Indianersommer - Urs Widmer - E-Book

Indianersommer E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Die Helden des Indianersommers sind fünf Maler bzw. Malerinnen und ein Schriftsteller. Sie wohnen in einer jener Städte, in der niemand weiß, welche Jahreszeit herrscht: »Jeden Tag wurde in den Zeitungen das Szenario des Endes beschworen. Wir wußten überhaupt nichts mehr.« Und dann machen sich alle sechs, einer nach dem andern, zu den Ewigen Jagdgründen der Indianer auf.

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Urs Widmer

Indianersommer

Diogenes

Für Peter Zwetkoff

Ich kannte einen Maler, der malte und malte, und malte, bis er die Menschen nicht mehr gern hatte und aufhörte zu malen. Dabei waren noch so viele Bilder in ihm. Aber für wen. Er (der ein Leben in Demut geführt hatte) begann Kunstkritiker anzuschreien und baute eine Selbstschußanlage vor seine Zimmertür. Sofort am ersten Abend (er war in die Kneipe gegangen und hatte einen Wein getrunken) stolperte er in den Kugelhagel. Starb. – Schon zuvor war er wunderlich geworden. Die Ränder der Leinwände kümmerten ihn nicht mehr, er malte in die Luft; malte Luft. Wer sich durch wirkliche Türen und gemalte Wände zu ihm hindurchgearbeitet hatte, mußte seine hingehauchten Plakatfarben atmen. Blau, rosa. Nach einer Schrecksekunde merkte man, es ging. – Im letzten Winter war seine sehnsüchtige Wut so groß geworden, daß er mitten ins matschige Kalt hinein Savannengras malte, glühende Luft und jenes klare Abendlicht, das nur die Indianer in ihren späten Sommern kennen. Oft ging er nackt darin, mit Federn auf dem Kopf, und einem Kalumet. Er rauchte viel für den Frieden und hustete noch mehr. Natürlich erfror er an Haupt und Gliedern und mußte aufgetaut werden. Dieses Licht, sagte er, schau doch dieses Licht, das gibt es nur bei uns in Massachusetts, auch wenn inzwischen korrupte Iren in unsern Stammlanden wohnen. Die Kiefern! Als ich hinging und ihre rissigen Stämme streicheln wollte, kriegte ich rote Hände von der noch nicht trockenen Farbe. – Ich begleitete ihn oft. Wir hüpften nackt mit Tomahawks durch den Wald, wo die Spaziergänger davonstoben. Rauchten auch zusammen, und an einem glücklichklaren Abend fing alles Wirkliche Feuer, verbrannte, und nur der gemalte Teil der Welt blieb. Von da an schlief er in einem hastig hinaquarellierten Bett. Malte sich, wenn er Hunger hatte, ein Wurstbrot; trank selbstgepinselten Wein. – Später wollte ich eins seiner Bilder kaufen (seine Tochter hatte sie geerbt, obwohl sie sich für ihren Vater schämte) und ging in sein Zimmer ohne an die Selbstschüsse zu denken. Hätte ich nicht, weil ich die Schöpfung lesen wollte, eine Bibel in der Brusttasche getragen, ich wäre tot gewesen.

 

Kurz vor seinem Abschied hatte der Maler mir diese Geschichte erzählt: ein Mann und eine Frau fuhren in den Süden, und als der Mann starb, legte ihn die Frau bis zum Ferienende in eine Tiefkühltruhe. Sie kostete jede Sekunde aus am Strand; und einen Prozeß führte sie dann, weil der Mann sieben Mahlzeiten nicht gegessen hatte. Das Hotel machte eine Wertminderung der Tiefkühltruhe geltend, und es kam zu einem Vergleich; man verglich die Mahlzeiten mit dem Mann und einigte sich auf unentschieden. – So ging das damals. – Zu Sigmund Freuds Zeiten waren Leute wie Sigmund Freud in die Sommerfrische gefahren. Sanfte Hügel, Sonne; Pferde, Fliegen, Staub, Kornblumen, und in grünen heißen Gärten tarockten Tenöre mit Bauern mit Gamsbarthüten. Als Freud zum ersten Mal seine Grenzen überschritt und bis zur Akropolis fuhr, stürzte diese ein. Der Grund war, daß entweder Freud oder die Akropolis sich ein Leben lang gewünscht hatten, einander zu sehen, wie ihre Väter schon. – Den Vater übertreffen. – Freud nannte seinen Körper Konrad. Wahrscheinlich dachte er dabei an jenen Vers, wo die Mama sagt, ich geh weg, und du bleibst da. Er blieb mit seinem Konrad.

 

Ich hatte mir in meinem Leben verschiedene Ziele gesetzt. Eins davon war, älter als Schubert zu werden. Ich schaffte es fast spielend. Später waren die Ziele schwerer zu erreichen. Meinem Vater näherte ich mich mit Riesenschritten. Hinter ihm waren dann nur noch weiße Greise. – In den Urzeiten hatte sich die Erde linksherum gedreht, und so waren die Jahre schneller vergangen, glücklicher. – Immer hatte ich den Schatten geliebt. – Warum weinte ich nie, wenn ich Beethoven hörte? – An einem Abend (in den Straßen eine Luft wie Schwefelschleim) ging ich in eine Kneipe, und ein faltiger bärtiger Mann setzte sich neben mich, und es zeigte sich, daß er ein Professor für Musik war. Als ich ihm mein Problem andeutete, erklärte er es mir. – Auf dem Heimweg weinte ich.

 

Zu der Zeit auch, in derselben Kneipe, hielt mir jemand meinen zwanghaften Optimismus vor, und ich vergaß, ihm zu antworten, daß jeder, der lebte, zwanghaft optimistisch war; sonst hätte ihn die Erkenntnis zerfetzt. Ich saß aber nur da und trank. – Die Kraft zu haben, rechtzeitig zu sterben. – Ein stolzer Hundertjähriger zu sein, das war schön in jenen russischen Steppen, wo nur stolze Hundertjährige lebten. Sie saßen unter noch älteren Weiden und berichteten vom Zaren. Zahnloses Gelächter. – Dann starben alle an einem Tag, und der Staat setzte ein neues Schock Achtzigjährige aus, die das Planziel erfüllen mußten. – In Seneca City, New York, USA, starb damals niemand an Krebs, kein Mensch. Die Bürger dieser schönen Waldgemeinde waren so stolz auf ihre gute Quote, daß sie, wenn doch einmal jemand Krebs kriegte bei ihnen, diesen nachts über die Gemeindegrenzen abschoben. An jedem Wochenende fuhren unzählige Großstädter nach Seneca City und atmeten die würzige Luft. Man konnte sie sehen, wie sie gingen (in Pelze gemummt, mit Sonnenbrillen) und atmeten, nur atmeten und atmeten, als sei diese Luft das Wunder, das sie retten könnte. – Dem, der mir Vorwürfe machte, hätte ich noch sagen wollen, wer habe denn all das geschrieben, was er so möge, wenn nicht die Schlaflosen. – Im Schlaf dichteten damals nur die Götter, die meinten, die Schöpfung geträumt zu haben.

 

Ich wußte so vieles nicht, auch nicht, was besser war: müde oder wach. Wenn ich erschöpft war, wußte ich oft Klareres. Wach wollte ich nur vorwärtsleben; gesund und dumm war dann das gleiche. Aber ich kannte auch einen, der immer müde war, und alles blieb völlig unklar in ihm drin bis er implodierte. Ich fand ihn tot im Bad. – Dennoch waren oft die Besinnungslosen klüger als Besonnene. Physiker tranken, und am nächsten Morgen rann die erlösende Formel aus ihnen heraus. – In einer Nacht einmal lag ich bis fünf wach. Ich las mit wehen Augen Proust, der von einer Frau schrieb, die ihn nicht erhörte, und deshalb lag er schlaflos und las in einem Buch, das ihn auch nicht einschläferte. Klar, mir fehlte auch eine Frau. Hätte eine neben mir gelegen, auf der Stelle wäre ich eingeschlafen. – Erschwerend kam dazu, daß Proust im wirklichen Leben an Männer gedacht hatte. – Es war alles schon recht kompliziert. – Zum Beispiel aß jener Müde jede Menge Aufputschmittel, die er dann mit ungezählten Valium dämpfte. Auch rauchte er so viele Zigaretten, daß, als er eines Tages die Marke wechselte, seine bisherige Konkurs machte. Die neue konnte ihr plötzliches Glück nicht fassen. Monatelang analysierten die Fachleute ihren unerwarteten Erfolg. Als sie die Lösung zu haben schienen, wechselte mein Freund erneut die Marke. – Ja, das Glück. – Ihr Kinder, schaut über euch. Seht ihr die Adler? – Die Adler sind hier liebe Adler und kreisen in einem blauen Himmel.

 

Dann kam die Zeit, in der wir Väter mehr und mehr zu Müttern wurden. Unsre Stimmen wurden heller, und im Schwimmbad entblößten wir ohne Scham unsre Brust vor den andern Frauen, die vor uns auch keine Scheu zeigten. Wir wurden Dahlien oder Geranien. – Austern, zu meiner Zeit, waren abwechslungsweise Mann und Frau. Ich hatte sie dutzendweis geschlürft, gedankenlos, aber vielleicht war es wichtig, ob man einen Mann verschlang oder eine Frau. Ich sah den Unterschied nicht, die Auster schon. – Damals dachte ich an Tintenfische wie an Retter in der Not. Lieber schrieb ich allerdings mit Filzstiften, mit ganz schmalen harten schwarzen. – So etwas wie meine Schreibmaschine, ein kräftiges mechanisches Ungetüm, wurde längst nicht mehr hergestellt. Es gab nur noch Spielzeuge für solche, die einmal im Jahr ihr Tagebuch abtippten, oder dann Schreibcomputer, mit denen ich meine Verse direkt meinem Verleger einspeichern konnte. Selbst jene summenden IBMs, die ich immer abgelehnt hatte (ich war Maschinenstürmer; und ich wollte nicht nur da schreiben können, wo Steckdosen waren) waren reif für den Flohmarkt. – Wie zitterte ich, mein Liebes, du könntest verrecken. – Zurück zu den Austern. Einmal hatte ich mich in Paris vor das Café de la Paix gesetzt und ein Dutzend bestellt (ich war mit einer Dame). Der Kellner verbeugte sich höflich und ging über die Straße und kaufte sie an einem Stand auf dem gegenüberliegenden Trottoir und kam zurück und stellte sie auf unsern Tisch. Drüben hatten sie sechs Francs gekostet, nun achtzig. – Meine Dame war hingerissen, und ich von meiner Dame. Es war ein schöner Abend. Wir verschlangen uns am Seineufer und rochen nach Meer. Um uns noch viele andere Röchelnde. Es war in jenen Zeiten, als die Menschen noch glücklich sein wollten. – Und nun noch ein Wort zur Trunksucht.