Die Straßen waren voller Menschen, die den Trottoirs entlang eilten. Zweimal wollte ihm ein schreiender Junge eine Zeitung verkaufen, aber Gusti lachte ihn aus. Eine Zeitung! Zu Hause stand die Mutter mit ausgebreiteten Armen – sie war einen Kopf kleiner als er und sah wie ein Mädchen aus – und rief: »Фдду ыжрту идушиут ефп гтв тфсре иуш шркук ьгееук!« Er tauchte unter ihr hindurch und setzte sich an die Drehbank, die auf seiner Seite des Zimmers gerade noch Platz fand. Nahm Papier, ein Tintenfaß und eine Feder, legte alles sorgsam auf die Fläche, auf der sonst die Rohlinge lagen, und zog die Mütze ganz tief über die Ohren. In seinem Rücken die Mutter, kaum zu hören, obwohl er ihre Brust an seinem Hals spürte und ihre Hand die Wolle seiner Mütze kraulte. Sie rief etwas. Er schrieb: »Liebste Sally!« und sagte: »Mama! Bitte!«

Sie hörte auf, seine Mütze zu küssen. Setzte sich wohl – Gusti drehte sich nicht um – an ihren Nähtisch auf ihrer Zimmerseite und vertiefte sich wieder in die Stickerei, an der sie seit ihrer Ankunft in Liestal arbeitete, seit sechs Jahren, einen Wandteppich in der Länge der Front des Sommerpalasts in Varna und für diesen bestimmt, wenn der Zar einst versöhnt war oder tot und Bulgarien frei, genau diesen Palast darstellend und diesen Zaren und dessen Ahnen allesamt bis hin zu Bohuslav dem Ehernen, dem ersten aller bulgarischen Herrscher, und natürlich das Martyrium des Volks der Bulgaren, ihre eigene herrliche Zeit in der Sonne des Schwarzen Meers und ihre schreckliche Flucht. An dieser stickte sie gerade – am sechsten der ungefähr zweihundert Meter, die das Werk messen sollte –, an sich selber, einer schwarzen Frau, verhüllt und mit schützend über den Kopf gelegten Armen, fortgerissen von einem ebenfalls schwarz gewandeten Mann mit einem Zylinder und einer Fahne, der ihr Gatte war. Ein knallrotes Gesicht, das so dicht gestickelt war, daß man meinte, er platze gleich am Schlagfluß. Kein Kind, entweder war es noch nicht geboren oder schon wieder tot. Über ihrem Gesicht stand in Goldbuchstaben ZORA, ihr Name. Die Nadel ächzte, wenn sie durch den Stoff drang: manche Geräusche hörte Gusti. Die gestickte Mutter sah doppelt so alt wie die lebende aus, die gerade vierzig Jahre alt geworden war und in einem kurzen Röckchen und mit herabbaumelnden Beinen auf ihrem Gobelinballen saß, so als ob sie sich die Zeit vertriebe, bis sie zum Kinderball abgeholt würde.

»Liebe Sally!« schrieb Gusti mit solchem Schwung, daß die Tinte sprühte. »Ich liebe dich. Es ist herrlich. Früher war es schrecklich. Ich erinnere mich an jede Einzelheit. Auf der Flucht dachte ich, sie sei eine Reise, mich loszuwerden. In Varna war die Luft so heiß, daß wir uns am Mittag in die Häuser retten mußten. Ich kannte keine Mädchen, nur eins, das Zwetla hieß. Sie war die Tochter des Besitzers des Guts, auf dem wir lebten, weil da der Vater, der tot ist, seine Arbeit hatte. Der Knecht des Herrn. Ich wollte dir das alles sagen heute, wie es war, aber der Tag war so schön. Der Vater war immer im Stall oder in den Wäldern. Er war ein Mann mit einem Bart und saß viele Stunden an der Drehbank, die jetzt meine ist, das heißt, an einer gleichen, denn meine kaufte er hier, um die Spielsachen herzustellen, von denen wir lebten. Er verkaufte nie etwas. Zwetla hatte rotgoldene Haare und blaue Augen. Nie lachte sie. Wir saßen nebeneinander auf einer Mauer, ich zitternd und sie, als habe sie gar nicht bemerkt, daß da noch einer war. Sie stupste mit einem Grashalm einen Käfer herum oder träumte aufs Meer hinaus. Dann rief sie ihr Vater, der wilde Herr, und sie verschwand wie eine Eidechse im Stall. Sie sollte sich nicht mit mir abgeben. Wir waren arm. Ich habe nie gesehen, daß sie etwas arbeitete. Oft war sie mit ihrem Papa, einem Hünen, der die Pferde so liebte, daß er sie eigenhändig tränkte. Gott! Zwetla durfte Ziegen hüten! Schlenderte tagelang barfuß mit ihnen am Ufer des Meers entlang! Ich, der Knechtssohn, hatte keine Spielzeuge! Nur Holzbaukästen oder ein Dreirad! Es waren viele Ziegen, weiße und schwarze, die Grasbüschel zwischen den Felsen hervorzupften, und natürlich sah Zwetla wie ein Engel aus. Sie durfte auch zerrissene Röcke tragen. Einen Hund hatte sie auch, ein Ungeheuer, das mich bellend von ihr fernhielt. Ich schlich hinter Felsbrocken geduckt der Herde nach, bis mein Vater irgendwo aus den Olivenhainen trat und mich zu sich rief. Immer hatte er ein Gewehr.

Ich weiß nicht, warum wir flohen. Soldaten waren bei uns gewesen. Im Eßzimmer hing ein Gemälde des Zaren, der Boris hieß wie alle Monarchen Bulgariens, außer denen, die sich Peter nannten. Er schielte in der Wirklichkeit und schaute innig auf dem Bild. Ich versuchte damals jene Geschichte zu glauben, die jedes bulgarische Kind glaubte, daß die Kinder Sternschnuppen waren, die von den Frauen, die sich nach einem Kind sehnten, aufgefangen wurden. Von Frauen, die sich sehnten! Der Vater hatte ein unruhiges Herz und fürchtete jede Minute, in der nächsten zu sterben. Ich lachte darüber bis er tot war. Ich schlich ihm nach, wenn er zwischen aufwirbelnden Schmetterlingen durch Blumenwiesen streifte und auf alles ballerte, was sich bewegte – Hasen, Fasane, Krähen –, ohne jede Sorge, er könnte treffen, denn seine Waffen, von denen er tausende im Keller herumliegen hatte, waren uralt. Einmal, glaube ich, zielte er auch auf mich und erwischte mich beinah. Er saß an der Drehbank und schliff sich millimetergroße Ersatzteile zurecht, die auch nicht verhinderten, daß seine Schüsse über die Wiesen irrten.

Ich pfiff den ganzen Tag hektische Melodien. Kauerte hinter Steinen, als Zwetla im Meer badete. Sie trug ein altmodisches Badekleid, dessen schwarzer Stoff zwischen ihren Pobacken klebte. Sie war allein im Wasser – war zwei drei Jahre älter als ich – und winkte mir, als sie mich entdeckte. Ich ging bis zum Wasser, aber aus irgendeinem Grund badete ich nicht, nie, besaß keine Badehose – der Vater ignorierte alles Nasse – und wartete, bis Zwetla ans Ufer gekrault kam und sich trocken schüttelte. Dann mußte ich mich umdrehen und hörte, wie sie sich auszog, abtrocknete und anzog. ›Fertig!‹ rief sie. Wir tranken Milch, die uns ihr Vater in den Mund molk. Irgendwo in dem lichten Birkengewirr gab es einen Pavillon, in dem wir saßen. Die Blätter rauschten. Zwetla sang mir Lieder vor, die sie in der Schule gelernt hatte, in die ich nicht durfte. Zu mir kam ein pickliger Mann, der mich, glaube ich, züchtigte. Ich erinnere mich deutlich. Einmal hörte sie mitten in einem Lied auf, faßte nach meiner Hand und sah mich an und rannte davon. Ich blieb in diesem Gartenhaus aus hellgrünem Laubsägeholz, schrieb Verse in den Staub des Holztischs und warf Steine nach Vögeln. In Bulgarien gab es noch Leibeigene. Ich war einer. Von Boris, dessen Palast ich von meinem Zimmer aus sah, wußte ich, daß er jeden umbrachte, den er nicht mochte. Der Palast war voller Verliese. Mit einem Kameraden spielte ich die Todesarten. Ich schielte wie Boris, und er gab mir einen so heftigen Fußtritt, daß ich heulend nach Hause rannte. Der richtige Boris hatte einen Keller, in dem er seine Opfer in die Hoden trat. Sie peitschte bis ihm der Arm wehtat. Zusah, wie einer der Geheimpolizisten ihnen ins Gesicht schiß. Dann wurden die blutigen Bündel nebeneinander auf ein schwankendes Brett gestellt, Stricke um die Hälse. Das wußte jeder. Boris ging reitgertenwippend auf und ab und machte Witze – die Opfer mußten mit ihm lachen –, und wenn er mitten in einem Scherz mit den Augen ein Zeichen gab, wurde das Brett weggezogen, und die Verurteilten zappelten in der Luft herum. Er erschoß auch selber. Einmal bespritzte einer, der Innenminister, dem er mit der Mündung seines Revolvers zu nahe gekommen war, mit seinem Blut die blütenweiße Marschalluniform, und weil er schon tot war, erschoß der rasende Boris alle Polizisten im Raum, einen nach dem andern. Obwohl sie mindestens zehn waren, sahen sie ihm bewegungslos zu. Trotzdem erzählte jeder im Land Witze über ihn, die alle mit seinem Schielen zu tun hatten. Etwa, daß er stets einen seiner Jagdaufseher erlegte, wenn er auf einen Hasen zielte. Mit den häßlichsten Frauen schlief, weil er seine Werbung an den Schönen vorbeirichtete, die er eigentlich meinte, und er nahm sie halt, wenn sie schon einmal bereit waren. Sie fanden sich dann, nach einer Nacht voller Schleim und Kot, im Morgennebel auf einer Barke wieder, mit gefesselten Händen und einem Stein um den Hals, und weit draußen im Wasser stießen Polizeibeamte das Bündel ins Wasser und ruderten zurück. Der Zar saß derweilen in einer Sitzbadewanne aus Blech und ließ sich von einem Diener glühendes Wasser auf sein Gemächte schütten. Zuweilen gab er Feste. Ich sah den Schein vom Fenster aus. Ich bin sicher! Feuerwerksgarben. Musik wehte herüber, vermischt mit dem Singen von Nachtigallen. Vielleicht gingen Zwetlas Eltern hin. Einmal lag ich auf meinem Bett und hörte plötzlich im Garten unten kreischendes Gelächter, und als ich ans Fenster stürzte, sah ich den Vater durch einen Korridor grinsender Soldaten rennen, die ihn mit Gladiolen peitschten. Er hatte Geburtstag, die Blumen waren eine Huldigung; es war ein Spaß. Auch der Vater lachte. Erst als er das zweite oder dritte Mal unter mir vorbeirannte, sah ich, daß seine Augen voller Angst waren. In derselben Nacht flohen wir. Niemand hatte mir etwas gesagt. Als ich aufwachte, war ich in einem Schiff und fror zwischen nach Fischen stinkenden Kisten. Der Vater im Bug, wie eine Statue. Wir schaukelten die ganze Nacht. Hie und da kotzte der Vater. An Land schliefen wir in immer neuen Hotelzimmern. In rumpelnden Zügen. Einmal in einer Alphütte. Ich habe keine Ahnung, wieso wir in Liestal landeten. Von hier fuhr der Vater an jedem zweiten Dienstag des Monats nach Bern und traf sich im Hinterzimmer eines Cafés mit andern bulgarischen Emigranten. Natürlich war das verboten. Einmal überraschte ich ihn im Klo der Lagerbaracke, wo er eine Rede übte, lodernd wie ein Prophet. Ich glaube, er hielt diese kaffeeschlürfende Männerrunde für die bulgarische Exilregierung. Aber Boris hatte wohl einen Spitzel unter Papas Schattenministern, oder alle andern waren Spitzel, oder der Papa war der Spitzel, jedenfalls wurde er von einem Kind, das kaum älter war als ich, am Tresen jenes Cafés erschossen, als er gerade einen Zweier Merlot bestellte. Das Kind wurde nach Bulgarien abgeschoben, auf Grund eines psychiatrischen Gutachtens, das besagte, daß sein Verhalten für jenes Land typischer sei als für unsres. Ein paar Wochen lang war der Vater berühmt. In allen Zeitungen das gleiche Foto, ein von einer Wolldecke verhüllter Haufen, aus dem eine seiner Schneegaloschen ragte. Ein anderes Foto, das im Bund erschienen war, zeigte ihn mit einem selbstbewußten Blick, so wie ich ihn zu Hause nie gesehen hatte. Ich kriegte keine Luft mehr. Ich weiß noch jede Einzelheit. Ich liebe dich. Gusti.«

Er steckte den Brief in einen Umschlag, in dem einst Steuerformulare gekommen waren, und wollte aus dem Zimmer gehen. Aber die Mutter rutschte blitzschnell von ihrem Tuchballen herunter und hielt ihre Stickerei zwischen ihn und die Tür. »Вшср!« Sie hatte den Zaren in Angriff genommen, seine Augen, die in einem winzigen Kopf riesengroß geraten waren und ganz gerade schauten. Sie spitzte die Lippen und hüpfte im Türrahmen auf und ab. Gusti schob den Mützenrand hoch. Wollte sie ihn küssen?

»Вшу Джыгтп Вуы кэеыуды шые ифтфд«, sagte sie und sah ihn mit großen Augen an. Ihre Wangen waren rot, und ihr Mund offen.

Er zog die Mütze wieder zurecht, hob die Mutter an den Schultern hoch und setzte sie auf ihre Tücher zurück. Als er zurücksah, schüttelte sie ihre Haare und schlug eine Faust auf jenen Teil der Stoffbahn, auf dem sie mit schnellen Stichen die blaue Bucht von Varna skizziert hatte. Im Hintergrund die Berge. Sie rief etwas und stampfte mit beiden Füßen, die den Boden dennoch nicht erreichten. Draußen fegte ein scharfer Wind durch die Straßen. Gusti rannte. Eine Weile lang folgte ihm bellend ein Hund.

Er wollte den Brief gerade in Sallys Briefkasten stekken – auch auf ihm kein Namensschild –, als ein Jeep herangefahren kam, wie vom Sturm hergeblasen, und hinter einem feldgrauen Chevrolet mit einer Militärnummer hielt. Zwei Soldaten rannten ins Haus. Gusti ging hinter ihnen drein und fand Sallys Wohnung so voller Menschen, daß ihn niemand beachtete. Zerschnittene Kissen, aus denen Daunen wirbelten, und aufgerollte Teppiche. Ein Mann in den hellblauen Arbeitskleidern der Armee hob eine Matratze hoch und schaute darunter. Ein anderer hielt einen lachsfarbenen Unterrock gegen das Licht der Tischlampe als berge er ein Geheimnis. Dicker Qualm, weil alle rauchten. In der Küche räumte ein baumlanger Mensch in Armeenagelschuhen Pfannen aus dem Wandschrank. An einem Tisch beim Fenster saßen zwei Offiziere – ein dicker Major und ein Hauptmann, der einem betrübten Gespenst glich –, denen ein Leutnant so eifrig einen Stoff zeigte als wolle er ihn verkaufen. Sallys Wanderrock von heute nachmittag. Als der Major unwillig schnaufte, richtete sich der Leutnant auf und warf das Tuch, wie ein Kellner seinen Wischlappen, über den angewinkelten Arm. Er schlug die Absätze gegeneinander, machte rechtsumkehrt und starrte Gusti so entgeistert an, daß dieser seine Mütze vom Kopf nahm.

»Gusti!« rief er. »Sie hier?«

Gusti brauchte ein paar Augenblicke, um ihn zu erkennen: der Sohn des Kommandanten. In Uniform glich er seinem Vater. Er war kreideweiß und schwitzte. Machte ein paar schnelle Schritte auf Gusti zu und zischte: »Die da wissen nicht, daß Sally und ich. Verstehen Sie?« Schaute so flehend als dürfe Gusti jetzt keinen Fehler machen. Dann sagte er laut: »Schlumpf! Haben Sie die Gesuchte irgendwo gesehen?«

»Ich wollte ihr einen Brief bringen«, stammelte Gusti.

»Einen Brief?«

»Her damit!« knurrte gleichzeitig der Major, und bevor sich Gusti ihm zuwenden konnte, hatte er den Brief an sich gerissen. »Soso. Sie sind also dieser Schlumpf.« Er glich längst wieder einem trägen Gebirge und überflog Gustis Geständnisse als seien sie das Ödeste, was ihm je unter die Augen gekommen war. Der Hauptmann hatte die Augen geschlossen. Der Tisch war mit Papieren überschwemmt, kleinen Zetteln, auf denen Skizzen von Gebäuden oder Landschaften zu sehen waren, Konstruktionsplänen auf Millimeterpapier und ganzen Stapeln von Luftpostpapierbögen, die mit einer zierlichen Handschrift beschrieben waren, der Sallys vielleicht. Und tatsächlich lagen über einer mit farbigen Signalen bemalten Karte der Landestopographie, Blatt Arlesheim, mehrere Fotos: Gusti in immer neuen Posen, einmal in einem Bunkerloch ein erzürntes Wildschwein nachahmend, auf einem zweiten als Hirschbock verkleidet gegen eine Art Mörser gelehnt – es war unterbelichtet –, und dann mit hochgekrempelten Knickerbockern und nackten Beinen in der Ergolz watend, einem knietiefen Rinnsal, an dessen Ufer, weit hinten, ein flaches Gebäude mit seltsamen Luken stand, das Gusti nie aufgefallen war. Ein unter Tarnnetzen verstecktes Geschütz, an das er sich auch nicht erinnerte. Und endlich der Schädel des so versöhnlichen Leutnants auf dem Hügel oben – im Hintergrund verschwommen seine Sturmtruppen –, weiße Augen in einem schwarzen Gesicht, die verliebt durch die Blüten eines gewaltigen Margeritenstraußes schauten. Auf einem Foto – dem in der Ergolz – trug Gusti die Mütze: sah zum ersten Mal, wie er aussah. Neben all den Fotos leuchtete, in einer kleinen Schachtel auf rosa Watte gebettet, der Sicherungsbolzen.

»Was wollen Sie von Sally?« sagte Gusti und verbarg die Mütze unter seinem Pullover.

»Wir wollen sie verhaften«, brummte der Major, ohne vom Brief hochzusehen.

»Wegen Spionage«, kreischte der Sohn des Kommandanten, der auch an den Tisch getreten war und einem gehetzten Hasen glich, der einen letzten Haken zu schlagen versucht.

»Sie dürfen sich abmelden«, sagte der Major scharf, und der Sohn zuckte zusammen als habe er jetzt den Fangschuß gekriegt. Er knallte die Absätze gegeneinander, sah Gusti nochmals um Gnade bittend an und ging aus dem Zimmer. Zurück blieb eine Stille, die nur durch den rasselnden Atem des Hauptmanns unterbrochen wurde, der eingenickt war und mit geschlossenen Augen und hängendem Kinn dahockte.

»Für die Deutschen?« hauchte Gusti endlich und spürte, daß ihm das Herz aussetzte.

»Für die Franzosen.« Der Major klang nicht so als sei ihm das lieber. »Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Sie kennen den Leutnant?«

»Ja.«

Der Major griff nach den Fotos und sah sie neugierig an. Der Hauptmann wachte auf und griff nach dem Sicherungsbolzen und einer Lupe. Beide schienen viel Zeit zu haben. Gusti glotzte auf eine Zeitung, ein Extrablatt des Landschäftlers. Das grob gerasterte Foto von Panzern in einer zerwühlten Landschaft. Er beugte sich vor, um den Text lesen zu können, als ihm der Major das Foto unter die Nase schob, auf dem er im Unterholz kauerte und eine Astgabel über dem Kopf hielt.

»Was ist das?«

»Das bin ich«, sagte Gusti. »Ich bin ein Hirsch.«

»Ein Hirsch.«

Der Major sah zwischen ihm und dem Foto hin und her und machte endlich eine Notiz auf der Rückseite des Bilds. »Wir haben hier« – sein Kinn wies ins andre Zimmer hinüber, wo eine zerfetzte Matratze gegen die Wand gelehnt stand – »zwei Weingläser gefunden, beide benutzt. Waren Sie das?«

Gusti wollte den Kopf schütteln und spürte, daß er heftig nickte. Der Major nickte ebenfalls und schrieb erneut etwas auf ein Papier. Auch der Hauptmann hob den Kopf und sah ihn zum ersten Mal mit einem Blick an, der so etwas wie Interesse verriet. Ein Gefühl tiefster Freundschaft überschwemmte Gusti, und er beschrieb ihnen immer hingerissener, was er gefühlt hatte, als er neben Sally unter dem Sternenhimmel gegangen war – den riesigen Mond –, und wie sich ihre Hände zum ersten Mal berührt hatten; und wie Sally, im Nachtlicht auf einer Mauer des Rebbergs stehend, Hitler nachgeahmt hatte, so genau gleich wie dieser bellend, daß er Angst vor ihr gekriegt hatte. Daß er sie liebe, und daß Sally ganz gewiß nicht getan habe, was die beiden Offiziere zu vermuten schienen.

»Was ist das denn?« sagte der Hauptmann zum Major und gähnte. Er hielt den Bolzen in der flachen Hand. Der Major schaute das winzige Metallstück müde an.

»Das ist –«, sagte Gusti eifrig.

»Sie antworten, wenn Sie gefragt werden«, sagte der Major mit jener Stimme, die zuvor schon den Leutnant zum Verstummen gebracht hatte, und wandte sich dem Hauptmann zu. »Der Teil einer Waffe. Die Techniker sagen uns das dann schon.« Er sah Gusti so plötzlich an, daß dieser vor Schreck zusammenfuhr. »Eine letzte Frage, junger Mann. Ihre Dame: wie hieß die?«

»Sie heißt Sally.«

»Ich habe hier jede Menge Nachnamen.« Er klopfte auf seine Notizen. »Welcher ist der richtige?«

»Wenn Sie es herausfinden«, sagte Gusti, »sagen Sie es mir. Bitte.«

Der Major sah ihn angewidert an. Das Verhör war beendet. Kein Abschied. Gusti war auf der Stelle so vergessen, daß er noch lange auf die Rücken der beiden Offiziere starrte, die am Fenster standen.

Draußen war es dunkel. Der Wind wirbelte Blätter hoch. Gusti ging einige Schritte und atmete wie einer, der sich damit abgefunden hatte, in einem Wasserfaß zu ertrinken, und nun plötzlich wieder im trockenen Leben stand. Ein Schatten trat hinter einem Baum hervor. Der Sohn des Kommandanten, der inzwischen so aus den Fugen war, daß er kaum mehr sprechen konnte.

»Hat er Sie nach mir gefragt?« krächzte er.

»Ja.«

»Er hat einen Sicherungsbolzen gehabt!« Jetzt japste er so, daß Gusti ihm die Worte von den Lippen ablesen mußte. »Die habe doch nur ich gehabt! Die sind doch völlig geheim! Sie haben doch keine Ahnung, daß die für eine MP234 sind! Niemand weiß, daß ich mit einem Werkmeister von Bührle halbe-halbe mache! Das weiß ja nicht einmal der Papa! Das würde ich niemals jemandem sagen! Hat der Major Sie nach dem Bolzen gefragt?«

»Ja.«

»Und?« Er schrie beinah.

»Nichts.«