Morgentau - Valentina May - E-Book
SONDERANGEBOT

Morgentau E-Book

Valentina May

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Apfelplantage im Alten Land und ein dunkles Geheimnis, das die Familie nicht loslässt: Der Auftakt zur großen Familiengeheimnissaga von Valentina May Als Pia durch Zufall auf das idyllische Anwesen am Elbstrand stößt, ist es um sie geschehen: Nicht nur die malerische Apfelplantage hat es ihr angetan, sondern auch der attraktive, aber unnahbare Tom Matthiesen, der der verwöhnten Großstadt-Tochter ein Zimmer auf seinem Hof anbietet. Doch Pia spürt, dass ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit seine Schatten bis in die Gegenwart wirft und es Tom unmöglich macht, jemanden an sich heran zu lassen. Hat die Liebe der beiden eine Chance?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 425

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover & Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

Epilog

3.

Nach einem heißen Juni war ein ebenso heißer Juli gefolgt, der sich jedoch zum Abschied grau und nass zeigte. Es regnete auch, als Pia Berlin in Richtung Hamburg verließ. Die Worte ihres Vaters hatten sie tief verletzt. Sie konnte noch immer nicht glauben, was vorgefallen war.

Der Scheibenwischer zog quietschend seine Bahnen auf der Windschutzscheibe. Ein kleiner Lichtblick war das Wiedersehen mit Lena. Der Besuch bei der quirligen Freundin würde sie sicherlich eine Weile von ihrem Kummer ablenken.

Nach zwei Stunden Fahrt durch den Regen geriet Pia zu allem Übel in einen Stau. Fluchend schlug sie mit der Hand aufs Lenkrad. Die Blechlawine floss nur zäh Hamburg entgegen. Pia entschied, eine Pause einzulegen, in der Hoffnung, der Stau möge sich in der Zwischenzeit auflösen. Genervt verließ sie an der nächsten Ausfahrt die Autobahn. Die Landstraße führte sie über Orte, deren Namen nach purem Landleben klangen. Zum Glück war es bis Hamburg nicht mehr weit. Doch sie kam langsamer voran als erhofft. Inzwischen war es Nachmittag geworden, und weil sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, knurrte ihr Magen. Nachdem sie sich an einem Kiosk mit einem Marzipancroissant und einem großen Becher Milchkaffee versorgt hatte, setzte sie den Weg fort. Doch irgendwie spann plötzlich ihr Navi. Diese Straße schien nicht zu existieren. Die nächste Kreuzung kam ihr seltsam bekannt vor.

»Ich bin doch hier schon mal gewesen«, sagte sie laut. Das Navi empfahl ihr, rechts abzubiegen. Nur wenig später stand sie erneut an derselben Kreuzung. Unglaublich! Das Navi führte sie die ganze Zeit im Kreis. Als auch ihr Handy streikte, kaufte sie sich an der nächsten Tankstelle eine Karte. Hier war finsterste Provinz. Es war eine Herausforderung, den Weg von der Karte auf ihrem Schoß abzulesen und sich gleichzeitig aufs Fahren zu konzentrieren. Irgendwann verlor sie die Orientierung, weil sie eine Abzweigung verpasst hatte. Sie war müde und durstig und wollte nur noch bei Lena ankommen. Mittlerweile wusste sie nicht mal mehr, wo sie sich genau befand, denn keiner der Orte war auf der Karte verzeichnet. Allmählich versank die Sonne am Horizont. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Lena würde sich sicher schon Sorgen machen. Pia hielt den Wagen am Straßenrand an und wählte die Nummer der Freundin. Noch immer kein Netz. Wütend warf sie das Handy auf den Beifahrersitz und ließ den Tränen freien Lauf.

»Ganz ruhig, Pia. Suche einen Gasthof und frage dort nach dem Weg«, sprach sie laut zu sich selbst. Je öfter sie das wiederholte, desto mehr beruhigte es sie. Wenige Kilometer weiter wurde sie fündig. Doch ein Schild an der Eingangstür verkündete, dass der Gasthof ein paar Tage geschlossen war.

»Ja, klasse!«, rief Pia. Im Notfall musste sie hier in der Gegend übernachten und am nächsten Morgen weiterfahren. Ärgerlich war das schon. Pia stieß einen Fluch aus, bevor sie einer Landstraße an der Elbe entlang folgte. Irgendwann würde sie schon auf ein Schild stoßen, das ihr den Weg nach Hamburg wies, hoffte sie.

Die Sonne färbte den Himmel glutrot, als sie Oosthusen, einen malerischen Ort mit vielen Fachwerkhäusern erreichte. Etwas außerhalb lagen aufwendig verzierte Fachwerkhöfe mit endlos erscheinenden Obstbaumreihen. Der leichte Wind wehte den süßen Duft von Obst, frischem Laub und feuchter Erde zum Fenster herein. Ein Geruch, der sie an ihre Großeltern erinnerte, die im Spreewald einen Schrebergarten besessen hatten. Voller Schnittblumen, Gemüse und einem von ihrem Großvater selbstgezimmerten Gewächshaus für Omas geliebte Tomaten und Gurken. Auf den Rasen hatte Opa ihr im Sommer immer einen aufblasbaren Pool mit Rutsche hingestellt. Sie hatte Oma Rosi immer gern im Garten geholfen und dabei viel über Pflanzen und Insekten gelernt.

»Mit der Natur muss man schonend umgehen, weil man sie sonst zerstört.« Pia hatte sich immer die Nase zugehalten, wenn ihre Großmutter Brennnesseljauche gegen die Blattläuse gerührt hatte.

Es war eine wundervolle und unbeschwerte Zeit gewesen, die sie niemals missen mochte, auch wenn sie gern in der Stadt lebte. Ein Seufzer entfloh Pia. Leider lag das alles schon eine Ewigkeit zurück. Die Großeltern waren vor knapp zehn Jahren gestorben, erst Opa Arnulf und dann Oma Rosi, die den Tod des geliebten Mannes nicht verkraftet hatte. Nach deren Ableben hatte ihr Vater den Schrebergarten verkauft. Pia vermisste noch immer die Großeltern und die fröhliche Zeit, die sie mit dem Garten verband. Sie war von ihrem Vater wegen des Verkaufs enttäuscht gewesen.

Pia hatte nie verstehen können, dass er gegen ihren und den Wunsch seiner Frau den Schrebergarten verkauft hatte, bis ihre Eltern sich ein gutes Jahr später getrennt hatten. Heimlich hatte Pia einen Streit zwischen ihnen belauscht, in dem ihre Mutter zu ihrem Entsetzen erklärt hatte, dass ihr gar nichts an dem Garten der Großeltern liegen würde. Erst da war Pia aufgegangen, wie wetterwendisch ihre Mutter gewesen war und dass der Garten ihr keineswegs so sehr am Herzen lag, wie sie immer behauptet hatte. Die Erinnerungen an die Zeit mit ihr und den Großeltern kam ihr manchmal wie ein anderes Leben vor. Ein glücklicheres. Pia blinzelte die Träne fort, die an ihren Wimpern hing.

Plötzlich ruckelte der Mini, etwas schepperte unter der Motorhaube, bevor schlagartig alle Lichter im Armaturenbrett erloschen. Geschockt saß sie auf ihrem Sitz, während der Wagen lautlos über die Landstraße weiterrollte. Als sie eine Kurve vor sich sah, trat sie erschrocken auf die Bremse. Zu fest, denn der Wagen brach hinten aus und drehte sich auf der feuchten Fahrbahn um die eigene Achse. In Panik versuchte Pia gegenzusteuern, als sie dem Graben auf der rechten Seite gefährlich nahekam. Doch so sehr sie sich auch bemühte, der Mini rutschte schräg seitwärts und landete mit dem Heck im Graben, wodurch er endlich zum Stehen kam. Nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatte, drehte sie den Zündschlüssel. Aber der Wagen gab keinen Mucks von sich. Auch nach ein zweiter und ein dritter Startversuch endeten erfolglos. Pia fluchte laut und schlug mit den Händen aufs Lenkrad. Dann atmete sie tief ein und schaute zum Fenster hinaus. Am roten Himmel zogen kreischende Möwen ihre Kreise. Das konnte doch nicht wahr sein. Kein Haus weit und breit. Warum musste der Wagen ausgerechnet hier streiken? Der letzte Ort lag ein paar Kilometer hinter ihr und der nächste weiß Gott wie weit entfernt. Alles schien sich heute gegen sie verschworen zu haben. Sie stieg aus dem Wagen. So weit das Auge reichte, standen Obstbäume, und neben ihr floss die Elbe träge dahin. In der Ferne hörte sie das Horn eines Schiffes. Sie ging ums Auto herum und öffnete die Motorhaube. Alles sah aus wie immer. Kein Dampf. Nichts. Ein Pannendienst musste her. Aber wie, wenn sie noch immer kein Netz hatte?

»Herrgott, ich bin hier in der Pampa gelandet!«, rief sie und pfefferte ihr Mobiltelefon durchs geöffnete Fenster auf den Sitz. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als der Landstraße zu Fuß zu folgen. Irgendwann würde ein Wagen vorbeifahren oder ein Haus zu sehen sein. Der rote Himmel umrahmte die knallgelbe Sonnenscheibe. Ein Postkartenmotiv par excellence. Kitschig aber wunderbar. Pia holte ihre Kamera aus dem Kofferraum, um diesen Anblick einzufangen. Sie liebte es, stimmungsvolle Landschaften abzulichten, wann immer sie ein geeignetes Motiv fand.

Ihre Handtasche unter den Arm geklemmt, begab sie sich wenig später auf den Weg, bis ihre geschwollenen Knöchel ihr einen Strich durch die Rechnung machten und sie zur Umkehr zwangen. Die Pumps waren eben nicht für einen Marsch gedacht. In einem der Koffer mussten sich ihre Sneakers befinden. Sahen zwar nicht so elegant aus zum Kleid, das sie trug, aber sie waren bequem.

Um an sie heranzukommen, musste sie sich weit in den Kofferraum beugen. Kaum hatte sie den Koffer geöffnet, hörte sie hinter sich Motorengeräusch. Alarmiert richtete sie sich auf und stieß mit dem Kopf gegen den Kofferraumdeckel. Heftiger Schmerz durchzuckte ihren Hinterkopf, dass ihr schwindlig wurde.

»Brauchen Sie vielleicht Hilfe?«, fragte eine angenehm warme Bassstimme.

»Nicht nur vielleicht. Sie schickt der Himmel«, entfuhr es Pia erleichtert. Die Beule am Kopf pochte schmerzhaft. Vorsichtig wandte sie sich zu dem vermeintlichen Engel um.

Der Mann auf dem Traktor im karierten Hemd mit den aufgekrempelten Ärmeln war vielleicht Mitte dreißig und äußerst attraktiv. Seine Ausstrahlung hätte Pia für ihn eingenommen, wäre da nicht dieser abweisende Blick gewesen.

Er kletterte vom Traktor herunter. »Was haben Sie denn für ein Problem?« Sein herablassender Tonfall ärgerte Pia

»Der Motor ist während der Fahrt ausgegangen. Wenn ich ihn starten will, sagt er keinen Mucks.«

»Genügend im Tank?«, fragte er. Gehörte er etwa zu den Machos, die sich über Frauen hinterm Steuer lustig machten? Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Ja, natürlich, habe erst vor einer Stunde in diesem Kaff da hinten getankt.«

»Dieses Kaff heißt übrigens Oosthusen«, korrigierte er sie gereizt. »Öffnen Sie mal die Motorhaube.« Es klang eher nach einem Befehl als nach einer Bitte.

Pia war zu erschöpft von der Fahrt, um sich mit einer schlagfertigen Bemerkung gegen den Tonfall zu wehren, und folgte seiner Aufforderung. Hätte er doch nur nicht angehalten. Tief beugte er sich über den Motor und betrachtete prüfend das Innere.

»Hm, hm. Ah, ja. Nicht gut«, murmelte er. Der Kerl machte sie mit seinen Kommentaren wahnsinnig. Schließlich wollte sie endlich wissen, was mit ihrem Wagen los war.

»Ich muss heute noch nach Hamburg. Was ist denn mit meinem Wagen?«, fragte sie.

Anstelle einer Antwort wandte er sich um und lief zu seinem Traktor zurück. Der ließ sie doch wohl nicht einfach so stehen?

»Hey, Sie! Was ist denn nun mit meinem Wagen?«, rief sie ihm hinterher. Pia bebte vor Wut. Er blieb stehen.

»Ich bin kein Automechaniker!« Mit diesem Worten kletterte er auf den Sitz seines Traktors.

»Gibt es hier vielleicht eine Werkstatt?«

»Haben alle zu.« So ein ungehobelter Kerl.

Sie eilte ihm hinterher.

»Hallo, warten Sie. Sie wollen doch jetzt nicht etwa ohne mich fahren?«, empörte sie sich, erhielt aber keine Antwort.

Da bemerkte sie, dass er ein Handy ans Ohr drückte.

»Hi, Jens, hier Tom. Kannst du gleich vorbeikommen und ein Abschleppseil mitbringen? Bin am Elbufer gegenüber der Plantage … Osten. Okay, bis gleich.«

Er steckte das Handy in seine Gesäßtasche zurück.

»Danke, dass Sie einen Abschleppdienst bestellt haben«, sagte Pia. Tom hieß er also. Der Name passte zu ihm. Sie strahlte ihn an. Doch er zeigte sich davon unbeeindruckt.

»Keinen Abschleppdienst. Sie können froh sein, dass ich Sie entdeckt habe. Für einen anderen würde Jens nach Dienstschluss nämlich nicht rausfahren.«

Wer auch immer dieser Jens war, Pia war ihm dankbar.

»Danke, das ist wirklich sehr nett von ihm, und auch von Ihnen.«

Er schwieg. Seine Augen verengten sich. Dann starrte er auf ihre Hände und wieder in ihr Gesicht.

»Jens wird gleich hier sein.«

»Ah. Wenn er nicht aus einer Werkstatt ist, woher dann?« Pia lächelte ihn an und hoffte, das Eis zwischen ihnen zum Schmelzen zu bringen. Aber an ihm schien ihr Charme abzuprallen.

»Er ist einer meiner Mitarbeiter«, belehrte er sie barsch, als müsse sie das wissen.

Pia sank aufs Polster ihres Sitzes und seufzte.

»Bitte. Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, dann hat mich mein Navi falsch geführt. Ich bin am Ende mit meinen Nerven, habe obendrein Hunger und Durst. Alles, was ich jetzt brauche, sind Ruhe und eine warme Mahlzeit.« Sie sah zu ihm auf. In seinen braunen Augen blitzte es amüsiert auf.

»Weiß ich doch. Reden Sie immer so viel?«, fragte er und brachte sie nur noch mehr auf. Abwehrend hob sie die Hände.

»Hören Sie, ich habe keine Lust auf einen Streit mit Ihnen, sondern bin Ihnen wirklich dankbar …«

»Da hinten kommt er schon.« Er deutete mit dem Arm auf einen Geländewagen, der ihnen entgegen brauste und schließlich mit quietschenden Reifen neben ihm hielt. Die Scheibe an der Fahrertür fuhr herunter, und das von rotblonden Locken umrahmte Gesicht eines jungen Mannes kam zum Vorschein.

»Hier, Chef«, er reichte ihrem Retter ein Abschleppseil. »Genau zwei Minuten vierzig. Viel zu lange. Bis dahin hätte sie tot sein können. Wieso hat das so lange gedauert? Ich dachte schon, du findest uns nicht.«

So penibel, wie ihr Retter war, mochte sie mit dem Rotblonden bestimmt nicht tauschen. Dass dieser Jens sich das gefallen ließ … Doch der grinste nur.

»Los, befestigen Sie das Seil.« Ihr Retter drückte ihr das Abschleppseil in die Hand.

»Geht es jetzt in die Werkstatt?«, fragte Pia mit einem beklommenen Gefühl.

»Nein, auf meinen Hof.«

Pia blieb unschlüssig mit dem Abschleppseil in der Hand stehen.

»Sie setzen sich jetzt besser in Ihren Wagen, während ich Sie abschleppe. Jens, los, pack mal mit an«, forderte dieser Tom den Rotblonden auf.

»Alles klar.« Mit diesen Worten stieg Jens aus und nahm Pia das Seil ab.

Während sie in den Wagen einstieg, vertäuten die Männer Traktor und Mini.

»Leerlauf einlegen, Handbremse lösen und nicht ruckartig steuern«, befahl Tom barsch, bevor er wieder auf den Traktor stieg.

Als wenn ich das nicht wüsste.Der wird langsam unverschämt! Pia wollte etwas erwidern. Aber weil sie fürchtete, er könnte sie hier einfach stehen lassen, verkniff sie sich eine Bemerkung. Wütend setzte sie sich hinters Steuer. Ihr Retter kletterte auf den Traktorsitz und zog den Mini überraschend sanft aus dem Graben.

 

Gemütlich tuckerte der Traktor die Landstraße entlang und zog ihren Wagen hinter sich her, während Jens ihnen im anderen Wagen folgte. In der Abendsonne war es kühl geworden, und Pia begann im Seidenkleid zu frösteln. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme.

Auch wenn ihr Retter toll aussah, ließen seine Manieren zu wünschen übrig.

Es dauerte nicht lange, bis sie in eine Einfahrt bogen, die auf beiden Seiten von Obstbäumen gesäumt wurde. Am Ende der Auffahrt lag ein stattliches, reetgedecktes Fachwerkhaus mit aufwendigen Verzierungen zwischen den Gefachen, über Tür und Fenstern. Ein himmelblau gestrichener Holzbalkon auf gedrechselten Säulen erhob sich über der Haustür. Doch beim Anblick der fürs Alte Land traditionellen Prunkpforte, bestehend aus einem in Weiß gestrichenen Torbogen für die einstigen Durchfahrten von Kutschen und einem Durchgangstor für die Besucher, blieb Pia vor Staunen der Mund offenstehen. Darüber prangte eine Inschrift in Gold: Anno 1628 Ernestine und Knut Matthiesen – Ora et labora. Sie hatte auf der Fahrt hierher schon so einige dieser Gehöfte gesehen, aber das hier war mit Abstand das schmuckste. Der Traktor rumpelte über das Pflaster und hielt vor dem Haus. Nachdem Tom abgestiegen war, lief er auf das Gutshaus zu und ließ sie wortlos zurück. Jens parkte seinen Wagen weiter hinten vor einer Scheune.

Hastig stieg Pia aus dem Mini. »Ich habe mich noch gar nicht richtig bei Ihnen bedankt!«, rief sie und eilte ihrem Retter hinterher. Der ist aber auch wirklich stur, dachte sie, als er nicht reagierte. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Haustür, und eine blonde Frau trat heraus, die nicht älter war als sie. Ihr Haar trug sie zu einem Zopf geflochten. Ihren Hals zierte ein auffällig bunter Schal.

»Hi, Tom, du hast ja einen Gast mitgebracht!«, rief sie und zeigte auf Pia.

»Nein«, antwortete er barsch.

»Und wer ist sie dann?«, bohrte die Frau weiter.

»Er hat meinen Wagen mit dem Traktor abgeschleppt«, meldete sich Pia zu Wort, bevor Tom antworten konnte. Wenigstens war die Frau netter und höflicher als er.

»Ah. Sind Sie allein?«, fragte die Blondine weiter und schaute sich um.

»Ja. Ich … ich muss heute noch nach Hamburg. Könnten Sie mir …«, stammelte Pia.

»Nach Hamburg?«, fiel ihr die Blondine ins Wort.

»Das hast du doch gehört, Immi.« Tom schüttelte den Kopf.

»Sei nicht so grantig«, mahnte ihn diese Immi, und Pia musste ihr Recht geben. »Wie und wo genau wollen Sie denn da hin?«

»Na, bestimmt mit einem Taxi zur Elbphilharmonie«, antwortete Tom spöttisch, bevor er im Haus verschwand.

»Taxis sind sicher teuer. Die S-Bahn wäre mir lieber.« Pia gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Es wäre nett, wenn Sie mir verraten könnten, ob der nächste Bahnhof weit von hier ist und in welchem Takt die Züge fahren.«

»Jetzt kommen Sie erst mal rein. Wir besprechen alles in Ruhe.«

Einen Moment lang zögerte Pia.

»Nun kommen Sie schon.« Immi winkte lächelnd. Ein warmes Lächeln, das Pia über Toms schlechtes Benehmen hinwegtröstete.

»Ich bin übrigens Imke, Imke Matthiesen, Toms Schwester. Wollen wir nicht du sagen? Schätze, wir sind ungefähr im gleichen Alter.«

Imke reichte ihr die Hand. Toms Schwester war ihr auf Anhieb sympathisch.

»Ja, gern. Ich bin Pia.« Ihren Nachnamen ließ sie weg und blickte forschend in Imkes Gesicht.

»Pia, der Name gefällt mir. Knapp und modern. Übrigens, ich möchte mich noch für meinen Bruder entschuldigen. Wahrscheinlich gab es Probleme auf der Plantage. Dann ist er meistens schlecht gelaunt. Nimm es dir bitte nicht zu Herzen.«

Pia atmete auf, als Imke nicht nach ihrem Familiennamen fragte. Toms Schwester nahm ihren Arm und zog sie mit sich.

»Bei gutem Essen und Fruchtwein lässt sich alles viel besser besprechen.«

Pia wollte protestieren, denn sie wollte so schnell wie möglich nach Hamburg. Außerdem verdarb ihr die Vorstellung, der unfreundliche Tom könne mit am Tisch sitzen, den Appetit.

Doch Imke schob sie bereits in die große, rustikale Diele. Dunkle Deckenbalken und Wandvertäfelungen schluckten das Licht, und der Raum wirkte trotz der weißgeputzten Gefache an den Wänden düster. Eine wuchtige Holztruhe mit einem in Ölfarbe verewigten Blumengebinde darauf stand in einer Ecke. Auf der anderen Seite befand sich eine Sitzgruppe aus Leder um einen Eichentisch vor einem gemauerten Kamin. Es roch nach Bienenwachs und nach den rotbackigen Äpfeln, die in einer Schale auf dem Tisch standen. Deele hieß so ein Raum, erinnerte sich Pia, die von diesen Gehöften schon gelesen hatte.

Gemälde vom Gut zierten die Wände. Auf einem spielten drei Kinder vor dem Haus, und ein Baby auf dem Schoß einer Frau sah ihnen dabei zu. Daneben hing das Porträt eines kleinen Mädchens, das mit seinen goldblonden Locken die Vorlage für einen Engel hätte sein können. Doch in ihren Augen lag ein trauriger Ausdruck, der zur düsteren Atmosphäre der Deele passte. Das passte so gar nicht zu der fröhlichen Imke neben ihr. Toms Schwester führte Pia durch einen ebenso dunklen Korridor zu einer Doppelflügeltür mit Bleiglasscheiben, auf denen Apfelmotive verewigt waren.

Sie öffnete die Tür und bedeutete Pia mit einer Geste einzutreten. Der köstliche Duft nach Essen schlug ihnen entgegen. In der Zwischenzeit war es draußen dunkel geworden.

»Esst ihr immer so spät?«, fragte Pia Imke.

»Kommt ganz drauf an, wie lange die anderen draußen arbeiten. Da habe ich es besser. Mein Laden schließt um sechs«, antwortete Imke augenzwinkernd.

In der Mitte des Raumes stand ein ovaler Tisch, auf dem eine weiße Dammasttischdecke lag. Das Zimmer wirkte heller und freundlicher als der Eingangsbereich und war im gediegenen Landhausstil eingerichtet, mit Glasvitrinen aus gelaugtem Kiefernholz. Die Wände zierten Luftaufnahmen des Hofes und Auszeichnungsurkunden für verschiedene Apfelsorten. Der Blick hinaus durch die bodentiefen Fenster wurde durch einen angestrahlten Obstbaum eingefangen, dessen Zweige sich unter der Last der Früchte bogen.

Pias Blick suchte sofort nach Tom, der sicher dagegen war, dass eine Fremde mit am Tisch saß.

»Jens, leg doch bitte noch ein Gedeck auf!«, rief Imke dem Rotblonden zu, der hinter ihnen eingetreten war. Er nickte und holte aus einer Vitrine Teller, Glas und Besteck und stellte beides auf einen leeren Platz.

»Bitte setz dich doch.« Imke zog einen Stuhl zurück und bedeutete Pia, darauf Platz zu nehmen.

»Ich freue mich, dass du hier bist, Pia. Wir haben selten Gäste zum Essen. Vom Frühjahr bis zur Ernte bleibt uns für Geselligkeit nur selten Zeit. Du bist nicht aus Hamburg, oder?«

»Nein, ich komme aus Berlin«, antwortete Pia, nachdem Imke und Jens sich zu ihr an den Tisch gesetzt hatten. Zum letzten Mal, präzisierte sie im Geiste und verspürte bei dem Gedanken einen Stich. Papa würde heute allein zu Abend speisen. Ob er ihre Gegenwart vermisste? Obwohl er sie hinausgeworfen hatte, fehlte er ihr.

»Sorry, falls ich indiskret gewesen bin«, sprach Imke mit ernster Miene und nestelte an ihrem Schal. Der Stoff verrutschte und gab den Blick auf ihre Halsbeuge frei, auf der eine rote Narbe zu erkennen war. Pia verspürte Mitleid mit ihrer Gastgeberin. Imke schien ihren Blick richtig interpretiert zu haben und hielt inne. Sie zog den Schal enger um den Hals, und Pia senkte peinlich berührt den Blick.

»Nein, nein, schon gut. Ich habe nur einen sehr strapaziösen Tag hinter mir und werde eigentlich noch heute in Hamburg von einer Freundin erwartet.« Sie verspürte ein schlechtes Gewissen wegen Lena und nahm sich vor, sie gleich nach dem Essen anzurufen.

Die Tür öffnete sich. Eine Frau mittleren Alters betrat mit einem Servierwagen das Esszimmer und begrüßte alle freundlich.

»Frauke, wir haben heute einen Gast. Das ist Pia.«

Die Frau mit den graublonden Haaren stutzte kurz, bevor sie Pia freundlich begrüßte. Anschließend ging sie mit einer Flasche von Platz zu Platz.

»Unser bester Kirschwein. Ich hoffe, du magst ihn«, erklärte Imke.

»Ich habe noch keinen getrunken, bin aber gespannt, wie er schmeckt«, sagte Pia, woraufhin Frauke auch ihr Glas füllte.

Dann prosteten sie sich alle zu. Der herrlich fruchtige Geschmack war eine Gaumenfreude.