Elfenbeinsonne - Valentina May - E-Book
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Valentina May

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Beschreibung

Glanz und Glück scheinen der Schmuckdynastie der Familie von Güldenstein aus dem Weserbergland sicher zu sein. Doch ein dunkles Ereignis aus der Vergangenheit droht alles zu zerstören... Die große Familien-Geheimnis-Saga für alle Fans von Lucinda Riley, Claire Winter und Jeffrey Archer »Fluch…unsere Familie…Lösung möglich…ruf zurück« – das sind die letzten Worte, die Christian von Güldensteins Vater kurz vor seinem Tod auf Christians Mailbox hinterlässt. Christian und seine Geschwister versuchen herauszufinden, was er damit gemeint haben kann – doch alles was sie finden, ist ein Schachspiel mit Elfenbeinfiguren mit seltsamen gravierten Symbolen – König und Dame fehlen. Ist das ein Hinweis? Unterdessen plagt Christian sein Gewissen: Um die verschuldete Goldschmiede zu retten, willigt er ein, die verwöhnte Claudia zu heiraten, dabei hängt sein Herz an Amelie… »Elfenbeinsonne« - der Auftakt einer mysteriösen und packenden Familiensaga rund um das Geheimnis der Güldensteins - die Teile sind auch unabhängig voneinander zu lesen.   

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ISBN: 978-3-492-98457-7© 2018 Piper Verlag GmbH, MünchenRedaktion: Ulla MothesCovergestaltung: Favoritbüro MünchenCovermotiv: Shutterstock.com

 

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Inhalt

Cover & Impressum

1.

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36.

37.

38.

Epilog

1.

Amelies Herz hämmerte vor Aufregung, als sie behutsam das zerbrechliche Schmuckstück auf das mit dunkelblauem Samt ausgeschlagene Podest legte. Hoffnung und Herzblut steckten in diesem Anhänger. Sie hatte ihn geschnitzt, geformt, geschliffen und war zufrieden mit dem Ergebnis. Jedes Detail ihrer Idee hatte sie umsetzen können. Die vielen geopferten Stunden hatten sich gelohnt. Der Anhänger besaß gute Chancen auf den Sieg. Mutter wäre stolz auf sie gewesen. Schade, dass sie nicht hier sein konnte. Einen Moment schloss sie die Augen und dachte an die letzten gemeinsamen Minuten. Mutter war zu Hause friedlich eingeschlafen. Damals war Amelie gerade erst fünfzehn geworden. Ein dürrer Teenager mit Zahnspange und unerschöpflichen Ideen im Kopf. Hand in Hand hatten sie und ihre Schwester Laura an Mutters Bett gestanden.

Blass und schmal hatte Ingrid Stolze in ihrem Bett gelegen, mit eingefallenen Wangen, die Augen weit in den Höhlen liegend. Aus dem Körper der einst agilen Frau war jegliche Kraft gewichen, ihre letzten Worte nicht mehr als ein Wispern gewesen. Amelie hatte sich weit zu ihr hinunterbeugen müssen, um das zu verstehen, was der Mutter offensichtlich auf der Seele gelastet hatte. »Seltene Gabe … Schmuckstück Seele einhauchen … du hast sie. Deine Großmutter hatte das Talent … ihre Mutter … und deren Mutter … Nutze es … versprich mir … niemals aufzugeben … versprich es …«

Mit Tränen in den Augen hatte Amelie Mutters eiskalte Hand in ihre genommen und sanft gedrückt, während sie ihr versprach, ihrer Begabung zu folgen. Mit einem Lächeln auf den Lippen war Mutter dann gestorben. »Die Goldschmiedekunst ist mehr als ein Beruf. Sie ist eine Passion. Du hast mehr Talent als ich, mein Kind. Mach was draus«, hatte sie oft zu Amelie gesagt, wenn sie als Kind bei ihr in der Werkstatt gesessen und sich an einem Schmuckstück versucht hatte.

Sobald Amelies Gedanken in die Vergangenheit schweiften, flammte der Schmerz wieder auf. Traurigkeit trübte ihre Vorfreude auf den Wettbewerb.

Auch ihre Mutter hatte immer von einem Wettbewerb wie an der Goldschmiedeschule in Pforzheim geträumt, wo sie ihre Begabung unter Beweis hätte stellen können. Doch es war aus den unterschiedlichsten Gründen nie dazu gekommen. Wie sehr hätte sie es ihr gegönnt. Ihre Mutter war eine innovative Designerin gewesen, die ihre künstlerische Berufung der Kinder wegen stets zurückgestellt hatte. Eine Träne quoll unter Amelies Lid hervor, die sie verstohlen fortwischte. Jetzt war nicht die Zeit, Trübsal zu blasen, sondern hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, und der Sieg bei diesem Wettbewerb war der erste Schritt dafür.

Die meisten der Gäste saßen bereits auf ihren Plätzen, die Blicke nach vorn auf die Exponate gerichtet. Alle warteten auf den Beginn des Events. Ihr Anhänger wirkte in der betongrauen Umgebung des Forums wie ein Relikt aus längst vergessener Zeit.

Ein letztes Mal strich Amelie über die glatt polierten Stellen. Es hinterließ bei ihr das Gefühl, ihr Werk dem Schicksal preiszugeben, wie eine Mutter, die ihr Kind zum ersten Mal losließ. Laura hätte sie sicher für diese Sentimentalität ausgelacht. »Du bist immer so schrecklich theatralisch«, warf sie Amelie stets vor.

Während Amelie sich schlecht von Dingen trennen konnte, mit denen sie intensive Erinnerungen verband, warf Laura sie in den Müll, um Platz für neue Errungenschaften zu schaffen.

Unterschiedlicher wie sie beide konnten Schwestern nicht sein. Dennoch hatte das Leben sie zusammengeschweißt. Nach Mutters Tod war die jüngere Laura nicht mehr von ihrer Seite gewichen, hatte eine Zeit lang in ihrem Bett geschlafen, bis sie zu Oma Irmi gezogen waren. Die Großmutter war eine energische, aber liebenswürdige Frau gewesen, zu der Amelie und Laura eine innige Beziehung besessen hatten. Mit den Geschichten aus ihrem Leben in Afrika hatte sie es stets verstanden, sie in ihren Bann zu ziehen. Amelie wusste dank ihr alles über Elfenbein und das bedauernswerte Schicksal der Tiere. Aber sie wusste auch von den Riten der Eingeborenen, ihrer Furcht vor dem Zorn der Götter und Ahnen und wie sie sich durch Zauber davor zu schützen versuchten. In ihrem Kopf waren lebendige Bilder über das entbehrungsreiche Dasein in Afrika entstanden.

Aus Oma Irmis Nachlass stammten auch das Elfenbein und die dazugehörigen Zeichnungen eines Eingeborenen. Ursprünglich war der Elfenbeinanhänger ein zweifingerbreites, längliches Stück gewesen, bis auf ein paar Kerben unbearbeitet, von zwei simpel gearbeiteten Goldhäubchen eingefasst, davon eines mit Öse für die Kette. Oma Irmi hatte den Anhänger vor einem halben Jahrhundert während ihrer letzten Reise auf einem Markt irgendwo in Zentralafrika von ihrem Mann geschenkt bekommen. Opa Hartwig, den Amelie leider nie kennengelernt hatte, war Botaniker gewesen und mit Irmi durch ganz Afrika gereist. Tragischerweise war er kurz darauf an einem Fieber gestorben.

»Hätte mein Hartwig ihn nicht gekauft, wäre er jetzt noch am Leben.«

Wenn Amelie sie nach dem Grund gefragt hatte, war Oma Irmi ihr stets ausgewichen.

»Darüber darf man nicht sprechen. Das bringt Unglück«, hatte sie ihr stets erklärt.

An Oma Irmis Hals hatte der Anhänger wie ein Knochen ausgesehen. Beim Anblick hatte Amelie sich jedes Mal innerlich geschüttelt. Es hatte in ihren Fingern gejuckt, ihn zu bearbeiten, zu formen, was der Großmutter nicht entgangen war.

»Du bist wie deine Mutter. Wenn ich einmal nicht mehr bin, gehört er dir. Vielleicht bringt er dir mehr Glück. Magische Kräfte umgeben ihn.«

Wie abergläubisch ihre Großmutter doch gewesen war, geprägt von ihren Aufenthalten unter den Einheimischen Afrikas, bei denen Übersinnliches zum Alltag gehörte. Als Kind hatte Amelie es aufregend gefunden, wenn sie Großmutters abenteuerlichen Erzählungen von heiligen Medizinmännern, deren Ritualen oder mystischen Tierbegegnungen gebannt gelauscht hatte. Heute hingegen lächelte sie, wenn sie an die netten Geschichten dachte, die Oma Irmi so lebendig erzählt hatte. Aber diese Erzählungen hatten sie inspiriert. Ohne sie wäre der Anhänger nicht entstanden. Amelie erinnerte sich noch gut daran, dass auf der Rückseite des Elfenbeinanhängers drei Kerben zu sehen waren. Sie erinnerte sich daran, dass Oma Irmi oft, wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hatte, fast andächtig mit dem Finger darübergestrichen hatte.

»Bitte treten Sie jetzt zurück.«

Eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter. Amelie zuckte zusammen. Sie wandte sich um und stand einem hochgewachsenen Mann im Nadelstreifenanzug mit lila Einstecktuch in der Brusttasche gegenüber, der sie streng musterte. Eine Frau reichte ihm eine Glasglocke, die er über ihr Werk stülpte. Auf dem Aufkleber am unteren Rand war das Motto des Wettbewerbs Ein Fest für die Sinne aufgeführt. Die Namen der Teilnehmer wurden streng geheim gehalten. Doch Amelie hatte in den drei Jahren ihre Mitschüler und -schülerinnen und deren Arbeiten so weit kennengelernt, dass es ihr leichtfiel, die Schmuckstücke ihrem Hersteller zuzuordnen, die von einem speziellen Gremium ausgesucht worden waren.

Lange hatte sie über das Rohmaterial gegrübelt, bis sie sich für Elfenbein entschieden hatte. Sie liebte das Schnitzen.

Ein Parfümduft mit der Maiglöckchennote drang in Amelies Nase. Tilda trat neben sie. Der Hauch von Frühling passte zu ihrer Freundin mit dem Porzellanteint und dem quirligen Naturell. Doch heute trat sie mit angespannter Miene neben sie. »Hey, wie geht’s dir?«, fragte sie mitfühlend.

»Kneif mich mal, damit ich weiß, dass ich wirklich nicht träume«, antwortete Amelie und streckte ihr den Arm hin. Tilda schüttelte den Kopf.

Die Freundin strich eine widerspenstige Strähne ihrer kupferroten Lockenpracht hinters Ohr. »Ich beneide dich. Die Szene wirkt so lebendig. Die Bewegung, die Mienen … Ich wünschte, ich könnte das auch. Egal, welche Mühe ich mir immer gebe, nichts gelingt so, wie ich es mir vorstelle.«

»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Dafür bist du eine begnadete Glasbläserin.« Die selbstgefertigten Christbaumkugeln der Freundin waren zu Weihnachten überaus gefragt gewesen. Tilda zog eine Grimasse. »Leider bildet mein Vater sich ein, dass ich Goldschmiedin werden soll, auch wenn das nicht mein Ding ist. Stur und verbohrt, wie er ist.« Deutlich war die Enttäuschung herauszuhören.

»Vielleicht kannst du ihn ja eines Tages dazu überreden, in einer Glashütte zu arbeiten?« Ein wachsamer Ausdruck trat in Tildas Augen und weckte in Amelie das Gefühl, dass sie ihr etwas verschwieg. Die Freundin sprach kaum von ihrer Familie, fiel ihr wieder einmal auf.

»Da müssten Weihnachten und Pfingsten auf einen Tag fallen, damit das geschieht!«, rief Tilda aus. »Dabei hätte ich wirklich tolle Ideen.«

Amelie wusste, welche Bürde auf den Schultern der Freundin wegen der elterlichen Erwartungshaltung lastete. Schon wieder schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit.

Mutters viel zu früher Tod hatte den Juwelierladen der Familie in eine finanzielle Krise gestürzt, weshalb Vater seinen Kummer im Alkohol zu vergessen suchte. Amelie, kurz vor ihrer Ausbildung und unerfahren in der Geschäftsführung, hatte ihn zum Glück überreden können, den smarten Goldschmied Dennis einzustellen. Dennis! Unter seinem begehrlichen Blick war sie jedes Mal dahingeschmolzen. Die Erinnerung an ihn besaß jedoch auch einen bitteren Nachgeschmack. Ihre Wunden waren noch immer nicht ganz verheilt. Fluchtartig hatte sie damals Bremen verlassen, um einen neuen Anfang in Pforzheim zu starten. Nur möglichst weit von ihm entfernt. Vater hatte den Laden geschlossen und arbeitete als Aushilfsgärtner, wo er bei körperlicher Arbeit und an der frischen Luft seine Trauer und Probleme vergessen konnte. Doch er träumte noch immer davon, seiner Berufung als Goldschmied irgendwann nachgehen und den Laden wiedereröffnen zu können. Amelie hatte ihm versprechen müssen, nach ihrem Schulabschluss nach Bremen zurückzukehren und bei ihm im Juwelierladen zu arbeiten. Eine Entscheidung, die sie längst bereute. Tilda, die ihre Bedenken nur allzu gut verstand, hatte sie ermutigt, am Wettbewerb teilzunehmen. Ein Sieg könnte ihr den Sprung in die weltweite Designerwelt ermöglichen. Vater würde ihr sicher nicht im Weg stehen.

Tilda dirigierte Amelie zur vorletzten Reihe. »Da hinten sind zum Glück noch zwei frei. Bin mal gespannt, wer Konkurrent Nummer sechs ist«, flüsterte sie Amelie zu. »Schon komisch, dass Lehmann die ganze Zeit solch ein Geheimnis daraus gemacht hat.«

Sechs Schmuckstücke hatten es nach Vorauswahlen des Schulgremiums in die Endrunde geschafft, eines fehlte noch für die Jury zur Begutachtung.

Amelies Blick schweifte umher, bis er an Claudia Castanos hängenblieb, die kühl lächelnd an einer der Betonsäulen lehnte. Amelie senkte den Blick. Sie konnte die Mitschülerin nicht ausstehen, die ständig mit ihren Reisen oder ihrem Vater prahlte und sogar Mitschüler bestach. Dennoch musste sie neidvoll gestehen, dass Claudia im klassischen Sinn als schön zu bezeichnen war, mit den mandelförmigen Augen, den hohen Wangenknochen und dem sinnlichen Mund. Ihre raubtierhafte Grazie war provokativ und hatte schon so manchen der Männer an der Schule ins Schwärmen geraten lassen. Claudia schien nur ein Ziel zu verfolgen: um jeden Preis aufzufallen.

Ihre Familie lebte in Siena und zählte zu den traditionsreichsten Schmuckdesignern Europas.

Ihr pinkfarbenes Minikleid brachte ihre endlos langen Beine hervorragend zur Geltung und ließ Männer zu Gaffern werden.

Amelie hingegen trug stets Hosen, in denen sie sich wohler fühlte. Sie war schlank, aber verglichen mit der superschlanken sexy Italienerin kam sie sich wie ein Dorftrampel vor. Claudia färbte ihr Haar neuerdings platinblond, was ihr ausgezeichnet stand und einen reizvollen Kontrast zu ihrer leicht gebräunten Haut bildete.

»Ich wette mit dir, dass die Castanos die letzte Nominierte ist«, raunte Tilda ihr zu und schnitt eine Grimasse.

»Abwarten«, antwortete Amelie. Schulleiter Lehmann hatte den sechsten Beitrag bisher nur dem Schulgremium gezeigt, während alle anderen Beiträge vor dem Wettbewerb im Forum hinter Glas ausgestellt worden waren. Vielleicht hatte Tilda recht. Claudia wirkte verdammt selbstsicher, obwohl sie zu den Schlechtesten des Jahrgangs zählte. Anstatt sich Mühe bei den Arbeiten zu geben, war sie lieber shoppen gegangen oder hatte ihren Partyrausch ausgeschlafen. Dennoch hatte ihr keiner der Lehrer das nachgetragen, nicht einmal Eckhard Lehmann, der für seine Strenge bekannt war. Die temperamentvolle Tilda hatte in den vergangenen drei Jahren sehr unter ihm gelitten, weil er Widerworte hasste. Claudia Castanos hingegen besaß bei ihm Narrenfreiheit. Sie musste nur mit ihren langen Wimpern klimpern, schon schmolz Lehmann dahin wie Butter in der Sonne.

Während Claudia ständig irgendwelche News aus dem Hause Castanos erzählte, um sich interessant zu machen, sprach Tilda selten über ihre Familie. Auch in den meisten Ferien war sie in Pforzheim geblieben, statt nach Hause zu reisen.

»Seit Mamas Tod sehen wir uns nur zu den hohen Feiertagen. Das ist okay so. Mein Vater vergräbt sich in der Arbeit. Und wenn ich mal zu Hause bin, will er alles bestimmen, was ich anziehen, welche Veranstaltungen ich besuchen oder mit wem ich ausgehen darf. Darauf kann ich gut verzichten. Sich selten zu sehen, besitzt viele Vorteile, glaub mir.«

Heimlich hatte Amelie im Internet nach der Juwelierfamilie Gold gesucht, aber keine Informationen gefunden. Nicht einmal einen Hinweis zu der Firma, für die der Vater der Freundin arbeitete.

Amelie hatte überlegt, ob sie Tilda darauf ansprechen sollte, sich aber dagegen entschieden, weil sie dann gestehen müsste, im Internet nach ihr gesucht zu haben. Das kam Amelie wie ein Vertrauensbruch vor. Jede Frage nach ihrer Familie würgte Tilda ab. »Bitte versteh mich. Ich mag nicht darüber reden, besonders nicht über meinen Vater. Er ist ein absoluter Despot und Kontrollfreak. Bitte frag mich nicht mehr nach ihm, ja? Ich bin Tilda. Ich möchte, dass du mich so magst, wie ich bin.«

Amelie hatte es der Freundin versprochen. Wie sie hatte auch Tilda ihre Mutter früh verloren. Amelie schloss einen Moment die Augen. Sie konnte sich kaum noch an das Gesicht ihrer Mutter erinnern, nur an ihre tiefe, warme Stimme. Sie zuckte zusammen, als Tilda sie am Ärmel zupfte. »Hast du mir eigentlich zugehört?«, fragte die Freundin vorwurfsvoll.

»Entschuldige, aber ich bin so aufgeregt«, wich sie aus und lächelte Tilda an.

»Okay. Schon gut.«

Schulleiter Eckhard Lehmann war ein Mann mittleren Alters, schlank, mit aschgrauem Haar und Geheimratsecken. Sein anthrazitfarbener Anzug war von edlem Zwirn, ebenso das blütenweiße Hemd und die grüne Krawatte. In dem Augenblick, als er vor die Gäste trat, klingelte ein Handy. Tilda suchte hektisch in ihrer Hosentasche und zog es heraus. Sie zuckte mit den Achseln. »Hab ich vergessen«, entschuldigte sie sich, bevor sie mit den Augen rollte. »Schon wieder mein Vater«, flüsterte sie Amelie zu. »Jetzt nicht.« Sie schaltete das Handy aus und schob es mit finsterer Miene in die Hosentasche zurück.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Amelie, woraufhin Tilda nickte.

»Ja, ja, er will mich sicher wieder nur nach Bernd ausfragen. Nicht mit mir …«

Bernd war seit drei Wochen Tildas neuer Freund. Sie und der angehende Architekt hatten sich bei einem Richtfest getroffen und Hals über Kopf ineinander verliebt. Amelie kannte Bernd nur von einem Foto. Ein absoluter Frauentyp, gut aussehend, sportlich und smart. Tilda war in ihn vernarrt und verzieh ihm zu oft, wenn er sie versetzt hatte.

»Darf ich Sie um Ruhe bitten, meine Damen.« Lehmann warf ihnen einen wütenden Blick zu. Sofort verstummte Tilda. Amelie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Es war ihr unangenehm, als sich alle Blicke auf sie und die Freundin richteten. Tilda hingegen lehnte sich grinsend zurück.

Auf einen Wink Lehmanns kehrte der Mann mit dem lila Einstecktuch zurück. In der einen Hand eine weitere Glasglocke und in der anderen auf einem Tuch drapiert das letzte Exponat. Die Spannung ließ Amelies Herz schneller schlagen. Der Armreif … den hatte sie doch schon einmal gesehen. Da war sie sich sicher. Hatte nicht Claudia einen in der Zwischenprüfung präsentiert? Ein goldener Armreif mit Hieroglyphenschrift darauf. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Glasglocke. Tatsächlich, es war der Gleiche, wenn auch jetzt mit anderen Gravuren versehen. Da hatte Claudia es sich wirklich leicht gemacht, indem sie etwas nur leicht umgearbeitet hatte. Der zweihändebreite Goldarmreif mit Hieroglyphen in einer Kartusche hätte aus einem Pharaonengrab stammen können. Durch das Licht glänzte das Gold. Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Verglichen mit den anderen Beiträgen war der Armreif ein Eyecatcher. Gegen Claudias Beitrag wirkten die anderen Exponate unscheinbar. Claudia stolzierte an den Reihen entlang, bevor sie in der ersten Reihe Platz nahm.

»Natürlich muss sie wieder ganz vorn sitzen. Als wäre sie ein VIP. Bestimmt hat sie Lehmann dazu gebracht, ihr einen Stuhl zu reservieren«, lästerte Tilda und kniff die Lippen verärgert zusammen.

Geschmeidig schlug Claudia ihre Beine übereinander und wippte mit der Fußspitze. Amelie entging nicht das kurze Aufleuchten in Lehmanns Augen, bevor er die Jury begrüßte.

»Applaus für die Juroren, liebe Gäste!«, rief Lehmann ins Mikro. Zwei Frauen um die vierzig und vier Herren zwischen Ende zwanzig und sechzig betraten den Saal. Nacheinander rief Lehmann sie auf und berichtete von ihrem künstlerischen Werdegang. Beifall brandete auf. Nachdem der verklungen war, herrschte eine kurze Weile Stille. Jemand hüstelte, und Lehman setzte eine wichtige Miene auf.

»Es ist mir eine große Ehre, Ihnen für den heutigen Abend einen besonderen Gast anzukündigen. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, werden die Wettbewerbe jedes Jahr von einem Kunstmäzen unterstützt. Heute befindet sich der diesjährige Sponsor unter uns. Begrüßen Sie mit mir Signore Tomas Castanos!« Eifrig klatschte Lehmann in die Hände, und die Gäste folgten seinem Beispiel. Auch Amelie spendete Beifall.

»Das ist doch kein Zufall! Ausgerechnet Castanos«, raunte Tilda ihr empört zu. Amelie ahnte, was die Freundin ihr damit sagen wollte.

»Der braucht doch keinen Wettbewerb, um seine Tochter im Unternehmen mitarbeiten zu lassen.« Dem Gewinner dieses Wettbewerbs winkte ein Vertrag über die Mitwirkung an der Frühjahrskollektion bei Castanos. Das Sprungbrett für jeden angehenden Designer. Claudias Vater zählte zu den führenden Schmuckherstellern Europas neben Namen wie Rohde, Wellendorff oder von Güldenstein. Schmuck für die alljährliche Frühjahrskollektion von Castanos zu entwerfen, wäre der Hammer! Amelie hatte immer davon geträumt. Dennoch missfiel ihr der Gedanke, dass sie, wenn sie den Wettbewerb gewinnen würde, womöglich ständig Claudia begegnen könnte und ihren Sticheleien ausgesetzt wäre.

Lehmann leierte die Auszeichnungen des Ehrengastes herunter und erwähnte, dass dessen Gesellenstück ganz Europa in Erstaunen versetzt hätte, als es seinerzeit bei Sothebys für mehrere Millionen Pfund versteigert worden war. Amelie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem Vater ihr aus der Zeitung von dem Opal mit dem besonderen Schliff vorgelesen hatte. Gleich würde sie den Mann kennenlernen, über den seitdem ganz Europa redete. Castanos erhob sich aus der ersten Reihe und trat neben Lehmann. Er reichte dem Schulleiter nur bis zur Schulter. Sein lackschwarzer Haarkranz glänzte im Licht. Nur an den Schläfen waren Silberfäden erkennbar. Auch er trug einen dunklen Anzug, über dessen Hosenbund sich sein Bauch wölbte. Am kleinen Finger seiner linken Hand steckte ein goldener Siegelring. Sein dargestelltes Selbstbewusstsein übertraf seine Körpergröße.

Tilda stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite. »Das ist Tomas Castanos, Claudias Vater? Den habe ich mir anders vorgestellt. Auf den Fotos in der Zeitung sah er immer größer aus. Ich hätte vorher mal ins Internet sehen sollen. Der könnte ja der jüngere Bruder von Danny di Vito sein. Ich weiß nicht, was Frauen an kleinen, korpulenten Männern so anziehend finden. Ich jedenfalls nichts.« Tilda rümpfte die Nase. Auch Amelie hatte ein anderes Bild von ihm gehabt. In den Klatschblättern wurde oft von seinen zahlreichen Affären berichtet. Auf Fotos war er nie ganz zu sehen, und sie hatte noch nie eine Ablichtung mit einer seiner Geliebten gesehen. Unter dem Begriff Womanizer hätte auch sie sich etwas anderes vorgestellt. Wider Erwarten wirkte er in natura sympathischer als in den Boulevardzeitungen. Im Vergleich zu seiner gebräunten Tochter war seine Haut eher blass. Offensichtlich hielt er sich mehr in Gebäuden auf, als sich von der toskanischen Sonne verwöhnen zu lassen.

»Seine Absichten sind doch sonnenklar«, flüsterte Tilda.

»Du siehst mal wieder schwarz.« Amelie schüttelte den Kopf.

Nach dem der tosende Beifall verklungen war, stellte Lehmann die einzelnen Wettbewerbsbeiträge nacheinander vor.

Amelie war viel zu aufgeregt zuzuhören. Stattdessen beobachtete sie die ganze Zeit Claudia, die ungewohnt zurückhaltend dasaß und ihren Vater anhimmelte. »Beitrag Nummer fünf ist eine Elfenbeinschnitzerei.« Amelies Herz klopfte bis zum Hals. Jetzt hörte sie Lehmann doch zu.

»Eine besondere Jagdszene, wie Sie sehen können«, fuhr der Schulleiter fort. Die schwenkbare Kamera an der Decke warf ein vergrößertes Bild ihres Beitrags für die Anwesenden an die Leinwand hinter Lehmann.

»Sie erkennen Krieger auf Elefantenjagd. Wenn ich auch jetzt die Juroren zu mir bitten darf, für die Beurteilung das Stück näher in Augenschein zu nehmen.« Nacheinander traten die sechs Jurymitglieder vor, umrundeten die Glaskuppel und tuschelten miteinander. Nichts in ihren Mienen oder Gesten verriet, ob ihnen Amelies Arbeit gefiel. Im Anschluss bat Lehmann Castanos, näher zu treten und Amelies Beitrag zu betrachten. Kurz glaubte sie, einen Anflug von Anerkennung im Blick des bekannten Schmuckherstellers zu erkennen.

»Claudia wird siegen, wirst sehen«, flüsterte Tilda ihr zu und ballte die Hände auf dem Schoß.

»Noch hat sie nicht gewonnen. Wart erst mal ab. Das wäre doch zu offensichtlich«, versuchte Amelie die Freundin zu beschwichtigen.

In der Zwischenzeit war die Jury weitergegangen und versammelte sich nun um Claudias Armreif. Amelie hielt den Atem an und beobachtete gespannt die Reaktionen. An den mangelhaften Steineinfassungen und Gravuren konnte eigentlich jeder Experte die flüchtige Arbeit erkennen. Wieder folgte Gemurmel, und der eine oder andere Juror nickte anerkennend. Amelies Muskeln spannten sich an. Jeder Laie erkannte doch die schlampige Ausführung der Gravuren. Es sei denn … Tilda hatte recht und es ging hier nicht mit rechten Dingen zu.

Die Freundin legte ihr die Hand aufs Knie und sah sie mitfühlend an. Claudia drehte sich lächelnd zu ihnen um. Ihr siegessicherer Blick war wie eine Ohrfeige für Amelie.

»Meine Damen und Herren, die Jury wird sich jetzt zur Beratung zurückziehen. Genießen Sie bitte in der Pause unser Fingerfood, das für Sie im Nebenraum serviert ist.« Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete Lehmann sich, eilte zur doppelflügeligen Tür zum Nebenraum und zog sie weit auf. Die Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und folgten ihm.

»Eigentlich musst du diesen Wettbewerb trotzdem gewinnen, Lie. Jeder wird die Qualität deiner Arbeit erkennen«, versuchte Tilda sie aufzumuntern, die ihre Missstimmung offenbar bemerkt hatte. Amelie lächelte gequält, während sie weiterhin gegen ihre zunehmende Nervosität kämpfte. Sie konnte das Urteil der Jury kaum erwarten. Sie wollte endlich den Siegernamen von Lehmann hören.

Obwohl alle sich in den Nebenraum begeben hatten, verblieben die beiden Freundinnen auf ihren Sitzen. Vor lauter Aufregung waren Amelies Hände eiskalt. Sie hoffte immer noch, dass sie sich täuschte.

»Wollen wir nicht auch hinübergehen und eine Kleinigkeit essen? Mein Magen knurrt«, schlug Tilda vor.

Als wenn sie jetzt etwas essen könnte! »Geh ruhig. Ich kriege keinen Bissen hinunter.«

»Wirklich?«, fragte ihre Freundin hoffnungsvoll.

»Ja, klar, nun geh schon.« Amelie rang sich ein Lächeln ab und gab ihrer Freundin einen sanften Schubs.

Nachdem Tilda fort war, ging Amelie nach vorn, um sich noch einmal alle Werke der Konkurrenten genauer zu betrachten. Die erste Glasglocke barg einen Smaragdring. Ihrem geschulten Blick entging nicht der achteckige Schliff. Die Facetten waren an den Edelsteinkanten treppenartig, parallel zueinander verlaufend angelegt worden und reflektierten das Licht besonders intensiv. Eine sehr aufwendige Arbeit, die sich für Amelies Geschmack gelohnt hatte. Unter den nächsten beiden Glasglocken befanden sich ein Perlendiadem und eine mehrreihige Perlenkette mit einem gut gearbeiteten Amethyst-Verschluss. Unter der Glasglocke neben Claudias Armreif war ein Paar Ohrringe zu sehen, bestehend aus zwei achtzehnkarätigen goldenen Halbmonden, in die winzige Brillanten eingelassen waren, die wie Sterne funkelten. Bis auf Amelie hatten alle Teilnehmer Gold als Basismaterial ihrer Bearbeitung gewählt, doch war kein Schmuckstück darunter, das sich vom Marktüblichen abhob.

Amelie hingegen liebte es, wenn ihre Kreationen eigene Geschichten erzählten, die sie zu etwas Besonderem formten.

Im Vergleich zu den glänzenden Objekten unter Glas wirkte ihr Anhänger zugegebenermaßen farblos und zerbrechlich. Erst auf den zweiten Blick erkannte jeder Schmuckliebhaber die Detailtreue. Wenn sie ein Bild im Kopf hatte, musste sie es genauso umsetzen. Sie hatte den Elefanten und die Krieger vor ihrem geistigen Auge gesehen und versucht, ihrer Vorstellung entsprechend wiederzugeben.

»Der Elfenbeinanhänger ist sicher von dir. Bestimmt hoffst du, den ersten Preis zu gewinnen. Da du dir ja so viel Mühe gegeben hast.« Der sarkastische Tonfall ließ Amelie herumfahren. Der leichte Akzent hatte Claudia verraten.

»Und du fühlst dich wohl schon als Siegerin.« Auf Amelies Worte hin blitzte es wütend in Claudias Augen auf.

»Das werden wir ja bald erfahren. Allerdings glaube ich, dass es eine Frage des allgemeinen Geschmacks ist. Frauen schmücken sich lieber mit strahlendem Schmuck als mit deprimierenden Jagdszenen. Und es sollte auch ein bisschen nach was aussehen.« Claudia drehte an ihrem pompösen Goldring, einem Castanos-Entwurf für die Millionärsliga.

Wie konnte Amelie auch nur einen Moment annehmen, Claudia wäre eine faire Verliererin! Aber klar, der breite Goldreif war allein vom Materialwert den anderen Stücken um ein Vielfaches überlegen.

»Zum Glück bist du kein Jury-Mitglied«, konterte Amelie.

»Dein Anhänger wäre bestens in einem Heimatmuseum aufgehoben. Kleiner Tipp am Rande: Grandelschmuck wäre nicht so kostspielig wie Elfenbein gewesen.« Mit diesen Worten wandte Claudia sich um und stolzierte zu ihrem Platz.

Was bildete sie sich nur ein? Amelie schluckte eine bissige Bemerkung hinunter, denn sie wollte vor den Gästen keinen Streit provozieren. Empört blickte sie ihr hinterher. Hätte sie vorher gewusst, dass Tomas Castanos den Wettbewerb unterstützte, hätte sie bestimmt nicht teilgenommen.

Tilda kehrte mit einem Glas Sekt in der Hand zurück und sah sie fragend an.

»Lie, du siehst aus, als wärst du gerade einem Geist begegnet.«

»Eher einer Hexe.« Wütend presste Amelie die Lippen zusammen.

»Wen meinst du damit?«

»Claudia war eben hier, um mal wieder eine ihrer Spitzen loszuwerden. Ich hätte bei diesem verdammten Wettbewerb nicht mitmachen sollen. Das war eine blöde Idee. Sie wird sowieso gewinnen, dafür wird ihr Vater schon sorgen. Von wegen Qualität. Hier entscheidet sicher nur Vitamin B.«

Geräuschvoll sog Tilda die Luft ein. Es war ihr anzumerken, dass sie kurz davor stand zu explodieren.

»Was bildet sich diese arrogante Gans ein?«, presste sie hervor. »So was wie deinen Elfenbeinanhänger hätte die nie hingekriegt. Wenn ich nur ihre schiefen Gravuren sehe … Oh, ich könnte die erwürgen! Ich hoffe, die Jury wird das erkennen.« Tilda war vor Wut rot angelaufen.

»Und wenn ich mich doch bei der Materialauswahl geirrt habe?« Es ärgerte Amelie, dass Claudia es geschafft hatte, sie zu verunsichern.

»Gold wählen die meisten, da kommt kein Überraschungseffekt auf. Lie, deine Arbeit ist fantastisch und muss die Juroren einfach überzeugen.« Doch Tilda klang nicht überzeugt.

Lehmann kehrte zurück und putzte sich mit einer Serviette den Mund ab, die er anschließend in der Anzugtasche verschwinden ließ, bevor er die Gäste in den Saal zurückwinkte.

»Wenn ich bitten darf, meine Herrschaften. Die Jury wird gleich die Gewinner verkünden!«

»Ich glaube, wir sollten uns auch lieber wieder zurück auf unsere Plätze begeben.« Amelie nickte und folgte ihrer Freundin.

2.

Nur noch vorsichtig fixieren, dann wäre alles geschafft. Schweiß perlte von Christians Stirn, während er den Lötbrenner senkte, um den Golddraht am Kettenverschluss zu befestigen. Ein Zittern oder eine unbedachte Bewegung könnten bedeuten, noch einmal von vorn anfangen zu müssen. In dem Augenblick, als er den Draht mit der Pinzette gegen den Rand des kugeligen Verschlusses drückte, verkündete sein Handy den Eingang einer SMS. Seufzend legte er das Werkzeug aus der Hand. Eigentlich konnte er jetzt gar keine Störung gebrauchen. Er wollte die Arbeit beenden, andererseits war er neugierig auf die Nachricht. Vielleicht war es Chiara, seine letzte Verabredung, der er seine Nummer gegeben hatte. Die Vorstellung, einen weiteren Abend an der Seite der rassigen Italienerin zu verbringen, war durchaus reizvoll. Er genoss ihre unbeschwerte, heitere Art, und sie war nicht besitzergreifend wie Claudia. Wann würde die Tochter seines Chefs endlich begreifen, dass er nicht an ihr interessiert war? Leider setzte Claudia weiterhin alles daran, ihn für sich zu gewinnen. Er hatte die Idee ihres Vaters begrüßt, sie ins weit entfernte Pforzheim auf die Goldschmiedeschule zu schicken. Wenn er nur an die letzten Ferien Claudias dachte … Jede Gelegenheit hatte sie für einen Flirt genutzt und ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mit ihm ins Bett wollte. Nicht nur, dass sie als Tochter seines Arbeitgebers für ihn tabu war, Christian hielt sie für launisch und unberechenbar. Doch je häufiger er sie auf Abstand hielt, desto mehr legte sie es darauf an, ihn zu verführen. Wenn sie jetzt nach dem Schulabschluss hierher zurückkehrte, würden die Konflikte erneut aufflammen.

Er legte die Arbeitsutensilien vor sich auf die Werkbank, zog das Handy aus der Tasche und schaute aufs Display. Keine Nachricht von Chiara, sondern von Tomas. Fotos vom Wettbewerb. Sein Chef war vor Tagen geschäftlich nach Deutschland gefahren und beabsichtigte einen Abstecher nach Pforzheim zu Tochter Claudia zu unternehmen, die an einem Wettbewerb ihrer Goldschmiedeschule teilnahm. In den letzten Wochen hatte es kaum ein anderes Gesprächsthema gegeben. Gelangweilt blätterte er ein Foto nach dem anderen durch. Dem Gewinner winkte, am Entwurf der nächsten Kollektion entscheidend mitzuwirken. Sein Chef war stets auf der Suche nach Talenten. Wettbewerbe waren für ihn wie Castings für die Firma. Um seine marktführende Position in Europa halten zu können, bedurfte es der besten Designer und innovativsten Ideen. Sie heranzuziehen war eine Mammutaufgabe, die Tomas bislang mit Bravour gemeistert hatte, weil er das Gespür für Ausgefallenes besaß und die geheimen Wünsche der Käufer kannte.

»Neue frische Köpfe bringen neue frische Ideen ins Haus.« Das hatte auch für Fabiano, einen jungen Designer aus Rom, gegolten, den Tomas per Zufall auf einer Vernissage kennengelernt hatte. Mittlerweile arbeitete das Ausnahmetalent leider für Tiffanys in New York.

Tomas erwartete von Christian ein Feedback zu den ausgestellten Entwürfen. Es ehrte ihn, dass der Chef viel Wert auf seine Meinung legte. Etwas, das er sich von seinem Vater immer gewünscht, aber nie bekommen hatte. Lieber nicht darüber nachgrübeln. Negative Gedanken wirkten destruktiv auf seine Kreativität.

Die ersten Schmuckstücke waren solide gearbeitet, aber nichts Besonderes. Der Armreif von Claudia … Das Design erinnerte Christian an etwas. Er drehte sich zu den Regalen um, in denen fein säuberlich in Ordnern unzählige Entwurfszeichnungen abgeheftet waren. Gleich im zweiten Aktenordner fand er die Vorlage, die irgendein ehemaliger Mitarbeiter einst für Castanos entworfen hatte. Die Kartuschen waren die Gleichen, nur Claudias schlampiger gearbeitet. Tomas’ Tochter probierte sich an Entwürfen, verlor aber schnell die Geduld, wenn es zeitaufwendiger wurde. Die meisten ihrer Arbeiten blieben unvollendet. Tomas wollte einfach nicht erkennen, dass seine Tochter nicht ambitioniert genug war, um zu den besten Designern zu gehören. Überhaupt war es schwierig, ein wirkliches Talent zu finden. Christian hatte Tomas angeboten, nach Mailand zu gehen, um sich dort als Chefdesigner zu beweisen. Doch der Firmeninhaber hatte darauf bestanden, dass er in der Zentrale in Siena blieb. Christian glaubte fest, dass Claudia die Entscheidung des Vaters beeinflusst hatte.

Tomas’ Ausflug nach Pforzheim schien sich nicht zu lohnen. Christians Handy meldete sich erneut und zeigte weitere Fotoeingänge an. Hastig fuhr er übers Display und hielt abrupt inne, als er einen kunstvoll geschnitzten Anhänger auf dunkelblauem Samt erblickte. Er zoomte das Foto für Details heran. Ein Anhänger aus Elfenbein mit Schnitzerei in Reliefform, eine Jagdszene. Jedes winzige Detail war akribisch und liebevoll herausgearbeitet worden. Der Überlebenskampf des Elefanten berührte ihn. Er schluckte. »Wow!« Die Schnitzerei erinnerte ihn weder an Elfenbein-Reliefbilder der Zarin Katharina noch an Arbeiten aus Dieppe an der Atlantikküste und auch nicht an die Historie seiner Familie. Es gab irgendein dunkles Kapitel mit Elfenbein aus Afrika, das alle lieber verschwiegen. Der Schnitzer dieses Anhängers war jedenfalls ein Meister seines Fachs. Nur zu gut wusste Christian, wie zeitintensiv eine solche Bearbeitung war, hatte er doch selbst einmal in der väterlichen Werkstatt ein paar Ohrringe aus Elfenbein in Reliefstruktur angefertigt.

Elfenbein gewinnt, simste er seinem Arbeitgeber zurück. Fifty, fifty lautete Tomas’ Antwort, die ihn verwunderte. Sein Chef besaß doch sonst einen Riecher für das Besondere.

Nein 100 %. Kauf den Schnitzer für Milano ein, schrieb Christian zurück. Als Antwort erhielt er eine Faust mit dem Daumen nach unten zeigend.

Warum nicht? Hatte sein Chef bereits etwas anderes im Kopf?

Während er auf die Antwort wartete, erinnerte er sich daran, dass Tomas in den vergangenen Monaten mehrere Male in Begleitung Claudias nach Mailand gereist war. Doch nur ein ausgezeichneter Designer könnte die Leitung übernehmen. Würde sein Chef als Sponsor so weit gehen, die Jury zu beeinflussen? Tomas konnte oft sehr überzeugend sein. Es war besser fürs Firmenimage, wenn die zukünftige Chefin eine Preisträgerin wäre. Schade, ein Künstler wie der Elfenbeinschnitzer wäre eine echte Bereicherung für das Unternehmen gewesen.

Er beneidete Claudia um die Gunst des Vaters, die ihm vom eigenen nie zuteil geworden war. Die von Güldenstein’schen Manufakturen waren immer von Vater und Sohn eine Zeit vor der Übergabe an die nächste Generation gemeinsam geleitet worden. So war es Tradition. Nur sein Vater beabsichtigte nicht, die Leitung mit ihm oder seinem Bruder zu teilen.

Wie immer, wenn er an seinen Vater dachte, stieg Bitterkeit in ihm auf. Er war jetzt achtundzwanzig Jahre und traute sich zu, ein Unternehmen allein zu führen. Sein Werdegang war vorbildlich gewesen, mit siebzehn ein Einserabitur, in Rekordzeit ein betriebswirtschaftliches und danach ein Industriedesign-Studium mit Auszeichnung bestanden. Sich seiner zukünftig verantwortungsvollen Rolle bewusst, hatte er geschuftet wie kein Zweiter. Dennoch besaß Vater kein Vertrauen in ihn. Gleichgültig was er auch unternahm, Christian fand bei ihm keine Akzeptanz. Mal war er ihm zu modern, dann wieder zu verstiegen.

»Ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen. Dir fehlt es an genügender Reife, besonders für diplomatisches Verhandlungsgeschick, dass ich überhaupt in Erwägung ziehen könnte, dich als Juniorchef einzusetzen.« Vaters Worte hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt und ihn tief getroffen. Dabei hatte er erst einen Tag vorher für eine seiner Konzeptionen die Auszeichnung für Nachwuchskünstler des Landes Niedersachsen erhalten. Das war seinem Vater nur ein Schulterklopfen wert gewesen. Die Enttäuschung brandete noch heute wie Säure in seinen Adern. Grund genug, fern der Familie eigene Wege zu gehen. Deshalb hatte er Tomas Castanos’ Jobangebot angenommen. Es war der Traum eines jeden Designers, bei einem solch renommierten Schmuckhändler arbeiten zu dürfen. Nicht nur die Reichen Italiens, die Grimaldis, auch das Weiße Haus und die Scheichs der Vereinten Arabischen Emirate gehörten zu Castanos’ Kunden.

Vater hatte seine Entscheidung mit einem Achselzucken quittiert. »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber komm nie wieder angekrochen«, waren seine Worte gewesen.

Seit Mutters Tod war Vaters einziger Lebensinhalt die Firma. Wochenlang jettete er für die Geschäfte rund um die Welt. Wenn er einmal zu Hause war, saß er bis weit in die Nacht über seinen Büchern oder begutachtete Schmuck. Für Familie war in seinem Leben kein Platz mehr. Vor zwei Jahren war er von einer Geschäftsreise mit einer Herzmuskelerkrankung zurückgekehrt und hatte sich nie wirklich davon erholt. Dennoch dachte er nicht daran, die Verantwortung an die Söhne zu übertragen. Christian seufzte.

Die tiefe Kluft zwischen ihnen schien unüberbrückbar. Das letzte Weihnachtsfest hatte Christian deshalb mit Freunden in Rom gefeiert. In seinem Job bei Castanos könnte er Vater beweisen, dass er es auch ohne das Güldenstein’sche Unternehmen einer der erfolgreichsten Schmuckdesigner Europas werden konnte. Noch einmal betrachtete er ausgiebig das Foto des Elfenbeinanhängers. Elfenbein aus geschützten Beständen gehörte zu den Raritäten und war begehrt.

Sein Handy meldete sich erneut. Christian zögerte, das Telefonat entgegenzunehmen, als er die Büronummer des Vaters auf dem Display erkannte. Sicher ging es wieder darum, ihn zu überreden, die Osterfeiertage auf Güldenstein zu verbringen.

Er verspürte keine Lust darauf und schon gar nicht, am Telefonat darüber zu debattieren. Kurzerhand drückte er den Anruf weg.

Gleich darauf klingelte es wieder und wieder. Seufzend nahm schließlich das Gespräch entgegen.

»Ja, Vater?«, meldete er sich grußlos. Er war erstaunt, als er die Stimme von Vaters Sekretär hörte.

»Guten Tag Herr von Güldenstein, ich muss Sie leider enttäuschen, Andreas Schmiedel hier. Gut, dass ich Sie endlich erreiche.« Schmiedel klang besorgt. Gleichgültig wie er zu seinem Vater stand, Christians Kehle war plötzlich eng und rau.

»Guten Tag, Herr Schmiedel. Ist etwas geschehen?«

Der Sekretär, ein Mann von Ende dreißig, gehörte zu den wenigen engen Vertrauten des Vaters, die offen ihr Bedauern über Christians Fortgehen ausgesprochen hatten.

»Ich habe lange überlegt, ob ich Sie informieren sollte, und muss gestehen, Ihr Vater weiß nichts von meinem Anruf.« Schmiedel redete leise, als befürchtete er, belauscht zu werden. Seine Worte beunruhigten Christian sehr.

»Was ist mit ihm?«, fragte er beherrscht.

»Sein Gesundheitszustand gibt mir seit ein paar Tagen Anlass zur Sorge«, erklärte der Sekretär.

Der dumpfe Druck in Christians Magen nahm zu. Schmiedel wusste von Vaters Krankheit. Auf andere mochte der Baron robust wirken, vor allem weil sein Vater sich alle Mühe gab, seine Erkrankung zu verbergen. Permanenter Stress und mangelnder Schlaf waren Gift für ihn. Ein Schwächefall im vergangenen Jahr hatte Christian und seine Geschwister das Schlimmste befürchten lassen.

»Sein Herz?« Christian drängte die Ängste zurück.

»Vermutlich. Manchmal taumelt er und ist kurzatmig. Er gönnt sich einfach keine Ruhepausen und arbeitet bis spät in die Nacht. Selbst an den Wochenenden sucht er die Werkstatt auf. Ich dachte, Sie sollten das wissen. Vielleicht können Sie mit ihm reden und ihn überzeugen …«

»Ausgerechnet ich? Zwischen Vater und mir herrscht schon lange Funkstille. Sie wissen doch genauso wie ich, Herr Schmiedel, dass ich aus diesem Grund gegangen bin. Mein Vater lässt sich nicht von mir überzeugen, geschweige denn hört er meine Meinung an!« Vater hatte ihn wie eine Hilfskraft behandelt. Neben einem Patriarchen wie Carl von Güldenstein gab es keinen Platz für einen anderen.

»Ja, aber Ihr Vater braucht Sie jetzt. Die ganze Arbeit … das wächst ihm über den Kopf. Nach jedem Geschäftstermin geht es ihm schlechter. Auf mich hört er nicht.«

»Nein, das schlagen Sie sich bitte aus dem Kopf.« Schließlich hatte Schmiedel die Streitigkeiten zwischen ihnen hautnah miterlebt.

»Aber er braucht Unterstützung …«, startete der Sekretär einen weiteren Überredungsversuch.

»Weshalb bittet er mich oder meinen Bruder nicht persönlich darum?«, fiel Christian ihm ins Wort. Wie oft hatte er seinem Vater Unterstützung vergeblich angeboten. Aber der war zu eigensinnig, sie anzunehmen. Weil ein Carl Baron von Güldenstein zu stolz dafür ist und das Patriarchendasein liebt, höhnte es in seinem Innern.

»Sie kennen ihn doch. Er würde Sie niemals selbst darum bitten, nicht mal, wenn alles zusammenbräche.«

»War Dr. Mahler bei ihm?« Der Arzt und sein Vater waren seit Ewigkeiten miteinander befreundet.

»Ja, der war hier, auf Drängen Ihres Bruders. Es gab einen Streit, und Ihr Vater hat seinen Freund hinausgeworfen.« Wahrscheinlich hatte Vater Rolf Mahler wie immer ausgelacht und behauptet, auf sich selbst aufpassen zu können. Halb ernst, halb scherzhaft. Aber dass er seinem Freund die Tür gewiesen hatte, stimmte Christian nachdenklich.

Kurz geriet sein Vorsatz ins Wanken, nicht mehr zum Palais Güldenstein zurückzukehren. Andererseits wäre sein Vater sicher wenig erfreut über sein Kommen. »Die Geier umkreisen die Sterbenden. Doch noch bin ich nicht tot! Du musst auf das Erbe warten. Es sei denn, ich enterbe dich«, hatte er Christian beim letzten Gespräch aufgebracht an den Kopf geworfen. Hinzu kam, dass Christian Tomas versprochen hatte, sich in dessen Abwesenheit um die Geschäfte zu kümmern.

»Es geht leider nicht, Schmiedel. Mein Boss ist verreist, und ich vertrete ihn. Auch wenn ich wollte, ich kann hier nicht einfach so weg. Ich trage Verantwortung.« Im Gegensatz zu meinem Vater vertraut mir Tomas. Doch diese Bemerkung verkniff er sich.

»Verstehe. Schade, dass Sie unabkömmlich sind. Ich hatte gehofft, Sie überreden zu können, sofort zu kommen.« Schmiedel klang enttäuscht. »Tja, dann … Ich hoffe, es ist dann nicht zu spät.« Christian hörte ihn laut ausatmen.

»Was meinen Sie damit? Heraus damit!«

»Ihr Vater verhält sich merkwürdig …« Schmiedel räusperte sich.

Jetzt wurde Christian erst recht hellhörig. »Wie darf ich das verstehen?«

»Nächtelang wandert er ruhelos durchs ganze Haus. Und ist er mal eingeschlafen, wird er von Albträumen gequält. Seine Schreie haben gestern das ganze Schloss geweckt. Ich wollte ihn beruhigen, aber er hat um sich geschlagen und immer wieder was von Fluch und Bestrafung gestammelt. Noch nie habe ich Ihren Vater so aufgewühlt erlebt. Heute Morgen konnte er sich an nichts mehr erinnern. Irgendetwas scheint ihn zu ängstigen.«

Schmiedel hatte auf Wunsch des Vaters eine Wohnung im Schloss angemietet, um jederzeit für ihn erreichbar zu sein. Ruhelos war Vater nur in Bezug auf die Firma. Aber Albträume? Das kannte Christian von ihm nicht, nicht einmal, als Mutter gestorben war. Es hörte sich an, als beschrieb der Sekretär eine fremde Person. Furcht war ein Gefühl, das Vater hasste und unterdrückte. Das von Schmiedel beschriebene Verhalten passte so gar nicht zum Familienoberhaupt.

»Gab es in den letzten Wochen irgendwelche Probleme in der Firma?« In der Presse waren keine Negativschlagzeilen zu lesen gewesen. Aber Emanuel hätte ihn doch längst in solch einem Fall angerufen, oder?

»Nur das Übliche, nicht mehr als sonst auch. Es muss etwas anderes dahinterstecken. Meine Frau meinte, dass es … vielleicht Einsamkeit sein könnte.«

Schmiedels Worte stimmten Christian nachdenklich. Vater und einsam? Er hatte immer betont, dass die meisten ihm auf die Nerven fielen und er das Alleinsein vorzog.

In diesem Moment wurde Christian bewusst, dass er nie mit seinem Vater über Probleme, Sorgen oder Mutters Tod gesprochen hatte. Vermisste er sie vielleicht mehr, als er zuzugeben bereit war? Was, wenn er sich tatsächlich einsam fühlte? Der Klumpen in Christians Magen wuchs. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sofort nach Hause zu fahren, wo er gebraucht wurde, und dem Pflichtbewusstsein, Tomas nicht zu enttäuschen. Sich als Tomas’ Vertreter zu bewähren, war eine Chance. Und ausgerechnet jetzt gab es familiäre Probleme!

»Ich rede mit meinem Bruder und melde mich bei Ihnen.«

»Danke, Herr von Güldenstein. Dann warte ich auf Ihren Anruf. Und bitte kein Wort zu Ihrem Vater.«

Nachdem Schmiedel ihm seine private Handynummer mitgeteilt hatte, verabschiedeten sie sich voneinander.

Das Telefonat mit Schmiedel ließ Christian keine Ruhe. Er lief im Raum auf und ab, bis er es nicht mehr aushielt und das Handy zückte, um Emanuels Nummer zu wählen.

»Hallo, Christian«, wurde er von seinem Bruder freudig begrüßt. »Wie geht’s? Ach, was frage ich. Sicher geht es dir hervorragend im Süden, während wir in der Eiseskälte bibbern.« Wäre sein Bruder um den Vater besorgt, würde er nicht so klingen.

Aus dem Internet wusste Christian, dass der Winter in diesem Jahr in Niedersachsen besonders streng war. Hier in der Toskana gingen die Temperaturen nur selten in den Frostbereich.

»Ja, ja, mir geht es gut. Hier in Siena ist es recht angenehm.«

»Beneidenswert. Aber du hast mich sicher nicht angerufen, um mit mir über das Wetter zu plaudern.« Emanuel merkte immer sofort, wenn Christian etwas auf dem Herzen hatte.

»Nein, du hast recht. Es geht um Vater.«

»Vater? Wieso? Was ist mit ihm?« Auch Emanuel hörte sich jetzt besorgt an.

»Das wollte ich eigentlich dich fragen.«

Stille am anderen Ende der Leitung. »Äh …Ich … verstehe nicht ganz, was du meinst. Erst heute Vormittag habe ich mit ihm telefoniert. Er war knapp wie immer, und alles schien in Ordnung zu sein.«

In wenigen Sätzen berichtete Christian von Schmiedels Anruf.

Er hörte, wie Emanuel anschließend laut den Atem ausstieß.

»Was Schmiedel da sagt, überrascht mich schon. Vater hat kein Sterbenswörtchen erzählt.«

»Du kennst ihn doch genauso gut wie ich und weißt, dass er nie etwas sagt. Hast du denn wirklich nichts mitbekommen?«

»Nein, wie denn? Er redet nicht über seine Nöte und Probleme. Auch mit mir nicht.«

Das stimmte. Dabei hätte Christian es sich sehr gewünscht, wenn der Vater sie alle an seinen Gedanken und Gefühlen all die Jahre hätte teilhaben lassen.

»Außerdem bin ich … Ich bin nur selten im Palais«, gestand Emanuel.

»Wie kommt’s?«, fragte Christian.