Das Sonnenblumenhaus - Nancy Salchow - E-Book

Das Sonnenblumenhaus E-Book

Nancy Salchow

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Beschreibung

Nora hat ihrem Vater Oskar nie verziehen, dass er sie und ihre Mutter vor Jahren verlassen hat. Jetzt steht sie unangekündigt vor der Tür seines Tierhotels, um endlich mit ihm ins Reine zu kommen. Doch obwohl Oskar sie mit offenen Armen empfängt, will es Nora einfach nicht gelingen, die Distanz zu überwinden. Zum Glück helfen Mischlingshündin Mary und der schweigsame Yannik Nora dabei, ihr Herz zu öffnen.

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Seitenzahl: 383

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Nancy Salchow

Das Sonnenblumenhaus

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16
[home]

Prolog

Die Mohnblumen streiften ihre sonnengebräunten Hände. Ihre Wangen glühten, als sie mit ihren kurzen Beinen, so schnell sie nur konnte, die Schneise entlangrannte, die ein Traktor im Weizenfeld hinterlassen hatte. Hier und da wurde das leuchtende Rot der Mohnblüten vom Blau einer Kornblume und von den weißgelben Köpfen wilder Kamillen begleitet. Doch aus den Augenwinkeln heraus verwischten sich die klaren Farben im Laufen.

»Nicht so schnell!«, hörte sie ihren Vater rufen, hielt aber nicht an.

»Du kriegst mich nicht!«, rief sie zurück. Der schon hoch gewachsene Weizen und die Blumen reichten ihr bis zur Hüfte, und der Blick über das weite Feld vermittelte ihr wie immer das Gefühl unendlicher Freiheit. Einer Freiheit, die sie noch intensiver wahrnahm, wenn sie mit ihrem Vater unterwegs war. Niemand verstand ihre Sehnsucht nach Wiesen, Wald und Feldern, den Düften der Jahreszeiten und den Drang, jede Pflanze und jeden Grashalm zu erkunden, besser als er. Auch teilte niemand ihren unstillbaren Durst nach jedem noch so kleinen Detail in der Natur so sehr wie er.

»Wie ging noch mal die Geschichte von der singenden Birke?«, rief sie ihm atemlos zu. »Du hast sie mir noch nicht zu Ende erzählt.«

»Die erzähle ich dir nur, wenn du stehen bleibst.« An einer Biegung der Traktorspur holte Oskar seine Tochter endlich ein.

»Haaaab ich dich.« Lachend fasste er sie an beiden Händen und drehte sich so lange mit ihr im Kreis, bis ihnen schwindlig war und sie sich beide lachend zu Boden fallen ließen.

»Dafür krieg ich nachher deinen Himbeerpudding«, drohte er mit gespieltem Ernst, worauf sie nur noch lauter lachte.

»Ich wollte doch nur gucken, wo die Rehe hingelaufen sind«, verteidigte sie sich.

»Soso, und du glaubst deinem alten Vater also wieder mal nicht, wenn er dir sagt, dass sie schneller sind als du, was?«

»Hast du denn schon mal versucht, sie einzuholen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann weißt du auch nicht, ob sie schneller sind als du.«

»Na warte, dir werde ich deine Besserwisserei schon noch austreiben.« Oskar kitzelte sie, bis sie sich vor lauter Lachen den Bauch hielt.

Eine Schar von Wildenten, die schnatternd über sie hinwegflog, ließ ihn innehalten.

Erschrocken schaute er auf die Uhr.

»Oje, es ist schon fast zwölf. Wenn wir jetzt nicht losfahren, wird deine Mutter sauer. Du weißt, wie sehr sie es hasst, das Essen warmstellen zu müssen.«

»Jetzt schon? Wir fahren doch nur fünf Minuten bis nach Hause.«

»Eben, und in genau fünf Minuten sollen wir auch da sein.«

»Ach Mann.« Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken.

»Sei nicht traurig.« Er legte den Arm um sie, zupfte sie auffordernd an ihrem geflochtenen Zopf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Unser nächster Ausflug kommt schneller, als du denkst.«

Ihre Enttäuschung wich einem erwartungsvollen Lächeln. »Bauen wir dann die Baumhöhle?«

»Ja, das habe ich dir doch versprochen.«

»Morgen schon?«

»Mal sehen. Wenn du artig bist.«

»Und dann?« Ihre Augen leuchteten. »Unser nächstes Abenteuer?«

Er nickte. »Immerhin sind wir beide doch die zwei Abenteurer, richtig?«

»Ja, du und ich.« Sie strahlte bis über beide Ohren, während sie sich Erde vom Kleid klopfte. »Die zwei Abenteurer!«

[home]

Kapitel 1

Man konnte Mariella Paulus einiges nachsagen. Zum Beispiel eine gewisse Distanz ihren Mitmenschen gegenüber, die in so manchem Gespräch die Grenze zur Arroganz überschritt. Auch einen Hang zur Besserwisserei, dem sie nicht selten nachgab. Sowie eine diebische Freude an der Fähigkeit, ihre Gesprächspartner mit taktlosen Fragen aus der Reserve zu locken. Doch dass sie gut aussah, konnte ihr niemand absprechen. Und während Nora beobachtete, wie die Moderatorin ihre langen, schlanken Beine mit einem bedeutungsschweren Blick übereinanderschlug und sich dann für ihre nächste Frage zu ihr herüberbeugte, fühlte sie sich augenblicklich wieder in ihre Küche zurückversetzt. War der gestrige Karamelleisbecher mitten in der Nacht wirklich nötig gewesen, um ihre Schreibblockade zu vertreiben? Und sah sie neben der grazilen Mariella tatsächlich so kugelig aus, wie sie sich in ihrem etwas zu eng sitzenden Hosenanzug fühlte?

Mariella warf ihr volles, wasserstoffblond gefärbtes Haar zurück, während sich ein schwer zu deutendes Lächeln auf ihre Lippen schlich. Ein Umstand, der Nora noch nervöser machte, als sie es eh schon war. Was für eine unmögliche Frage hatte sich diese rücksichtslose Person nun wohl wieder einfallen lassen? Und wer in Gottes Namen hatte Nora überhaupt zur Teilnahme an dieser Talkshow überredet? Einer Live-Übertragung wohlbemerkt!

Mariella spitzte die Lippen, als suchte sie nach den richtigen Worten.

Nora schloss die Augen und zwang sich wieder ins Hier und Jetzt zurück.

Als sie sie wieder öffnete, hatte sie die stickige Luft des Studios und Mariellas gemeingefährliches Grinsen hinter sich gelassen. Drei Tage und fünfzehn Stunden war es nun genau her, dass sie dieses katastrophale Interview hinter sich gebracht hatte.

Vor ihr befand sich noch immer der gehässig blinkende Cursor auf weißem Untergrund, der sie wie nichts anderes zu quälen verstand. Und schon wieder war sie zu ihrem Ärger mit ihren Gedanken bei der Live-Show und der unsäglichen Mariella Paulus. War sie wegen ihrer Schreibblockade denn derart verzweifelt, dass sie sich sogar von der unliebsamen Erinnerung an den bisher schrecklichsten TV-Auftritt ihrer Karriere Ablenkung versprach? Das Exposé für ihren neuen Roman stand, selbst der Klappentextentwurf und das Buchcover waren bereits fertig. Warum um alles in der Welt wollte es ihr also nicht gelingen, das so vielversprechende Handlungsgerüst mit Leben zu erfüllen?

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie ihre Gedanken damit wieder an ihren richtigen Platz schieben und Ordnung schaffen. Doch ihr Kopf führte definitiv ein Eigenleben.

Frau Fendt, ist es richtig, dass Sie die Verlobung mit Frank Henrik gelöst haben?

Wir sind nicht verlobt, und wir waren nie verlobt. Demzufolge können wir auch keine Verlobung lösen.

Eine diplomatische Antwort, wie man es von einer Meisterin des Wortes nicht anders erwartet. Aber wollen Sie uns nicht wenigstens verraten, ob etwas an den Gerüchten dran ist, dass er eine – nun ja, nennen wir es einmal – Freundschaft mit dem jungen Model Amelie Fischer eingegangen ist?

Frau Fischer ist eine gute Bekannte von Herrn Henrik. Wie Sie wissen, hat er viele Kontakte in der Modeszene. Aber mal ehrlich, Frau Paulus, sind das wirklich die Fragen, die meine Leser interessieren?

Ich versichere Ihnen, Frau Fendt, nichts könnte Ihre Leser mehr interessieren als die Antwort auf diese Frage.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum hatte sie sich nur derart vorführen lassen? Sie war gekommen, um über ihren Roman »Kornblumentage« zu sprechen, stattdessen hatte sie die Sendung als Gespött der Nation verlassen. Wir haben uns nicht getrennt, hätte Nora Mariella am liebsten vor laufender Kamera ins Gesicht geschrien. Ich gebe ihm nur zum tausendsten Mal die Chance, sich zu überlegen, ob ihm seine Karriere wirklich wichtiger ist als ich.

Und überhaupt, Amelie Fischer! Du meine Güte, würde sie jedes Model, das auf irgendeinem Event neben ihrem Freund posierte, als potenzielle Gefahr betrachten, hätte sie sich von Anfang an von Frank fernhalten müssen.

Frank.

Nein. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken. Sie hatte zu schreiben und mochte nicht wieder darüber grübeln, dass er sie, unzuverlässig, wie er war, ein weiteres Mal wegen einer angeblich lebenswichtigen Party versetzt und wie so oft gedacht hatte, sie danach mit ein wenig Süßholzraspeln die ins Wasser gefallene Verabredung zum Abendessen vergessen machen zu können.

Nora schloss erneut die Augen, während sie versuchte, einen gelungenen Einstieg in ihr Manuskript zu finden. Die ersten Seiten des Prologs besaßen viel Potenzial. Doch noch immer wusste sie nicht, wie es danach weitergehen sollte. Noch immer fehlte ihr die zündende Idee, mit der sie dieses Potenzial in eine fesselnde Geschichte verwandeln konnte.

Wieder kamen ihr die Worte des Klappentextes in den Sinn.

 

Wäre die Liebe ein Mensch, dann vermutlich ein übergewichtiger kleiner Mann, der mit Pfeil und Bogen auf die Herzen von Menschen schießt.

Wäre sie ein Ort, dann wahrscheinlich ein Haus.

Das Haus, in dem ich lebe.

 

Noch immer verstanden es die wenigen Zeilen, sie auf geheimnisvolle Weise zu verzaubern. Und dennoch herrschte nach den ersten optimistischen Gedanken wieder nichts als Leere in ihrem Kopf.

Was zum Teufel war nur mit ihr los? Warum fand sie keinen Einstieg ins erste und wichtigste Kapitel? In Luft aufgelöst hatte sich die Euphorie, mit der sie vier Jahre zuvor den Entschluss gefasst hatte, ihre Arbeit als Bankkauffrau aufzugeben, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Vergessen war die Leichtigkeit, mit der sie all ihre bisherigen Bücher geschrieben hatte. Eine Leichtigkeit, die ihr seltsamerweise oder eben gerade deswegen stets eine Plazierung in den Bestsellerlisten eingebracht hatte.

Aber wo war sie nun hin, diese Leichtigkeit? Das Gefühl, immer die richtigen Worte zu treffen und dank ihnen unverwundbar zu sein?

Das Vibrieren ihres Handys riss Nora aus ihren Überlegungen.

Sie schaute zur Uhr an der Wand. Kurz nach einundzwanzig Uhr. Wer rief um diese Zeit noch an?

Aber eigentlich wusste sie, auch ohne aufs Display zu sehen, wer anrief.

»Mama«, seufzte sie ins Telefon. »Du solltest um diese Zeit doch schon längst schlafen.«

»Seit unserem letzten Gespräch kommt es mir so vor, als hättest du die Rolle getauscht und noch immer nicht verinnerlicht, dass du die Tochter bist und ich die Mutter.«

»Tut mir leid«, gab Nora zu. »Aber ich dachte, ihr bekommt um zwanzig Uhr schon die Medikamente für die Nacht.«

»Was nicht heißt, dass die Nacht dann auch schon beginnt.«

»Ich weiß, ich weiß. Sorry, Mama. Du weißt, wie ich es meine.«

Im Grunde war ihre Antwort nichts anderes als der klägliche Versuch, ihrer Mutter durch die Blume zu verstehen zu geben, dass ihr momentan nicht nach Reden zumute war. Denn obwohl Nora wusste, dass ihre Mutter sich noch einmal mehr um sie sorgte, seitdem sie in die Klinik gekommen war, stand ihr heute Abend einfach nicht der Sinn danach, über ein weiteres Problem auf ihrer Liste sprechen zu müssen.

»Was gibt’s denn?«, fragte Nora.

»Im Grunde nichts.«

Im Grunde nichts. Sie liebte Anrufe, die im Grunde nichts zu bedeuten hatten. Anrufe, wie sie nur von ihrer Mutter kommen konnten.

Nora seufzte. »Du bist doch nicht etwa böse, weil ich heute nicht gekommen bin, oder? Ich hatte dir ja gesagt, ich rufe an, wenn ich es wider Erwarten doch noch schaffen sollte vorbeizuschauen, aber dann …«

»Ich weiß, dein Manuskript«, unterbrach Miriam sie. »Wenn es denn nur endlich auch mal stimmen würde.«

»Was soll das heißen? Dass ich lüge?«

»Oh nein, Schätzchen.« Das war der Moment – das wusste Nora, auch ohne ihre Mutter zu sehen –, in dem Miriam den für sie so typischen, prüfenden Blick aufsetzte. »Ich will damit nur sagen, dass es schön wäre, wenn du zur Abwechslung wirklich mal schreiben und nicht nur blanke Seiten auf deinem Laptop anstarren würdest.«

Sie hatte recht. Oh, wie recht sie doch hatte! Aber war es wirklich nötig, die Dinge derart schonungslos beim Namen zu nennen?

»So wie du redest, könnte man glatt vermuten, dass du nicht als Patientin in der Klinik bist, sondern als Therapeutin dort arbeitest.«

»Manchmal kann man auch beides sein.« Miriam lachte. Es war dieses wehmütige Lachen, das Nora an ihrer Mutter so sehr liebte und gleichzeitig verfluchte. Gerade in letzter Zeit hatte sie öfter darüber nachgedacht, ob sie ihren Hang zur Melancholie womöglich von ihrer Mutter geerbt hatte. Ein Hang, den sie zu bekämpfen versuchte, der sich aber in regelmäßigen Abständen immer wieder zeigte.

»Also, nun sag schon, Mama«, sagte Nora. »Warum rufst du an?«

»Auch wenn wir beide wissen, dass eine Mutter keinen Grund braucht, um ihre Tochter anzurufen, wollte ich dich fragen, ob du es vielleicht morgen einrichten kannst, kurz bei mir in der Klinik vorbeizuschauen.«

»Morgen? Also um zehn habe ich ein Telefonmeeting mit dem Verlag, um halb zwölf treffe ich mich mit …«

»Ich will nicht wissen, was du morgen alles vorhast, sondern wann du Zeit hast, Liebes.«

»Sollte ich mir Sorgen machen? Du klingst irgendwie …«

»Ich möchte einfach nur gern mit dir reden.«

»Und das geht nicht am Telefon?«

»Sagen wir um drei?«

»Um …?«

»Drei.«

»Ja, Mama.« Nora verkniff sich jede weitere Frage oder gar einen Einwand. »Um drei, das passt prima.«

Nora war nicht zufrieden mit ihrem Spiegelbild. Aber für den Moment genügte es ihr schon, dass sie der Anblick der unscheinbaren Frau mit dem kinnlangen dunkelblonden Haar und den hellblauen Augen, die ihr aus dem Spiegel an der Klinikwand verstört entgegenblickten, nicht wütend machte. Für gewöhnlich verstand sie sich nämlich ausgesprochen gut darauf, ärgerlich auf sich selbst zu sein. Sei es, weil es ihr beim Kalorienzählen mal wieder an Disziplin fehlte, sei es, weil sie sich bei jeder noch so gelungenen Zeile aus ihrer Feder einer gnadenlosen Selbstkritik unterzog. Besonders wütend machte es sie jedoch, wenn sie wieder einmal nur die Hälfte ihrer täglichen To-do-Liste abgearbeitet hatte.

Aber um sich zu ärgern, fehlten ihr an diesem schönen Juninachmittag sowohl die Zeit als auch die Kraft – dafür war der Zustand, in dem sie sich nun schon seit Wochen befand, viel zu konfus. Oder waren es in Wahrheit bereits Monate? Ein Termin mit ihrer Lektorin Maria hier, ein Telefoninterview da, dann ein erneut nicht geglücktes erstes Kapitel – sie wusste schon gar nicht mehr, wie viele sie geschrieben und wieder gelöscht hatte. Alles wäre so viel leichter gewesen, wenn sie jemanden gehabt hätte, dem sie an alldem die Schuld hätte geben können.

Doch während sie auf einem der ledernen Besuchersessel darauf wartete, dass die Ergotherapiesitzung ihrer Mutter ein baldiges Ende fand, stellte sie fest, dass es damit wohl nicht getan wäre und dass das Schicksal scheinbar seinen ganz eigenen Plan mit ihr hatte. Wie sonst war es zu erklären, dass ihre Mutter vor vier Wochen nach einer schlimmen Panikattacke in die Klinik eingewiesen worden war? Und wem sonst außer sich selbst konnte sie es in die Schuhe schieben, dass keiner ihrer Tage die Anzahl an Stunden bereithielt, die sie für ihre Arbeit benötigte?

»Du hast zugenommen.«

Nora drehte den Kopf irritiert zur Tür des Sitzungszimmers, die sie gar nicht hatte aufgehen hören.

»Danke, Mama, es ist auch schön, dich zu sehen.«

»Die paar Kilos mehr stehen dir gut.« Miriam hauchte Nora einen Kuss auf die Wange, während die anderen Patienten in Zweiergrüppchen, als hätten sie es trainiert, hinter ihr auf den Flur traten und Richtung Station marschierten.

»Außerdem«, fuhr Miriam fort, »bist du mit Ende zwanzig sowieso langsam zu alt, um als verhungertes Etwas mit hervorstehenden Beckenknochen herumzulaufen, Liebes.«

»Ich hatte noch nie hervorstehende Beckenknochen, ich habe lediglich darauf geachtet, nicht so fett zu werden wie …«

»Wie ich?« Miriam lachte. Ein herzerfrischendes Lachen, wie Nora es lange nicht mehr von ihr gehört hatte. War das ein gutes Zeichen? Vielleicht sogar der erste gute Tag seit ihrer Einweisung?

»Nein«, nun lachte auch Nora, »das war es nicht, was ich sagen wollte.«

»Es spielt keine Rolle, was oder wen genau du damit gemeint hast. Wir zwei essen jetzt leckeren Käsekuchen.«

»Käsekuchen?«

»Ja, Jana sagt, sie hätten einen ganz leckeren in der Cafeteria.«

»Jana?« Nora hakte sich bei Miriam unter. »Ist das die Frau, die immer die Glühbirnen aus den Lampen dreht?«

»Nein, das ist Frauke. Ich meine die Rothaarige, die beim Essen immer neben mir sitzt.«

Nora überlegte einen Moment.

»Himmel Herrgott, du wirst dich doch wohl an Jana erinnern! Sie ist nur zwei Tage früher hierhergekommen als ich. Du hast sie schon am ersten Tag kennengelernt.«

Nora zuckte mit den Schultern, während sie den Flur entlang in Richtung Cafeteria spazierten. Die Leidenschaft, mit der sich Miriam über ihre Vergesslichkeit aufregte, stimmte Nora zuversichtlich. Seit ihrem letzten Besuch vor vier Tagen war ihre Mutter schon viel lebendiger und redseliger geworden – gar kein Vergleich mit der hilflos apathischen und schweigsamen Frau vor ihrer Einweisung in die Klinik.

Nora erinnerte sich an den schlimmen Zustand, in dem sie ihre Mutter vorgefunden hatte, kurz bevor sie sie hatte einweisen lassen. Das Zittern und die feste Überzeugung, jeden Moment zu sterben. Die Panikattacken, die sie nicht mehr vor die Haustür hatten treten lassen.

»Es scheint dir besser zu gehen«, stellte Nora fest, als sie die Glastür zur Cafeteria öffneten und sich nach einem Platz umschauten.

»Ja, das tut es.« Miriam deutete mit dem Kopf zu einem leeren Tisch am Fenster hinüber. »Oder sagen wir, zumindest besser als in den letzten Wochen.«

Nora lächelte. »Das ist schön zu hören.«

Und sie meinte, was sie sagte. Es war erstaunlich, wie sehr ihr eigenes Wohlbefinden von der jeweiligen emotionalen Verfassung ihrer Mutter abhing. Zwar versuchte Nora schon seit Jahren, sich unabhängig von den Stimmungslagen ihrer Mutter zu machen und sich selbst aufzubauen, um nicht bei jedem psychischen Rückschlag Miriams in Schwermut zu verfallen. Doch bisher hatte sie noch keine ultimative Vorgehensweise gefunden, sich davor zu schützen, gleichfalls in ein tiefes Loch zu fallen, wenn es wieder einmal so weit war. Miriams Rückschläge waren auch die ihren.

Deshalb war sie in diesem Moment einfach für jeden noch so kleinen Fortschritt ihrer Mutter dankbar. Während Nora ihrer Mutter dabei zuschaute, wie sie zum Tresen lief, um ein Tablett mit Kaffee und Kuchen zu holen, setzte sie sich in einen der Korbsessel am Fenster.

Sie hatte es mittlerweile aufgegeben, ihre Mutter zu begleiten, sie einzuladen oder ihr beim Tragen zu helfen. Viel zu oft hatte Miriam, seitdem sie in der Klinik war, darauf bestanden, alles alleine zu machen. Und auch darüber war Nora froh. »Du bist mein Gast«, hatte Miriam so oft betont, dass Nora irgendwann nachgegeben hatte.

Da war er wieder, der für ihre Mutter so typische Eigensinn. Wer Miriam nicht näher kannte, wunderte sich vermutlich darüber. Aber Nora, die alle Höhen und Tiefen Miriams gemeinsam mit ihr durchgestanden hatte, wusste nur zu gut, dass die Tatsache, ihren Mann an eine andere verloren zu haben, aus Miriam im Laufe der Jahre eine Frau gemacht hatte, die stets demonstrieren wollte, wie gut sie allein zurechtkam, obwohl zunehmend das Gegenteil der Fall war und sie immer stärker unter lähmenden Verlustängsten litt. Das war Nora aber erst mit zunehmendem Alter bewusst geworden. Rückblickend wusste sie auch, wie entscheidend sich diese Ängste auf die Mutter-Tochter-Beziehung und ihre eigene Entwicklung ausgewirkt hatten. Denn Nora litt gleichfalls unter diesen Verlustängsten, die die Bindung zwischen den beiden Frauen nur umso tiefer hatte werden lassen. Ängste, die so gut wie sicher daher rührten, dass ihr Vater sie verlassen hatte, trotz der tiefen Liebe, die sie beide für ihn empfunden hatten. Einer Liebe, von der zumindest Nora einst geglaubt hatte, nichts und niemand könnte sie je zerstören.

War es die Angst, auch noch einander zu verlieren, die Mutter und Tochter im Laufe der Zeit eher zu engen Freundinnen hatte werden lassen?

Jedenfalls kam es ihr heute noch so vor, als hätte sie ihre Mutter erst gestern nach einem gescheiterten Date mit einem Nachbarn weinend in der Küche vorgefunden. Wie sehr Miriam noch an Oskar hing, war Nora damals schlagartig klargeworden. Und wie sehr hatte sie ihren Vater in diesem Moment doch für all das Leid, das er über die Familie brachte, gehasst.

Das hartnäckige Vibrieren des Handys in ihrer Handtasche brachte Nora in die Gegenwart zurück.

Nein, dieses Mal schaute sie nicht nach. Sie wusste ohnehin, wer es war.

Wieder ein Anruf von Frank. Wieder eine seiner ach so charmanten Versöhnungsattacken.

Und sie kannte sich. Sie wusste, dass sie viel zu harmoniesüchtig und viel zu inkonsequent war, um seinem Gesäusel und seinen Pseudoargumenten standzuhalten, wenn sie sich erst einmal auf ein Gespräch mit ihm eingelassen hatte. Ihre einzige Chance war, erst gar nicht ranzugehen.

Ihr Blick wanderte aus dem Fenster zu den Birken im Klinikpark, die die Kieselwege mit den mintgrünen Holzbänken säumten.

Es war ein Ort, der Ruhe ausstrahlte. Ein Ort, der den Patienten dabei helfen sollte, diese Ruhe auch in sich selbst zu finden. Noch immer hoffte sie, dass ihrer Mutter dies gelingen würde. Aber vielleicht war die Veränderung, die Nora an ihrer Mutter aufgefallen war, ja bereits darauf zurückzuführen? Auf die Ruhe, nach der sich nicht nur Miriam sehnte, sondern insgeheim auch sie selbst?

»Darf ich vorstellen?« Miriam schob einen Teller mit zwei Stückchen Käsekuchen vor Nora auf den Tisch. »Der leckerste Kuchen, den du je gegessen hast.«

»Na, dafür, dass du ihn noch nicht probiert hast, bist du aber mehr als zuversichtlich.«

»Ich weiß es einfach.« Miriam stellte die Kaffeetassen ab. »Heute ist ein guter Tag, du wirst sehen.«

Nora lächelte, während sie nach ihrer Tasse griff. »Dein Optimismus gefällt mir. Oder sollte er mir eher Angst machen?«

»Oskar war hier.«

»Wie bitte?« Nora setzte die Kaffeetasse ab. »Wann?«

»Gestern. Um genau zu sein, er war zusammen mit Alexa hier.«

»Er war mit ihr hier? Nach allem, was war, besitzt er die Dreistigkeit, mit ihr hier aufzutauchen?«

»Das ist fünfzehn Jahre her, Liebes. Warum sollte er mich nicht mit ihr besuchen kommen? Er ist jetzt mit ihr verheiratet. Ich fand es einfach eine sehr nette Geste.«

»Eine sehr nette Geste …« Nora konnte ein abfälliges Lachen nicht unterdrücken. »Woher wusste er überhaupt, dass du hier bist?«

»Er muss es von Lena erfahren haben.«

»Und von wem weiß es Lena?«

»Nora!« Miriams Tonfall wurde bestimmter. »Reg dich doch nicht so auf.« Miriam ließ ihren Blick über die anderen Patienten und Gäste im Raum schweifen, dann beugte sie sich ein Stück vor und senkte die Stimme. »Ich habe Lena neulich angerufen. Sie hatte Geburtstag. Wir gratulieren einander nach wie vor, du darfst nicht vergessen, dass sie viele Jahre lang meine Schwägerin war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ihr Bruder …« Sie verstummte abrupt.

»Siehst du?« Nora runzelte die Stirn. »Selbst nach all der Zeit fällt es dir noch immer schwer, darüber zu reden.«

»Herrgott noch mal, ich bin wegen einer Depression hier. Natürlich fällt es mir nicht leicht, mich auf die Suche nach deren Ursache zu begeben oder über die Trennung von Oskar zu sprechen! Aber du meine Güte, Nora, sei doch nicht so verbissen und hör mir wenigstens einen Moment lang zu.«

Nora seufzte, erwiderte aber nichts. War die böse Ahnung, die sie überkam, vielleicht nur der Tatsache geschuldet, dass sie überlastet war? Oder lag es schlichtweg daran, dass sie auf alles, was auch nur annähernd mit ihrem Vater zu tun hatte, überempfindlich reagierte?

»Schon gut, Mama. Es ist dein Leben. Du musst wissen, was du tust, und vor allem, wer dir guttut.«

»Und genau darum geht es.« Miriam umklammerte ihre Tasse, während sie Nora intensiv musterte. »Ich habe hier sehr viel Zeit zum Nachdenken. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir all die Jahre viel zu viel Zeit mit Trauer, Wut und Schuldzuweisungen verbracht haben. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man auch vergeben können muss.« Miriam schluckte. »Ich sage bewusst vergeben, Nora. Nicht vergessen.«

Was für eine abgedroschene Floskel. Und das ausgerechnet aus dem Mund ihrer Mutter.

»Vergeben«, wiederholte Nora ungläubig. »Und das ist dir jetzt auf einmal eingefallen? Einfach so?«

»Na ja, sagen wir mal, ich habe einen kleinen Anstoß bekommen.«

»Einen Anstoß.«

»Ja, einen Anstoß. Hast du etwa vor, heute ständig meine Worte zu wiederholen?«

»Nein, es ist nur …« Nora verstummte, in ihrem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander.

»Mach dir keine Sorgen, mein Kind.« Miriam legte ihre Hand auf die Noras. In diesem Moment war sie zum ersten Mal seit langem einfach nur Mutter. Kein Problemfall, keine Patientin, kein Sorgenkind. Einfach nur Mutter. Die Mutter, deren Meinung für Nora noch immer, ob es ihr nun gefiel oder nicht, mehr zählte als die irgendeines anderen Menschen.

»Ich mache mir keine Sorgen«, antwortete Nora. »Ich …«

»Du machst dir immer Sorgen. Um mich, um dein nächstes Buch, um misslungene Talkshowauftritte.«

»Du hast die Sendung also doch gesehen«, entfuhr es Nora entsetzt.

»Auf dem Laptop einer Patientin, ja. Eine Aufzeichnung. Aber darum geht es nicht. Mal abgesehen davon, dass diese Mariella Paulus ja wohl der Inbegriff der Penetranz ist! Diese Frau ist einfach nur peinlich, wenn du mich fragst.«

»Mama!« Gerade jetzt wollte Nora nicht an die Sendung erinnert werden.

»Schon gut, schon gut.« Miriam setzte ihre Tasse ab. »Zurück zu dem, was ich eigentlich sagen wollte. Nun, da die Tabletten langsam anschlagen und sich in meinem Kopf einiges wieder einrenkt, ist mir klargeworden, dass du ganz dringend eine Auszeit brauchst. Genau wie ich. Du musst dich von dem Druck lösen, wieder einen Bestseller liefern zu müssen. Einmal eine Zeitlang weg von deinem bescheuerten Handy sein, das dich pausenlos an irgendwelche anstehenden Termine erinnert. Weg von deinem verrückten Designerfreund, dem die High Society wichtiger ist als du.«

»Das siehst du falsch. Frank ist einfach nur viel unterwegs. Er übt seine Arbeit mit Leidenschaft aus, da gibt es keine Halbheiten. Gerade deshalb habe ich mich ja in ihn verliebt. Und zu seiner Arbeit gehört eben nicht nur das Entwerfen der Kollektionen, sondern auch der ständige Kontakt mit Models, Agenturen und Promis.«

»Fragt sich nur, wie genau dieser sogenannte Kontakt mit den Models aussieht.«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass Frank kein oberflächlicher, überkandidelter Mensch ist, Mama? Deshalb hat er mir damals ja auch so hartnäckig Avancen gemacht. Eben weil er privat lieber einen Menschen an seiner Seite hat, der nicht so banal und substanzlos ist wie der Großteil der Leute, für die er arbeitet. All die Events gehören aber nun einmal zu seinem Job. Genauso wie die Lesungen und Interviews zu meinem gehören.«

Miriam lächelte wissend. »Du würdest dir lieber die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass ich recht habe, was Frank betrifft, nicht wahr?«

»Mama!«

»Schon gut.« Miriam hob beschwichtigend die Hand. »Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Tatsache ist jedenfalls, dass dein Vater einen Vorschlag gemacht hat, der mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf geht.«

»Fängst du schon wieder mit Oskar an?«

»Ja, weil er verdammt noch mal recht hat, Nora. Zumindest, was diesen Punkt angeht. Und dabei spielt es keine Rolle, was in der Vergangenheit war. Was allein zählt, ist das Hier und Jetzt, in dem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren sollten. Deshalb finde ich seine Idee, dich in sein Hotel einzuladen, auch geradezu genial. Die Einladung gilt gleichfalls für mich, aber ich werde wohl noch eine Weile hierbleiben müssen. Aber wenn wir verhindern wollen, dass auch du noch in der Klinik landest – und du wirst dort landen, wenn du dich weiterhin so großem Stress aussetzt –, dann müssen wir den Vorschlag deines Vaters annehmen.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Du erwartest doch nicht wirklich von mir, dass ich mich in ein Hotel voller Hunde begebe und einen auf idyllisch mit Oskar und seiner Baumrindenanbeterin mache, nur weil er mal eben so diesen Vorschlag gemacht hat? Vergiss es!«

»Er hat diesen Vorschlag nicht mal eben so gemacht, und das weißt du auch. Er hat den Kontakt zu dir über all die Jahre hinweg viele, viele Male gesucht. Und ich habe mir immer vorgeworfen, schuld daran zu sein, dass du den Kontakt zu ihm verloren hast.«

»Es war nicht deine Schuld, sondern seine, Mama. Er hat dich wegen einer Jüngeren verlassen. Er war derjenige, der ausgezogen ist und ohne uns leben wollte. Und abgesehen davon solltest du aufhören, mich ständig mit dir zu vergleichen. Du bist hier, weil dir der ewige Stress in der Schule einfach über den Kopf gewachsen ist. Früher bedeutete Lehrer zu sein eben etwas anderes als heute. Aber das kannst du nicht mit meinem Job vergleichen. Ich lebe meinen Traum, Mama. Ich lebe vom Schreiben. Stimmt schon, ich habe im Moment eine kleine Schreibblockade. Aber das geht vorbei, und abgesehen davon …«

»Abgesehen davon bist du meine Tochter. Und es ist meine Aufgabe als deine Mutter, auf dich aufzupassen, so gut ich kann. Egal, ob du nun achtundzwanzig, fünfundvierzig oder sechzig bist. Und nicht umgekehrt. Darüber solltest du einmal nachdenken.« Miriam suchte Noras Blick. »Und außerdem weiß ich selbst, was ich in meinem Leben ändern muss. Ich darf mich eben nicht mehr so sehr wie bisher für meine Schüler interessieren und engagieren.«

»Interessieren und engagieren ist gut. Du hast dich regelrecht von ihren Problemen auffressen lassen, Mama. Du hast dich mit einem prügelnden Familienvater angelegt und dich dabei selbst in Gefahr gebracht. Oder denk nur an die Sache mit den Klausens. Da ging es um Drogen, Mama. Um Drogen!«

»Lass uns nicht wieder davon anfangen.«

Nora stach mit der Gabel ein Stück Kuchen ab, ließ sie dann aber sinken, ohne sie zum Mund geführt zu haben. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Sie fühlte sich auf einmal wie gefangen und beobachtet von all den tuschelnden Menschen um sich herum. Ob sie ahnten, was in ihr vorging? Wobei – was ging denn eigentlich in ihr vor? Ihre Mutter war auf dem Weg der Besserung, sie selbst eine gefeierte Bestsellerautorin. Eigentlich lief doch alles bestens! Was waren da schon eine kleine Schreibflaute und ein nicht wirklich ernstzunehmendes momentanes Beziehungstief?

Aber sie wusste, dass das nicht stimmte, sondern weit mehr dahintersteckte. Und doch konnte sie es nicht greifen, das Problem, das ihr so schwer im Magen lag und dort wie ein Geschwür langsam, aber stetig heranwuchs. Sie erinnerte sich an den Abend nach der Scheidung ihrer Eltern. Sie hatte Miriam gefragt, ob sie bei einer Freundin übernachten dürfe, war später aber noch einmal spontan nach Hause gekommen, um ihren CD-Player zu holen.

»Mir ist nur ein Glas runtergefallen, Liebling.«

Nie mehr würde Nora diesen Satz ihrer Mutter vergessen, mit dem diese versuchte, sie zu beschwichtigen, als Nora die Küche betreten und Miriam weinend der Länge nach zwischen den Scherben auf dem Boden hatte liegen sehen. Ein Bild, das sich ihr für immer ins Gedächtnis eingebrannt hatte. Nahezu symbolisch für viele Situationen, die sie mit ihrer Mutter danach noch erlebte.

Und nach all dem Kummer, den ihr Vater ihnen zugefügt hatte, sollte sie nun einfach so tun, als sei nichts gewesen?

Miriam suchte den Blick ihrer Tochter. »Versprichst du mir, dass du wenigstens über seine Einladung nachdenkst?«

»Ich will dich nicht anlügen«, antwortete Nora.

»Dann sag jetzt nichts, sondern denk erst in aller Ruhe darüber nach. Du musst dich ja nicht heute entscheiden.«

Nora schwieg. Sie war so weit davon entfernt, über Oskars Vorschlag nachzudenken, wie die Sonne vom Mond. Dennoch brachte sie es nicht übers Herz, ihre Mutter zu enttäuschen. Sie seit langem derart guter Stimmung und redselig zu erleben war ihr sogar eine kleine Lüge wert.

»Ich denke darüber nach, ich verspreche es«, meinte Nora schließlich.

Alexa spürte seine Hand sanft über ihren Rücken gleiten, während sie nebeneinander den schmalen Fußweg am Waldrand entlanggingen. Durch den dünnen Stoff ihrer Bluse hindurch spürte sie seine Körperwärme, genoss seine Berührung.

Sie liebte es, ihn in ihrer Nähe zu haben, selbst nach all den Jahren musste sie sich hin und wieder vergewissern, dass er wirklich da war. Neben ihr, bei ihr. Und nie wieder gehen würde.

Vor ihnen liefen zwei ihrer Hunde, beschnupperten neugierig Büsche und Zweige und setzten Markierungen, um zwischendurch immer wieder von Oskar und ihr zu ihnen zurückgepfiffen zu werden.

Alexa lehnte im Gehen kurz ihren Kopf an seine Schulter, während ihr ein leiser Seufzer entwich.

»Du machst dir Sorgen«, sagte Oskar leise.

»Um dich.« Sie streichelte über seinen Rücken.

»Warum denn?« Er lachte. »Biete ich etwa in irgendeiner Weise Anlass zur Sorge?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Miriam zu besuchen.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass es dir nicht gefallen hat, sie wieder einmal zu sehen.«

»Das meine ich nicht.« Sie drehte sich um und stieß einen weiteren Pfiff nach den Hunden aus, die sofort aus dem Gebüsch gesprungen kamen.

»Dann klär mich auf, Liebes.«

»Weil du dir, glaube ich, falsche Hoffnungen machst«, entgegnete sie. »Warum sollte Nora deiner Einladung ausgerechnet dieses Mal folgen?«

»Falsche Hoffnungen? Ich?« Oskar hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Meine Tochter hat mich so oft abblitzen lassen, so viele meiner Briefe und Anrufe ignoriert – glaube mir, übertriebene Erwartungen habe ich schon lange keine mehr. Aber das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem immer wieder einen Versuch machen sollte, oder etwa nicht? Was wäre ich für ein Vater, wenn ich das nicht täte?«

»Ich weiß auch nicht.« Alexa bückte sich nach einem Stein und warf ihn gedankenverloren aufs Feld.

»Wenn du es nicht weißt, warum machst du dir dann Sorgen?«

»Ich will einfach nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst und dann doch wieder nur enttäuscht wirst.«

»Deine Sorge in allen Ehren.« Er schob die Hände in seine Hosentaschen. »Aber es geht mir gut. Wirklich. Und wer weiß, vielleicht ist es dieses Mal tatsächlich anders als sonst. Selbst Miriam war anders als sonst.«

»Sie ist wegen ihrer Depression in einer Klinik, Oskar, und wird dort mit entsprechenden Medikamenten behandelt und therapiert.«

»Schon, aber ich fand sie dennoch positiv verändert. Diesmal steckt mehr dahinter. Irgendetwas hat sich verändert, sie hat sich verändert, das spüre ich ganz deutlich.«

»Siehst du? Du machst dir also doch Hoffnungen, was Miriam und Nora angeht.«

Oskar hob einen Stock vom Boden auf und warf ihn in hohem Bogen den Weg entlang. Die Hunde rannten sofort aufgeregt los, um ihn aufzusammeln. Laut bellend, stritten sie sich um seinen Besitz, nachdem sie ihn gefunden hatten.

»Nora ist meine Tochter.« Oskars Stimme wurde leiser. »Deshalb werde ich die Hoffnung, dass wir eines Tages wieder zueinanderfinden, wohl nie ganz aufgeben.«

Der an- und abschwellende Ton und das einmal heller, dann wieder dunkler werdende Licht, das durch den Türspalt ins Zimmer fiel, zeigte Miriam, dass sich die Mehrheit der Patienten wieder einmal für eine dieser lächerlichen Doku-Soaps entschieden hatte. Aber wenigstens nahm ihr das die Entscheidung ab, ob sie sich zu ihnen in den Gruppenraum gesellen oder lieber ihr Buch zu Ende lesen sollte.

Sie schloss die Tür und ging zum Fenster, um die Fensterläden zu schließen.

Doch anstatt sie zu schließen, blieb ihr Blick an den Rosensträuchern vor dem Klinikgebäude hängen. Gedankenverloren lehnte sie den Kopf gegen die Fensterscheibe und schaute hinaus.

Noch immer dachte sie über Noras Worte nach.

Du bist hier, weil dir der ewige Stress in der Schule einfach über den Kopf gewachsen ist.

Die Arbeit an der Schule war ihr wirklich über den Kopf gewachsen. Mehrfach hatte sie in den letzten Jahren mit dem Gedanken gespielt, wieder an eine Grundschule zu wechseln, um dadurch Problemen wie Drogenmissbrauch, Gewalt und Mobbing unter Jugendlichen aus dem Weg zu gehen. Stattdessen hatte sie sich stets dazu berufen gefühlt, ihren Schülern zu helfen und für sie da zu sein. Ein Umstand, der sie nicht selten in die tiefsten Abgründe wunder, kranker Seelen und zerrütteter Familienverhältnisse blicken ließ.

Kam es einem Eingeständnis des Scheiterns gleich, wenn sie sich nun intensiv nach beruflichen Alternativen umschaute? Wenn sie die für sie nicht lösbare Aufgabe, all ihren Schülern gerecht zu werden und helfen zu können, jemand anders überließ?

Sie schluckte schwer. In den letzten zwei Tagen hatte sie weniger oft geweint als in den Wochen zuvor. Die für sie unerklärlichen, ständig wiederkehrenden Weinkrämpfe hatte der Arzt ihr damit erklärt, dass sie sich in einer Art psychischem Erschöpfungszustand befinde, aus dem man sie nun behutsam herausführen müsse.

Sie wischte sich die Tränenspuren von den Wangen, während ihre Gedanken wieder zu Nora wanderten.

Ob sie wirklich ernsthaft darüber nachdachte, Oskars Vorschlag anzunehmen?

Miriam wünschte es sich von ganzem Herzen.

Oskars Auszug hatte Nora und sie noch enger zusammengeschweißt, Nora aber gleichzeitig ihrem Vater entfremdet. Gerade deshalb wünschte sich Miriam nichts sehnlicher, als dass ihm Nora nach all den Jahren und gescheiterten Versöhnungsversuchen seinerseits nun endlich eine Chance geben würde. Nicht zum ersten Mal ergriffen beinahe lähmende Schuldgefühle Besitz von ihr.

Aber traf sie wirklich die gleiche Schuld am Scheitern ihrer Ehe wie Oskar? Kam ihr vielleicht nicht sogar eine noch größere, schwerwiegendere Schuld zu als ihm? Auch sie hatte Fehler gemacht und mit Oskars Vertrauen gespielt – was sie Nora immer verschwiegen hatte. Vielleicht gründete sich ihr Drang, anderen Menschen mit fast schon krankhafter Besessenheit helfen zu wollen, ja sogar darauf, dass sie diese Schuld gegenüber Oskar und Nora wiedergutmachen wollte?

Aber unabhängig davon, von welcher Seite aus man es betrachtete: Oskar war derjenige gewesen, der gegangen war. Er hatte beschlossen, ihrer Ehe und dem Familienglück keine zweite Chance zu geben.

Erneut kamen Miriam Zweifel. Machte sie es sich mit dieser Art von Betrachtung nicht schon wieder zu leicht?

Sie schloss die Läden und wandte sich vom Fenster ab.

Routiniert zog sie die Bettdecke zurück und ließ sich auf die Matratze fallen.

Es war noch zu früh, um schlafen zu gehen; sie entschloss sich daher, noch eine Weile zu lesen. Aber noch während sie nach dem Buch auf ihrem Nachtschrank griff, verlor sie sich erneut in Gedanken an die Vergangenheit.

Sie sah Nora mit angewinkelten Knien vor sich auf dem Bett sitzen. Die Zahnspange, die jedes Mal aufblitzte, sobald sie die Lippen zu einem kindlichen, strahlenden Lächeln verzog. Die Neugierde und Spannung, die in ihren Augen standen, wenn sie den Geschichten lauschte, die ihr Miriam Abend für Abend aus unzähligen Märchen- und Abenteuerbüchern vorlas. Und wie viele Male hatte Nora sie nicht darum gebeten, das Buch zu schließen und sich gemeinsam zu überlegen, wie die Geschichte weitergehen würde, dürften sie selbst sie zu Ende schreiben?

Nora war gerade in den ersten Jahren ihrer Autorenkarriere nie müde geworden, in ihren Interviews zu versichern, dass diese Abende in ihr den Wunsch hatten wachsen lassen, eines Tages selbst Schriftstellerin zu werden.

Noch heute sah Miriam in ruhigen Momenten, in denen Nora sich unbeobachtet glaubte, das begeisterungsfähige kleine Mädchen von damals in ihr. Sie sah die Leidenschaft und den unstillbaren Durst nach allem, was ihr unbekannt und unerklärlich war.

Manchmal frage ich mich, ob ich auch Schriftstellerin geworden wäre, wenn Papa bei uns geblieben wäre und es diese vielen Mutter-Tochter-Abende nicht gegeben hätte.

Diesen Satz, den Nora vor einigen Jahren bei einer ihrer gemeinsamen Shoppingtouren äußerte, hatte Miriam bis heute nicht vergessen.

Das Buch lag noch immer aufgeschlagen auf Miriams Schoß, ohne dass sie bislang auch nur eine einzige Zeile weitergekommen war. Sie würde es heute wohl doch nicht mehr zu Ende lesen.

Ob Nora und Oskar sich überhaupt nach all den verlorenen Jahren einander wieder annähern könnten? Selbst wenn beide es wollten, bedeutete das noch lange nicht …

Ein Klopfen an der Tür ließ sie erschrocken zusammenfahren.

»Ja?«

»Wir haben uns gegen die Soap-Fraktion durchgesetzt«, sagte Jana, während sie ihren Kopf durch die Tür steckte. »Heute Abend ist nun doch ›Columbo‹ angesagt. Bist du dabei?«

Miriam senkte den Blick auf das Buch, dann klappte sie es nach kurzem Zögern zu.

»Warum nicht?« Miriam lächelte. »Lesen kann ich auch noch morgen.«

Der Weg durch das kleine Waldstück zwischen Parkplatz und Mietshaus erinnerte Nora, seitdem sie hier vor zwei Jahren eine kleine Wohnung bezogen hatte, jedes Mal aufs Neue an eine »Criminal Minds«-Episode. Wann immer sie abends noch unterwegs war und im Dunkeln nach Hause kam, lief ihr auf den letzten Metern bis zur Haustür ein Schauer über den Rücken, der sie hin und wieder die Frage aufwerfen ließ, ob sie vom Familien- und Schicksalsroman nicht zumindest zeitweise ins Thriller-Genre wechseln sollte. Aber weder ihre Lektorin Maria noch ihre breite Leserschaft waren begeistert von dieser Idee. Sie liebten Noras Bücher vor allem wegen der Emotionalität und Wärme ihrer Geschichten, mit denen sie treffsicher stets den Weg zum Herzen ihrer Leserinnen fand. Sich in einem neuen Genre zu versuchen war es daher nicht wert, deren Erwartungen zu enttäuschen.

»Nein, Maria, du brauchst wirklich nicht nervös zu werden.« Es war bereits die dritte Lüge während des gerade erst begonnenen Telefongesprächs mit ihrer Lektorin. »Du bekommst die ersten sechzig Seiten Ende Juli. Spätestens!«

Noch immer hatte sie keine Ahnung, wie sie aus den bisher gerade einmal fünf mageren Seiten des Prologs in nur fünf Wochen sechzig machen sollte. Ihre Schreibblockade hielt nach wie vor an. Trotzdem war sie zuversichtlich, einen Weg zu finden. Früher waren zwanzig bis dreißig Seiten pro Tag kein Problem für sie gewesen – folglich würde sie wohl auch dazu in der Lage sein, dieses weit geringere Pensum zu schaffen. Oder etwa nicht?

»Nein, nein, wirklich. Wenn ich es dir doch sage. Ich krieg das hin. Ich muss nur …«

Überrascht ließ sie den Arm mit dem Handy sinken.

»Du?«

Dass Franks unerwarteter Anblick sie derart irritierte, und vor allem, dass er es ihr wahrscheinlich ansah, ärgerte sie maßlos.

»Nora.« Er stand direkt neben der Haustür an die Briefkästen gelehnt.

Wie gut er doch aussah. Sie kannte keinen anderen Mann, der im simplen schwarzen T-Shirt und in verwaschenen Jeans so viel hermachte wie dieser verfluchte Mistkerl!

Und sein Haar. Hatte er es schneiden lassen? So kurz wirkte das dunkle Braun beinahe schwarz.

»Nora? Hallo, Nora?« Marias Stimme, die aus dem Handy schallte, riss sie aus ihrer Starre.

»Ähm, sorry, Maria. Ich habe …«, sie warf Frank einen kurzen Blick zu, »gerade Besuch bekommen. Kann ich dich später zurückrufen?«

Frank schien den Abbruch des Telefonats als Entgegenkommen zu verstehen. Mit siegessicherem Lächeln kam er ihr einige Schritte entgegen.

»Vergiss es!« Sie schob das Handy in ihre Jackentasche und stapfte an ihm vorbei. Gut so, da war sie wieder, ihre Selbstbeherrschung.

Während sie den Schlüssel ins Türschloss schob, spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter.

»Das ist jetzt doch nicht dein Ernst, oder?«, protestierte er. »Bist du denn noch immer sauer, weil ich neulich etwas zu spät gekommen bin?«

»Ich sagte dir schon, vergiss es!«, beschied ihm Nora daraufhin knapp. Etwas zu spät!, das war nun wirklich der Gipfel der Unverfrorenheit.

Sie schob die Haustür auf, fest entschlossen, sie vor ihm und jeder seiner weiteren dünnen Entschuldigungen wieder zu schließen.

»Nun warte doch mal!« Geistesgegenwärtig stellte Frank seinen Fuß in den Türspalt und kam ihr nach.

Da standen sie nun, im Flur eines Hauses voller wissbegieriger Nachbarn, die geübt darin waren, ihre Ohren an Türrahmen und Wände zu legen, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was im Haus vor sich ging.

Sollte sie ihm etwa hier eine Szene machen? Ihn einfach wortlos stehenlassen oder mit sich nach oben nehmen und ihm dort eine Szene machen? Oder gar ein weiteres Mal nachgeben, so wie sie es bislang immer getan hatte?

»Ich will doch einfach nur mit dir reden.« Er griff nach ihrer Hand, die sie ihm jedoch sofort entzog.

»Ich kann jetzt nicht, Frank«, antwortete Nora möglichst leise in neutralem Tonfall. »Ich muss noch dringend am Manuskript arbeiten. Das am Telefon gerade eben war Maria. Sie wartet auf meinen Rückruf. Darüber hinaus bin ich mit meinem Roman schwer im Zeitverzug. Lass uns einfach in den nächsten Tagen telefonieren.«

Sowohl ihm als auch ihr war klar, dass ihre letzten Worte nichts anderes als ein vages Versprechen waren, mit dem sie ihn loswerden wollte. Weshalb Frank auch gar nicht weiter darauf einging.

»Ich habe dich versetzt, das stimmt, und es tut mir leid. Aber es waren einfach zu viele wichtige Leute auf dieser Veranstaltung. Kontakte, die ich nicht aufs Spiel setzen durfte, indem ich diesen Leuten zu wenig Zeit schenke. Ich meine, du weißt doch selbst, wie das ist.«

»Nein, das weiß ich nicht!« Sie hatte sich auf der ersten Treppenstufe zu ihm umgedreht und holte nun tief Luft. »Und hast du wirklich gerade ›nicht aufs Spiel setzen‹ gesagt?«

»Ja, ich …« Er stockte. Ihr Gesichtsausdruck schien ihn zu verunsichern.

»Sag mal, merkst du eigentlich gar nicht, was du da sagst?« Ihr Vorsatz, nicht laut zu werden, löste sich zunehmend in Luft auf. »Genau darum geht es doch, Frank. Du willst immer auf Nummer sicher gehen, keinen deiner ach so wichtigen Kontakte gefährden – aber was ist mit mir? Den Kontakt zu mir kannst du anscheinend sehr wohl gefährden. Ist unsere Beziehung denn etwas so Selbstverständliches für dich, dass es nichts ausmacht, wenn ich hinter jedem deiner Events und Kontakte zurückstecken muss?«

»Es war doch nur ein Abend, Süße. Bewerte das doch bitte nicht über. Du weißt doch, dass ich dich brauche. Genauso sehr, wie du mich brauchst. Wenn du momentan nicht so gestresst wärst, würdest du das ganz gewiss auch so sehen. In den letzten Wochen ist bei dir einfach viel zu viel passiert. Zuerst ist deine Mutter zusammengeklappt, dann die ganzen Probleme mit deinem Manuskript. Da ist es nur verständlich, wenn du jetzt überreagierst. Aber ich bin sicher, wenn du dir ein, zwei Tage Ruhe gönnst, wirst du einsehen, dass du und ich …«

»Stress?«, fiel Nora ihm ins Wort. »Du meinst also, dass ich zu viel Stress habe, Frank? Nun, da liegst du nicht einmal falsch. Ich sehe das nämlich ganz ähnlich wie du. Nur mit dem einen Unterschied, dass du im Moment mein größter Stressfaktor bist.«

»Aber …«

»Ich sagte, vergiss es, okay? Du verstehst es anscheinend wirklich nicht. Ich will einfach keinen Mann, dem ich erklären muss, was ich ihm zu bedeuten habe.«

»Aha, du fühlst dich also hintangestellt, und deshalb lässt du jetzt die Diva raus.« Er grinste.

»Nenn und sieh das meinetwegen, wie du willst, wenn eine Frau gerne an erster Stelle bei ihrem Freund stehen will. Aber ich habe einfach nicht die Zeit und vor allem keine Lust mehr, ständig feste Verabredungen mit dir zu treffen, um dann kurz vorher eine Absage per SMS von dir zu bekommen oder gar keine. Die Party neulich war nur der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat. Dabei ist es noch nicht mal so, dass ich wütend auf dich bin«, sie senkte die Stimme, »ich bin mir einfach nur zu schade für dieses ständige Hin und Her, verstehst du?«

»Hin und Her«, wiederholte er monoton, während er zu Boden starrte.

War er tatsächlich betroffen?

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich muss jetzt wirklich nach oben. Ich habe noch eine Menge zu tun und du doch sicher ebenso. Lass es also gut sein! Wir können, wie gesagt, ein anderes Mal drüber reden. Aber jetzt brauche ich einfach ein bisschen Zeit für mich. Es war ein langer Tag.«