Schatten über Malbury Hall - Valentina May - E-Book
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Schatten über Malbury Hall E-Book

Valentina May

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Beschreibung

Ein geheimnisvoller Koffer, ein tragisches Geheimnis, die große Liebe und zwei junge Frauen, die ihren Weg finden müssen - in ganz unterschiedlichen Zeiten. Eine spannende, romantische Familiengeschichte in Cornwall für Leser*innen von Lucinda Riley und Nora RobertsAgraringenieurin Stella Morrison arbeitet auf einer Farm in Texas, als ein dringender Anruf ihrer Mutter sie zurück nach Hause ruft. Von ihrer geliebten Großmutter erbt sie einen Koffer, der Erinnerungen und persönliche Gegenstände einer ihr fremden Frau - Charlotte Malbury - enthält. Von einem großen Unrecht, das ihrer Familie widerfahren sei, ist die Rede. Das Geheimnis lässt Stella nicht mehr los - und so reist sie nach Malbury an die raue Küste Cornwalls, um die Wahrheit herauszufinden.»Der Koffer beinhaltet mehr von mir, als ich dir zu sagen vermag.«»Eine Schuld lastet auf ihm und Malbury Hall.« »Beim Lesen war ich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten und konnte mir alles ganz klar vorstellen. Aus meiner Buchwelt, wollte ich gar nicht mehr auftauchen. Danke für so ein schönes Buch.« ((Leserstimme auf Netgalley))»Die Autorin Valentina May schreibt hier eine spannende, emotionale und geheimnisvolle Familiensaga in Cornwall. Man spürt sofort bildlich den romantischen Charme an der rauhen felsigen Küste.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Ulla Mothes

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Shutterstock.com (Helen Hotson; Mark Spokes; Julia_Luzina); Depositphotos.com (griffin024)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Stella

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

Charlotte

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

53.

54.

55.

56.

Stella

57.

58.

59.

Epilog

Stella

1.

Es zählte jede Sekunde. Stella atmete schneller, ihre Muskeln spannte sich an, und ihr Herz schlug hart gegen die Rippen. Würde er sie angreifen? Aus blutunterlaufenen Augen starrte er sie an, schnaubte und senkte den Kopf. Stellas Finger schlossen sich fester um die Zügel.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren.

Fairway, ihr Hengst, wartete auf ein Kommando. Sie hatten schon mehrere solcher riskanten Situationen zusammen gemeistert, waren ein eingespieltes Team und konnten sich aufeinander verlassen. Doch diesmal war ihr Gegner hartnäckiger und gefährlicher als seine Vorgänger. Sie musste den Bullen unbedingt ins Fanggatter locken, bevor er weiteren Schaden anrichtete. Beim Ausbruch hatte er mehrere Zäune niedergetrampelt und fast zwei ihrer Kollegen aufgespießt. Zum Glück war nur einer leicht am Bein verletzt worden.

In ihrem Hirn spielte sie alle Möglichkeiten durch, wie sie es am besten anstellen könnte, den Bullen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es gab nur eine Möglichkeit. Und die war gefährlich. Sie musste den Lockvogel spielen.

Fairway drehte den Kopf und schaute sie an, als wisse er, was sie überlegte. Seine Nüstern blähten sich. Er wusste, dass es vor allem auf ihn ankam, seine Wendigkeit, Stärke und vor allem seine Schnelligkeit. Sie spürte, wie er darauf brannte, ihr seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

»Stay calm and wait«, flüsterte sie. Sofort spitzte Fairway die Ohren und gehorchte ihr.

Stella betrachtete den massigen Körper des Bullen. Einen flüchtigen Moment lang kämpfte sie gegen die aufsteigende Angst. Keiner der Cowboys hatte den Mumm gehabt, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wie ihre älteren Brüder, die sich sogar vor dem Schafbock auf der Farm ihrer Großmutter gefürchtet hatten. Stella hingegen hatte zwar Respekt, aber keine Angst vor dem Bock gehabt.

Als Teamchefin musste sie den Cowboys beweisen, wie viel Mut in ihr steckte, um nicht deren Respekt zu verlieren. Auch wenn sie in einer modernen Zeit der Emanzipation lebten, fiel es den Cowboys schwer, eine Frau als Vorgesetzte zu akzeptieren. Ständig musste sie sich beweisen.

»Sei ihnen ein Vorbild. Nur dann werden sie dir folgen«, hatte ihre Grandma gesagt, und Stella hatte ihre Worte beherzigt.

Der Bulle scharrte mit dem Huf. Tief blickte Stella ihm in die Augen. Du entkommst mir nicht! Einen Augenblick lang stand er nur da und glotzte sie an. Die Zeit schien stillzustehen, bis er plötzlich vorstürzte. Die Hufe trommelten dumpf auf dem trockenen Boden. Stella reagierte sofort, indem sie Fairway mit dem Schenkel nach rechts dirigierte und dann einen erneuten Richtungswechsel per Schenkeldruck einleitete. Der Hengst verlagerte seinen Schwerpunkt auf die Hinterläufe und sprang mit den Vorderhufen geschmeidig hin und her. Das irritierte den Bullen, der auswich. Doch ihre Strategie fand ein jähes Ende, als der Bulle erneut auf sie zu preschte. Schweiß brach Stella aus allen Poren. Sie war sich der neugierigen Blicke der Cowboys bewusst und konnte sich keinen Fehler erlauben. Wütend galoppierte der Bulle mit gesenktem Kopf auf sie zu, bereit, seine Hörner im Leib des Pferdes zu versenken. Ehe Stella reagieren konnte, sprang Fairway mit einem mächtigen Satz beiseite und galoppierte vorwärts. Nach einer Weile bremste er ab. Sie wusste, dass sie sich seinem Instinkt anvertrauen konnte, der sie oft genug gerettet hatte. Doch diesmal schien er sich zu irren, denn nach dem Stopp schlitterte er über den trockenen Boden direkt auf den massigen Bullen zu, der clever ebenfalls einen Bogen geschlagen hatte. Staub wirbelte auf und nahm Stella für einen Moment die Sicht. Erst als er sich lichtete, erkannte sie zu ihrem Entsetzen, wie nah sie dem Bullen gekommen waren. Die Situation schien aus dem Ruder zu laufen. Der Bulle schüttelte den Staub aus dem Fell und raste erneut direkt auf sie zu. »Verdammt, Fairway!« Stella riss die Zügel nach rechts und schnalzte mit der Zunge. Diesmal befolgte Fairway ihr Kommando und vollführte eine Vierteldrehung auf den Hinterbeinen, bevor er blitzschnell in eine andere Richtung galoppierte und tief geduckt dem Bullen den Weg abschnitt, der sofort die Richtung wechselte. Im selben Augenblick sah Stella zu ihrer Erleichterung das Fanggatter, das sie vorhin für den aufgebrachten Bullen aufgestellt hatten. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass der Bulle ihr folgte. Auf ihr Kommando hin preschte Fairway voran. Auf beiden Seiten des Fanggatters warteten ihre Kollegen Frank und Bodie mit besorgten Mienen. Das Fanggatter war zwischen zwei Paddocks platziert, in denen sich die Kühe und Kälber aufhielten. Frank und Bodie standen zu beiden Seiten geschützt hinter den Panels. Beide Tore des Fanggatters waren geöffnet, sodass Stella hindurchgaloppieren konnte. Frank und Bodie schlossen hinter ihr das zweite Tor. Danach wendete sie den Hengst und hielt direkt hinter der Box. Der Bulle raste wie erhofft auf das Fanggatter zu. Stellas Hände zitterten vor Anspannung. Würde er in die Falle laufen oder abdrehen? Sie fürchtete um ihre Kollegen. Sie wollte gar nicht daran denken, was wäre, wenn ihre Rechnung nicht aufgehen würde. Begleitet von einer Staubwolke rannte der Bulle in die Falle. Sofort schlossen Frank und Bodie hinter ihm das andere Tor. Wütend rammte das Tier die Metallgitter. Frank und Bodie sprangen zur Seite. Wieder und wieder knallte der Leib des Tieres gegen die Gitter, bis er sich seinem Schicksal ergab. Erleichtert wischte Stella sich den Schweiß von der Stirn. Beinahe wäre das schiefgegangen. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie diese Aktion erschöpft hatte. Dankbar tätschelte sie Fairways Hals. »Good boy«, lobte sie ihn. »Heute hast du dir eine extra Portion Hafer verdient.«

»Hey, Stella, ziemlich riskante Aktion!« Frank kam ihr entgegen. Sein Blick war eine Mischung aus Bewunderung und Besorgnis. Im Gegensatz zu Stella hatte er befürwortet, den wild gewordenen Bullen abzuschießen, obwohl er dem Eigentümer der Ranch beim Verkauf ein kleines Vermögen bescheren würde.

»Stella, great!« Bodie, mit neunzehn gerade den Teenagerschuhen entwachsen, hielt seinen Daumen hoch.

Als sie an ihm vorbeiritt, tätschelte er Fairways Hinterteil.

»Jetzt haben sich alle die heutige Feierabendparty mit Bier und Essen redlich verdient!«, rief Stella ihnen zu. »Ich habe jedenfalls einen Mordshunger.«

An jedem letzten Freitag des Monats lud der Rancher seine Mitarbeiter zu einem Barbecue ein.

Zu dritt ritten sie der Ranch entgegen, während die untergehende Sonne die Weiden warmrot übergoss.

Stella stieg vom Pferd. Jeder Knochen im Leib schmerzte. Wie nach jedem arbeitsreichen Tag auf der Ranch. Vor den Cowboys ließ sie sich nichts anmerken. Bloß keine Schwäche zeigen!

Das Leben mit drei älteren Brüdern, die nicht gerade zimperlich mit ihr umgesprungen waren, hatte sie geprägt.

Der Job auf der Ranch gefiel ihr, auch weil die harte Arbeit sie vom Nachdenken abhielt.

Manchmal drückte Stella das schlechte Gewissen, weil sie ihrer Mutter die ganze Farmarbeit und Pflege der Großmutter allein überließ. Die beiden lebten in ihrer Heimat, dem weit entfernten Wisconsin. Die Distanz half ihr, die schmerzlichen Erinnerungen ihrer Kindheit zu verdrängen.

Als Stella acht gewesen war, hatten sich ihre Eltern getrennt. Ihr Vater war durch und durch ein Stadtmensch gewesen und hatte das Leben auf der Farm nicht mehr ertragen. Besonders als Stellas ältere Brüder Ian, Rodney und Gavin weggegangen waren, um ein College zu besuchen. Stella hatte immer wieder die Auseinandersetzungen zwischen ihm und der Mutter miterlebt. In ihrer Not war sie stets zu ihrer Großmutter geflüchtet, die bei ihnen im Haus lebte. Eines Tages hatte ihr Vater die Farm verlassen und war nach Australien ausgewandert. Im ersten Jahr hatte er Stella noch Briefe oder Postkarten geschrieben und zum Geburtstag sowie Weihnachten ein Päckchen geschickt. Dann war die Post immer seltener geworden, bis sie schließlich ganz ausgeblieben war. Irgendwann hatte ihre Mutter dann erfahren, dass ihr Vater in Melbourne wieder geheiratet hatte und mit seiner neuen Familie in der Stadt lebte. Seitdem hatte sie nie mehr etwas von ihm gehört.

Jason, ihr Jugendfreund, hatte ihr damals über die Trennung hinweggeholfen.

Das lag alles eine Ewigkeit zurück, es erschien ihr mittlerweile fast wie ein anderes Leben.

In der nächsten Woche feierte ihre Großmutter ihren dreiundneunzigsten Geburtstag. Für ihr Alter war sie erstaunlich klar im Kopf. Nur ihr Körper verfiel. Bis zu ihrem achtzigsten Geburtstag hatte sie Stellas Mutter noch bei der Farmarbeit unterstützt. Nach einem Sturz hatte sie sich das Bein gebrochen und saß seitdem im Rollstuhl.

Vor wenigen Wochen hatte Grandma Debbie einen Schwächeanfall gehabt, von dem sie sich nur langsam erholte. Stella wusste, was ihre Mutter Rachel leistete. Manchmal warf sie sich deshalb vor, nur an sich selbst zu denken.

Stella schob den Stetson nach hinten und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Oft genug plagte sie das schlechte Gewissen. Alle fanden, ihr Platz sei auf der Farm ihrer Familie. Aber sie konnte und wollte nicht an diesen Ort zurückkehren, wo sie alles an Jason erinnerte.

Die Follow-Q-Ranch lag im Südosten von Texas. An manchen Tagen war es so heiß, dass der Atem in der Nase brannte und man ohne Lederhandschuhe keine Klinke anfassen konnte.

Alles, wonach Stella sich jetzt nach der Aktion mit dem Bullen sehnte, waren eine lauwarme Dusche, ein kaltes Bier und ein deftiges Essen. Zum Glück setzte das Essen nicht an.

Die Quartiere der Cowboys auf der Follow-Q-Ranch besaßen als einzigen Luxus ein bequemes Bett. Die Duschen mussten sich alle teilen. Für Männer und Frauen gab es getrennte Einrichtungen. Stella war nicht das einzige Cowgirl auf der Ranch. Die meisten in den Pferdeställen waren Frauen.

Nachdem sie die Pferde abgesattelt und im Stall versorgt hatten, verabschiedete Stella sich von den beiden Cowboys und lief zu ihrer Unterkunft.

Die Aussicht auf gekühltes Bier, gegrillte Steaks und Rippchen nebst Bohnen nach einer Dusche ließ Stella unter dem Wasserstrahl singen. Der Event war das Monatshighlight. Die Angestellten der Ranch nutzten diese Gelegenheit zum gemütlichen Beisammensein.

Es dämmerte, als Stella die Veranda betrat. Sie hatte ihre Arbeitskluft gegen Jeans und ein rotes Top getauscht. Ihr dunkelblondes Haar war noch feucht und fiel in weichen Wellen auf die Schultern. Abends wurde es immer sehr kühl, weshalb sie eine Jeansjacke über dem Arm trug. Als ihr der verführerische Duft gebratenen Fleisches in die Nase stieg, knurrte ihr Magen. Seit heute Morgen hatte sie nichts mehr gegessen, denn während der Arbeit blieb keine Zeit für eine Pause.

Kurz nachdem Stella die Veranda betreten hatte, trudelten auch Frank und Bodie ein, in Jeans und karierten Oberhemden, die sie bis zum Ellbogen aufgekrempelt hatten.

Hinter dem Smoker stand Will, ein weiterer Cowboy aus ihrem Team, und kümmerte sich um die Steaks. Stella nahm sich im Vorbeigehen aus einer mit Eis gefüllten Wanne ein Bier. Nachdem sie damit ihre staubige Kehle gespült hatte, fühlte sie sich erfrischter. Zwischendurch sonnte sie sich in der Aufmerksamkeit der Cowboys, die sie zum Fang des Bullen beglückwünschten.

Seit zwei Jahren arbeitete Stella nun auf der Follow-Q-Ranch. Auch wenn Rancher Don Quaid von ihren Qualifikationen begeistert gewesen war und ihr die Leitung übertragen hatte, war es dennoch hart gewesen, sich zu beweisen. Die Arbeit auf der Ranch war vielseitig und abwechslungsreicher als auf der riesigen Farm in Kentucky, wo sie vorher gearbeitet hatte.

Grübelnd stand Stella mit dem Bierglas in der Hand an der Verandabrüstung und starrte hinunter ins offene Feuer, das Frank kurz zuvor entfacht hatte. Ihre Gedanken glitten in die Vergangenheit zurück.

»Dein Platz ist hier, Stella«, klangen ihr noch die Worte ihrer Mutter in den Ohren, die sie beschworen hatte, die heimatliche Farm nicht zu verlassen.

Mit Jason wäre sie sicher geblieben. Rasch verdrängte sie den Schmerz, der jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie an ihn dachte.

Jason. Sechs Jahre waren vergangen, aber noch immer hörte sie seine Stimme, glaubte den herben Geruch seines Aftershaves zu riechen und spürte seine Berührung. Der Schmerz über seinen Verlust brannte wie Säure in ihren Adern.

Stella zuckte zusammen, als ihr jemand auf die Schulter tippte.

»Alle Achtung Stella, ich habe gehört, dass du unseren Zuchtbullen allein gefangen hast.« Neben ihr stand Don Quaid, der Eigentümer der Ranch. Sein graues, aber noch volles Haar schimmerte silbrig im Verandalicht.

»Das war ich nicht allein. Ohne mein Team hätte ich es nicht geschafft.« Sie deutete mit dem Kinn zu dem Tisch, um den sich ihr Team versammelt hatte.

»Es ist löblich, wie du hinter deinem Team stehst. Aber Frank, Bodie und die anderen haben alle keinen Mumm in den Knochen. Du und Fairway, ihr steckt sie alle in die Tasche.«

Am liebsten hätte sie ihm entgegnet, dass sie nichts dafürkonnten. Nicht jeder hatte wie sie drei ältere Brüder, bei denen sie sich hatte beweisen und durchsetzen müssen. Doch sie schwieg. Ihr Privatleben ging Don nichts an.

»Ich möchte mit dir etwas besprechen, Stella.« Sein förmlich klingender Tonfall ließ sie aufhorchen.

»Okay. Schieß los, ich bin ganz Ohr.«

»Lass uns bitte in mein Büro hinübergehen, wo wir ungestört reden können«, schlug er vor, und Stella stimmte zu. Es musste sich wirklich um etwas Wichtiges handeln, wenn Don sie in sein Büro bat.

Stella hatte sich Dons Büro ganz anders vorgestellt. Im typischen Westernlook mit einem klobigen Schreibtisch und Shakerstühlen. Stattdessen bestand es aus leichtgebauten Kirschbaummöbeln mit europäischem Flair. Der verschnörkelte Schreibtisch lenkte die Blicke auf sich, rechts davon zwei cognacfarbene Ledersessel. So etwas kannte Stella sonst nur aus Kinofilmen. Hinter dem Schreibtisch bogen sich die Böden des deckenhohen Regals unter der Last von Büchern über Rinderzucht.

»Setz dich bitte, Stella.« Don deutete auf einen der beiden Sessel. Sie war gespannt, welchen Vorschlag er ihr unterbreiten würde.

»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Stella, ich möchte, dass wir enger zusammenarbeiten. Du als meine rechte Hand, Assistentin, ganz wie du willst. Du könntest in der Zucht mitbestimmen. Du würdest mich auf alle Auktionen begleiten beziehungsweise bekämst eine Vollmacht, damit du mich auf Veranstaltungen vertreten darfst. Was hältst du davon?«

Nicht nur das Angebot, das für sie völlig überraschend kam, sondern die Summe, die Don ihr anschließend nannte, verschlugen Stella kurz die Sprache. Dennoch beschlich sie ein ungutes Gefühl.

Im vergangenen Jahr war Don Witwer geworden. Von Anfang an hatte er nicht verhehlt, wie attraktiv er sie fand. Ihr Boss war zwar sympathisch und nett, aber er hätte ihr Vater sein können.

Krampfhaft suchte Stella nach passenden Worten. Auf keinen Fall wollte sie ihren Boss vor den Kopf stoßen.

»Don … ich … ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich fühle mich durch dein großzügiges Angebot sehr geehrt …«, stammelte sie.

»Ich hoffe, du wirst annehmen. Und es ist nicht nur, weil du den Titel im Cutting gewonnen hast, sondern weil bei dir das Gesamtpaket stimmt«, antwortete er und blickte sie auffordernd an.

Nachdem sie vor einem Vierteljahr den begehrten US-Cutting-Cup mit Fairway gewonnen hatte, ging es mit ihrer Karriere auf der Ranch bergauf. Immer mehr Aufgaben hatte Don ihr übertragen. Sein Vertrauen machte sie stolz und selbstbewusst.

Er schien so sicher zu sein, dass sie sofort zusagen würde.

Aber sie fühlte sich überrumpelt und wollte sich nicht auf die Schnelle entscheiden.

»Don, sei mir bitte nicht böse, ich muss erst darüber nachdenken.«

Sein Lächeln erlosch schlagartig. Er ist enttäuscht! Aber Stella konnte und wollte ihm nichts versprechen, wenn sie sich nicht sicher war.

»Okay. Stella, du bist perfekt für diesen Job. Du kennst meine Ranch, hast Erfahrungen und sogar in Agrarwissenschaften promoviert, und ich kann mich auf dich hundertprozentig verlassen. Ich dachte immer, es wäre dein Wunsch, mehr Verantwortung zu übernehmen.«

Sie musste zugeben, dass die Aussicht wirklich sehr reizvoll war. Sicher würde sie durch ihn eine Menge lernen und wichtige Geschäftspartner und Züchter kennenlernen. Andererseits bereitete ihr die Nähe zu Don Bauchschmerzen. Sie würden viel Zeit miteinander verbringen. Zu viel. Vielleicht würde er mehr von ihr erwarten, als sie zu geben bereit war. Ganz zu schweigen von dem Gerede der Kollegen.

»Ja, schon … aber es bedeutet auch viel Verantwortung, und ich weiß nicht, ob ich die übernehmen möchte und kann.« Ihre Erklärung klang selbst in ihren Ohren wie eine Ausrede.

»Ich bin ja auch noch da«, erwiderte Don lächelnd. »Aber gut, wenn du auf der Bedenkzeit bestehst … Ich gebe dir eine Woche Zeit für die Antwort«, kam er ihr entgegen.

Die rechte Hand von Don zu sein, bedeutete nicht nur mehr Verantwortung, sondern auch weitaus mehr Arbeit als jetzt. Ein Besuch zu Großmutters Geburtstag wäre dann sicher nicht so einfach möglich.

Das kann ich Mum und Grandma nicht antun!

Andererseits wollte sie Don, der ein guter Boss war, nicht verärgern.

»Danke, Don.«

Einen verständnisvollen Chef wie ihn würde sie nicht so schnell finden. Sie war froh, dass Don ihr die Bedenkzeit zugestand. Stella dachte an ihre Mutter, die die Farm allein bewirtschaftete. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, glaubten Mutter und Großmutter, dass sie eines Tages zurückkehren würde. Keiner ihrer Brüder hatte etwas mit der Landwirtschaft am Hut. Sie hatten Jura, Medizin und Pharmazie studiert und lebten mit ihren Familien an der Ostküste.

Don nickte ihr zu, bevor er ihr die Bürotür aufhielt, sich auf der Veranda ein weiteres Bier holte und Stella mit ihren Grübeleien alleinließ.

Nachdenklich schaute Stella Don hinterher. Sie erinnerte sich noch an neulich, als er beim Satteln unerwartet hinter ihr gestanden hatte. Sie war zu Tode erschrocken gewesen, besonders als sich seine Hand auf ihre Hüfte gelegt hatte. Wortlos hatte Stella sie fortgeschoben. Bei der Vorstellung von einer gemeinsamen Geschäftsreise wurde ihr ganz mulmig. Konflikte wären vorprogrammiert.

»Was wollte der Boss denn von dir?« Bodie war neben sie getreten. Obwohl er sehr jung und neugierig war, schätzte Stella die Verschwiegenheit und Loyalität des Cowboys. Frank oder Will hingegen hätte sie nie etwas anvertrauen können. Sie brüsteten sich gern mit Neuigkeiten.

»Er hat mir angeboten, seine rechte Hand zu sein«, raunte sie ihm zu.

»Mensch, klasse! Gratuliere.« Bodie klopfte ihr auf die Schulter. »Wenn jemand es verdient hat, dann du.«

Sein Lob tat ihr gut.

Don würde ihr sicher freie Hand bei den meisten Entscheidungen lassen, das war gewiss. Stella liebte die Arbeit mit Pferden und Rindern draußen in der Natur. Das hatte sie von Grandma Debbie, die noch mit achtzig Jahren im Sattel gesessen hatte. Vieles sprach für den Job.

»Danke. Ich habe ihn um Bedenkzeit gebeten«, gestand sie. Bodie sah sie forschend an.

»Du hättest sofort zusagen sollen. Solch eine Chance bekommt man nur selten angeboten«, fuhr er leise fort.

»Meine Mutter erwartet von mir, dass ich nach Hause zurückkehre und die Farm weiterführe. Sie ist schon mit der Pflege meiner Granny voll und ganz ausgelastet. Außerdem könnte ich dann bestimmt nicht zu Grannys Geburtstag. Du weißt doch, dass ich vorhatte, am langen Wochenende zu ihr zu fliegen. Vielleicht kommen meine Brüder auch. Ich habe sie lange nicht gesehen.«

»Quaid wird das verstehen. Was deine Mutter anbetrifft, die ist doch noch topfit. Warum nimmt sie keinen Pflegedienst in Anspruch, der sich um deine Granny kümmert?«

»Weil meine Grandma manchmal sehr schwierig sein kann. Und Mum immer ein schlechtes Gewissen hätte.«

Ihre Großmutter hatte die letzte Pflegerin regelrecht rausgeekelt.

Stella schaute Bodie an, der immer alles leichtnahm. Sie wünschte sich sehnlichst, es genauso zu sehen wie er. Ihr Entschluss, mit der Großmutter den Geburtstag zu feiern, stand schon seit Langem fest. Es half nichts, sie musste mit Don reden. Hoffentlich würde er verstehen, wie wichtig ihr der Besuch war.

»Ich werde noch einmal mit Don reden. Aber ich befürchte, dass er nicht sehr begeistert über meinen Wunsch sein wird, das lange Wochenende in Wisconsin zu verbringen, wo doch am Samstag die Viehauktion stattfindet.«

Unwillkürlich musste Stella daran denken, wie sehr ihre Mutter sie angefleht hatte, auf der Farm zu bleiben. Doch damals waren die Erinnerungen so erdrückend gewesen, dass jeder Tag zur Qual geworden war. Erst in einer neuen Umgebung hatte sie nach und nach wieder zu sich selbst gefunden.

Jason. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn es ihn noch geben würde? Sie rief sich sein Gesicht in Erinnerung. Ein markantes Gesicht mit buschigen Brauen und hellblauen Augen, in denen stets der Schalk geblitzt hatte. Sein blondes Haar hatte er immer zu lang getragen. Er war verlässlich gewesen wie ein Fels in der Brandung. Wann immer sie sich schlecht gefühlt hatte, war sie zu ihm gerannt, um Trost in seinen Armen zu finden. Jason hatte ihr stets Mut zugesprochen. Er war mehr gewesen als nur ihr Liebhaber. Ihr Vertrauter, ihr bester Freund.

»Komm, lass uns den heutigen Abend genießen und keine Probleme wälzen. Wie wär’s noch mit einem Bier?« Bodie legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie mit sich.

Ablenkung würde ihr guttun. Der Cowboy war wie ein Bruder für sie. In der ersten Zeit in Texas hatte sie sich oft einsam gefühlt, bis Bodie mit seinem Humor und der leichten Lebenseinstellung sie zerstreut hatte.

Einer von Dons Hausangestellten reichte ihnen ein Bier in geeisten Humpen. Stella setzte das Glas an und trank. Vom Grill wehte der köstliche Duft von Rippchen herüber.

Nachdem sie sich Teller von einem Beistelltisch genommen hatten, gingen Bodie und sie zu Will hinüber. Auf halbem Weg wurden sie von Shania, einer von Dons attraktiven Sekretärinnen aufgehalten, die Bodie einen vielsagenden Blick schenkte.

»Hi, Bodie«, flötete Shania.

»Hi, Shania.«

Stella fühlte sich zwischen den beiden fehl am Platz.

»Du, ich geh schon mal vor«, wandte sie sich an den Cowboy und deutete mit dem Kinn zum Grill.

»Hm, hm«, war alles, was Bodie antwortete, der seinen Blick nicht von Shania abwenden konnte, deren lange, wohlgeformte Beine unter dem Minirock gut zur Geltung kamen. Vielleicht hätte Stella sich für Bodie interessiert, wäre er in ihrem Alter gewesen, so wie Shania.

Von einem Tisch neben dem Grill aus beobachtete Stella die beiden Turtelnden. Bodie war allgemein bei den Frauen auf der Ranch sehr beliebt. Er sah gut aus und konnte sehr charmant sein. Doch seine Beziehungen hielten oft nicht länger als eine Nacht. Shania berührte Bodie bei jeder Gelegenheit, und der Blick des jungen Cowboys hing unverkennbar am tiefen Dekolleté der Sekretärin. So begehrlich hatte Stella kein Mann mehr nach Jasons Tod angesehen.

»Weil auf deiner Stirn steht: Rühr mich nicht an«, waren die Worte ihrer Freundin Paige gewesen. »Kein Mann ist wie Jason. Also hör auf, sie mit ihm zu vergleichen.«

Oftmals sehnte sie sich nach einer zärtlichen Berührung, einem innigen Kuss. Aber es gab keinen Mann, der ihr Herz in Schwingung versetzte. Keiner von ihnen konnte es mit Jason aufnehmen.

Ihr Glück war zerronnen, und der geliebte Mann würde nie mehr zurückkehren. Jetzt mit Mitte dreißig begann für sie die biologische Uhr zu ticken. Manchmal glaubte sie, kein zweites Liebesglück mehr zu finden, und sie fürchtete sich davor, das durchzumachen, was sie mit Jason erfahren hatte.

Als Stellas Blick erneut zu Bodie und Shania hinüberglitt, waren die beiden nicht mehr da. Wahrscheinlich hatten sie bereits die Feierabendparty verlassen und vergnügten sich in Bodies Bett. Stella schmunzelte.

»Er stößt sich die Hörner ab«, hatte Don über Bodie gesagt.

Egal, das Liebesleben des befreundeten Cowboys ging sie nichts an.

Jason war in Bodies Alter ernsthafter gewesen. Seit dessen Tod hatte sie keinen Freund mehr gehabt. Jeden Mann, den sie kennenlernte, verglich sie mit ihm. Sie schnitten immer schlechter ab. Jason und sie hatten damals von einem Haus und einer Schar Kinder geträumt.

Plötzlich schmeckte ihr Bier schal und bitter. Obwohl sie von mehreren Dutzend Ranch-Mitarbeitern umringt war, die sie alle kannte, fühlte sie sich plötzlich einsam. Stella stellte das halb volle Glas auf einen der Tische und verließ die Party.

2.

Die sengende Mittagssonne brannte auf Stellas Unterarmen. Sie hatte so geschwitzt, dass sie die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt hatte. Zusammen mit Bodie, Frank und dem Mexikaner Juan reparierte sie die Zäune an der Westweide. In der vergangenen Nacht waren die jungen Rinder in Panik vor einem Puma geflohen und hatten den Zaun niedergetrampelt. Auf ihrem Kontrollritt am Morgen hatte sie das Desaster bemerkt und mit ihrem Team die verängstigten Tiere wieder eingefangen. Jetzt waren sie in einem der Corals auf der Ranch, bevor sie am nächsten Tag zu neuen Weidegründen getrieben wurden.

Schweiß rann an Stellas Schläfen herunter, während sie den neuen Pfahl festhielt, für den Frank und Juan ein Loch ausgehoben hatten.

Sie dachte an Grandmas Geburtstagseinladung, die sie gestern erhalten hatte, zwei Tage bevor sie Don ihre Entscheidung mitteilen wollte. Die Buchstaben waren krakelig, weil Großmutters Hände zitterten. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr persönlich zu schreiben. Bestimmt hatte ihre Mutter ihr dabei geholfen, denn auch mit dem Augenlicht stand es nicht zum Besten. Über neunzig Jahre, fast ein ganzes Jahrhundert. Stella konnte es kaum glauben.

Wie alle Karten endete auch diese mit der Frage: Wann kommst du nach Hause?

Seitdem sie Wisconsin Falls verlassen hatte, war Stella nur ein einziges Mal dort gewesen. Die Erinnerungen an Jason hatten an jeder Ecke gelauert und ihr wieder bewusst gemacht, wie schmerzlich sie ihn vermisste. Sie hatte es nicht lange ausgehalten und war Hals über Kopf nach Texas zurückgereist.

»Hey, Boss, hast du uns zugehört?« Der durchdringende Bass von Frank riss sie aus den Grübeleien.

Stella sah die Cowboys fragend an.

»Sorry, was habt ihr gleich gesagt?«

»Ob wir auch die restlichen Pfosten auswechseln sollen.« Bodie zeigte auf die Reihe, die nach Norden verlief.

»Die habe ich erst neulich geprüft. Die sind noch okay. Ich denke nicht, dass wir sie ersetzen müssen«, antwortete Stella. »Außerdem sollten wir bei der mörderischen Hitze lieber zur Ranch zurückkehren. Ich will nicht riskieren, dass einer von euch Boys aus den Stiefeln kippt«, sagte sie grinsend.

»Uns haut so schnell nichts um. Aber du hast recht, die Pferde müssen getränkt werden. Sie waren den ganzen Vormittag mit uns unterwegs.«

Der Gemeinschaftsraum auf der Ranch war dank der neuen Klimaanlage so eisig, dass Stella eine Gänsehaut bekam und beschloss, sich eine Jacke zu holen.

Nur ab Juni gestattete Don es seinen Viehhirten, bei extremer Hitze am Mittag eine Siesta einzulegen. Heute waren es über vierzig Grad im Schatten gewesen.

Stellas Zimmer lag wie das der anderen Vorarbeiter in einem Flügel des Gesindehauses. Es war spartanisch eingerichtet mit einem Bett, einem Schrank und einem Tisch. Dagegen wirkte ihr Jugendzimmer auf der elterlichen Farm in Wisconsin Falls großzügig und einladend.

»Stella? Warte!«, rief jemand, als sie gerade die Tür aufschloss.

Sie hielt inne und wandte sich um. Es war Adam, einer von Dons Hauspersonal, der auf sie zukam. Durch sein Stoppelhaar schimmerte die rosa Kopfhaut.

»Deine Mutter hat vorhin angerufen«, berichtete Adam. Es war ungewöhnlich, dass ihre Mutter hier und nicht auf ihrem Handy anrief. Daher beschlich Stella ein seltsames Gefühl. Es musste etwas Wichtiges sein.

»Hat sie dir vielleicht den Grund ihres Anrufes genannt?«, fragte sie Adam, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. »Leider hat sie kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Aber es klang … irgendwie … dringend.«

»Okay, danke«, erklärte Stella.

Wenige Minuten später wählte sie die Telefonnummer ihrer Mutter. Nach zehn Freizeichen wollte Stella gerade aufgeben, als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete.

»Hallo? Hier spricht Rachel Morrison.« Es war unverkennbar die Stimme ihrer Mutter. Nach der Trennung von ihrem Vater hatte ihre Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen und auch Stellas Nachnamen geändert.

Ihre Mutter klang außer Atem und war schwer zu verstehen.

»Hi Mum, ich bin’s, Stella. Warst du im Keller? Du klingst so abgehetzt.«

»Hallo, Stella!«, rief sie erfreut. »Ja, ja. Hast du Grannys Postkarte bekommen?«

»Ja, habe ich«, bestätigte Stella.

»Und? Wirst du zu ihrer Geburtstagsfeier kommen?«, fragte ihre Mutter so hoffnungsvoll, dass es Stella ganz warm ums Herz wurde.

Stella dachte an Dons Angebot. Wenn sie es annahm, erwartete er sicher von ihr, dass sie ihn am Samstag auf die Auktion begleitete, auf der auch Kälber der Ranch verkauft werden sollten. Dann würde sie nicht Grandmas Feier dabei sein können. Für einen Moment war Stella geneigt, Dons Angebot abzulehnen.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie ausweichend.

»Du kannst nie Nein sagen«, hatte Jason ihr einst lächelnd vorgeworfen.

»Sie würde sich wirklich riesig freuen, den Geburtstag mit ihrer Lieblingsenkelin zu verbringen.«

Stella konnte und wollte sie nicht enttäuschen wie in den vergangenen Jahren.

»Aber sie hat doch nur eine. Oder hast du vielleicht noch ein Kind, von dem ich nichts weiß?«, flachste Stella.

»Das könnte ich nicht verheimlichen. Es würde ihr sehr viel bedeuten. Und mir auch. Vielleicht ist es ihr letzter Geburtstag.«

Stella schluckte. So ernste Worte war sie von ihrer Mutter nicht gewöhnt.

»Mum, so kenne ich dich ja gar nicht! Du glaubst doch immer, dass wir ewig leben.«

»Grannys Tage sind gezählt.«

Die Antwort löste bei Stella eine Gänsehaut aus und ließ sie schweigen.

Don würde sicher wütend auf sie sein, wenn sie ihn gleich bei erster Gelegenheit im Stich ließe. Stella schaute auf den Kalender an der Wand gegenüber. Dieses Jahr hatte ihre Großmutter an einem Sonntag Geburtstag. Davor lag noch der vierte Juli. Ihr blieben also vier Tage. Die Auktion würde am Samstagvormittag stattfinden. Wenn sie gleich danach nach Wisconsin fliegen würde, blieben ihr immerhin noch genügend Zeit für die Geburtstagsfeier, und am Montag könnte sie wie geplant die Kälber zu den Käufern fahren.

»Mum, ich versuche zu kommen«, antwortete sie. Vorfreude stieg in ihr auf. Sie würde Altvertrautes wiedersehen und mit Mutter und Großmutter gemütlich beim Abendessen zusammensitzen.

»Ich freue mich. Dann können wir in Ruhe miteinander plaudern und vielleicht auch Applepie backen.«

Fast wie in alten Zeiten. Der Apfelkuchen ihrer Mutter war der beste weit und breit. Ein uraltes Familienrezept, das sie Stella irgendwann verraten wollte. Stella lief das Wasser im Mund zusammen, wenn sie an den Kuchen auch nur dachte. Der Teig des Apfelkuchens war besonders locker und leicht und mit saftig-sauren Äpfel bestückt.

In diesem Moment wurde ihr erst richtig bewusst, wie sehr ihr die heimatlichen Traditionen eigentlich fehlten.

»Ja, das wäre toll!« Eine Weile berichtete ihre Mutter Neuigkeiten aus dem Heimatort, die nicht nur Stellas Interesse trafen, sondern auch ihre Wiedersehensfreude wachsen ließen.

Kurz bevor ihre Mittagspause um war, verabschiedeten sie sich voneinander. Gut gelaunt begab sich Stella in den Kälberstall, um die Kandidaten für die Auktion auszuwählen, die sie Don vorschlagen wollte.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Immer wieder dachte sie an das Telefonat. Ihre Wiedersehensfreude wuchs mit jeder Minute.

Kurz vor Feierabend klingelte Stellas Handy. Weil ihr die Nummer unbekannt war, zögerte sie, den Anruf entgegenzunehmen. Doch das Läuten wollte nicht aufhören, und schließlich meldete sie sich am Telefon.

»Stella Morrison hier.« Sie wartete gespannt darauf, dass sich der Anrufer vorstellte.

»Spreche ich mit der Tochter von Mrs Rachel Morrison?«, fragte eine freundliche, aber unbekannte Frauenstimme.

»Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

»Hier ist das St. Helens Hospital in Madison. Ihre Mutter bat uns, Sie anzurufen.«

Krankenhaus? Stella wurde übel.

»Was ist mit meiner Mutter?«, stieß sie besorgt hervor. Ihr Herz klopfte hart gegen die Rippen.

»Ihre Mutter hatte einen Unfall. Sie ist gestürzt und hat eine Gehirnerschütterung und sich das Wadenbein gebrochen. Ärgerlich, aber nicht dramatisch. Ihr geht es auch schon wieder besser. Sie wollte sich sogar schon selbst entlassen. Doch wir behalten sie zur Vorsicht ein paar Tage bei uns. Das machen wir immer so. Keine Sorge.«

Stella atmete erleichtert aus. Sie war froh, dass ihre Mutter glimpflich davongekommen war.

»Das beruhigt mich.«

»Könnten Sie ihr vielleicht gleich morgen früh saubere Kleidung vorbeibringen? Und dann sagte sie mir noch, dass sich jemand um Ihre Großmutter kümmern müsse.«

»Ich … ich lebe nicht mehr in Wisconsin.«

»Oh, verstehe. Wissen Sie denn jemanden, der das für Sie erledigen könnte?«

»Das mit der Betreuung meiner Großmutter kläre ich. Aber morgen kann ich unmöglich bei Ihnen sein.«

Sofort dachte Stella an ihre Freundin Paige Webster, deren Grundstück an die elterliche Farm grenzte. Paige kümmerte sich um die Tiere während der Erntezeit. Doch dann fiel ihr ein, dass Paige Anfang des Jahres Mutter geworden war. Vielleicht wüsste sie jemanden, der sich um die Großmutter kümmern könnte, bis Stella in Wisconsin Falls eintreffen würde.

»Vielleicht kann ich eine Freundin bei Ihnen vorbeischicken«, versprach Stella, während sie parallel in ihrem Notizbuch bereits nach Paiges Nummer suchte.

»Prima. Dann einen schönen Tag noch.«

Nachdem Stella aufgelegt hatte, dachte sie an ihre Mutter, die jetzt in einem Krankenbett lag und das sicher als höchste Strafe empfand, und ihre Großmutter, die hilflos allein zu Hause war. Sie wählte sofort die Nummer von Paige.

Während das Freizeichen erklang, rief Stella sich Paiges Aussehen in Erinnerung. Ob die Freundin noch immer die lange, schwarze Lockenpracht besaß? Stella erinnerte sich noch gut daran, dass Paige als Teenager vergeblich versucht hatte, ihr Haar zu glätten.

»Hi, Paige, ich bin’s, Stella«, meldete sie sich, als sie die vertraute Stimme der Freundin am anderen Ende der Leitung hörte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich schon lange nicht mehr bei der Freundin gemeldet hatte.

»Wie geht es dir, deinem Mann und dem Kleinen?«

»Hey, Stella, wie schön, von dir zu hören. Uns geht es prima. Bis auf die schlaflosen Nächte. Benji zahnt gerade. Aber du rufst doch nicht an, um mit mir zu plaudern. Ist es wegen Rachel und Debbie?«

»Ja, Mum liegt im Krankenhaus, und Granny ist ganz allein.«

»Ich weiß. In einem Kaff wie Wisconsin Falls verbreiten sich Neuigkeiten rasant,« scherzte Paige. »Keine Sorge, wir haben Debbie schon versorgt. Ihr geht es gut.«

Stella war erleichtert.

»Gut, danke. Eine Schwester hat mich angerufen und gebeten, Mum Kleidung zum Wechseln vorbeizubringen …«

»Das kann ich erledigen. Die Arme wird sicher das ganze Krankenhauspersonal nerven, wenn sie ans Bett gefesselt ist.« Paige lachte.

»Das wäre wirklich toll von dir«, fuhr Stella fort.

»Mache ich gern für die beiden. Cooper ist ab morgen in den arabischen Emiraten. Plant dort eine Brücke. Da habe ich genügend Zeit.«

»Oh, wow«, stieß Stella bewundernd aus. Paiges Mann war Architekt und kam viel in der Welt herum. Sie beneidete die Freundin, die offenbar das Leben führte, das auch Paige sich immer gewünscht hatte.

»Wirst du denn zu ihrem Geburtstag kommen?«, fragte Paige. »Ich meine … du weißt schon … wegen …«, fügte sie hinzu.

Paige sprach seinen Namen nicht aus, als wäre er tabu. Natürlich wusste Stella sofort, dass die Freundin auf Jason anspielte.

»Ich werde kommen.«

»Das ist toll. Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen. Ich glaube, Rachel und Debbie vermissen dich sehr. Die Arbeit wird deiner Mutter immer mehr zu viel. Aber sie will die Farm einfach nicht aufgeben. Wenn sie sich nur Unterstützung holen würde …«

Paiges Worte ließen Stella schlucken und das schlechte Gewissen erneut in ihr aufsteigen. Jetzt, da sich ihre Mutter das Wadenbein gebrochen hatte, war Stellas Hilfe gefragt. Don musste verstehen, dass es sich hier um einen Notfall handelte. Dennoch bezweifelte sie das.

»Bitte sage meiner Granny nicht, dass ich komme. Die Aufregung ist nicht gut für sie«, erklärte Stella.

»Kein Problem, ich sage nichts«, versprach die Freundin.

Nach einer Weile Geplauder über Benji verabschiedeten sie sich voneinander.

Stella war dankbar für die Freundschaft mit Paige, die trotz ihres Fortgangs all die Jahre überdauert hatte.

Anfang Juni war der Boden schon ausgetrocknet. Alle sehnten Regen herbei. Durch die lange Dürre war das Gras nicht genügend gewachsen und das Viehfutter knapp. Kurz nachdem Stella Fairway nach dem langen Arbeitstag abgesattelt hatte, verdunkelte sich der Himmel. In ihr und allen anderen keimte die Hoffnung auf Regen.

Sturm kam auf und ließ die Fensterläden klappern. Eigentlich unternahm sie abends gern noch einen letzten Spaziergang. Doch heute bei dem ungemütlichen Wetter verzichtete sie darauf und begab sich früh zu Bett. Schnell schlief sie ein. Im Traum ritt sie auf ihrem Hengst durch die Wüste. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Weit und breit war keine Pflanze zu sehen, nicht einmal eine Kaktee. Über ihr wölbte sich ein wolkenloser Himmel, an dem ein riesiger Vogel seine Bahnen zog. Am Horizont zeichnete sich bizarr gezacktes, gelbes Gebirge ab, dessen Spitzen im Sonnenlicht golden schimmerten. Stella folgte dem ausgetretenen Pfad, der genau darauf zuführte. Sie hatte den Stetson tief ins Gesicht gezogen. Bereits nach kurzer Zeit klebte ihre Zunge am Gaumen. Ihr Hengst trabte, bis er schnaufte. Nirgendwo war ein Wasserloch zu sehen. Fairways Schritte wurden immer schleppender, und der Kopf des Hengstes sank tiefer. Hitze und Ritt machten auch Stella so benommen, dass sie drohte, aus dem Sattel zu rutschen. Doch sie durfte auf keinen Fall einschlafen oder ohnmächtig werden. Wenn sie dann vom Pferd fiele und liegen bliebe, würde es ihren Tod bedeuten. Mühsam riss sie immer wieder die Augen auf. Irgendwann verschwammen die Bilder, und sie sackte im Sattel zusammen. Nur nicht hinunterfallen!Halt dich fest! Ihre Finger schlangen sich um den Knauf des Westernsattels. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie vor sich eine Person im Staub kauern, die den Kopf gebeugt hielt und mit einem Stöckchen in den Sand schrieb. Es war eine Frau im orangeroten Kleid, dessen Saum im Sand versank. Um ihren Kopf hatte sie ein Tuch denselben Farben geschlungen. Die Farbzusammenstellung und die Tierornamente auf Kleid und Tuch muteten orientalisch an. Vielleicht könnte die Fremde ihr eine Wasserstelle zeigen oder nennen. Stella ritt hoffnungsvoll auf sie zu.

Als sie die Frau erreichte, sah die nicht auf, sondern schrieb Zahlen in den Staub. Was machte die Frau mutterseelenallein inmitten dieser einsamen, kargen Gegend? Und was sollten diese Zahlen?

Schweigend beobachtete Stella die Fremde, deren Bewegungen ihr seltsam vertraut erschienen.

»Ich brauche … Wasser«, presste Stella mit letzter Kraft hervor.

Erst jetzt blickte die Frau auf und schaute sie aus aquamarinblauen Augen an. Stella erschrak, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte, und wäre fast aus dem Sattel gestürzt …

3.

Seit drei Tagen hatte es ununterbrochen geregnet. Das Wetter drückte ihm aufs Gemüt. Dennoch erfüllte der Anblick der endlos erscheinenden Wiesen und der Wald Raphael mit Stolz. Das imposante Anwesen konnte er sein Eigen nennen. Malbury Hall war einer der prächtigsten Landsitze der Grafschaft, und seine Lage nur unweit vom Steilufer machte es einzigartig. Aus dem obersten Turmfenster konnte man an einem klaren Tag das blaugraue Meer erkennen. Wenn er das Fenster öffnete, wehte nicht nur der Geruch von Gras, sondern auch die salzige Meeresluft ins Haus hinein. Am Abend beobachtete er gern vom Turmzimmer den Sonnenuntergang und die Fischerboote, die nach dem Fang in den heimatlichen Hafen einliefen. Er liebte diesen Landstrich wilder Romantik, wie sie nur Cornwall eigen war. Raphael konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders leben zu wollen als hier, wo er geboren und aufgewachsen war.

Nachdem er das Fenster schräg gestellt hatte, hörte er das Muhen seiner Rinder und das Geblöke der nachbarlichen Schafe.

Die ersten Weiden lagen nur einen Katzensprung vom Haupthaus entfernt. Wenn Raphael sie betrat, hörte er das Tosen der Brandung. Manchmal bildete er sich ein, dass auch das Fleisch seiner Rinder diesen salzigen Geschmack besaß. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sich die gehobenen Restaurants darum rissen.

Verwitterte Bruchsteinmauern und Weißdornhecken umsäumten die Grünflächen und schützten vor den Stürmen, die vom Meer heraufzogen. Am Himmel flogen kreischend Möwen. Sie waren von ihren Nistplätzen am felsigen Ufer aufgestiegen, um auf Futtersuche zu gehen. Cornwall war der widersprüchlichste Fleck Erde, den er je gesehen hatte. Auf der einen Seite war es rau mit den felsigen Küsten und dem unbeständigen Wetter, während es zugleich einen romantisch-mystischen Charme ausstrahlte mit den erodierten Bruchsteinhäusern und seinen liebevoll angelegten Rosenbeeten. Versunken im Anblick der Landschaft, stapfte er über die Weide und versank dabei bis zum Knöchel im Morast. Vier Tage lang hatte es ununterbrochen geregnet. Wenn er das Vieh hier herauftrieb, würde es ihm die ganze Grasnarbe zertrampeln. Das bedeutete, dass er zufüttern müsste, was seinen Gewinn schmälerte.

Während er weiter über eine Lösung nachsann, vibrierte sein Handy in der Jackentasche. Zuerst wollte er es ignorieren, doch dann zog er es aus der Brusttasche und schaute aufs Display. Es war seine Freundin Patricia. Eigentlich wusste sie, dass er nicht auf seinen Kontrollgängen gestört werden wollte. Hin und wieder kam es jedoch vor, dass sie ihn wegen einer banalen Frage anrief. Seufzend nahm er das Telefonat an.

»Hi, was gibt’s, Patty?«, fragte er. Sie hasste es, wenn jemand sie mit Patricia ansprach. Weil es sich in ihren Ohren antiquiert anhörte.

»Heute heißen moderne Frauen Tasha, Laura oder Mira, aber nicht Patricia«, sagte sie immer. Ihre Mutter war ein Fan der monegassischen Fürstin gewesen und Feuer und Flamme für den Namen Patricia. Patricia passte zu seiner Freundin, die ein Glamourleben gewöhnt war, denn sie stammte aus einer kanadischen Großindustriellenfamilie. Patty war in Quebec aufgewachsen und liebte den Trubel und das Kulturprogramm einer Stadt. Raphael hingegen zog die Ruhe in der Natur vor. Lieber streifte er über die Weiden, durch die Moore und Wälder Cornwalls oder auf dem Küstenweg entlang, als irgendeine Veranstaltung zu besuchen. Ausflüge, zu denen er Patty nicht mit Engelszungen würde überreden können. Dafür besaß sie ein besonderes Geschick bei geschäftlichen Verhandlungen und hatte ihm schon so manches Mal bei der Sanierung von Malbury Hall aus der Patsche geholfen. Sie war es auch gewesen, die die Bank überzeugen konnte, ihm Kredit einzuräumen.

Manchmal plagten ihn Schuldgefühle. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er sie auf alle gesellschaftlichen Ereignisse begleitet, weil es ihr Freude bereitete. Aber das war nicht er gewesen. Es war ihm immer schwerer gefallen, sich zu verstellen und ihr Spaß an den Unternehmungen vorzuspielen. Patty gegenüber war das nicht fair gewesen, auch wenn es aus der Euphorie für eine Beziehung mit ihr heraus geschehen war.

Oft genug hatte er sich gewünscht, sie würde seine Leidenschaft für die Rinderzucht teilen. Am Anfang hatte sie sogar Interesse gezeigt, bis er nach und nach begriffen hatte, dass sie ihm nur etwas vorgemacht hatte, um ihm zu imponieren. Überhaupt schienen Tiere nur ein Ärgernis für sie zu sein. Wenn nur ein einziges Haar seines Beagles Jam an ihrer Hose klebte, war sie außer sich. Wenn er sie gebeten hatte, ihn auf seinen Ausflügen zu begleiten, hatte sie immer eine Ausrede gefunden.

Pattys Immobilienbüro befand sich im Zentrum von Malbury, einem kleinen, malerisch gelegenen Fischerdorf, das zu Füßen seines Anwesens lag und ihm seinen Namen verliehen hatte. In Malbury liefen die Uhren langsamer als anderswo in England. Hier wohnte noch eine Handvoll Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt mit Fischfang verdienten. Sie lebten in den alten, verwinkelten Häusern am Hafen an der steil bergaufführenden Straße. Ihre hellen Fassaden leuchteten im Sonnenuntergang golden. Wenn die Ebbe einsetzte, lagen die Fischerboote zu ihren Füßen im Schlick und warteten auf die Flut.

»Wann kommst du endlich zurück?«, unterbrach Patty seine Grübeleien vorwurfsvoll.

»Wenn ich fertig bin.« Oft genug war es in letzter Zeit vorgekommen, dass er noch nach einem verirrten Kalb hatte suchen müssen. Seine Tiere waren ein Vermögen wert.

Patty seufzte. »Verstehe. Also wird es wieder spät. Ich wollte uns heute Steaks grillen. Kannst du nicht einmal pünktlich zu Hause sein?«

Er hatte ihre Vorwürfe satt, auch wenn er sich darüber freute, dass sie ihn mit Essen verwöhnen wollte.

»Du weißt ganz genau, dass ich das nie genau bestimmen kann. Entweder du wartest oder musst allein essen«, antwortete Raphael wütend und hörte, wie Patty am anderen Ende der Leitung geräuschvoll einatmete.

»Dann bestelle ich eben den Pizzaservice«, antwortete sie spitz und legte auf.

Seufzend steckte Raphael sein Handy in die Hosentasche zurück. In letzter Zeit kam es immer wieder zu Streits zwischen ihnen. Das wollte er nicht. Er hätte ihr von Anfang an sagen müssen, wie wichtig ihm die Arbeit mit den Rindern war. Vielleicht hätte Patty ihn dann besser verstanden. Oder sich gar nicht erst auf eine feste Beziehung mit ihm eingelassen.

Malbury Hall zählte zu den Feudalsitzen Cornwalls und war seit jeher von der Longhorn-Rinderzucht geprägt. Im Laufe der Zeit war der Zuchtbestand rückläufig geworden, weil die Rasse nicht mehr populär genug war und die allgemeinen Haltungsbedingungen von Umweltengagierten kritisiert worden waren. Daher hatte Raphael eine andere Rasse gezüchtet, die das ganze Jahr auf der Weide verbringen durfte. Entgegen der Meinungen im Zuchtverband waren seine Rinder beliebter denn je. Durch die Haltung auf den Wiesen war auch die Qualität des Fleisches verbessert worden.

Es dämmerte bereits, als Raphael nach Malbury Hall zurückkehrte. Der Himmel leuchtete durch die untergehende Sonne orangerot. Für Anfang Juni waren die Abende angenehm warm, sodass er mit geöffneten Wagenfenstern fuhr. Er liebte den Geruch seines Zuhauses, nach Gras und Blüten. Besonders wenn er am Rosengarten vorbeifuhr und ihm süßer Zentifolienduft in die Nase drang. Das erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Hinter dem Rosengarten lag das Herrenhaus, das oft in der Werbung oder als Filmkulisse zu sehen war. Eine lohnende Einnahmequelle.

Majestätisch erhob sich das im Tudorstil gebaute Haus. Schon die Gefolgschaft Heinrich VIII. hatte Malbury Hall besucht. Es war in U-Form gebaut, fasste knapp hundert Räume, die sich auf das Haupthaus und die Flügel sowie drei Etagen verteilten. Über die Hälfte davon hatte Raphael zu Ferienwohnungen umbauen und renovieren lassen. Seine Privatgemächer befanden sich im Westflügel, wo er dem Meer am nächsten war.

Seit zwei Jahrzehnten verkauften die Calberts Rindfleisch ans Königshaus. Sein Großvater hatte immer stolz erklärt, dass der Verkauf jedes Stücks Fleisch in Rechnungsbüchern dokumentiert worden war. Raphael war das gleichgültig. Auch bedeutete ihm die Familienhistorie nicht viel. Er lebte im Hier und Jetzt. Sein Vater hatte stets den »alten Zeiten« nachgetrauert, von seinen Erlebnissen in den Siebziger- und Achtzigerjahren geschwärmt. Raphael hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt, denn er war ein Spieler und Trinker gewesen, der Malbury Hall fast im Spiel verloren hatte. Noch heute machte die Erinnerung daran Raphael zornig. Seinem Großvater war schließlich die Rettung zu verdanken gewesen. Nicht auszudenken, wenn das Anwesen in fremde Hände gefallen wäre. Anschließend hatte sein Vater versucht, seine Probleme im Alkohol zu ertränken. Kein Abend ohne Pub-Besuch. Nach einem Sieg am Roulettetisch war er mit seinem Wagen tödlich verunglückt.

Nach dem Tod seines Sohnes Großvater wieder die Leitung des Anwesens übernommen. Mit eiserner Hand hatte er Malbury Hall wieder geführt. Raphael hatte seinen Großvater als überaus selbstsichern und ehrgeizigen Geschäftsmann kennengelernt, dem niemand zu widersprechen gewagt hätte. In all den Jahren hatte er seinen Großvater niemals lächeln gesehen.

Der Jeep ratterte über das Kopfsteinpflaster des Innenhofes. Raphael parkte vor dem weinumrankten Haupteingang.

Er sprang aus dem Wagen und die vier Stufen zum zweiflügeligen Eichenportal hinauf. Beschläge mit tellergroßen Metallringen zierten beide Türflügel, auf denen jeweils ein Rinderkopf zu sehen war.

Mit Schwung öffnete er die Tür und betrat die säulengetragene Eingangshalle. Seine Schritte auf dem Marmorboden klangen durch die Halle. Seit vergangenem Jahr ließ Raphael im Winter wegen der hervorragenden Akustik Kammerkonzerte ausrichten, die regen Zuspruch gefunden hatten. Am Ende der Halle führten zwei geschwungene, weiße Marmortreppen mit einem moosgrünen Teppich ins Obergeschoss.

Anfang des Jahres war sein Haus sogar als Kulisse für eine Romanverfilmung ausgewählt worden. Patty hatte alles darangesetzt, den Regisseur von ihrem Schauspieltalent zu überzeugen. Leider ohne Erfolg, was sie bis heute nicht verdaut hatte.

»Na, endlich! Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Du weißt doch, dass heute Louis’ Party stattfindet. Du bist weder umgezogen noch hast du was gegessen«, hörte er Patty von oben rufen.

Es ärgerte ihn, dass sie ihn mit einem Vorwurf empfing.

»Ja, ja.« Er winkte ab, wollte sich auf keine Debatte mit ihr einlassen, weil sie so lange auf ihn einreden würde, bis er womöglich nachgab. Aber er fühlte sich zerschlagen und verspürte keine Lust, auf eine Party zu gehen. Auch nicht zu seinem Freund. Patty zog einen Schmollmund.

»Jetzt sag nur nicht, dass wir nicht hingehen. Ich habe schon eine geschlagene Stunde vor dem Spiegel verbracht, um das richtige Outfit zu finden.«

Anfänglich hatte ihm Pattys Quirligkeit und Unternehmungslust gefallen. Jedem Wochenende hatte er entgegengefiebert, mit ihr etwas kennenzulernen. Irgendwann hatte ihn der harte Alltag eingeholt, und er brauchte die Abende und Wochenenden, um sich von der körperlichen Anstrengung zu erholen.

»Patty, ich bin hundemüde. Mir steht nicht der Sinn nach einer Party. Auch wenn uns die Queen persönlich einladen würde. Er wird das verstehen.«

Louis war selbst Geschäftsmann und wusste, wie hart Raphael auf Malbury Hall arbeitete.

»Früher hast du mich immer gern begleitet!«

Ihr Vorwurf war berechtigt und schürte erneut sein schlechtes Gewissen.

»Ja, aber …« Er suchte nach einer Begründung.

»Du willst unsere Freunde enttäuschen? Findest du das fair? Zur letzten Party sind wir auch nicht gegangen. Dabei sollen es die besten Partys weit und breit sein.«

Raphael ließ die Vorwürfe schweigend über sich ergehen.

»Dort kannst du bestimmt neue Kunden gewinnen! Diese Chance solltest du dir nicht entgehen lassen«, versuchte Patty, es ihm schmackhaft zu machen.

Bei all dem Stress hatte er die Party bei Louis glatt vergessen. Das wollte er Patty gegenüber auf keinen Fall eingestehen. Er hatte noch nie Wert gelegt auf diese ganzen Partys der High Society mit Small Talk, Drinks und Häppchen. Es ging nur darum, zu sehen und vor allem gesehen zu werden. Darauf konnte er gut und gern verzichten. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand.

»Bitte, Raphael. Wir können hier doch nicht auf Malbury Hall versauern. Lass uns bitte zu Louis’ Party gehen«, bettelte Patty.

»Nein«, erwiderte er entschieden.

Hinter seinen Schläfen pochte es schmerzhaft. Er brauchte jetzt dringend Ruhe, keine Auseinandersetzung.

»Ist das dein letztes Wort?« Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften.

»Ja.« Nach dieser Antwort wandte er sich um und lief in die Küche. Er hörte Pattys Absätze hinter sich auf dem Marmorfußboden klappern.

Gleich würde sie auf der Küchenschwelle stehen und auf ihn einreden, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen. Wie immer würde er sie gewähren lassen und sich in Schweigen hüllen. Für einen Streit hatte er heute keine Nerven.

»Das ist nicht wirklich dein Ernst, oder?« Ihre Stimme wurde schrill.

Raphael drehte sich nicht um. Er stand am Kühlschrank und schaute hinein.

»Doch. Ich halte dich nicht zurück, falls du allein zu Louis fahren willst«, bot er ihr an und hoffte inständig, dass sie es tat. Alles, wonach er sich sehnte, war Ruhe.

»Gut. Schön. Ist es dir denn egal, dass ich enttäuscht darüber bin, dass du mich nicht begleiten magst? Ich dachte, wir wären ein Paar. Paare folgen solchen Einladungen gemeinsam. Aber wenn du es nicht anders willst, werde ich eben allein zur Party fahren. Natürlich werde ich dich entschuldigen.«

Er hasste es, wenn sie seinetwegen Ausreden erfand. Raphael zog eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank in gierigen Zügen.

»Brauchst du nicht. Das werde ich Louis bei Gelegenheit selbst erklären. Viel Spaß bei der Party«, sagte er und drehte sich zu seiner Freundin um. Zugegeben, sie sah umwerfend sexy aus in dem grünen, hautengen Kleid, das wunderbar mit ihrer Augenfarbe harmonierte.

Pattys Nasenflügel bebten, wie immer, wenn sie aufgebracht war. Schnaubend drehte sie sich um und trippelte auf ihren Stilettos davon.

In Raphael regte sich das schlechte Gewissen. Patty war eine junge, unternehmungslustige Frau, die ausgeführt werden wollte, anstatt zu Hause mit ihm auf dem Sofa vor dem Fernseher zu sitzen. Wenn er sie nicht mehr begleiten wollte, könnte er vielleicht eine Party geben. Bestimmt hätte sie Spaß an der Organisation, es wäre eine Abwechslung in ihrem Landleben. Alles, was Rang und Namen hatte, würde er einladen. Und natürlich ein Orchester und Buffet vom Feinsten. Er verließ die Küche, um ihr von seinem Plan zu erzählen, in der Hoffnung, sie nach dem Streit eben versöhnlicher zu stimmen. Auf dem Weg blickte er aus dem Fenster und sah, wie sie mit ihrem Mercedes Coupé davonfuhr.

Zu spät! Dann muss die Versöhnung eben warten.

Enttäuscht lief Raphael in die Küche zurück, um sich etwas zu essen zuzubereiten.

Seine Köchin Penny war längst nach Hause gegangen. Patty konnte nicht verstehen, dass er es seiner Köchin gestattete, kurz nach dem Fünfuhrtee nach Hause zu gehen. Auch wenn Raphael es sich durchaus hätte leisten können, sein Personal bis Mitternacht zu beschäftigen, wollte er lieber den Abend allein oder in trauter Zweisamkeit mit Patty genießen. Wie jeder normale Bürger auch. Außerdem machte es ihm als Hobbykoch Spaß, sein Essen in der luxuriös ausgestatteten, modernen Küche selbst zuzubereiten. Patty überließ ihm diese Aufgabe nur zu gern, denn sie konnte nicht kochen. Musste sie auch nie, denn ihre Eltern besaßen ein Heer von Bediensteten in der Industriellenvilla.

Die Zahl von Raphaels Angestellten auf dem Anwesen belief sich auf etwa ein Dutzend. Für einen Adligen und die Größe des Anwesens waren das wenige. Harry, der sich um alle Belange des Haushaltes kümmerte und die drei Köchinnen Penny, Molly und Tiffany. Der Rest arbeitete bei den Rindern. Die sechs jungen Frauen aus dem Ort, die seine Räume und Ferienwohnungen sauber hielten, waren nur stundenweise beschäftigt. Auf einen Chauffeur, wie es in seinen Kreisen eigentlich üblich war, hatte Raphael verzichtet. Nach dem Tod seines Großvaters Victor war dessen Chauffeur Roderick in Rente gegangen, und Raphael hatte keinen neuen mehr eingestellt. Er fuhr seine Wagen lieber selbst. Im ehemaligen Marstall war sein Fuhrpark untergebracht, der aus einem roten Ferrari, einem Jeep und einem SUV bestand, in dem er auch Jam mitnehmen konnte.

»Du bist ein Calbert of Malbury«, hatte sein Großvater immer voller Stolz zu ihm gesagt. »Die Calberts sind eine angesehene Familie, die schon unter König Heinrich treu gedient hat. Es ist unsere Pflicht, eine Schar Bedienstete zu beschäftigen.«

Die Unmengen an Personal, die sein Großvater unterhalten hatte, waren eine große finanzielle Belastung gewesen, weshalb Raphael sich dazu entschieden hatte, den Mitarbeiterstamm restriktiv zu verkleinern.

Ende der Leseprobe