Stille Post - Urs Widmer - E-Book

Stille Post E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Ein Kinderspiel hat dieser Kleinen Prosa ihren Titel gegeben, fast ein Programm. Schöpfungsmythen, Menschheitsängste und -träume, Zivilisationskritik, komische Familienlegenden, mythische und reale Reiseziele in unterschiedlichster Darbietung: als Rollenprosa, Traumbericht, Zwiegespräch, Bilderbuch, poème en prose.

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Urs Widmer

Stille Post

Kleine Prosa

Diogenes

Reise nach Istanbul

Ich weiß nicht mehr, wann ich dies erlebte: kürzlich jedenfalls, gestern vielleicht, jeden Tag. Ich fuhr in einem Zug, da bin ich mir sicher, in einem Schlafwagenabteil, zusammen mit meiner Frau und meinem Kind, das ein fünfjähriges Mädchen ist. Es war der Orientexpress, aber der Orient war noch fern. Kann sein, dass Istanbul das Ziel war, oder doch eher Bagdad oder Bombay, das wir allerdings über die Seidenstraße schneller erreicht hätten. Wir waren auch noch längst nicht so weit, in Zagreb allenfalls, oder auch erst in Triest. Der Balkan mit seinen herrlichen Gefahren hatte noch kaum begonnen. Der Zug hielt, fahrplangerecht. Wir hatten auch kaum Verspätung. Und weil der Bahnhof eine Grenzstation war, offenkundig, hatten wir einen großen Aufenthalt, einen jener Aufenthalte der alten Art, wie es sie heute, im Zeitalter der Intercitys, nicht mehr gibt. Obwohl die Geschichte gestern geschehen ist; allenfalls seit jeher.

Ich kletterte jedenfalls auf den Bahnsteig hinab, ohne meiner Frau und dem Kind etwas zu sagen, denn ich wollte nur eine Zeitung oder Zigaretten kaufen. Ich bin Nichtraucher, seit immer schon; aber mein Vater rauchte wie ein Schlot, und in seinem Namen tue ich bis heute Unbedachtes. Ich ging bis zum Ende des Bahnsteigs – herumhastende Reisende, die ihr Coupé suchten; nach verbranntem Ol riechende Wolken zischten zwischen den Rädern der Lokomotive hervor – und öffnete eine Tür, hinter der ich die Bahnhofshalle und den Kiosk vermutete. Ich trat aber ins Freie hinaus. Die Tür schloss sich hinter mir; eine Tür ohne Griff. Ich wollte auch nicht zurück, ich hatte ja noch mehr als eine Stunde, zudem packte mich auch eine seltsame Erregung, Vorfreude vielleicht, oder Angst. Ich ging eine Straße hinunter, unter Platanen oder Kastanienbäumen, zwischen flanierenden Belgiern?, Belgradern? – waren wir doch schon in den Balkan eingedrungen? – bis zu einer fernen Straßenecke, an der sich tatsächlich ein Kiosk befand. Allerdings führte er nur Journale, die in einer für mich nicht lesbaren Schrift geschrieben waren, Kyrillisch nicht, auch nicht Hebräisch oder Arabisch. Aramäisch vielleicht, oder in einem uralten Griechisch, wie es heute nur noch die schwarzen Popen vom Berg Athos gebrauchen. Ich kaufte nichts, auch weil ich kein Geld bei mir hatte und weil im dunklen Inneren der runden Kioskhütte kein Mensch war, niemand vielleicht sogar oder ein Tier nur, das mit glühenden Augen nach draußen sah, stumm, bewegungslos, bereit, seine Waren vor räuberischen Händen zu bewahren. Ich wollte das nicht erproben und ging weiter, nicht rasch, nicht fluchtartig, denn ich suchte zu vermeiden, dass man in mir den Fremden erkannte. Den, der nichts von dem bösen Monster wusste, das ja vielleicht doch nur die Frau des Kioskunternehmers war, der im nahen Kafeneion just seinen Morgenkaffee trank.

Ich beschloss, zum Bahnhof zurückzukehren. Die Zeit wurde zwar nicht knapp, verrann aber doch. Ich ging um die Hausecke zurück. Da war aber nicht mehr die schnurgerade Platanenallee, an deren Ende die Bahnstation hätte leuchten müssen, sondern ein schmaler Weg, der steil nach unten in ein schwarzes Tal hinabführte. Auch fröstelte ich plötzlich. Da wollte ich nicht hinab, gewiss nicht; auch packte mich nun so etwas wie Angst. Nicht sehr, nicht überschwemmend, aber immerhin. Ich drehte mich um und ging eilends zur Straßenecke zurück. Da war nun auch keine Stadtstraße mehr, da war eine Steige, eine Steintreppe, die steil, voll nassem Laub, in die Tiefe führte, aus der diesmal allerdings hoffnungmachende Häuser im Tal zu sehen waren, unter einem Wolkenschleier, so wie Stuttgart von oben ein bisschen. Ich wollte nicht nach Stuttgart, ich wollte zum Bahnhof, in den Zug, zu meinen Lieben, die nun bald losfahren mussten und verzweifelten, weil ihr Mann, ihr Vater nicht zurückgekommen war. Oder sprangen sie im letzten Augenblick, als der Zug schon anruckte, auf den Bahnsteig hinunter, ohne Gepäck, ohne das Stoffschweinchen, das der Lebensbewahrer meiner kleinen Tochter war? Oder, noch schlimmer, war meine Frau schon ausgestiegen, und der Zug fuhr so jäh los, dass unser kleines Mädchen entsetzt oben in der offenen Waggontür stand, die vom Fahrtwind zugeworfen wurde und unser Kleinod einschloss, das nun hilflos verloren den Schlössern der Karpaten entgegenrollte?

Ich gelangte auch nach Stuttgart, falls das Stuttgart war; eher doch nicht. Denn ich kannte gleich das erste Gebäude, zu dem ich kam. Das war meine Schule, kein Zweifel. Nur, da war ich auch zu spät, deutlich zu spät, so deutlich, dass ich nicht einfach schief lächelnd ins Klassenzimmer treten und mich so unauffällig wie’s eben ging hinter mein Pult verdrücken konnte. Sechzig Jahre sind doch eine lange Zeit, da werden die geduldigsten Lehrer unwirsch. Ich wusste zudem ja auch nicht, in welche Klasse ich musste, in die 5a oder die 5c. Ja, schlimmer noch, ich war der Lehrer, der das nicht wusste und also rastlos durch die Korridore irrte, wie durch den Bahnhof, ohne die Tür zu finden, hinter der ich auf den Bahnsteig und in den eben losfahrenden Zug hätte treten können, meine Frau und mein Kind in die Arme schließend und sie mit Küssen übersäend.

Also verließ ich die Schule wieder durchs Haupttor, ohne dass sich einer der vielen Lehrer, die wie Säbeltiger durch die Korridore strichen, um mich gekümmert hätte, mit Ausnahme eines Einzigen vielleicht, der mich mit zusammengekniffenen Augen verfolgte, knurrte und sich die Lippen leckte. Dann aber doch nicht zum Todesbiss in mein Genick ansetzte. Er steckte sich eine Zigarette an. Meine Rückenwirbel knallten und knackten, was sie heute noch tun, es ist ein Tick, ja, ein entsetzlicher, lästiger Tick, dass ich seit Menschengedenken versuchen muss, mit einem einzigen endgültigen Ruck alles Übel in mir und in der Welt wieder ins Lot zu bringen.

Ich ging also kopfruckelnd wie ein Truthahn über den Schulhof, der gegenüber einem Bahnhof war, einem anderen als dem, den ich suchte, dem von Stuttgart eben, oder wo immer ich jetzt war. Man konnte diese Schule überhaupt nur verlassen, wenn man diesen Bahnhof betrat, der ein ebenso widerwärtiges Gebäude wie die Schule war. Imponierrenaissance. – Es war inzwischen dunkel geworden. Ein paar Lichter brannten, traurig. Ich sah fern einen Zug stehen, einen stummelkurzen Triebwagen, der wie tot dastand, abfahrbereit dennoch. Ich stieg ein. Durchs Zugfenster sah der Bahnhof nun doch eher wie einer aus dem Wilden Westen aus. Ein verwittertes Holzhaus mit Schwingtüren.

Der Zug fuhr auch sogleich los. Er hatte eine merkwürdige Art, das zu tun – ich sah ja, von seinem Ende, mühelos bis zu seinem Anfang, da, wo hinter einer Glaswand der Lokführer sitzen musste –, er setzte sich nämlich mit seinem vorderen Teil zuerst in Bewegung, einer Ziehharmonika ähnlich, wurde länger und länger und nahm schnell Fahrt auf, während ich, im hintersten Teil, immer noch im Bahnhof stand. Die paar Passagiere, die vor mir saßen, entfernten sich in Windeseile von mir. Dann ruckte auch ich los, wie von einem Katapult geschleudert. Draußen raste eine schwarze Landschaft vorbei. Einzelne Lichter fegten vorüber, einmal eine Esso-Tankstelle, als ob sie flöge. Keine Ahnung, wo der Zug hinfuhr, auch war kein Schaffner zu sehen, den ich hätte fragen können. Nach Budapest fuhr dieser Zug sicher nicht, nach Nis, nach Nischni-Novgorod. Eher nach Dünkelkirchen oder Rastatt. Er war aber sehr schnell, unirdisch schnell, und nicht nur in mir machte sich bald eine Unruhe breit. Auch meine Mitgefangenen standen jetzt und riefen erregt etwas, was ich nicht verstand, vielleicht, weil ich weder des Kaukasischen noch des Dänischen mächtig bin. Sie kamen (Einzelne zuerst, hinter ihnen ein ganzer Pulk, Koffer und Taschen schleppend) durch den Gang zwischen den Sitzen mir entgegen. Sie wollten in den hinteren Teil des Zugs, da, wo ich war; als ob sie da sicherer wären. Ich, in einem Entschluss, der wie ein Befehl war, ging ihnen entgegen, kämpfte mich durch sie hindurch, raufend, schnaufend. Weil der Gang zwischen den Sitzbänken eng war, sprangen einzelne Passagiere jetzt auch über die Rückenlehnen, wie Hürdenläufer an mir vorbeischnellend. – Nach einer Weile waren alle an mir vorüber, und ich hatte freie Bahn bis zur Zugspitze, bis zur Trennscheibe aus dunklem Sichtblendenglas, hinter der ich dennoch, als ich jetzt mein Gesicht an sie presste, den Fahrer zu erkennen glaubte, eine wild gestikulierende weiße Gestalt, so weiß, wie eben ein Schatten hinter getöntem Glas sein kann, den ich nur von hinten sah. Der Fahrer musste ja die Gleise vor sich beobachten, die Signallichter, die an uns vorbeisprühten. Ich konnte durch das Glas nicht sehen, ob rot, ob grün. Ich brüllte ins Glas hinein, he!, Sie!, so lange, bis ich – ich holte gerade Atem – hörte, dass auch der Fahrer schrie. Oder sang er, ein Untergangsgeheul? Ich hämmerte gegen die Scheibe, und tatsächlich drehte er sich um – was für ein Gesicht! –, schien mich auch irgendwie wahrzunehmen und presste sein Gesicht von der anderen Seite her ans Glas, so wie ich es von dieser hier tat. Wir starrten uns in die Augen, die keinen Zentimeter voneinander entfernt waren. Wenn nur das Glas nicht gewesen wäre! War auch er eingeschlossen? Sah auch er keine Möglichkeit, ins Freie zu gelangen? Aufmachen!, brüllte ich, und obwohl ich selten den gewünschten Erfolg habe, wenn ich brülle – schon gar nicht auf Reisen –, tat sich die Tür auf, und ich schlüpfte in den Führerstand. Der war so unbeleuchtet, wie Führerstände das immer sind. Nicht einmal kleine Leuchtknöpfe am Armaturenbrett, da war gar kein Armaturenbrett, da war überhaupt nichts, um den Zug zu steuern, keine Kurbel, keine Druckluftbremse, kein Totmannpedal. Wir saßen also Seite an Seite auf einer schmalen Lederbank, die nicht für zwei gebaut worden war. Ich sah meinen Kollegen nur, wenn ihn die draußen vorbeifegenden Lichter der Signale sekundenschnell erhellten. Grün, rot, meistens rot. Er sah mich nicht an, er sah mit weit aufgerissenen Augen nach vorn. Da vorn war nichts. Da vorn war nicht vorn, das begriff ich jäh, als ich die unter uns hinwegfegenden Schwellen bemerkte, da war hinten. Wir waren am Ende des Zugs und fuhren in die Gegenrichtung. Die Signallichter stürzten von uns weg, nicht auf uns zu. Die anderen Passagiere hatten sich geirrt, als sie meinten, sich retten zu können, wenn sie dem Zugende entgegeneilten. Sie waren an seine Spitze gerannt, direkt in ihr Unglück, das den Zug nun auch ereilte und der erwartete Gegenzug war. Die Propheten behielten recht. Jetzt!, kreischte der Lokführer, der in Wirklichkeit der Bremser war, der Einzige im ganzen Zug. Jetzt! In der Tat entgleiste unser Zug, kaum war sein Ruf verhallt, mit einer so ungeheuren Wucht, dass das Zugende steil in die Luft geschleudert wurde und auf irgendwelche Felder krachte, über die ich, als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, ziellos zu kriechen begann.

Totenstille. Schwarze Nacht. Ein fernes Getrümmer, aus dem Flammen schlugen. Auch der Gegenzug war nicht verschont geblieben. Er glich, obwohl auch von ihm nicht viel mehr als verbogene Metallteile übriggeblieben waren, dem Orientexpress. Ich hastete an den Trümmern entlang, die Nase mit einer Hand des beißenden Rauchs wegen zuhaltend, und starrte entsetzt auf Koffer, Schirme, Hüte. Kannte ich diese Schuhe, dieses abgerissene Bein? – Ich war der Einzige im Zug, der am Leben geblieben war. Meinem Freund hatte es nicht geholfen, sich ans Zugende zu retten. Er lag zerschmettert auf dem Rücken, den Mund zu einem Grinsen oder Schrei verzerrt. Ich schloss ihm die Augen, und dann auch den Mund. – Dann nahm ich mein Bündel, das die Katastrophe unversehrt überstanden hatte. Ein paar Brandspuren allenfalls, Blutspritzer. Wieso übrigens hatte ich jetzt einen Wegsack, wie ihn die wandernden Handwerksburschen haben? Egal, er gehörte mir, und ich machte mich über die weite Ebene davon, an deren Horizont die Lichter eines Weilers leuchteten. Halbwegs wandte ich mich nochmals um und sah die Flammen, die blau aus den Trümmern züngelten.

Ich weiß nicht, wie es kam, ich tat kaum vier oder fünf Schritte – mit Siebenmeilenstiefeln, schien es mir – und stand schon vor der Tür des Hauses, das mir von weit her zugeblinkt hatte, einer Villa mit Zinnen und Giebeln, deren Fenster aufflackerten, als würden Fackeln an ihnen vorbeigetragen, und auf deren Dach Tiere hockten, die, als hätten sie statt Augen Scheinwerfer, auf mich niederspähten. Über ihnen ein voller Mond. – Ich stieß die Tür auf und war sogleich in einem Getümmel von Menschen, die überall standen und saßen und gingen und schwatzten und lachten. Eine Party. Ich kannte den einen oder anderen Gast, viele Gäste eigentlich, auch wenn mir jetzt die Namen und Vornamen nicht einfielen. Allerdings randalierten auch schwarze Gestalten herum, die mir unbekannt waren. Alle riefen sich über alle Köpfe hinweg Scherzworte oder Beschimpfungen zu, tanzten mit heftigen Verrenkungen, tranken aus der Flasche, küssten sich. Gab es Musik? Ein dicker Mann kam mit einer dampfenden Schüssel Spaghetti aus der Küche – dort hinten musste die Küche sein –, stolperte und schüttete die ganze Pasta über einen niederen Tisch. Begeistertes Kreischen, Applaus. Der Mann versuchte, seinen Sturz aufzuhalten, und stützte sich mit beiden Händen in den Spaghetti auf. Er brüllte vor Schmerz. Seine Hände waren rot – die Spaghetti waren alla bolognese –, blieben es auch, nachdem er sie an allerlei Gästen und Vorhängen abzuwischen versucht hatte. Überhaupt begann das Fest zu entgleisen oder war längst entgleist, denn die finsteren Gestalten kippten inzwischen alle Bücher von den Regalen und rissen sie in Stücke. Es waren meine Bücher, wir waren in meiner Wohnung! Auch hatte sich einer der punkigen Freaks über eine Freundin von mir hergemacht, die ich als braves Mädchen kannte und die sich, den Oberkörper vorgebeugt, mit beiden Händen auf der Sofalehne abstützte. Er hatte ihren Rock hochgeschoben, seine Hosen lagen auf seinen Stiefeln, eine gräuliche Unterhose war quer über die Knie gespannt, und er tobte gegen die Hinterbacken der Freundin, die schrie und kicherte und stöhnte. Er hatte eine Zigarette im Mund, die auf und nieder wippte.

Ich floh in ein Zimmer, in dem niemand war. Oder doch: Es dauerte nämlich einige Minuten, bis ich eine Frau sah, die sich am Boden wand und das gewiss schon bei meinem Eintreten getan hatte. Sie hielt ein Kissen gegen ihr Gesicht gepresst, das brannte, und sie, die doch auf diese Weise keine Luft kriegen konnte, schlug mit den Beinen gegen die Möbel, als könne sie sich so befreien. Gleichzeitig aber ließ sie das Kissen nicht los. Ich half ihr nicht, ich war wie versteinert. – Auf einem Schragen lag mein Vater, der gestorben war. Er war auch hier tot, so wie ich ihn einst gesehen hatte. Papa!, sagte ich zu dem Kadaver und hielt mir mit beiden Händen Mund und Augen zu, denn wie kam ich dazu, meinen Vater einen Kadaver zu nennen. – Jetzt stand auch meine Mutter neben mir. Das brennende Kissen hatte ihr das Gesicht verwüstet, aber ich erkannte sie trotzdem auf der Stelle. Das Kissen glühte immer noch, aber sie hielt es jetzt nachlässig in einer Hand, die wohl auch längst so angesengt war, dass sie keinen Schmerz mehr verspürte. Sie empfand ja überhaupt nie Schmerz, das kam mir jetzt in den Sinn, sie konnte vom Küchentisch stürzen und sich einen Arm brechen und lachen. Kälte fühlte sie keine, sie ging in Rock und Bluse in die Winternacht und kam nach einer Stunde zurück, kaum blau angelaufen. Sie war doch auch schon tot! Oder täuschte ich mich da? Ich bin’s, sagte ich vorsichtshalber, ich bin auf der Durchreise. Ich bin immer mit dir, sagte sie mit ihrer ganz normalen Stimme. Das weißt du doch. – Ich nickte. Sie hatte recht, und im Übrigen hatte ich auch früher immer genickt, wenn meine Mutter etwas sagte. Aber ich musste weiter. Jetzt hörte ich in der Ferne wieder das Festgetümmel. Also stürzte ich in meine Wohnung zurück. Die brave Freundin schrie just in einer wilden Ekstase, und der schwarze Mann hielt seinen Kopf wie betend in die Höhe. Die Zigarette fiel zu Boden und begann ein Loch in den Teppich zu brennen. Hinaus!, brüllte ich. Alle raus! Aber niemand kümmerte sich um mein Gebrüll, im Gegenteil, ein Kumpel, mit dem ich in alten Tagen durch die Kneipen der Stadt gezogen war, packte mich – sanft eigentlich, aber keinen Widerspruch duldend – am Kragen und setzte mich an die frische Luft. Da lag ich im Kies. Über mir in der Dachrinne hockten immer noch die Tiere und wieherten wie Pferde. Der Mond noch immer.

Ich stand auf. Kam denn nie ein Morgen, ein Nachmittag? Denn an einem hellen Nachmittag hatte ich den Zug verlassen, also konnte ich ihn auch an einem Nachmittag wieder besteigen. An einem Abend allenfalls. – Ich ging, ging, ging. Der Mond sank nach einer Weile tatsächlich hinter den Horizont, und eine rote Sonne ging auf. Ich ging auf sie zu, denn Konstantinopel lag im Osten. Ich kann mich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern, es kam mir unterwegs manches spanisch vor, albanisch. Mazedonisch vielleicht. Minarette jedenfalls, Muezzingeheul aus der Ferne. Ein paar Mal versuchten mich Wölfe zu fressen. Ich lebte von Wurzeln und Pilzen und fühlte mich manchmal wohl und zuweilen unwohl. Zu größeren Krisen kam es auch, einmal lag ich krank am Wegrand, und einmal erschlug ich einen Straßenräuber, einen großen Kerl, von dem ich zumindest annahm, dass er ein Räuber war. Vielleicht hatte ich ihn auch nur nach dem Weg gefragt, und er hatte geantwortet, dass ich da aber ganz falsch ginge und in die Gegenrichtung müsse. Zu viel war zu viel.