Herr Adamson - Urs Widmer - E-Book

Herr Adamson E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Es ist Freitag, der 22. Mai 2032. Einen Tag nach seinem vierundneunzigsten Geburtstag sitzt ein Mann in einem üppig blühenden Garten es ist der Paradiesgarten seiner Kindheit , neben sich einen Rekorder, und spricht seine Geschichte mit Herrn Adamson auf Band. Ein Buch über den Tod, erzählt in einer herzerwärmenden Heiterkeit."

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EPUB

Seitenzahl: 195

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Urs Widmer

Herr Adamson

Roman

Die Erstausgabe erschien

2009 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Eugenie Bandell,

›Sonne am Mittag‹, nach 1900 (Ausschnitt)

Copyright © Städel Museum – Artothek

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24053 5 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60579 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] GESTERN bin ich vierundneunzig Jahre alt geworden. Wir feierten, wie wir das immer an Geburtstagen tun. Susanne hatte einen Schokoladenkuchen gebacken, eine bäuerische Variante der Sachertorte, deren Rezept meine Mutter von ihrer Großmutter geerbt und das zwei Kriege und die Weltwirtschaftskrise überstanden hat. Noëmi, unsere Tochter, die alle Geburtstage liebt, nur ihren eigenen nicht, versuchte wie jedes Jahr, möglichst viele Kerzen in den Kuchen zu stecken. Diesmal hatte sie es geschafft, etwa fünfzig (sie kaufte das winzigkleinste Kaliber) auf den rund hundert Quadratzentimetern des Kuchens zu verteilen. Die Schokolade war kaum mehr zu sehen und wohl tatsächlich von den Kerzen verdrängt worden. Die übrigen vierundvierzig standen in konzentrischen Kreisen um den Kuchen herum. Noëmi sah zufrieden auf ihr Werk und sagte: »Hundert darfst du aber nicht werden, Papa. Mehr Kerzen schaff ich nicht.« – Es war gar nicht so einfach, sie anzuzünden. Da brannte eine nahe dem Zentrum nicht, als längst alle Kerzen der Peripherie loderten, und dort, während Noëmi mit den letzten beschäftigt war, [6] gingen die ersten schon wieder aus. Noëmi verbrannte sich jedenfalls ein paar Mal die Finger. Aber dann leuchteten endlich alle gemeinsam. Es sah wie ein nordisches Sonnenwendfeiersymbol aus, oder wie ein magisches Kultobjekt der Maya. Wir riefen Ah! und Oh!, und dann bliesen wir die Kerzen aus. Ich so ungefähr keine, Susanne zwei oder drei, Noëmi rund zwanzig, und Anni, meine auch längst erwachsene Enkelin, den Rest. Das heißt, ihre zwei Buben halfen ihr dabei, bliesen tüchtig mit aufgeblasenen Backen über das Feuer hinweg. Der Rauch, als der Brand gelöscht war, füllte das ganze Zimmer. Ich hustete, Susanne rieb sich die tränenden Augen, Noëmi riss alle Fenster auf, Anni lachte, und die beiden Buben kreischten. Wir strahlten uns alle glücklich an. Jeder kriegte ein Stück Kuchen mit einem Dutzend Kerzen darauf, deren Stearin in die Schokolade gelaufen war. Wir kauten. Ich packte die Geschenke aus: ein miniaturkleines Boot, einen Nachen, in dessen Heck ein schwarzer Fährmann mit einem Ruder in den Händen stand (von Susanne). Ein Lebkuchenherz, auf dem »Gute Reise« stand (Noëmi). Ein Brot, das wunderbar duftete, und eine Flasche Wein (Anni). Die beiden Buben – sie sind Zwillinge und haben irgendwelche Namen der modernen Art, aber wir sagen alle Bembo und Bimbo zu ihnen – hatten mir [7] eine Zeichnung gemacht, auf der ein Mann (er trug meine Attribute, einen Schnauz nämlich und wirre Haare um einen Glatzkopf herum) dem Horizont entgegenging, über dem eine rote Sonne leuchtete. Ich umarmte die drei Frauen, dem Alter nach, und die beiden Buben. Diese riefen, sich aus meiner Umarmung befreiend, wie bei jedem Besuch: »Ur-Opa, kommst du spielen?« Und ich ging, wie jedes Mal, mit ihnen spielen. Fast immer spielen wir Räuber und Gendarm – das taten wir auch diesmal –, weil Bembo und Bimbo begnadete Gendarmen mit Donnerstimmen sind, und ich bin ein guter Dieb, denn ich laufe heute noch, wie Carl Lewis damals, die hundert Meter in zehn Komma null. Minuten halt, nicht Sekunden.

ALS ich Herrn Adamson kennenlernte, war ich acht Jahre alt. Es war im Garten der Villa von Herrn Kremer. Die Villa lag unserem Haus gegenüber und war gar keine Villa – aber jeder nannte sie so –, sondern ein bescheidenes Gebäude mit zwei Stockwerken, mit einem allerdings sehr großen Garten drum herum. Das Besondere war, dass Herr Kremer nie in seinem Haus war. Nie. Kein Mensch hatte ihn jemals erblickt, und auch keinen andern Menschen. Keine Frau, keine Kinder, keine [8] Dienstboten, keinen Gärtner. Entsprechend sah der Garten aus. Eine blühende Urlandschaft, die niemand sah, weil Haus und Garten von einer dichten Buchsbaumhecke umgeben waren. Ein großes Tor, eine massive Eisenplatte, verschloss den Zugang. Eine Klingel, die stumm blieb, als ich es doch einmal wagte, draufzudrücken, bereit, wie der Blitz in meinen Garten zu verschwinden. Der der Villa Herrn Kremers war natürlich viel aufregender. Er war verbotenes Gebiet, schreckliche Strafen des Herrn Kremer konnten mich ereilen, wenn er dann doch einmal auftauchte und mich mitten in seinem Geheimnis fand. Mich und Mick, der mein Freund war und, wie ich, alle Winkel dieses verwunschenen Verstecks kannte, in dem wir uns mit der Aufmerksamkeit von Luchsen und dem Misstrauen von Gazellen bewegten, voller Angst, voller Lust, inmitten all der Herrlichkeit jederzeit auf die Katastrophe gefasst.

An diesem Tag – es war auch mein Geburtstag, der achte eben, und die Sonne schien ebenso warm, wie sie es gestern getan hat – betrat ich den Garten wie jedes Mal durch eine enge Lücke, die es zwischen der Buchsbaumhecke und der hohen Mauer gab, die das Grundstück gegen die Besitzung der weißen Dame abgrenzte. Die weiße Dame, das war eine andere Geschichte, zu ihr nur so viel: Sie [9] hatte immer (im Sinn von immer) weiße Kleider an. Weiße Schuhe, weiße Handschuhe, einen weißen Hut, und sie hatte im ganzen Haus und auch in ihrem rhododendronblühenden Garten Alarmanlagen eingebaut, Stolperdrähte, Sensoren, Sirenen, die sie täglich drei oder vier Mal auslöste. Der anbrausenden Polizei berichtete sie dann mit einer schrillen Stimme, sie habe einen Schatten gesehen, ein ganzes Heer von Schatten, die ihr alle nach dem Leben trachteten. Mit etwas Glück wird sie in dieser Geschichte, die von Herrn Adamson handelt, nicht mehr auftreten.

Im Garten wuchs das Gras bauchnabelhoch, und überall wucherten Blumen. An diesem Tag blühten – damals kannte ich die Namen der Blumen noch nicht; heute schon – rote und weiße Rosen (beim Eingangstor), Mohn, Oleander, Hibiskusse, hochstielige Margeriten (Tausende), Hortensien (eine Friedhofsblume, die hier heiter und südlich aussah), Clematis, Wiesensalbei, Lavendel, Phlox, Löwenmäulchen, Campanula, Geranien (fürchterliche Blumen, wenn sie an den Fenstern von Berner Chalets hängen; auch sie strahlten in rotem Stolz), Fuchsien, Schwarzdorn, Azaleen, Glyzinien, Thymian, Rosmarin und Geißblatt (dieses wucherte in einer fernen Gartenecke, dort, wo jenseits der Buchsbaumhecke eine Bank stand, auf der [10] zuweilen Spaziergänger rasteten). Vögel zwitscherten, Spatzen, Amseln, Meisen, Finken. Rotkehlchen. Aus dem fernen Wald rief ein Kuckuck. Eidechsen huschten. Schmetterlinge gaukelten. Ich stand entzückt, mehr als sonst, denn eigentlich war ich ein Indianer, und ein Indianer kennt keinen Schmerz. Also auch kein Jubelglück.

Ich witterte ein bisschen, nach Indianerart, in der Gegend herum, analysierte Spuren (niedergedrückte Gräser) und ging der eigenen Fährte nach, als sei sie die eines Fremden. Ohne Mick war es nicht ganz so spannend, ich habe vergessen, wo Mick an diesem Tag war. In der Schule wohl, er war zwei Jahre älter als ich (stärker auch; aber ich war der Fixere) und hatte auch an meinen freien Nachmittagen Unterricht. Auch musste er oft nachsitzen, weil er alle Hausaufgaben zu Hause vergessen oder gar nicht gemacht hatte. Ich köpfte also mit einem Stecken Margeriten und schlich auf den Fingerkuppen und mit halbgeschlossenen Lidern, um nicht am Glanz meiner Augen erkannt zu werden, zur Gartenecke hin, weil von dort inzwischen die Stimmen von zwei oder drei Frauen herdröhnten. Unendlich behutsam schob ich mich durchs Gras, bis ich unter der Buchsbaumhecke lag, schier ohne zu atmen, direkt hinter der Bank. Ich hätte die Rückenlehne berühren können. Die drei Frauen – [11] es waren drei –, die ich nur von hinten sah, waren alte Damen, wohl aus dem Altersheim am unteren Ende der Straße entlaufen. Sie sprachen mit lauten hohen Stimmen von ihren Problemen mit der Blase, dem Darm und dem Hirn. Es war wie beim Pokern, wenn die eine ein full house hatte (einen faustgroßen Stein, der den Ausgang der Niere verstopfte und die Dame mit unnennbaren Schmerzen niederstreckte), hatte die andere doch noch einen royal flush (Darmkrebs, inoperabel) und gewann die Partie.

Ich zog mich ebenso behutsam wie zuvor rückwärts zurück, vor mir jeden Grashalm einzeln wieder aufrichtend, auf dass niemand, auch nicht der listigste Späher vom Stamme der Kiowas, etwas Ungewöhnliches bemerken konnte. Nach ein paar Metern wurde mir das zu langweilig, ich stand auf und ging zur Bank, die an der Hauswand stand. Ich setzte mich, sang Horch, was kommt von draußen rein und starrte in den Himmel hinauf, in dem zwei Raubvögel ihre Kreise drehten.

Herr Adamson stand so jäh vor mir, als sei er vom Himmel gefallen. Ich erschrak fürchterlich. Ich war sicher, dass er Herr Kremer war, der unsichtbare Herr über Haus und Garten, und dass ich nun die Feuer aller Höllen erleben würde. Ich saß wie mit Araldit festgeklebt auf der Bank.

[12] »Guten Tag«, sagte ich schließlich.

»Ich dachte schon, du bist doch ein anderer«, sagte er und lachte. Er sprach hochdeutsch, nicht die Sprache von hier, und das erst noch mit einer seltsam fremden Melodie. »Ich dachte, du siehst mich nicht. Ich gratuliere dir zum Geburtstag.«

»Woher wissen Sie, dass ich Geburtstag habe?«

»Na, ich habe heute etwas Ähnliches.« Er lachte wieder. Sein Gelächter klang staubtrocken, wie ein Husten fast. Hier lachte niemand so. In der Wüste vielleicht, in der Hitze eines ausbrechenden Vulkans.

»Sind Sie Herr Kremer?«, sagte ich.

»Adamson«, sagte er und machte eine kleine Verbeugung. »Herr Adamson.« Es war, als sänge er seinen Namen.

Ich spürte, dass mich meine Schreckensstarre ein bisschen verließ. Ich sagte nichts mehr, und auch Herr Adamson sah sich stumm im Garten um. »Toll hier«, murmelte er. »Bisschen hell.« Er legte schützend seine Hand über die Augen; aber die Sonne blendete ihn weiterhin. Trotzdem schaute er hierhin, dorthin, zum Himmel hoch. »Es wird Zeit, dass wir uns kennenlernen. – Was für ein schöner Garten!« Tatsächlich. Jetzt, wo ich dem Blick Herrn Adamsons folgte, sah der Garten plötzlich so aus, als würde sich ein Gärtner mit einem sehr [13] grünen Daumen um ihn kümmern. All die Schönheit konnte nicht nur eine Laune der Natur sein. Vielleicht kam Herr Kremer nachts, wenn ich schlief, und fuhrwerkte heimlich in seinem Paradies herum.

Herr Adamson – falls er nicht doch Herr Kremer war; ich musste auf der Hut bleiben – war alt, uralt, um die neunzig wohl, klein, mager und hatte einen sehr weißen Kopf mit einer kantigen Nase und einer noch kantigeren Oberlippe, die wie ein Vordach über der Unterlippe und dem Kinn hing. Er war völlig kahl, wenn ich von drei einzelnen Haaren absah, die hintereinander aufgereiht leicht gekrümmt in die Höhe ragten. Sie sahen wie Antennen aus, oder wie drei gelbe Gräser. Er trug eine graue Strickjacke, die nicht zur Jahreszeit passte, irgendwie farblose Hosen und braune Socken. Keine Schuhe.

»Du bist also ein Indianer«, sagte er, ernst diesmal, und wies auf meine Haare. Tatsächlich hatte ich, wie jedes Mal, wenn ich mich in den Garten der Villa Herrn Kremers zwängte, meine Indianerfeder in die Haare gesteckt. Ich hatte sie im Wald gefunden, keine Ahnung, welchem Vogel sie gehörte.

»Vom Stamme der Navajos.« Ich sah Herrn Adamson stolz an. »Ich bin ein Häuptling. [14] Rasender Hirsch. Und mein Freund Mick ist der andere Häuptling. Er heißt Wilder Sturm.«

Herr Adamson ging zu den Rosen hinüber und roch an ihnen. Es war, als ob er schwebte, auch war seine Fußspur kaum zu sehen, da und dort ein niedergedrückter Halm, eine zerquetschte Margerite, aber selbst da konnte ich mich täuschen. Vielleicht war ich das gewesen.

»Wunderbar!«, rief er vom Tor her. »Ob die wohl duftten?« Er steckte seine Nase in eine Blüte und lachte. »Tja«, sagte er. Er kam fröhlich pfeifend zurück und setzte sich, in einigem Abstand, zu mir auf die Bank.

»Was ist eigentlich aus dem Schuhmacher Kimmich geworden?«, sagte er.

»Ein Schuhmacher Kimmich? Hier gibt es keinen Schuhmacher Kimmich. Unserer hat seinen Laden in der Tellstraße und heißt Brzldrzk oder Orzlhmsk. Irgendetwas nicht von hier. Er hat es, sagt mein Vater, im Krieg schwer gehabt und ist jetzt ganz allein in seinem Laden. Keine Frau, keine Kinder, nur Schuhe. Alle tot, dort, wo er herkommt.«

»Im Krieg?«, sagte Herr Adamson. »Was für einem Krieg?«

»Im Krieg eben. War doch die längste Zeit Krieg. Ich habe sogar gesehen, vom Dach von [15] Micks Haus aus, wie die Amis ein deutsches Flugzeug abgeschossen haben. Oder die Deutschen eins von den Amis. Es war weit weg, aber wir sahen seine Rauchfahne. Es stürzte ab wie ein Fels. Und einmal schlug ein Granatsplitter direkt neben dem Kopf von Micks Vater in die Hauswand. Er sagte zu Mick, die dürfen hier gar nicht schießen, es ist gegen jedes Recht der Völker. Aber sie tun es trotzdem. Er gleicht Ihnen übrigens ein bisschen, Micks Vater. Auch so eine Vordachoberlippe. Nur, er ist jünger und hat immer eine Pfeife im Mund.«

»Ich habe früher auch geraucht«, sagte Herr Adamson und lächelte. »Zigarren. Havannas. Sie kamen aus Kuba. – Eigentlich ganz normal, das mit Kimmich. Ich wohnte damals auch in der Tellstraße. Er hat den Laden wohl aufgegeben. Er war nicht so viel jünger als ich.«

»Die Tellstraße ist bombardiert worden. Wissen Sie das auch nicht?«

»Da war ich schon«, sagte Herr Adamson.

»Ich hörte das Krachen hier im Garten und bin mit dem Fahrrad meiner Mama hinuntergefahren. Toll. Alles rauchte. Mein Vater hat sich wahnsinnig aufgeregt und hätte mir, als ich endlich heimkam, beinah eine Ohrfeige gegeben. Er hat mich dann so umarmt, dass ich fast erstickt bin. – War das Ihr Haus, das kaputt war?«

[16] »Weiß ich nicht«, sagte Herr Adamson. »Sagte ich doch schon.«

»Na, das Haus ganz vorn, fast beim Bahnhof. Ich sah in die Zimmer hinein. In einem hing noch ein Stück Fußboden. Darauf stand eine Lampe. Es war das einzige Bombardement in der Stadt. – In Zürich haben sie auch ein paar Bomben hinuntergeworfen, und in Schaffhausen. Das war aber zu weit für mich, mit dem Fahrrad.«

»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, sagte Herr Adamson.

»Natürlich!«, rief ich. »Ich habe ein Geheimnis mit Mick, ich habe ihm bei der Seele des Manitu aller Navajos geschworen, es nie zu verraten, keinem, und das Geheimnis ist schrecklich. Mick war im Margaretenpark, und da stand ein Mann hinter einem Baum, mit einem ganz roten Schwanz, so groß, riesig und blutig, sagte Mick, und er ist davongerannt, und das ist jetzt unser Geheimnis. Als ich es der Mutter erzählte, sagte sie, ich darf nie nie nie mit einem Mann sprechen, den ich nicht kenne. Sie sehen also, dass ich ein Geheimnis bewahren kann.«

»Hm«, sagte Herr Adamson und sah mich nachdenklich an. »Unser Geheimnis ist, du darfst deiner Mama nicht sagen, dass du mich getroffen hast. Dem Papa auch nicht. Und auch nicht Mick. Gut so?«

[17] Ich nickte. Ich wollte mit meiner Faust gegen seine Brust schlagen, so wie Mick und ich das bei wichtigen Beschlüssen taten, aber er trat einen Schritt zurück.

»Wir sehen uns wieder«, sagte er. »Ist wirklich schön, der Garten hier. – Schau mal dort. Ein Vogel mit einem goldenen Gefieder.«

»Wo?«

»Dort, auf der Hecke.«

Ich schaute hin. Da war kein goldener Vogel, nicht einmal ein gewöhnlicher. Ich drehte mich nach Herrn Adamson um. Aber der war weg. Spurlos verschwunden. Ich schaute links, ich schaute rechts, ich schaute hinter mich und in den Himmel. Nichts. Also stand ich auf und trollte mich nach Hause.

ZU Mick sagte ich Mick, und er sagte Mick zu mir. Er war ich, und ich war er. Am nächsten Morgen, früh, so früh, wie vor Energie strotzende Buben das mögen, rannte ich über den Acker zwischen meinem und seinem Haus, öffnete, ohne zu klopfen, die Haus- und die Wohnungstür und stürmte in die Küche. Es muss ein Sonntag gewesen sein, bei mir waren alle zu Hause – meine Mama, mein Papa und auch die große Schwester und die kleine –, und auch [18] in Micks Küche waren Micks Mutter und sein Vater versammelt. Etwas, was durchaus Seltenheitswert hatte. Mick saß am Tisch und hielt eine riesenhafte Tasse an seine Lippen. »Ich komme, ich muss nur noch meine Milch fertig trinken.« Seine Haare sträubten sich vor Widerwillen, er konnte Milch nicht ausstehen. Trank er sie schnell, wurde ihm schlecht, und wenn er sie langsam schlürfte, war alles noch schlimmer, weil sich dann eine feine Haut bildete, die seine Übelkeit ins Unendliche steigerte. Deshalb stand seine Mutter neben ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie war überzeugt, dass Milch gesund und dass Mick imstande sei – da hatte sie völlig recht –, den Inhalt der Tasse in den Ausguss zu schütten, wenn sie ihren Blick auch nur für eine Sekunde abwandte.

Ich sagte: »Ich warte!«, und setzte mich ihm gegenüber. Mick hob die Tasse erneut – sein Gesicht verschwand hinter dem Riesentopf, mit dem man einen Elefanten hätte tränken können –, aber seine Trinkgeräusche klangen eher so, als fülle er die Milch aus seinem Bauch in die Tasse zurück. Die Mutter schaute zweifelnd, und der Vater stopfte sich, des Dramas, das sich da vor seinen Augen abspielte, nicht im Geringsten bewusst, eine neue Pfeife.

Mick hieß Hanspeter, alle außer mir sagten [19] Hanspeter zu ihm. So wie ich zu Hause oder in der Schule mit meinem Taufnamen genannt wurde. Micks Mutter trug ein blaugeflammtes Kleid voller Bänder aus altrosa Seide, die an ihr wie Tang herunterhingen, trällerte wie eigentlich immer Bruchstücke einer unerkennbaren Melodie vor sich hin und unterbrach sich nur, um »Bravo!« oder »Na also!« zu Mick zu sagen. Dieser machte immer noch dieselben Geräusche. Micks Mutter sang gern, und sie schminkte sich auch, wenn sie zu Hause war. Micks Vater, der nun »Dann will ich mal wieder!« sagte, an der Pfeife saugte, den Rauch ausstieß, mir zunickte und in sein Arbeitszimmer zurückging, war ein Professor, und zwar einer für Käfer. Ein Coleopterologe, würde ich heute sagen. Sein Arbeitszimmer hing voller Kästen, in denen Käfer aufgespießt waren. Kleine, große, ein paar riesige. Grünschillernde, braune, schwarze, gepunktete, goldfarbene. Micks Vater saß den ganzen Tag an einem gewaltigen Tisch voller Mikroskope, Schalen, Flaschen, Käfer, Füllfedern, beschriebenen und unbeschriebenen Papieren, Lupen. Eine Blechbüchse voller Buntstifte in allen Farben. Ein großer Korb, in dem mindestens ein Dutzend weitere Pfeifen lagen. Einmal in der Woche ging er in die Universität und brachte seinen Studenten den Unterschied zwischen den carabidae, den anobiidae und [20] den leptinotarsa decemlineata bei. Die Carabidae liefen, die Anobiidae klopften, und die Leptinotarsa decemlineata hockten auf den Kartoffelblättern und fraßen sie auf. Micks Vater sang nie, spielte aber von frühmorgens bis spätabends dröhnend laut Schallplatten. Monteverdi, Bix Beiderbecke, Gesualdo, Beethoven, Buddy Bertinat and his Orchestra, Dvorˇák, alles querbeet. Er pfiff ohne jeden Kunstanspruch und in die Analyse eines Hirschkäferbeins vertieft die Melodien mit. Jetzt lief gerade etwas sehr Dröhnendes. Die Mutter trällerte, ohne sich um die Paukenschläge aus dem Nebenzimmer zu kümmern.

(Meine Eltern, dies nur in Klammern, waren normal. Meine Mama war so breit wie hoch, eine Kugel, warm, wie eine gute Milch duftend. Zwischen ihren Brüsten konnte mein ganzer Kopf verschwinden. Sie lachte gern und schwatzte viel. Mein Papa war ein schweigsamer Mann und ernster als die Mama. Er war schmächtig, dürr fast – für mich dennoch ein Riese – und arbeitete im Elektrizitätswerk der Stadt. Er sorgte in irgendeiner Form dafür, dass das Licht nicht ausging, wie genau, weiß ich bis heute nicht. Ob er Sicherungen ein- und ausschraubte, oder ob er, in höherer Position, an einem Schaltpult die Starkstromnetze neu verhängte, wenn ein Blackout drohte, weil am Gotthard oben [21] wieder einmal ein Baum auf die Transithochspannungsleitung gestürzt war. Er trug jedenfalls immer einen Blaumann.

Wenn er abends nach Hause kam, öffnete er eine Bierflasche – Handkantenschlag an den Bügel, er traf immer beim ersten Mal – und trank einen tiefen Schluck. Er seufzte erlöst. Dann reichte er mir die Flasche. »Ein Schluck«, sagte er. Ich trank einen Schluck. Ich mochte Bier nicht besonders, aber es war schön, von Mann zu Mann den Feierabend zu feiern. – Dann waren da noch meine große Schwester und meine kleine. Die große Schwester glich der Mutter, war dick und lachte tagein, tagaus. Die kleine Schwester war klein, zu klein, um eine Squaw vom Stamme der Navajos zu sein, zu klein für eigentlich alles.)

»Wir gehen in den Garten der Villa von Herrn Kremer«, sagte Mick, als er die Morgenmilch tatsächlich getrunken hatte. »Ich hole meine Feder.«

»Heute nicht«, sagte ich und spürte, dass mein Herz schneller schlug. »Ich möchte auf den Neubau.«

»Warum?«

»Oder in die Kiesgrube. Oder beides.«

Wir gingen quer über die Wiesen zu einem Gebäude hinüber – es stand so weit weg, dass wir es vorerst nur als einen fernen Fleck wahrnahmen –, [22] das vor kurzen Wochen noch nicht dort gestanden hatte und noch längst nicht fertig gebaut war. Das war eine Villa, das würde dann später eine richtige Villa sein! Die Mauern standen zwar, waren aber noch unverputzt. Rote Backsteine mit runden Luftlöchern. Das Dach war noch nicht gedeckt. Die Dachbalken ragten schräg in den Himmel, und da, wo sie sich trafen, lag quer das hauslange Zinnenholz. Darauf einer dieser Maibäume, eine mit farbigen Streifen behangene Tanne, die mich an Micks Mutter erinnerte. Die Fenster ohne Gläser. Gerüste rings ums Haus, Bauschutt, fernab ein Klohüttchen. Eine Holzbaracke für die Arbeiter. Aber heute war ja Sonntag, kein Arbeiter war da, und auch ein Besuch des Architekten war nicht zu erwarten. Den Architekten hatten wir noch nie gesehen, wie Herrn Kremer, und wie dieser war er für uns der größte denkbare Strafschrecken.

Wir rannten über die Querbalken der Fußböden, auf denen die Parkettbretter noch nicht verlegt waren. Besonders im ersten Stock war ein schneller Lauf durchs Zimmer eine Mutprobe, die Lücken zwischen den Tragebalken waren so breit, dass ich mit weiten Sprüngen über den schwarz gähnenden Abgrund schnellen musste. Die Landung war jedes Mal ein Ringen ums Gleichgewicht, am besten war es, gar nicht innezuhalten und gleich zum nächsten [23] Balken weiterzuhüpfen. Und so weiter, bis zur gegenüberliegenden Hausmauer. Tatsächlich war einmal Richi Wanner aus dem ersten Stock abgestürzt und, ohne die Balken des zukünftigen Fußbodens des Parterres zu berühren, in den Keller gesaust, wo er auf einem Sandhaufen landete. Er kraxelte, als sei nichts geschehen, und mit einem schiefen Lächeln wieder ans Tageslicht. Wir aber, Mick und ich, sprangen mit wunderbarer Sicherheit von Balken zu Balken und lachten uns an, wenn wir an der gegenüberliegenden Mauer standen. Dann füllten wir im Keller Zement in einen Kübel ab. Das war Diebstahl, und der Thrill des Verbotenen durchschauerte mich, während ich neben Mick stand und zuschaute, wie er Schaufel um Schaufel in den Eimer tat. (Er wollte einen Fischweiher bauen.) Noch später rannten wir die paar hundert Meter zur Kiesgrube hinüber, die, erst im letzten Augenblick zu sehen und ohne jeden Schutzzaun, hinter einem Wall aus altem Gras in der Tiefe verschwand. Eine sehr steile, nahezu lotrechte Wand aus weißem Kies, ein zwanzig oder dreißig Meter tiefer Abgrund. Unten, weit unten lag der Grubenboden, voller Haufen aus Kies von verschiedenem Kaliber. Grob, mittel, fein. Um sie herum die Spuren der Lastautos, die von der andern Seite her kommend in die Arena einfahren konnten.

[24] Mick sprang als Erster in die Wand. Kies floss mit ihm, und er glitt, sich mit den Armen im Gleichgewicht haltend, mit der Anmut eines Snowboarders von heute in die Tiefe. Schon stand er unten und winkte.