Raureif - Valentina May - E-Book
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Valentina May

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Beschreibung

Eine Apfelplantage im Alten Land und ein dunkles Geheimnis, das die Familie nicht loslässt: Der zweite Teil der großen Familiengeheimnissaga von Valentina MayFinanzinvestor Finn Matthiesen verbindet eigentlich nichts mehr mit der Apfelplantage seiner Familie im Alten Land: Für ihn zählen nur Fakten und Zahlen, in zahlreichen flüchtigen Affären versucht er die Vergangenheit zu vergessen. Doch bei einem Besuch seiner Geschwister behauptet sein Bruder Tom, ihre totgeglaubte Schwester Caroline könnte noch am Leben sein. Finn gerät ins Zweifeln – was geschah damals wirklich? Als ob das nicht schon genug Unruhe in seinen Alltag bringen würde, stellt auch noch die schöne Maike sein Leben gehörig auf den Kopf. Denn mit ihr verbindet ihn mehr, als er sich zunächst eingestehen möchte …

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© 2020 Piper Verlag GmbH, MünchenRedaktion: Ulla MothesCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Cover & Impressum

1.

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7.

8.

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37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

Epilog

1.

Dieser Kerl würde wohl nie aufgeben. Sein Brief war eine Frechheit. Was bildete er sich ein? Niemals würde sie an ihn verkaufen. Wütend zerknüllte Maike das Papier und pfefferte es auf den Boden.

»Zur Hölle mit diesem Matthiesen!«, rief sie außer sich. Tränen der Wut und Hilflosigkeit traten in ihre Augen.

Sie schämte sich, dass ihre Reederei seit Monaten rote Zahlen schrieb. Als sie sie vor fünf Jahren von den Eltern übernommen hatte, war es ein florierendes Unternehmen gewesen. Zunächst sah auch bei ihr alles erfolgsversprechend aus. Doch die Konkurrenten waren wie Pilze aus dem Boden geschossen und die Passagiere anspruchsvoller geworden. Nur die Anbieter mit den besten und zugleich günstigsten Ausflugsarrangements und -events gewannen. Ständig musste sie ihre Konkurrenten unterbieten, was ihre Einnahmen schmälerte. Maike war aus allen Wolken gefallen, als sie erfahren hatte, dass die Eltern keine Rücklagen gebildet, sondern jeden Cent in die Sanierung ihres maroden Altersruhesitzes gesteckt hatten, der verwaist auf deren Rückkehr wartete. Und in ihre Weltreise natürlich. Für eine notwendige Umrüstung der alten Schiffe, um den Ansprüchen der Passagiere zu genügen, reichte Maikes Geld nicht. Der ausflugsarme Winter nahte, und das Geld, das sie vorher verdient hatte, musste sie und Anna über die kalte Zeit hinwegbringen. Vielleicht hätte sie längst alles hingeworfen, aber sie war ihren Eltern dankbar, dass sie ihr die Kapitänsausbildung ermöglicht hatten. Ohne sie hätte Maike es nicht geschafft. Doch dann war sie schwanger geworden, und die Eltern hatten ihre finanzielle Unterstützung versagt. Aus Scham und Enttäuschung. Die Tochter der angesehenen Reederei Hansen bekam ein uneheliches Kind, und gab zu allem Überfluss den Namen des Vaters nicht preis.

In ihrem Heimatdorf Stolteby waren die wildesten Gerüchte über sie kursiert, die Maike zur Flucht gezwungen hatten. Oft hatte sie sich selbst vorgeworfen, den leidenschaftlichen Gefühlen einer einzigen Nacht nachgegeben zu haben. Verständnis oder gar Mitgefühl hatte sie bei niemandem gefunden, nicht mal bei ihrer Familie. Einsam und verlassen hatte sie sich gefühlt, bis sie begriffen hatte, dass es nichts brachte, in Selbstmitleid zu baden, sondern sie ihr Leben meistern musste. Genauso wie jetzt, da sie mit Problemen erneut allein dastand. Mit einer Armbewegung fegte sie wütend das Rechnungsbuch vom Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Eine Weile saß sie grübelnd da. Wie sollte es jetzt weitergehen?

Lautes Klopfen schreckte sie auf.

»Moment bitte!«, rief sie und hob hastig das Rechnungsbuch wieder auf.

Was nützte es ihr zu jammern. Wenn sie die Reederei erhalten wollte, musste sie Matthiesen die Stirn bieten.

»Herein!« Maike richtete ihren Haarknoten, aus dem sich beim Bücken Strähnen gelöst hatten.

Das kaum zwanzigjährige Crewmitglied Tabea stand mit scheuem Blick zögernd in der Tür.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Frau Hansen, aber der Cateringservice für den morgigen Ausflug nach Maasholm und Schleimünde hat soeben abgesagt«, berichtete sie mit betroffener Miene. »Was machen wir denn jetzt?«

Maike stöhnte und schloss kurz die Augen.

Das nicht auch noch! Als wenn ich nicht genug gestraft wäre.

Sie wusste aus Erfahrung, wie aussichtslos es war, kurzfristig jemand anderen zu finden. Irgendetwas würde, nein musste ihr auf die Schnelle einfallen.

»Wir improvisieren eben«, entschied sie nach kurzer Überlegung.

Tabea blickte verdutzt. »Improvisieren? Ich … ich verstehe nicht …«, stammelte sie.

»Ganz einfach. Morgen ist ja nur Fingerfood angesagt. Wir werden die Platten eben selbst machen«, erklärte Maike bestimmt. Oft genug hatte sie ihrer Mutter, einer gelernten Köchin, über die Schulter geschaut und selbst mit Hand angelegt, wenn es erforderlich war. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatten die Eltern alles selbst für die Gäste zubereitet. Wie gern hatte sie beim Decken der Tische geholfen und viel dabei gelacht.

»Zieh’ nicht so ein Gesicht, Tabea. Die Absage vom Catering ist kein Weltuntergang. Wir packen das schon«, sagte Maike voller Zuversicht.

»Aber ich habe so was noch nie gemacht«, verteidigte sich ihre Angestellte.

»Dann wird es Zeit, dass du es lernst. Ein guter Unternehmer rechnet mit Ausfällen und ist flexibel genug, sich aus der Not zu retten«, antwortete Maike augenzwinkernd. Auch ich habe einst ähnlich wie Tabea empfunden.

Wenigstens lenkte sie das Problem von Matthiesens frechem Brief ab.

Keine Viertelstunde später waren alle Aufgaben vom Einkaufen bis zur Garnitur der Platten mit ihrer Crew zu Maikes Zufriedenheit aufgeteilt.

Maike rollte Mett zwischen ihren Händen zu Bällchen und legte sie in die Pfanne. Genau wie damals. Während sie einen Mettball nach dem anderen formte, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück zu dem Tag, an dem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte.Ganz in Gedanken gab sie einen Fleischklops nach dem anderen in das heiße Fett und wendete sie.

»Autsch!«, schrie Maike plötzlich auf und schaltete den Herd aus, bevor sie fluchend zur Spüle hinüberrannte. Fett war beim Braten aus der Pfanne gegen ihre Hand gespritzt. Die Hautstelle auf ihrem Handrücken brannte höllisch. Sie ließ kaltes Wasser darüber laufen, was den Schmerz milderte.

»Mami?«

Maike zuckte erschrocken zusammen, dann wandte sie sich um. Anna stand in ihrem rosa Känguru-Pyjama und wirrem Haar in der Tür, den Stoffhasen fest im Arm und rieb sich gähnend die Augen. Maike war sofort bei ihr und zog sie liebevoll in den Arm.

»Kannst du nicht schlafen, Schätzchen?« Sie trug Anna zum Schlafzimmer hinüber, das sie sich teilten.

»Du hast eben geschrien. Was war denn los?«, fragte Anna halb besorgt, halb vorwurfsvoll.

»Tut mir leid, wenn ich dich aufgeweckt habe. Ich habe für die morgige Fahrt Mettbällchen gebraten. Dabei habe ich mich verbrannt«, erklärte sie Anna und legte das Mädchen behutsam aufs Kinderbett, das nur einen Schritt von ihrem eigenen entfernt stand.

»Schlimm?« Anna sah sie mitfühlend an. Ihre Tochter war ein sensibles Kind und immer voller Mitgefühl. Maike schüttelte den Kopf.

»Nein, tut schon gar nicht mehr weh«, log sie, um das Kind nicht mehr zu beunruhigen. »Jetzt schlaf schön, Anna. Morgen musst du wieder früh raus.«

»Liest du mir noch was vor? Bitte.« Flehend sah Anna sie aus großen, grauen Augen an. Wie hätte Maike da hart bleiben sollen? Anna weiß genau, wie sie mich um den Finger wickeln kann. Maike hoffte, dass ihre Tochter bei den ersten Sätzen einschlafen würde.

»Also gut, aber nur eine kleine Geschichte, ja?«, gab sie seufzend nach. Anna strahlte, und Maike ging das Herz auf.

»Die Geschichte mit dem Drachen«, forderte Anna, in deren Blick so viel Entschlossenheit lag, dass es Maike erneut an jemanden erinnerte, den sie lieber vergessen wollte.

Da sie heute zu erschöpft war, um mit ihrer Tochter zu diskutieren, griff sie nach dem Buch im Regal, schlug es auf und begann, daraus vorzulesen. Wie erhofft, war Anna rasch eingeschlafen. Maike saß noch eine Weile neben ihr auf dem Bett, lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Tochter machten auch sie schläfrig. Gegen ihren Willen schlief sie ein und träumte von einem Paar stahlgrauer Augen, die sie verlangend und besitzergreifend ansahen …

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Der Wecker auf dem Nachttisch schrillte so laut, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Die Mettbällchen für die Ausflügler! Die mussten noch auf einer Servierplatte garniert werden. Höchste Zeit zum Aufstehen. Maike schwang sich aus dem Bett und eilte ins Bad. Während sie unter der Dusche stand, ging sie im Geist durch, was heute noch außer der Fahrt nach Maasholm und Schleimünde zu erledigen war. Nachdem sie alles durchgegangen war, beschloss sie, gegen Mittag nach Hamburg zu fahren, um diesem arroganten Matthiesen ein für alle Mal klarzumachen, dass sie ihre Reederei nicht verkaufen würde.

Und genauso machte sie es. Nachdem sie den hektischen Vormittag mit der Ausflugstour hinter sich gebracht hatte, setzte Maike sich in ihren Wagen und fuhr nach Hamburg. Auf dem Beifahrersitz lag der Umschlag mit Matthiesens Büroadresse in der Nähe der Landungsbrücken. Im Geist legte sie sich die Worte zurecht. Solch einem knallharten Manager musste sie nicht nur gut vorbereitet, sondern auch energisch und selbstbewusst entgegentreten. Genau daran haperte es, denn tief in ihrem Innern war sie alles andere als selbstsicher. Es fiel ihr immer schwerer, neue Ausreden zu erfinden. Sie hasste es, ihre Gläubiger vertrösten zu müssen, genauso wie sie Annas Wünsche ständig zurückstellen musste. Den geplanten Schulausflug konnte sie eh nicht bezahlen. Dabei wollte sie eigentlich, dass Anna an allem teilnahm, woran sie Lust hatte.

Maike bog ab und parkte ihren Wagen nur wenige Schritte entfernt vom gläsernen Bürokomplex, neben dem ein blank poliertes Messingschild mit der Aufschrift FM Investor KG in der Sonne glänzte. Das gläserne Vordach reflektierte das Sonnenlicht und blendete sie. Der moderne Bau hatte klare Linien, zwar nicht ihr Geschmack, aber jeder, der ihn sah, würde sich im Nachhinein daran erinnern.

Gleich würde sie sich in die Höhle des Löwen begeben. Nur wenige Parkplätze weiter stand ein schwarzer Porsche auf dem für Matthiesen gekennzeichneten Parkplatz. Sie hatte wohl Glück und könnte dem arroganten Kerl endlich die Meinung sagen, was sie von ihm und seinem Angebot hielt. Darauf freute sie sich seit Wochen. Maike lächelte bitter. Ein kühler Wind wehte ihr ins Gesicht und wirbelte das verfärbte Laub auf. Der Herbst hatte längst Einzug gehalten und begrüßte sie mit mildem Wetter.

Das aufstrebende Unternehmen Matthiesens hatte sich seit dem vergangenen Jahr vergrößert. Der Hamburger Mittelstand zitterte vor Matthiesen, der schon einige Firmen verschlungen und zu Wucherpreisen weiterverkauft hatte. Es verging nicht ein Tag, an dem nicht ein Artikel über ihn in der Presse stand. In Fachkreisen nannten sie ihn den Moloch. Nachdem er etliche der regionalen Branchen abgegrast hatte, schien sich sein Interesse auf Tourismusfirmen in der Schlei zu fokussieren. Weil er von ihren finanziellen Schwierigkeiten wusste, war sie zur Zielscheibe geworden. Aber so leicht würde sie es ihm nicht machen, sondern bis zum Letzten gegen alles und jeden um ihre Reederei kämpfen.

Gleich würde sie Finn Matthiesen persönlich gegenüberstehen, von dem alle behaupteten, dass er jede Frau haben könnte.

In angespannter Erwartung schlug Maikes Herz bis zum Hals. Sie drückte den Rücken durch und schritt auf das Bürogebäude zu, in dessen Erdgeschoss sich der Empfang befand. Vielleicht braucht er es, dass ihm jemand die Meinung geigt.

Ein letztes Mal tief durchatmen, dann stieß sie die gläserne Tür auf und marschierte schnurstracks auf den Empfangstresen zu.

Eine Brünette in weißer Bluse und schwarzem Blazer sah auf.

»Guten Tag, Sie wünschen?«, fragte sie überfreundlich und lächelte Maike an. Ein geübtes Lächeln, das sie sicher vor dem Spiegel trainiert hatte. Mit einer aufreizenden Bewegung strich die Frau ihr Haar hinters Ohr. Belinda stand auf dem Schild, das an ihrem Jackenrevers haftete.

»Guten Tag, mein Name ist Maike Hansen. Ich möchte bitte zu Herrn Matthiesen«, leierte Maike herunter, wie sie es im Auto eingeübt hatte. Zugleich verließ sie wieder der Mut, und sie hätte fast auf dem Absatz kehrtgemacht.

»Frau Hansen, Sie haben einen Termin? In welcher Angelegenheit?«, fragte Belinda und tippte auf der Tastatur des Computers. Es wunderte Maike, dass sie mit diesen langen Nägeln, die grünlackierten Reptilienkrallen glichen, überhaupt die Tasten traf. Gleich wird sie feststellen, dass ich keinen Termin vereinbart habe.

»In seinem Interesse. Ich bin mir sicher, dass Herr Matthiesen mich auch so empfangen wird«, antwortete Maike und schenkte der Frau hinter dem Tresen ihr nettestes Lächeln.

»Bedauere. Heute hat Herr Matthiesen den ganzen Tag über auswärtige Termine. Ich schlage vor, wir vereinbaren jetzt einen, sagen wir mal, so in drei Wochen, wenn Sie mir Ihr Anliegen nennen.«

In drei Wochen? Das konnte doch nur um ein Witz sein. Maike stand kurz davor zu platzen.

»Ich will Herrn Matthiesen nicht irgendwann in zwei oder drei Wochen sprechen, sondern jetzt! Sofort! Und versuchen Sie mich nicht abzuwimmeln, ich habe nämlich seinen Wagen draußen auf dem Parkplatz gesehen«, beharrte Maike.

»Wie ich Ihnen schon sagte, ist das nicht möglich. Herr Matthiesen befindet sich nicht im Haus. Wollen Sie nun einen Termin vereinbaren oder nicht?«

»Nein …«, antwortete Maike.

»Dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag«, fiel ihr die Brünette ins Wort und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

So leicht ließ Maike sich nicht abwimmeln. Schließlich ging es hier um ihre Existenz und den Fortbestand der Reederei.

Sie stürmte an der Brünetten vorbei zum Fahrstuhl, die zuerst nach Luft schnappte und dann von ihrem Stuhl aufsprang, um ihr nachzueilen. Fieberhaft überlegte Maike, wo sich die Chefetage befinden könnte, und entschied, dass sie bestimmt oben im Gebäude war, wo es den besten Ausblick gab. Sie drückte den obersten Knopf.

Wegen ihrer hohen und dünnen Absätze erreichte die Empfangsdame Maike erst, als sich die Fahrstuhltüren schlossen.

Als sie sich wieder öffneten, sprang Maike hinaus und eilte den Flur entlang. Dabei las sie im Vorbeihasten die Namen an den Türschildern. Das Büro von diesem Matthiesen lag am Ende. Aufgewühlt wie sie war, drückte Maike einfach die Klinke hinunter und trat ein. Der Raum war großzügig geschnitten mit bodentiefen, breiten Fenstern, die einen hervorragenden Blick auf die Norderelbe boten. Davor stand ein Winkelschreibtisch, der zu ihrer Enttäuschung verwaist war. Alles war penibel aufgeräumt, kein Blatt Papier auf der lackierten Tischplatte, keine Akte, und die Kugelschreiber aufgereiht nach Größe sortiert auf einer Lederunterlage. Neben dem Bildschirm standen zwei Lautsprecherboxen, und hinter dem Schreibtisch war eine Leinwand, auf die ein Beamer gerichtet war, der unter der Decke hing.

Auf dem Flur näherten sich Schritte, Männerstimmen waren zu hören. Sicher hatte die brünette Mitarbeiterin von Matthiesen ihr die Security auf den Hals gehetzt. Maike machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Zwei kräftige Männer in schwarzen Anzügen kamen auf sie zu, packten sie an den Oberarmen und führten sie mit eisernem Griff zum Fahrstuhl, der jeden Widerstand zwecklos machte. Die Brünette warf ihr einen bitterbösen Blick zu, bevor sie an ihr vorbei in Matthiesens Büro eilte.

»Sie können Ihrem Boss sagen, dass ich nie an ihn verkaufen werde!«, rief Maike ihr hinterher, enttäuscht, Matthiesen nicht angetroffen zu haben.

Die beiden Sicherheitsmänner brachten sie nach draußen. Erst auf dem Parkplatz ließen sie sie los.

An ihrem Wagen angekommen, drehte Maike sich noch einmal um.

»Ich komme wieder, Herr Matthiesen, und dann werden Sie sich wünschen, mich nie kennengelernt zu haben«, stieß sie wütend hervor, bevor sie einstieg.

2.

Das hatte er nun davon. Er hätte die Party früher verlassen sollen, anstatt die Gegenwart der aparten, rothaarigen Anwältin Mila zu genießen, die interessante Anekdoten aus dem Berufsalltag zu erzählen wusste. Äußerlich war Mila von Werten-Kreuzbach sehr attraktiv, aber es fehlte ihr an Charisma. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber seine Lider waren schwer wie Blei. Finn drehte sich auf die Seite und stöhnte vor Schmerz. Blitze zuckten vor seinen Augen, und es fühlte sich an, als würde ihm gleich der Schädel platzen. Das waren gestern Abend ein paar Wodkas zu viel gewesen. Wenigstens hatte ihn in dieser Nacht keine Frau begleitet. Dachte er jedenfalls. Doch der knallrote Tanga auf dem Boden neben seiner Betthälfte verriet etwas anderes.

Er versuchte sich zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. In seinem Kopf herrschte Leere. Wie immer nach einer solchen Nacht. Nach einem endlosen Arbeitstag suchte er auf Partys, in Bars und Clubs Zerstreuung. Alkohol und Sex halfen ihm, sich selbst zu vergessen. Am nächsten Morgen jedoch holte ihn wieder die Realität ein, die schlimmer war als jeder Kater. Eine Nacht wie die andere. Nein. Halt! Eine Nacht war anders gewesen und hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Mit einer bezaubernden und leidenschaftlichen Frau. Doch das lag lange zurück. Vergessen und vorbei.

Als Finn aufstand, wurde ihm speiübel. Er taumelte ins Badezimmer, wo er sich schließlich erbrach.

Nach einer kalten Dusche fühlte er sich ein wenig erfrischter und schlurfte in die Küche. Er brühte sich einen doppelten Espresso und schluckte eine Kopfschmerztablette. Gerade setzte er die Tasse an den Mund, als sein Handy auf der Küchentheke hin und her schlidderte. Ein Blick aufs Display zeigte, dass seine Mitarbeiterin Belinda die Anruferin war. Einen Moment lang überlegte er, nicht ranzugehen, bis er sich erinnerte, dass sie nur anrief, wenn er sonst einen wichtigen Termin versäumen würde. Seufzend stellte er die Espressotasse wieder ab und nahm den Anruf entgegen.

»Ja, Belinda, was gibt’s?«, stieß er heiser hervor und glaubte, sein Kopf müsse platzen, denn jedes Geräusch dröhnte wie ein Donnerschlag. Er hielt deshalb das Handy vom Ohr weg.

»Herr Matthiesen, eben ist eine Frau Hansen hier gewesen. Sie war sehr aufgebracht und hat sich unrechtmäßig Zutritt zu Ihrem Büro verschafft. Ich habe alles versucht, sie aufzuhalten, aber …«, sprudelte es aus Belinda hervor. Die restliche Rede zog ungehört an ihm vorbei.

Hansen … Hansen … Sein vernebeltes Hirn war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Schon gut, Belinda. Hat sie was mitgehen lassen?«

»Soweit ich sehen konnte, nein«, antwortete seine Mitarbeiterin. »Ich habe natürlich gleich die Security gerufen. Die haben sie dann nach draußen begleitet.«

»Ja, keine Sorge, Sie haben alles richtig gemacht. Sagen Sie bitte für heute alle meine Termine ab. Ich werde zu Hause arbeiten.«

»Gut«, antwortete Belinda und legte nach einem knappen Gruß auf.

Finn schleppte sich auf die Dachloggia seines Penthouses und machte es sich im Schatten auf dem Liegestuhl gemütlich. Von hier aus konnte er ganz Hamburg überblicken. Heute jedoch nicht, denn jeder Sonnenstrahl würde nur in seinen Augen schmerzen. Der Verkehrslärm schwappte bis zu ihm hinauf. Früher hätte ihn das gestört, aber heute war es vertrauter und beruhigender als Vogelgezwitscher.

In der Ferne waren die Kräne des Containerhafens zu erkennen. Manchmal bildete er sich ein, die Silhouetten der Apfelfelder im Alten Land am Horizont zu sehen, obwohl ihm der Verstand sagte, dass es nicht möglich war, weil sie viel zu weit entfernt waren. Aber er erinnerte sich noch gut an den süßen Duft heranreifender Äpfel und den zarten Blütenduft der Frühlingsbäume auf Gut Matthiesen.

Schon seit Jahren hatte er dem elterlichen Gut keinen Besuch mehr abgestattet. Er hatte sich noch nie mit Vater verstanden, und nach Mutters Tod war es ihnen nicht möglich gewesen, ein paar Sätze miteinander zu reden, ohne sich zu streiten. Auch zu seinem Bruder Tom hatte er ein gestörtes Verhältnis. Finn war für alle nur der kleine Bruder des ach so fleißigen und zuverlässigen Tom gewesen. Wie hatte er es gehasst, im Schatten des Bruders und Vaters zu stehen und zur Zielscheibe zu werden, weil er kein Apfelbauer sein wollte. Seine Eltern hatten immer davon geträumt, dass er eines Tages gemeinsam mit Tom die Plantage übernehmen würde. Während sein Bruder handwerkliches und botanisches Geschick besaß, lagen Finns Qualitäten eher im Wirtschaftlichen.

Als die Kopfschmerztablette wirkte, dachte er über Belindas Anruf nach. Sicher würde die Hansen einen weiteren Versuch starten, zu ihm vorzudringen. Bei allem, was er über sie gehört hatte, war sie eine Amazone, die bis zum bitteren Ende für ihre Ziele kämpfte. Eigentlich imponierend, wenn sie sich nicht gegen ihn stellen würde.

Vor einiger Zeit hatte Belinda für ihn Informationen über sie eingeholt. Maike Hansen, ehrgeizig, clever und emotional. Alleinerziehende Mutter ohne Affären. Bei genügender Attraktivität wäre er sicherlich nicht abgeneigt, eine Nacht mit ihr zu verbringen, wenn es seinen Zweck erfüllte. Mehr aber auch nicht, denn welcher Mann würde sich auf eine dauerhafte Beziehung mit einer Frau einlassen, die ein Kind hatte? Kinder waren nervig und anstrengend. Dafür war in seinem Leben kein Platz.

Finn lächelte, denn er wusste, dass sein Charme bei Frauen sehr überzeugend sein konnte. Da wäre Maike Hansen sicher keine Ausnahme. Eine Frau ohne Sex war wie eine Blume ohne Wasser. Doch in seiner Firma wollte er sie nicht sehen. Er beauftragte den Sicherheitsdienst, Maike Hansen den Zutritt zu seinem Firmensitz zu verwehren.

Die Reederei Hansen zählte zu den alteingesessenen Unternehmen mit den besten Liegeplätzen und Ausflugsfahrten an der Schlei. Offenbar schien die Hansen kein glückliches Händchen in der Unternehmensführung zu besitzen, denn die Reederei, die sie für die Eltern führte, stand kurz vor dem Bankrott. Pech für sie, Glück für ihn. Der Tourismusbranche gehörte die Zukunft. Ausflugsfahrten auf Fluss oder Meer waren sehr beliebt. Finns Unternehmen stagnierte. Natürlich könnte er auch im Ausland investieren, aber das wollte er nicht. Also musste er neue, vielversprechende Geschäftsfelder suchen. Bei einem Kongress hatte er sich mit einem Unternehmensberater aus der Reisebranche unterhalten. Es war kein Geheimtipp mehr, dass angesichts drohender horrender Flugpreise Deutschland als Reiseland beliebter werden würde. Deshalb hatte er den Entschluss gefasst, sich nach geeigneten Ausflugszielen umzusehen. Da er gern seine Freizeit auf dem Wasser verbrachte, lag es nahe, sich an Meer oder Fluss ein passendes Projekt zu suchen.

Seine ersten Erfahrungen hatte er bereits mit einer kleinen Reederei an der Eider gesammelt, die er vor einem halben Jahr erworben hatte. Gemeinsam mit der Hansen-Reederei und einer weiteren Reederei an der Treene würde er die Binnenschifffahrt auf allen drei Flüssen entscheidend mitbestimmen. Schritt für Schritt würde er die alten Motorschiffe ausrangieren und durch hochmoderne ersetzen und irgendwann auch die Kapitänin auffordern, sich einen neuen Job zu suchen. Resultierend aus seiner Wirtschaftlichkeitsberechnung war er zu dem Schluss gelangt, dass eine Fusion der Reedereien den Schlei-Tourismus bestimmen würde, wenn er es geschickt anstellte. An Ideen mangelte es ihm nicht. Fusion der Schlei-Reedereien! Was für ein genialer Einfall.

Schon wählte Finn die Nummer seines Finanzressortleiters Dietmar Greven.

»Greven hier«, meldete der sich am anderen Ende.

»Matthiesen. Herr Greven, können Sie mir bitte die letzte Bilanz der Hansen-Reederei zusenden und dazu Ihr Votum. Außerdem eine Analyse der Ausflugsbuchungen sämtlicher Reedereien an der Schlei. Noch heute Vormittag. Danke.«

»Selbstverständlich, Herr Matthiesen«, versicherte Greven. Ein Fuchs war dieser Greven. Der verfügte über ein Netzwerk, das ihm dazu verholfen hatte, sogar sämtliche Unternehmensbilanzen zu bekommen.

Kurze Zeit darauf meldete sein Handy den Eingang einer E-Mail. Zufrieden lehnte Finn sich zurück. Die Hansen-Reederei stand kurz vor der Insolvenz.

Maike Hansen musste also verkaufen, auch wenn sie sich noch sehr sträubte. Keiner ihrer Konkurrenten würde ihre marode Reederei mitübernehmen. Die Zeit arbeitete also für ihn. Mit jedem Tag verschuldete sich die Reederin ein bisschen mehr, und das trieb sie in seine Arme. Die Vorstellung, diese widerspenstige Frau in die Knie zu zwingen, ließ ihn siegesgewiss lächeln.

Gleich morgen würde er einen weiteren Brief an sie senden, in dem er sein Angebot erhöhte. Bei dieser Summe würde sie bestimmt nicht widerstehen können.

Einen Tag später erwartete ihn Belinda bereits mit der Unterschriftenmappe, in der auch das Anschreiben an Maike Hansen lag, das er gestern Abend diktiert hatte. Finn zückte seinen silbernen Kugelschreiber, um den Namen unter das Papier zu setzen.

Einen flüchtigen Moment zögerte er. Irgendwie gefiel ihm, dass die Hansen ihre Reederei wie eine Löwin verteidigte. Taffen Frauen zollte er Respekt. Irgendwie erinnerte ihn das wieder an Mia. In der Liebe waren sie für ihn sogar eine Herausforderung. Schnell verdrängte er die Erinnerung.

Die Hansen würde sicher über sein erneutes Angebot erbost sein. Aber das Wasser stand ihr bis zum Hals. Sie musste verkaufen, und wenn er es geschickt anstellte, an ihn. Finn lächelte siegesgewiss.

3.

Der Stapel ungeöffneter Post lag noch immer auf ihrem Schreibtisch. Seufzend sortierte Maike die Kuverts. Die Rechnungen legte sie gleich beiseite, sodass nur noch zwei Briefe übrig blieben, einer von ihrer Hausbank und ein Umschlag ohne Absender. Das Kribbeln in ihrem Magen wuchs, als sie zuerst das Schreiben ihrer Hausbank öffnete.

Das konnte doch nicht wahr sein! Noch einmal las Maike das Anschreiben. Ihr wurde übel. Die Bank hatte das Darlehen für Ende nächsten Monats fällig gestellt. Wie sollte sie das Geld bis dahin aufbringen? Es wäre das Aus für ihre Reederei. Das konnte sie nicht akzeptieren. Es musste doch eine Lösung geben. Ihr Herz hing an dem Schifffahrtsunternehmen. Das traditionsreiche Familienunternehmen in fremden Händen? Das könnte sie niemals ertragen.

Noch immer lag der zweite Brief ohne Absender vor ihr. Geschickt schlitzte sie mit dem Brieföffner auch dieses Kuvert auf und zog das Anschreiben heraus. In fetten Lettern prangte als Briefkopf das Matthiesen-Logo. Zunächst wollte sie den Brief zerknüllen, aber dann überwog die Neugier. Sie war gespannt darauf, welche Frechheit dieser Finanzinvestor sich diesmal hatte einfallen lassen. Nachdem sie die Zeilen des Investors gelesen hatte, lachte sie lauthals. Schon wieder ein Kaufangebot für ihre Reederei. Beide Briefe am selben Tag. Konnte das noch Zufall sein? Womöglich hatte der Investor Mitarbeiter der Bank bestochen. Ihm traute sie alles zu.

Außer sich vor Wut sprang Maike vom Stuhl auf. Wenn ihre Eltern doch nur hier wären, denen sie ihre Sorgen anvertrauen könnte. Kurz überlegte sie, den beiden eine Nachricht zu schreiben. Gleich verwarf sie das Vorhaben wieder, denn sie würden sicher ihre Weltreise abbrechen, auf die sie sich ihr Leben lang gefreut hatten. Das konnte sie ihnen nicht antun.

Sie stürmte aus ihrem winzigen Büro in ihrer Mietwohnung zum Wagen.

Zu Fuß war es von ihrer Wohnung durch Kappelns Innenstadt bis zur Anlegestelle an der Schlei nicht weit. Die Luft war klar, und eine leichte Brise vom Fluss stadteinwärts trug den Duft von Salz und Fisch mit sich. Von weitem hörte sie die Möwen schreien. Sie wollte Fred Bartelt besuchen, der ebenso Reeder war. Seitdem sie als Kinder zusammen im Sandkasten gespielt hatten, verband sie trotz aller Konkurrenz Freundschaft. Sie musste mit jemandem reden, der sie verstand.

Fred war still und zurückhaltend, stets fair und ehrlich zu ihr gewesen.

Als sie durch die belebte Fußgängerzone lief, verspürte sie das seltsame Gefühl, verfolgt zu werden. Immer wieder warf sie über die Schulter einen Blick zurück, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Wahrscheinlich spielten ihr die überreizten Nerven einen Streich. Tief durchatmen! Niemand verfolgt dich!

Aber das Gefühl wollte nicht weichen. Maike lief schneller. Jemand lachte laut hinter ihr, und sie zuckte zusammen. Was war sie doch nur für ein Nervenbündel. Schuld daran waren diese verdammten Briefe. Sie war froh, als sie endlich die Anlegestelle erreichte, an der eines von Freds Ausflugsschiffen lag.

Das vertraute Wasserplätschern beruhigte ihre Nerven. Jetzt, da sie hier war, fiel es ihr schwer, dem Freund von ihren Sorgen zu berichten.

Ausflügler drängten sich an der Anlegestelle und warteten auf den Einstieg zur Fahrt nach Missunde, wie die schwarze Tafel neben dem Steg ankündigte. Fred stand an der Reling und ließ es sich nicht nehmen, seine Passagiere persönlich zu begrüßen. Maike winkte dem schmalen, hochgewachsenen Freund lächelnd zu. Sie musste sich beeilen, bevor das Schiff ablegte.

»Fred!«, rief sie. »Kann ich dich mal sprechen? Ist dringend!«, rief sie ihm zu.

»Hat das nicht Zeit? Wir legen gleich ab.«

»Ist wirklich dringend. Dauert nicht so lange«, antwortete sie.

»Gut, ich komm zu dir.« Er winkte einem aus seiner Crew zu und kam an Land.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, fragte er und umarmte sie.

»Können wir ein paar Schritte weitergehen? Muss nicht jeder mitkriegen, was ich dir zu sagen habe«, raunte sie ihm zu und zog ihn am Ärmel mit sich.

»Lass uns in mein Büro gehen. Marie ist nach Schleswig gefahren«, schlug er vor und deutete auf das weißgeputzte Haus mit dem Treppengiebel, das hinter ihnen lag.

»Setz dich doch.« Fred deutete auf die Sitzbank am Fenster.

Es kostete Maike Überwindung, mit ihm über die finanziellen Sorgen zu sprechen.

»Ich … ich mach es kurz«, begann sie vorsichtig. »Du weißt ja, wie schwer es ist, die Ausflugsfahrten vollzukriegen. Wir alle kämpfen ums nackte Überleben.«

Er blickte sie mit ernster Miene an und nickte.

Gott, wie sie sich schämte!

»Ich bin in die Reederei meiner Eltern eingestiegen, obwohl sie verschuldet war. Meine Geldreserven stecken alle im Unternehmen.« Sie berichtete ihm vom Schreiben der Bank und von Matthiesen, der sie mit Kaufangeboten zur Reederei bedrängte. Schweigend hörte Fred ihr zu.

»Und wissen deine Eltern davon?«, fragte er.

Maike schüttelte den Kopf. Während die beiden die polynesische Sonne genossen, kämpfte sie hier ums Überleben.

»Nein, und das ist auch gut so. Sie würden sich sonst ins nächste Flugzeug setzen und herkommen.«

Vor ein paar Jahren hatte ihr Vater einen Herzinfarkt gehabt, ein knappes Jahr später den zweiten. Er konnte die Reederei nicht mehr leiten. Ihre Mutter und sie hatten ihn zu einer Auszeit gedrängt. Schon immer hatten ihre Eltern von einer Weltreise geträumt. Aus diesem Grund hatte sie die Aufgaben übernommen. Und ich versage auf der ganzen Linie.

Maike schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals.

Ihr Herz blutete bei dem Gedanken daran, gezwungen zu sein, sich von allem zu trennen. Wie könnte sie ihren Eltern nach deren Rückkehr je wieder in die Augen blicken?

Vier Schiffe zählten zu ihrer Binnenflotte, von denen die MS Schleiglück ihr ganzer Stolz war. Fred nahm ihre Hände in seine.

»Das tut mir sehr leid. Hast du denn alle Möglichkeiten ausgelotet? Warst du bei der Bank und hast noch mal mit denen gesprochen?« Seine Anteilnahme rührte sie.

»Das habe ich noch vor, weiß aber nicht, ob es was bringt.« Nach dem letzten Finanzierungsgespräch, in dem sie sich wie eine Bettlerin vorgekommen war, hatte sie nicht viel Hoffnung, dass der Fälligkeitstermin verschoben werden würde. Tränen traten ihr in die Augen.

»Wenn ich nicht bis zum Quartalsschluss einen Teil meiner Schulden zurückzahlen kann, werde ich alles verlieren«, sagte sie mit zittriger Stimme.

»Vielleicht solltest du dir überlegen, ein Schiff deiner Flotte zu verkaufen. Vielleicht die Schleiglück. Dann wärst du einen Teil deiner Schulden los.«

Sie war entsetzt über seinen Vorschlag. Ausgerechnet ihr Paradeschiff! Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass diese Möglichkeit niemals für sie in Betracht käme. Eher hatte sie auf andere Vorschläge von ihm gewartet, neue Ideen, gemeinsame Projekte, vielleicht auch ein Darlehen, das sie stückweise an ihn zurückzahlen konnte. Aber nicht, dass sie sich von einem ihrer Schiffe trennen sollte. Die Schiffe gehörten zu ihr, zur Familie. Das könnte sie nicht ertragen.

»Du bist mein Freund, und ich weiß, du meinst es sicher gut. Aber das kann ich nicht, Fred«, sagte sie leise.

»Du musst auch an Anna denken«, mahnte sie Fred.

Als wenn ich das nicht wüsste. Wegen ihr und ihren Eltern wollte sie das Erbe erhalten.

Ihre Vorfahren hatten nur für die Reederei gelebt und ebenso wie sie Schweiß und Herzblut investiert.

Fred legte den Arm um ihre Schultern.

»Überleg es dir noch einmal, Maike! Ich könnte vielleicht das Geld für die Schleiglück aufbringen. Du könntest sie weiterhin fahren. Lass dir meinen Vorschlag durch den Kopf gehen und gib mir einfach Bescheid.« Fred lächelte sie an.

Aber der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihr nicht. Nach all den Jahren der Freundschaft zweifelte sie an seiner Redlichkeit. Oder sah sie in ihrer bescheidenen Lage schon überall Gespenster? Es schien, als warteten alle nur darauf, dass sie nicht mehr zahlen konnte, um ihre Reederei wie Beute aufzuteilen.

Maike schwamm im Meer der Hoffnungslosigkeit.

»Fred, danke für dein Angebot«, rang sie sich ab. »Ich dachte, du seist mein Freund und wüsstest, dass ich mich niemals freiwillig von der Schleiglück trennen könnte.«

Sein Blick verhärtete sich.

»Ich wollte dir nur helfen, Maike«, erklärte er.

Auf diese Weise bestimmt nicht.

Maike verabschiedete sich von Fred und kehrte deprimiert nach Hause zurück. Sie war sehr enttäuscht von ihm. Mal wieder war sie auf sich allein gestellt.

Auf dem Rückweg erhielt sie einen Anruf und erschrak, als sie die Nummer von Annas Schule im Display erkannte. Jetzt konnte sie nicht noch weitere Probleme gebrauchen.

»Frau Hansen? Hier ist Rena Heger von der Schulaufsicht. Ihre Tochter Anna ist bei mir. Sie wollten sie doch bereits vor einer halben Stunde abholen«, sagte die Lehrerin vorwurfsvoll.

Maike erschrak, dass sie ihre Tochter vergessen hatte. Das war ihr noch nie passiert.

»Tut mir leid, Frau Heger, ich bin auf dem Weg zu Ihnen und in wenigen Minuten an der Schule«, antwortete Maike zerknirscht.

»Das will ich hoffen, Frau Hansen. Ich muss nach Hause.« Nach diesen Worten legte sie auf. Maike rannte nach Hause und holte ihren Wagen.

Sie kam nicht so schnell voran wie erhofft. Jede Ampel schaltete auf Rot. Maike schimpfte und fluchte vor sich hin. Hatte sich denn heute alles gegen sie verschworen? Irgendwann erreichte sie schließlich die Schule. Die rundliche Frau mit dem Bob-Schnitt, die neben Anna stand, musste die Lehrerin sein, die sie angerufen hatte. Ihre eisige Miene verstärkte Maikes schlechte Gewissen nur noch mehr.

»Mami, wo warst du denn?«, rief Anna anklagend. »Ich warte schon so lange auf dich.« Maike hockte sich vor ihre Tochter und umarmte sie.

»Bitte entschuldige, Schätzchen, aber ich bin aufgehalten worden. Wegen der Reederei.« Ihre Entschuldigung klang selbst in ihren Ohren wie eine billige Ausrede.

»Ist schon okay«, antwortete Anna.

Frau Heger räusperte sich, und Maike richtete sich auf.

»Vielen Dank, dass Sie auf meine Tochter aufgepasst haben, Frau Heger«, wandte sie sich der Lehrerin reumütig zu.

»Frau Hansen, Sie hatten großes Glück, dass ich noch da gewesen bin, sonst würde Ihre Tochter hier allein stehen. Ich finde Ihr Verhalten unverantwortlich. Immerhin ist Anna erst sechs Jahre alt. Wenn Sie keine Zeit haben, Ihr Kind abzuholen, wäre es doch angemessen, mich wenigstens anzurufen oder jemanden anderes zu bitten. Vielleicht eine Tagesmutter. Wenn das noch einmal vorkommt, sehe ich mich gezwungen, es der Schulleitung zu melden.«

Maike fühlte sich schlecht, denn die Vorwürfe waren gerechtfertigt. Wie konnte sie auch nur Anna vergessen!

»Sie haben Recht, das hätte nicht passieren dürfen, aber momentan habe ich in der Reederei viel um die Ohren«, versuchte Maike ihr Verhalten zu erklären.

»Haben Sie überhaupt noch Zeit für Ihr Kind bei der ganzen Arbeit? Anna ist im Unterricht oft sehr abgelenkt. Sie ist für ihr Alter zu verspielt und verträumt. Sie erledigt nicht immer ihre Hausaufgaben. Kontrollieren Sie eigentlich die Aufgaben?«, fragte Frau Heger spitz.

Maike sah zu ihrer Tochter hinab, die ein schuldbewusstes Gesicht zog. Oft genug hatte ihre Tochter behauptet, gar keine Hausaufgaben bekommen zu haben. Dennoch wollte sie Anna nicht vor Frau Heger bloßstellen.

Maike war oft zu müde und erschöpft gewesen, um alles zu kontrollieren. Doch ab jetzt schwor sie sich, würde sie von Anna das Vorzeigen der erledigten Aufgaben verlangen.

»Das Leben ist hart genug. Warum soll meine Tochter nicht ein wenig träumen dürfen?«

Frau Heger kniff die Lippen zusammen.

»Vielleicht sollten Sie sich überlegen, Ihre Tochter in eine Schule zu geben, in der sie auch am Nachmittag betreut wird. Dort könnte sie auch unter Aufsicht ihre Hausaufgaben machen.«

All das hatte Maike sich, bevor ihre Eltern zu ihrer Weltreise aufgebrochen waren, auch überlegt. Aber die Betreuung kostete Geld, das sie nicht besaß. Außerdem war es schön, wenn Anna sie auf mancher Fahrt begleitete. Sie verbrachten viel zu wenig Zeit miteinander.

»Eine gute Idee, die ich mir aber nicht leisten kann. Ich verspreche Ihnen, dass ich künftig immer pünktlich sein werde. Guten Tag, Frau Heger«, antwortete Maike bestimmt und ergriff Annas Hand.

»Ich werde nicht mehr zu spät kommen, das verspreche ich dir«, sagte sie zu Anna. »Aber dafür musst du mir auch schwören, mich nicht mehr anzulügen und immer deine Hausaufgaben zu erledigen.«

Ihre Tochter zog einen Schmollmund.

»Och, Menno. Hausaufgaben sind so doof«, protestierte Anna.

Als Kind hatte Maike Hausaufgaben auch gehasst und versucht, sich darum zu drücken.

»Wenn du eine Kapitänin sein willst, musst du dich in der Schule bemühen und gut sein. Das bedeutet auch, dass du die Hausaufgaben zu erledigen hast.«

Es war immer Annas größter Wunsch gewesen, in ihre Fußstapfen zu treten. Der Gedanke, die Reederei könnte von ihrer Tochter weitergeführt werden, gefiel Maike. Anna war sehr wissbegierig, was das Thema Schiffe anbetraf. In den Ferien begleitete sie Maike stets auf den Ausflügen und bewies, dass sie bereits viel übers Navigieren wusste. Wie spielerisch Kinder doch lernen.

Ein Blick in Annas Gesicht verriet Maike, dass diese noch immer nicht recht begeistert vom Thema Hausaufgaben war, sie protestierte aber nicht mehr.

»Wir müssen noch was zum Essen besorgen.« Maike zog Anna mit sich. Ihre Tochter stöhnte und wollte sich losreißen.

»Ich will aber lieber nach Hause.«

Maike blieb stehen und drehte sich zu ihrer Tochter um. »Bitte, Anna, es dauert auch nicht lange«, versprach sie ihr.

»Das sagst du immer, und dann dauert es eine Ewigkeit.« Anna schaute sie trotzig an.

»Spaghetti mit Tomatensoße oder lieber Fischstäbchen?«, fragte Maike schmunzelnd.

»Meinetwegen, Spaghetti. Aber nur wenn’s nicht so lange dauert«, gab ihre Tochter schließlich nach, und kurz darauf betraten sie den Supermarkt. Während Maike den Einkaufswagen durch die Gänge schob, lief Anna quengelnd neben ihr her. Ihr Kind langweilte sich und fragte ständig, wann sie denn endlich fertig wären.

»Anna, bitte hör auf, ständig danach zu fragen, wann wir nach Hause gehen. Das nervt«, schalt Maike ihre Tochter.

»Ich hab aber keine Lust und finde den Weg nach Hause allein.« Annas Blick zeigte Maike, dass sie wirklich entschlossen war. Aber es wurde langsam dunkel, und die Geschäfte schlossen bald, da wollte sie Anna nicht allein gehen lassen.

»Nein, Anna. Ich bin wirklich gleich fertig.« Maike hatte nur das Notwendigste in den Wagen gelegt, aber es fehlte noch eine Zutat. Sie beschloss, die schlechte Laune ihrer Tochter zu ignorieren.

Als sie in den nächsten Gang wechselte und sich mit einer Frage zu Anna umdrehte, war sie plötzlich verschwunden.

»Anna?« Maike schaute sich um und rief. Aber ihre Tochter antwortete nicht. Sie würde sich doch nicht wirklich allein auf den Nachhauseweg begeben haben. Das flaue Gefühl in Maike wuchs. Besorgt suchte sie alle Gänge ab, ohne ihre Tochter zu finden. Ärger und Furcht ließen ihr Herz galoppieren. Wo steckte Anna nur? Dann kam ihr die Idee, sie könnte vielleicht draußen vor dem Laden auf sie warten. Sofort eilte Maike mit dem Einkaufswagen zu den Kassen und schaute durch die Schaufenster nach draußen. Doch Anna stand nicht wie erhofft dort.

»Entschuldigung, ich suche meine Tochter. Sie war mit mir hier im Laden. Haben Sie vielleicht ein kleines Mädchen gesehen, sechs Jahre alt in einer pinkfarbenen Jacke und Bluejeans?«, fragte sie die Kassiererin. Die junge Frau mit den blaugeschminkten Lippen schüttelte den Kopf. Doch sie bot Maike an, den Einkaufswagen bei ihr zu lassen, um besser nach Anna suchen zu können. Das ließ Maike sich nicht zweimal sagen und stürmte aufgelöst aus dem Supermarkt. Aufgebracht rannte sie durch die Fußgängerzone und fragte jeden nach Anna. Doch niemand hatte sie gesehen. Immer stärker wuchs die Angst. Sie sah schreckliche Bilder vor Augen, die sie verdrängte, um nicht in Panik zu geraten. Anna war ihr Ein und Alles. Sie durfte nicht daran denken, dass ihrem Kind etwas geschehen könnte.

Bei der Kirche schallten Gitarrenmusik und Gesang durch die Altstadt. Ein Pulk Fußgänger scharte sich um einen jungen Musikanten. Unter den Zuhörern erblickte sie zu ihrer Erleichterung auch Anna. Maike rannte zu ihr und drückte sie fest an sich.

»Gott sei Dank habe ich dich gefunden. Du bist einfach weggelaufen, ohne was zu sagen. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht habe?« Maike strich Anna eine Haarlocke aus dem Gesicht. Sie hätte in diesem Moment die Welt umarmen können, dass sie ihre Tochter wohlbehalten wiedergefunden hatte.

»Das Einkaufen war so langweilig. Ich hab dir doch gesagt, dass ich nach Hause wollte. Aber dann habe ich die Musik gehört. Singt der nicht toll?«

Maike fasste ihre Tochter sanft an den Schultern und sah sie eindringlich an.

»Ja, er singt toll. Aber beim nächsten Mal sagst du mir bitte Bescheid und rennst nicht einfach davon.« Tränen stiegen ihr in die Augen.

Anna schaute sie erschrocken an, bevor sie Maike umarmte.

»Versprochen. Mami, nicht mehr traurig sein.«

Maike drückte den zarten Kinderkörper an sich. »Okay.«

Anna strahlte und klatschte vor Begeisterung in die Hände. Verstohlen wischte Maike sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann lauschte auch sie dem Gesang. Zugegeben, der Straßenmusiker in der schwarzen Lederjacke und der ramponierten Jeans war wirklich sehr talentiert. Besonders die Balladen verschiedener Popsänger wurden von den Umstehenden mit Applaus honoriert. Nach einer Weile zog er zur Belustigung der Kinder eine Handpuppe hervor, ein buntgeschecktes Pferd. Der Musiker war nicht nur ein hervorragender Sänger, sondern auch ein guter Bauchredner. Gemeinsam mit dem Pferd sang er angeblich im Duett. Die Kinder grölten und lachten über das Lispeln des Pferdes.

Zu den Füßen des Künstlers lag ein Hut, in den Begeisterte Geldstücke warfen. Er sang noch zwei Lieder, bei denen Anna darauf bestand, sie bis zum Ende zu hören. Allmählich löste sich der Zuhörerpulk auf, nur Maike und Anna blieben noch stehen und beobachteten ihn, wie er das gesammelte Geld aus dem Hut in den ledernen Beutel steckte, der vorn an seinem Gürtel hing. Viel zu leichtsinnig, fand Maike. Es wäre leicht, den Beutel zu greifen und abzureißen.

»Wir müssen jetzt nach Hause und vorher noch beim Supermarkt vorbei, unseren Einkauf abholen«, sagte Maike zu Anna und erwartete Widerstand. Aber diesmal protestierte ihre Tochter nicht. Maike nahm Annas Hand und ging durch die Fußgängerzone zurück. Nach wenigen Schritten drehte sie sich nachdenklich nach dem Künstler um, der seine Gitarre in der Instrumententasche verstaute. Der Sänger sah auf, als hätte er bemerkt, dass sie ihn beobachtet hatte, und lächelte ihr zu. Sein schmales Gesicht war gut geschnitten, und sein Dreitagebart stand ihm. Ein sehr attraktiver Mann, der sie irgendwie an einen anderen erinnerte. Nur wusste sie nicht, an wen.

Anna zerrte an ihrer Hand. »Nun komm schon, Mami.«

4.

»Wieso erfahre ich davon erst jetzt?«, fuhr Finn seinen Assistenten Sven Kellner an. Fassungslos und wütend zugleich fixierte er sein Gegenüber. Der blonde Assistent mit der Tolle über den rasierten Seitenhaaren zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen.

»Belinda hat sie eine Weile aus den Augen verloren und dann … dann hat sie sie zufällig am Kai wiedergesehen«, verteidigte er sich.

Finn hatte Belinda gebeten, Maike Hansen heimlich zu beobachten. Er wollte mehr über die Reederin herausfinden. Vor allem mehr über ihre Schwächen.

Sie wollte ihn austricksen. Wut erfasste ihn bei dem Gedanken, sie könnte mit Fred Bartelt fusionieren und ihre Schiffe an ihn verkaufen, anstatt an Finn. Belinda hatte ihm geschildert, dass Bartelt und die Hansen gemeinsam in dessen Büro verschwunden waren. Durchs Fenster hatte seine Mitarbeiterin beobachtet, wie sie längere Zeit intensiv miteinander geredet hatten. Doch worüber? Die Hansen-Reederei gehörte zu den begehrtesten Tourismusunternehmen an der Schlei, sehr traditionell und gut für eine höhere Kapazität an Passagieren ausgestattet. Das alteingesessene Unternehmen besaß Vorrechte auf Anlegestellen, und ihre Fahrten waren bei Ausflugswilligen mehr gefragt als die der Konkurrenz. Auch wenn es der Reederei finanziell nicht gut ging, weil Reparaturen an Schiffen fällig gewesen waren und aus unerfindlichen Gründen keine Rücklagen gebildet, war es die Chance, ein solch zukunftsträchtiges Unternehmen aufzukaufen, um es nach einer Investition und Umstrukturierung meistbietend wieder zu verkaufen.

Mit Stolz konnte er zu Recht behaupten, dass alles, was er als Investor aufgekauft und umstrukturiert hatte, sich zu florierenden Unternehmen gemausert hatte. Auch bei der Reederei bedurfte es nur eines gut ausgeklügelten Plans, und sie würde ein Selbstläufer werden.

Einziges Hindernis war die Hansen selbst. Er musste sie davon überzeugen, an ihn zu verkaufen, ganz gleichgültig wie. Am besten, er nahm die Sache gleich selbst in die Hand.

Kellner räusperte sich.

»Ja?«, fragte Finn genervt wegen der Unterbrechung und sah seinen Assistenten streng an.

»Wie von Ihnen gewünscht, habe ich einige Unterlagen zusammengestellt. Die Bilanzen von der Cremaker AG, die Sie sich ansehen wollten. Außerdem die Listen über die Fahrten und Routen der Hansen-Reederei, dazu die Abrechnungen und Einnahmen. Ich habe sie bereits eingescannt und auf dem Server abgelegt. Sie müssen Entscheidungen treffen, wie mit den beiden Unternehmen weiterhin verfahren werden soll. Bitte bis morgen Abend, Herr Matthiesen«, erinnerte ihn Kellner.

Finn stöhnte innerlich auf, denn jetzt ging es um Verhandlungen. Die Hansen-Reederei besaß höchste Priorität, und er wollte deren Schiffe unbedingt.

»Cremaker muss erst mal warten«, antwortete er Kellner.

»Aber bei der Cremaker AG sind wir schon sehr weit in den Verkaufsverhandlungen«, protestierte Kellner. Finns Fokus lag auf der Reederei, denn er versprach sich steigende Einnahmen durch den Tourismus.

»Muss ich noch deutlicher werden, Sven? Prio eins für die Hansen-Reederei. Ich mache mir inzwischen vor Ort ein Bild, um den möglichen Wiederverkaufserlös zu schätzen. Ich erwarte Ihre Prognose und eine Auflistung infrage kommender potenzieller Interessenten bis zum Wochenende.«

Aus Sven Kellners Miene sprach mangelnde Begeisterung. Zugegeben, sein Assistent hatte sehr viel Arbeit und Energie in die Cremaker AG gesteckt und drängte auf einen Abschluss, um seinen Anteil an der Provision einzustreichen. Was die Hansen-Reederei anbetraf, plante Finn keinen sofortigen Verkauf des Objekts, sondern zunächst Erträge aus den Fahrteinnahmen zu erzielen.

»Herr Matthiesen, ich möchte Sie dennoch bitten, Ihre Entscheidung zur Cremaker AG in Anbetracht der möglichen Gewinne zu überdenken …«, startete Sven Kellner einen weiteren Versuch, ihn davon zu überzeugen, diesem Projekt den Vorrang zu geben. »Sie verkaufen das Unternehmen, zahlen die entsprechenden Steuern und haben dennoch einen beträchtlichen Gewinn erzielt, während die Zukunft des Schlei-Tourismus eher unsicher erscheint. Hinzu kommt, dass die Schiffe überholt werden müssten, was eine beträchtliche Summe an Investitionen erfordert. Es sei denn, die beiden Hauptschiffe würden verkauft werden. Die geschätzten Verkaufspreise von unserem Experten Herrn Dahme befinden sich im Ordner unter dem Reiter Reederei Hansen.«

Finn rief die Datei auf und begutachtete die Werte des Experten. Es wäre vielleicht wirklich eine Option, die beiden Schiffe an einen Dritten zu veräußern.

»Es gäbe da auch schon einen Interessenten. Ein anderer Reeder namens Fred Bartelt wäre an der Schleiglück und der Stolteby interessiert. Seine Angebotspreise sind ebenfalls in der Datei eingespeist«, fuhr Kellner fort.

Finn scrollte in der Datei weiter und wurde schnell fündig. Wenn Bartelt ihm später die beiden Schiffe abkaufen würde, wäre die Gewinnmarge attraktiv.

»Ich habe bereits mit Bartelt gesprochen. Die Übernahme könnte zum Winter erfolgen. Die gebotene Summe ist mehr als akzeptabel«, ergänzte Kellner.

Das bestätigte Finn mit einem Nicken. Nachdem er begonnen hatte, sich mit der Branche der Binnenschifffahrt näher zu befassen, war immer wieder der Name Fred Bartelt aufgetaucht. Auf einer Veranstaltung in Schleswig hatte er ihn sogar persönlich kennengelernt. Schnell hatte er den windigen Kerl durchschaut, als dieser ihm zuvor von seiner Freundschaft zur Reederin Hansen und schließlich den Absichten erzählt hatte, die Flotte der Reederei zu kaufen, um sich die Exklusivrechte für die Routen auf der Schlei zu sichern. Schöne Freundschaft! Ob Maike Hansen davon weiß?

»Das Geschäft dürfen Sie sich nicht entgehen lassen.«

Normalerweise begrüßte Finn Eigeninitiative bei seinen Mitarbeitern. Sven Kellner jedoch schoss des Öfteren über das Ziel hinaus. So auch jetzt, wenn er versuchte, Finn in seiner Entscheidung zu beeinflussen, was der nicht ausstehen konnte.

»Ich werde darüber nachdenken und zu gegebener Zeit entscheiden«, erwiderte Finn scharf. »Und jetzt beschaffen Sie mir bitte die Aufstellungen der optionalen Firmen.«

Kellner schien enttäuscht. Finn erwartete bereits einen weiteren Protest von ihm, aber der blieb zu seiner Erleichterung aus.

»Gut, ich kümmere mich darum«, gab Kellner schließlich nach.

Finn entging nicht, wie unzufrieden sein Mitarbeiter mit seinem Verhalten war.

»Die Informationen können Sie mir per E-Mail schicken. Ich werde nicht im Haus sein.«

Kellner nickte, bevor er das Büro verließ.

Nachdem sein Assistent das Büro verlassen hatte, delegierte Finn seine Termine für die kommenden Tage und mietete sich ein Ferienhaus in Stolteby, gleich in der Nähe des Anlegers. Dann begab er sich auf den Weg zu seinem Haus, um Sachen zu packen. Er war schon länger nicht mehr dort gewesen, denn er verbrachte die meisten Tage in seiner Hamburger Wohnung, die nur wenige Schritte vom Bürogebäude entfernt lag. Doch sie war sehr spartanisch eingerichtet, und die meisten Kleidungsstücke befanden sich im Haus.

Es gab genügend Argumente, die für den Verkauf der Reederei an ihn sprachen. Voller Vorfreude setzte er sich hinters Steuer seines schwarzen Porsches und trat das Gaspedal durch. Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen nach vorn.

 

Als Finn in die Straße einbog, in der sein Haus lag, bemerkte er auf der anderen Straßenseite einen grünen Mercedes-Geländewagen. Der schlammbespritzt wie ein Fremdkörper in der noblen Wohngegend Blankeneses wirkte. Die Silhouette des Fahrers war ihm seltsam vertraut. Er kniff die Augen zusammen. Konnte es sein …? Nein, bestimmt nicht. Sicher litt er an Halluzinationen. Es wäre dreist, wenn er sich hier blicken ließe. Nach all den Jahren der Vorwürfe und Schuldzuweisungen hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Er schob den Gedanken beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss. Immer wenn er hier und die Tür hinter ihm zugefallen war, verspürte er das Gefühl, die Welt und ihre Probleme für eine Weile ausgeschlossen zu haben. Dann war er nur noch er selbst und genoss die Einsamkeit.

Mit großen Schritten durchquerte er den Flur. In all den Jahren, die er in Hamburg lebte, hatte er seinen Hang zu nostalgischen Bauten nicht verloren. Das weiß geputzte Kapitänshaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das seit drei Jahren ihm gehörte, lag am Hang und erstreckte sich über drei Stockwerke. Im obersten hatte er sich ein Atelierbüro eingerichtet, von dessen Balkon aus er einen fantastischen Blick über das Treppenviertel und die Elbe besaß. Auch heute glitzerte der Fluss silbrig im Sonnenlicht. Noch nie hatte er hierhin eine Frau mitgenommen, weil dieses Haus einen unverwechselbaren Charakter besaß und seine Affären ihm nichts bedeuteten. Seine derzeitige Geliebte hieß Yana und war eine rassige Brasilianerin, die als Hostess auf einem Investor-Kongress gearbeitet hatte. Wenn sie nach längerer Abwesenheit in Hamburg weilte, verbrachten sie eine Nacht zusammen. Finn war froh, wenn eine Frau keine Ansprüche an ihre Beziehung stellte. Das Kapitänshaus wäre Yana auch sicher zu blass und bieder erschienen, denn sie liebte knallige Farben.

Wahrscheinlich würde nie eine Frau das Innenleben dieses Hauses zu sehen bekommen. Finn lehnte sich über die steinerne Brüstung der Terrasse und ließ seinen Blick über den Garten schweifen. Schlicht und pflegeleicht, ganz so wie er es dem Gärtner aufgetragen hatte. Rasen, als Einfriedung eine Weißdornhecke und ein Beet, in dem immer wieder Stauden blühten.

Einst hatte er sich sein Leben anders erträumt, mit einer Frau an seiner Seite auf der Apfelplantage. Das Anwesen bot genügend Platz für ein zweites Haus, gleich hinter dem Garten mit dem Blick über die endlosen Apfelbaumreihen. Mit Mia hätte er sich das vorstellen können. Bilder zogen in Sequenzen vor seinen Augen vorbei. Nach der ekstatischen Nacht mit dieser hingebungsvollen Frau hatte er sich gewünscht, sein Leben mit ihr zu teilen. Finn lächelte bitter. Alles vorbei. Längst vergangene Zeiten und verpasste Gelegenheiten. Der alte Kasten lässt mich bei jeder Rückkehr sentimental werden.

Er stieg die Treppen hinauf in den obersten Stock, zog die Vorhänge beiseite und öffnete die Doppelflügeltür zum Balkon, um die klare Luft hereinströmen zu lassen. Tief atmete er sie ein. Als er zur Straße hinuntersah, parkte der Geländewagen noch immer an derselben Stelle. Ihn beschlich das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sollte der Fahrer etwa doch …?

Lautes Pochen unten an der Tür. Weil er es zeitgenössischer fand, hatte Finn den Türklopfer behalten und auf die Klingelanlage verzichtet. Er wollte jetzt nicht in seinem Refugium gestört werden und entschied, nicht zu öffnen. Selbst wenn er es war, würde er ihm nicht die Tür aufmachen. Zu groß war die Kluft zwischen ihnen. Er trat einen Schritt zurück in Erwartung eines weiteren Klopfens, das prompt folgte.