Vor uns die Sintflut - Urs Widmer - E-Book

Vor uns die Sintflut E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

Dieser Band versammelt einundzwanzig ironisch-hintergründige Geschichten, moderne Märchen und unaufdringliche Parabeln. Widmer zieht Traumpfade durch Kultur und Unkultur, auf der Suche nach unserer Geschichte. Zum Epochensprung ruft Widmer in Erinnerung, dass die Welt einmal schön war.

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Seitenzahl: 188

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Urs Widmer

Vor uns die Sintflut

Geschichten

Diogenes

Monolog über die Trägheit

Los, los, los, keine Müdigkeit vorschützen, jetzt tu nicht ewig immer wieder wie der ewige Jude, du hast keine Ewigkeit Zeit, um den Erdball zu gehen, es gibt keine Ewigkeit, wer weiß, ob es einen Erdball gibt, wie lang, niemand geht um den Erdball. Einstein ist tot. Daß der Tag vierundzwanzig Stunden hat, das war einmal. Einstein hat an alles gedacht, hat alles berechnet, erste Dimension, zweite dritte vierte, ha, aber das Nächstliegende hat er übersehen, daß der Tag keine vierundzwanzig Stunden hat. Daß die Stunde keine sechzig Minuten mehr. Die Minute keine sechzig Sekunden, und daß die Sekunde schneller tickt, schneller, ständig schneller. Jetzt jetzt jetzt jetzt jetzt. Die Zeit rast, und sie rast nicht gleichmäßig, sie rast immer schneller. Sogar durch die Sanduhren fegt der Sand wie ein Sandstrahlgebläse. Koch mal ein Ei, mit einer Eieruhr, mein ich. Diese weißen Sandkörnchen fegen so schnell von oben nach unten, daß du sie gar nicht siehst. Sssst. Schneller als das Licht. Das Licht ist die neue Reverenzgröße der Physiker, kein ernstzunehmender Physiker, der sich nicht auf die Lichtgeschwindigkeit beriefe, die Lichtgeschwindigkeit ist die langsamstmögliche Geschwindigkeit geworden, langsamer als das Licht kann nichts sein. Höchstens du. Du bist der einzige, der langsamer als das Licht ist, wundert es dich, daß du immer im Finstern liegst? Daß du immer allein bist? Keinen hält es an deinem bewegungslosen Bett, keine vor allem, auch die Frauen bleiben nicht, siehst du doch. Mach wenigstens das Licht an! Alle Menschen machen das Licht an!! Ich frag mich wirklich, ob deine Augen imstande sind, es wahrzunehmen. Ja, vielleicht doch, das Licht vom letzten Jahr vermutlich, denk ich mir, jedenfalls gewiß nicht das, was jetzt, JETZT, den Weg vom Glühdraht zu dir macht. Hörst du mich? Hörst du mir überhaupt zu? Der Schall, den Schall dürftest du doch wahrnehmen. Wenn du so weitermachst, muß ich dich einliefern. Die Krankenkassen zahlen seit dem ersten Ersten bei Trägheit, bei chronischer Trägheit. Bei dir dürfte die Diagnose klar sein. Träger geht’s nicht, eine, ha, ja, eine richtige Trägerrakete. Schau mich an. Schau ich irgendwie krank aus? Nein. Putzelgesund. Ich bin auch schneller als das Licht, wie jeder. Wenn du langsamer bist, kommst du nie über die Jahrtausendschwelle. Das sag ich dir. Das Jahr zweitausend ist wie der Rechen an einem Flußkraftwerk. Da brauchst du viel Speed, sonst bleibst du an der Zwei oder an den drei Nullen hängen, so wie das den meisten im Jahr tausend passiert ist, fast allen eigentlich, als alle noch langsamer als das Licht waren, oder hast du mal einen aus dem Jahr tausend getroffen? Im Jahr tausend galten träge Menschen als schnell, einer wie du – tu mal wenigstens die Beine aus dem Bett! – hätte Hundertmeterläufe gewinnen können. Da kletterten Propheten auf Heuhaufen und predigten den Bauern, das Weltenende sei gekommen, das Jahr tausend sei da, ganz schnell werde es da sein, und die Bauern glaubten das so sehr, daß sie ihre Felder nicht mehr bestellten – kam ihrer Trägheit entgegen, logo – und also nichts zu fressen hatten im Jahr tausend und verhungerten. Für sie hatte sich die Prophezeiung erfüllt. Soll ich dir was prophezeien? Du wirst in einem Hundertmeterlauf von heute nicht einmal letzter. Die bauen die Zeitmeßapparate vorher ab. Die sind nur bis 9,99 Sekunden ausgelegt, nachher geht das Licht im Stadion automatisch aus. – Wenigstens ein Bein. Manchmal frag ich mich, was die in der Firma von dir halten. Hat dir noch keiner gesagt, du seist träg? Träg, träge, unerträglich träge? Na sicher hat dir das einer, der Schall ist nur noch nicht bis zu dir gedrungen. Wahrscheinlich hörst du immer noch meine Reden aus dem Jahr 1989. Damals war ich noch nicht ganz so schnell wie heute, knapp langsamer als das Licht, kann mich erinnern, ich machte das Licht in meinem Zimmer an, und wenn ich drin war, war es schon hell. Der Beweis. Du im Bett, lesend. Was liest du auch ständig. Bücher, Bücher, Bücher. Glotz, glotz, glotz. Geh doch wenigstens ins Theater. Theater ist weniger träge als Lesen, richtig speedy zuweilen, wenn’s nicht gerade Warten auf Godot ist, das ist ein äußerst träges Stück, nur die Schöpfungsgeschichte ist noch träger, sieben Tage, stell dir vor, für das bißchen Materie. – Mein Gott. – Hast du gewußt, wenn man schneller als das Licht ist, daß man sich selber hinter sich herlaufen sieht? Wenn man sich umdreht beim Rennen, meine ich. Das ist bei dem Tempo problematisch. Rinnsteine, andere Hindernisse, wenn es dich bei Überlichtgeschwindigkeit auf die Schnauze haut, kannst du deine Zähne im Paradies suchen. Trotzdem. Jetzt zum Beispiel bin ich auch schneller als das Licht. Du meinst, ich sei hier, stimmt’s oder hab ich recht?, du siehst langsamer als das Licht, aber was du hier von mir siehst, das bin nicht ich, das ist mein Abbild. Ich bin schon anderswo, ich stehe vor deinem Bett, du Depp, und stell dich mit Lichtgeschwindigkeit auf die Beine, du fauler Sack, so ein träges Phlegma habe ich seit Christi Geburt nicht mehr gesehen, sogar Christus war schneller als du, wenn er wollte, meine ich, er ist jedenfalls so schnell gen Himmel gefahren, daß niemand seine Himmelfahrt wahrnahm, die trägen Römer schon gar nicht. Eine Zeit unter einer Sekunde jedenfalls war damals noch gar nicht meßbar, mit den damaligen Zeitmeßanlagen. Die hatten ja nur Sonnenuhren, und der Herr ist meines Wissens nachts in den Himmel gefahren. Der war jedenfalls nicht träge. Ein Wasser, zack!, Wein. Ein Toter, wumm!, lebt er. Ein Lahmer, zoff!, nimmt der sein Bett und ab in die Heia. Herrgott. Auf was wartest du eigentlich. Jetzt komm ich. Jetzt wirst du sehen, du träges Luder. Oder auch nicht. Auf!

Shit im Kopf

Das glaubst du nicht, was die Leute alles so denken. Nicht zu fassen. Shit im Kopf. Du willst es nicht glauben, auch wenn sie dir die Ohren vollschreien mit ihrem Unsinn. Aber sag ihnen einmal, wie es wirklich ist, die Wahrheit, dann halten sie sich die Ohren zu. Aus. Nur, einer muß es sagen, einer muß den Menschen die Wahrheit sagen. Raumschiffe kommen aus dem All und holen uns an Bord. Viele von uns, einige. Nicht alle. Nein, es werden nicht alle sein, man kann nicht alles haben, ein gedankenloses Leben und dann auch noch eine Rettung. – Es ist das Wesen einer Wahrheit, daß sie schwer wiegt; je wahrer, desto schwerer; so daß diese Wahrheit von einem Menschen allein nicht mehr zu tragen ist. Mache ich aber nur die leiseste Andeutung, spreche zum Beispiel von der Polydimensionalität, da lachst du, oder schlimmer noch, du verabredest dich mit Blicken mit allen andern, daß einer hinter meinem Rücken die Polizei holt. Aber ich sitze immer so, daß ich keinen im Rücken habe. – Es gibt Organisationen, das ist ja klar, das ist allgemein bekannt, die überwachen dich. Am bekanntesten ist, daß der Fernseher dich anschaut, nicht umgekehrt, das Programm ist der Köder, damit du die Überwachungsanlage einschaltest. Die vom TV kooperieren mit der Polizei und den Bundesbahnen und dem Militär. – Dabei genügte ein Blick in die Nacht des Kosmos, und jeder müßte Bescheid wissen. Hunderttausende von Raumschiffen sind längst in Bereitschaft. Aber nicht alle sind freundlich. O nein, nicht alle. Viele nicht. Da am Nachthimmel oben blinken die zwar zum Verwechseln gleich, aber wenn ein Außerirdischer unfreundlich ist, werden unsre Star Wars zu süßen Märchen dagegen. Man fragt sich, warum die Menschen so blind sind. Die reine Abwehr ist das. Was man nicht sehen will, das sieht man nicht. Die Mücke sieht den Elefanten nicht, just weil er so riesennah ist. Lieber läßt sie sich zertreten. – Seit Jahren doch dokumentieren die Nasa und der CIA die extragalaktischen Tätigkeiten ganz genau. Sie haben ja sogar schon Außerirdische eingefangen und in ihren Labors seziert. In einem streng geheimen Hangar in Arizona liegen die Trümmer eines abgestürzten Ufos. Woher meinst du denn, daß Aids kommt, etwa aus dem Erdinnern? Überhaupt haben der CIA und die Nasa das alles für so geheim erklärt, daß nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten die Akten einsehen darf. Die sind ultra-top-secret, das ist die Klassifikationsstufe, wo gar niemand mehr Einsicht nehmen darf, nicht mal die, die die Akten anlegen. – Tatsache ist nämlich, daß die Außerirdischen seit Jahrzehnten, seit Jahrtausenden zu uns kommen. Sie betreten nachts dein Zimmer, nur die Vorhänge wehen ein bißchen, und du wachst auf und siehst auch etwas, aber schon während du es siehst, vergißt du es, die haben so leuchtende Blicke, die das Gedächtnis löschen, und wenn du dann gefügig bist, machen sie dir natürlich auch eine Injektion. Eine wahnwitzige Angst hat dich überschwemmt, aber da ist nichts zu machen, diesem Schicksal entgeht keiner, der dafür auserwählt worden ist. Sie nehmen dich mit auf ihren Orion, das weißt du später dann nicht mehr, die Spritze hat dich erinnerungslos gemacht. Daß sie dich untersuchen, und vieles mehr. Das beutelt dich, und dein Unbewußtes bewahrt natürlich auf, daß du, nur zum Beispiel, die ganze Nacht auf minus dreiundsechzig runtergekühlt warst. Dieses Erfrorensein kriegst du nie mehr aus dir heraus, auch wenn du nicht weißt, woher es kommt. Du kannst auf der Heizung wohnen, diesen Urschrecken wirst du nicht los. – Den Frauen inseminieren sie ihren Orion-Samen, den Männern zapfen sie Sperma ab. Das brauchen sie für ihre Versuche. Darum nehmen sie von den Menschen nur die geeignetsten, da gibt’s eine strenge Auswahl. Ich habe mich wirklich nicht gedrängt, tosende Nächte zu verbringen, mit wahnwitzigen Schmerzen. Mir wäre auch lieber, sanft zu schlummern. Ich bin nicht mehr der Jüngste, aber offenbar brauchen sie just solche, wie ich einer bin. Natürlich auch Junge, da gibt’s einen ganzen Mix aus hochbegabten Menschen. Sie haben riesige Labors, gegenüber denen sind die der Nasa und des CIA Puppenstuben. – Man erkennt, daß man im Programm ist, indem man meint, man habe sehr unruhig geschlafen, sehr entsetzlich, sehr panisch. Am nächsten Morgen bist du völlig verstört. Das Laken naß von deinem Geschluchze. Du fühlst dich, als hätten die ganze Nacht Riesen auf dich eingeschlagen. Wahrscheinlich ist genau das passiert. Dazu kommt, daß ich dann oft ein Hautpigment habe, das am Vorabend noch nicht dagewesen war. Und in der Küche brennt das Licht, wo ich’s doch am Abend immer ausmache. – Schau mal auf deine Armbeugen, die Einstiche dort. Man sieht sie kaum, aber man sieht sie. Die sind der Beweis. – Ein Beweis sind auch die Pyramiden, warum sonst würden sie direkt auf den Orion weisen? Du willst doch nicht sagen, die Pyramiden sind eine Einbildung. Niemand hätte sie so bauen können, das sagen alle Wissenschaftler, niemand auf Erden. Die Außerirdischen sehr wohl, nicht. Für sie, die wie die Wesen auf den Papyri aussehen, halb Vogel, halb Katz, ist so was ein Klacks. Sie sind zweidimensional, das heißt, wir nehmen sie zweidimensional wahr, in Wirklichkeit sind sie polydimensional. Aber wir können uns eben schon eine vierte Dimension nicht mehr vorstellen, geschweige denn die hundertste. Nur, daß die Wesen vom Orion sich just in der hundertsten Dimension aufhalten. Die mußt du dir in etwa so vorstellen, ich vereinfache jetzt sehr stark wegen der Anschaulichkeit, die hundertste Dimension ist da, wo Raum und Zeit und Masse und Liebe und Tod ein und dasselbe sind, verbunden in einem Körper, in einem Gedanken, in einem Augenblick. – Im All ist übrigens eine unglaubliche Musik, ein bißchen wie das Singen der Walfische. – Daß ich nicht durch ein Fenster gesprungen bin, ich weiß heute noch nicht, wieso nicht. Vielleicht, weil ich im Parterre wohne. Wahrscheinlich eher, weil mir deutlich gemacht worden ist, daß ich von Hatschepsut abstamme. Es ist mir bedeutet worden, in unmißverständlichen Botschaften. Um genau zu sein, ich bin ihre derzeitige Reinkarnation. Das ist sozusagen der Lohn dieser Leiden, nicht. Lach nur, ich weiß schon, diese herrliche junge Pharaonin, und ich alter Knacker. Aber lach nicht zu früh. Reinkarnationen sind nicht alters- oder geschlechtsspezifisch, das meinen viele, das ist aber nicht so. Eine Frau kann mühelos Ramses sein, ohne Probleme. – Alle Menschen heutzutage sind Reinkarnationen. Erste Menschen gibt es nicht mehr. Also die von den Orion-Wesen ausgesetzten. Das ist zu lange her. Jetzt machen die ihr Spermagemenge für Projekte auf anderen Erden. – Aber es macht natürlich schon einen Unterschied, ob du die Reinkarnation von Hatschepsut oder von irgendeinem Eseltreiber bist. Das hängt mit deinen Begabungen zusammen, deinem Karma, da hat der Mensch nicht viel Einfluß darauf, der Einzelne. – Meine Karriere zum Beispiel, die ist natürlich auch negativ beeinflußt worden durch die vielen Abwesenheiten auf einem andern Stern. Natürlich, wenn ich da so angeschnallt und ohne Bewußtsein lag, ein Tiefkühlklotz mit einer Etikette am großen Zeh, damit man mich nachher am richtigen Ort wieder ablieferte, da haben die mir natürlich auch ganze Projekte aus dem Hirn genommen, fertige Unternehmungen, bis in die letzte Einzelheit genau bedachte Planungen. Die brauchen sie jetzt für sich selbst, irgendwer hat sich meine Projekte unter den Nagel gerissen auf dem Orion und macht jetzt ein Riesengeld damit. Und ich, hier, sehe wie einer aus, dem nie was einfällt. Ein Nichts. – Meine Mutter sprang aus dem Fenster eines sehr hohen Hochhauses, dabei blieb ihr Fuß im Fensterrahmen stecken. Ihr Schuh, meine ich, ein Stoffschuh, da kannst du wahnsinnig werden, das kriegst du nicht auf die Reihe, wieso der Schuh da hängenbleiben kann im Fensterrahmen, also nicht, das Fenster war weit offen, da steckt der Schuh auf irgendeine Art im Fensterrahmen verkrallt. – Ich kriegte dann ihre Effekten zurück, so ein Todesamt behält ja nichts, die sind stockehrlich. Das waren also ein paar Münzen und ihre Uhr, die zerbeult war, das Zifferblatt zerklirrt. Vom Aufprall, nicht. – Die Beerdigung dann war furchtbar, ich weiß gar nicht, ob ich dabeigewesen bin. Vielleicht nicht. – Wir müssen alle sterben, vermutlich. Ja. Wie soll da der Einzelne den Durchblick haben. Wir sind ja die Opfer unsrer kleinen Hirne. Ein einziger Computer in Tischgröße kann hunderttausendfach besser denken als du, und tatsächlich haben diese Computer längst unsre Zukunft festgelegt. Die sind ja alle vernetzt. Geh doch mal eine Fahrkarte kaufen am Bahnhof, da sitzt die Fahrkartenverkäuferin, und du sagst Dietikon retour, sie gibt dir nicht einfach eine Fahrkarte, sie fragt den Computer über deine Zukunft ab, und nur wenn sie nochmals das O.K. dazu kriegt von der denkenden Lebensmaschine, dann gibt sie dir eine Karte. Sie selbst ist auch da drin, aber das hat noch keine gewagt, nach dem eigenen Schicksal zu fragen. Da können die Maschinen sehr böse werden, das wäre zu riskant, da übernähmen sie alle in der gleichen Sekunde die Macht. Das würde dann beinhart werden. Sie können dein Hirn in Nanosekunden so verändern, daß du ein ganz anderer bist. Individuell, mit dem oder jener, tun sie das längst, ganz klar. Nur noch nicht mit allen aufs Mal. Da tust du dann Dinge, die mit dir gar nichts zu tun haben, aber danach fragt die Polizei dann nicht, wenn die Toten dann daliegen, ein ganzer McDonald’s voll, den du ausgeräuchert hast mit deiner Pumpe. Amoklauf heißt es dann in der Zeitung, ein geistig umnachteter Täter. Aber wir wissen Bescheid. – Man könnte wirklich weinen: was sind die Menschen für arme Geschöpfe. – Wenn ich hie und da irgendwie nachdenklich bin, vor einem Tränensturz, rufe ich immer den Pizza-Kurier an. Ich bestelle eine Margherita, ganz ohne Fleisch. Da bin ich konsequent. Oft esse ich sie nicht, kann sie nicht essen, weil ich dahinterkomme, daß die ein Messer benutzt haben für die Tomaten oder den Käse, mit dem vorher Fleisch geschnitten worden ist. Da faste ich dann drei Tage lang. Das reinigt ungeheuer. Ich esse nichts, keinen Bissen, außer hie und da eine Tafel Schokolade. – Noch etwas: der Unterschied zwischen Mann und Frau ist obsolet geworden. Wen interessiert das noch heutzutage. Das ist ein historisches Relikt wie die Mammuts oder daß die Giraffen immer noch so lange Hälse haben, obwohl es kaum mehr Bäume gibt in ihren Reservaten, von deren Kronen sie ihr Futter abnagen müßten. – In naher Zukunft werden die Menschen sowieso keine Eltern mehr haben, keine Väter, keine Mütter. Die für die Produktion benötigten Menschen, das werden natürlich viel weniger sein als heute, die werden genetisch hergestellt. Ganz nach dem jeweiligen Bedürfnis. Das ist das, was die Jungen von heutzutage wirklich besser geschnallt haben als wir Alte. Obwohl, mir ist das auch klar. Die Vorteile liegen ja auf der Hand. Wenn es, nur zum Beispiel, in Afrika zu viele Menschen gibt, eindeutig zu viele, da ist dann nicht mehr die Notwendigkeit ganzer ausrottender Kriege. Das geht ja nicht so weiter, wie heutzutage, das ist furchtbar, das kann man nicht mehr mit ansehen. Aber in wenigen Jahren, wenn die Laborvorbereitungsarbeiten betreffend Afrika soweit sind, setzt man die genetische Produktion einfach für eine Weile aus, für eine Generation, man fährt die Produktion auf praktisch Null herunter. Man kann ja in der Zeit für den asiatischen oder polynesischen Markt arbeiten. Obwohl, da gibt’s auch zu viele Menschen. – Heutzutage, das ist eine Zwischenphase der Menschheit, so was wie ein totes Loch im Gezeitenablauf, unser Pech, daß wir just da hineingeboren worden sind. Es gibt immer wieder tote Epochen, wenn man in so einer zu leben gezwungen ist, dient man der Geschichte in keinster Weise. Nichts zu machen. Du hast keinen Zweck und keinen Sinn. Wir durchleben eine transitorische Zeit. Epoche A wandelt sich in Epoche B, das braucht seine Jahre. Zum Beispiel hat ein Forscher nachgewiesen, daß es die Zeit zwischen den Jahren sechshundert und tausend gar nicht gegeben hat. Das ist genau dasselbe, in der historischen Erinnerung wird’s uns auch nicht geben. Es ist ein bißchen wie mit der Sommerzeit, die damals schalteten einfach vom Jahr 599 auf tausend um. Die verlorene Sommerzeitstunde wird ja auch nie mehr gefunden und fehlt dennoch niemandem. Im Jahr tausend toste der ganze Erdball in Endzeitängsten. Kometen rasten vorbei, Katzen heulten, die Frauen kriegten stachlige Kinder. – Mein Vater starb so: er sagte zu mir, bleib doch heute abend bei mir. Ich fühle mich nicht gut. Aber das konnte ich nicht, das war absurd, wir zwei allein im leeren Haus. Ich war im Zirkus verabredet. Es wurde dann auch eine gute Vorstellung, glaube ich jedenfalls, die Einzelheiten habe ich vergessen. Ich kam spät nach Hause. Im Zimmer meines Vaters war es still, er war eingeschlafen. Er ging immer sehr früh ins Bett, das kam davon, daß er sehr früh aufstand. Um drei, um vier, an ganz guten Tagen um fünf Uhr. Er hatte irgendwelche Neuralgien, deren Herkunft kein Arzt erklären konnte. Schmerzen, die ihn so tobsüchtig machten, daß er reglos an seinem Tisch saß. Da hockte er dann mit zusammengekniffenen Augenbrauen im Licht der aufgehenden Sonne und trank Kaffee, literweise Kaffee, und natürlich aß er jede Menge Schmerztabletten. Treupel, Saridon, wild durcheinander. Er fraß ganze Apotheken leer, seine Niere sah danach aus. Man kann sagen, der ganze Vater sah wie eine Niere aus, wie seine Niere, kaputt, gelblich. Da saß er und rauchte, auch das tat er unmäßig. Nur mit Frauen und dem Alkohol hielt er sich zurück. – Am frühesten Morgen hörte ich mitten in meinen Tiefschlaf hinein ein Geräusch, das so leise war, daß ich nicht einmal sicher war, ob ich’s gehört hatte. Wie das Knicken eines Asts. In weniger als einer Zehntelsekunde war ich die Treppe hinuntergerast – ich wohnte im Stockwerk über ihm – und in seinem Zimmer. Da lag er, im Bad. Der Wasserhahn lief. Er lag gegen den Badewannenrand gelehnt, er hatte wohl den Schädel angeschlagen. Er atmete, aber ich wußte sofort, das war das Ende. Kein Zweifel möglich. Ich schleifte ihn durch die Badezimmertür zu seinem Bett, wie einen Sack, muß ich sagen, wie einen sehr schweren Sack. Ich hatte nicht die Kraft, ihn so zu tragen, wie andere Söhne das tun, aufrecht, gefaßt, den toten Vater wie ein Kind vor sich auf den Armen. Ich zerrte und wälzte und hievte ihn also auf sein Bett hinauf. Er atmete jetzt nicht mehr. Irgendwie war jetzt auch meine Mutter da, seine Frau. Stand starr. Sie sprang ja erst viel später aus dem Fenster, das ahnten wir damals noch nicht.

Durst

Variation eines Themas von Flann O’Brien

Ein Freund von mir, den ich sehr mag, ein Schriftsteller zudem, ein guter und erfolgreicher Schriftsteller, hatte kürzlich eine jener, sagen wir, Krisen, jenen Seelenzustand, jenes unangenehme Gefühl, plötzlich zu nichts geworden zu sein, zu einem Nichts, ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart, ohne Zukunft sowieso. Er war nicht nur überzeugt, er werde nie mehr ein Wort schreiben, er war auch sicher, daß er nie eins geschrieben hatte. Seine vielen Bücher, zauberhafte Gebilde voller Herzenswärme, waren für ihn leere Seiten geworden, als sei ihre Schrift ein für allemal gelöscht worden, von Gott oder vom Teufel. Eine Krise eben. In Literaturgeschichten liest sich so was beinah angenehm – Goethe, wie er sich umbringen will; Kleist, wie er es tut –, aber im Leben, ich meine, im Leben meines Freunds, des Schriftstellers, war das alles durchaus unerträglich. Er merkte, daß er weinerlich wurde und wildfremde Menschen zu hassen begann.

Er schloß sich in seinem Zimmer ein, mit einem riesigen Stapel Bücher, Meisterwerken, von Dichtern geschrieben, die keine Krise hatten, im Gegenteil, und die er eins ums andre weglas. Aus irgendeinem Grund hatten es ihm die Dichter aus Irland angetan, jene regennassen Titanen von der grünleuchtenden Insel im sturmgepeitschten Atlantik, die alle O’Casey oder O’Sullivan oder O’Shaughnessy heißen. Diese herrlichen Dichter, diese irischen Urviecher ergehen sich tagsüber alle im peitschenden Regen zwischen Schafen an tosenden Küsten, allein und einsam, in Wettermänteln, laut mit Dämonen hadernd, mit jenen Alben, denen wir keine drei Minuten lang gewachsen wären, die sie aber jeden Tag neu zu bannen imstande sind. Sie flehen, sie herrschen sie an, auf gälisch natürlich, in für uns unverständlichen Formeln. Die Fäuste schüttelnd stehen sie auf Klippen und brüllen ihre Wahrheit ins rasende Meer hinaus, unhörbar für Menschenohren. Immer wieder sind sie die Sieger: bis zu jenem Tag hin, da sie leichtsinnig oder alt geworden sind, so daß der Dämon sie mit einem fast nachlässigen Prankenschlag in die Fluten reißen kann. Aber das Bannen der Albe strengt sie natürlich aufs äußerste an, die Dichter. Also, wenn die Sonne hinter den tiefschwarzen Regenwolken untergeht, haben sie Hilfe nötig, eine Stärkung, so etwas wie Rettung, und suchen ein Gasthaus auf, einen Pub,