Das verborgene Land - David Eddings - E-Book

Das verborgene Land E-Book

David Eddings

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Beschreibung

Das spektakuläre Finale der Tamuli-Trilogie – »David Eddings ermöglicht den perfekten Einstieg in die Fantasy.« Christopher Paolini

Die Schergen des dunklen Gottes Cyrgon haben Ritter Sperbers Gemahlin entführt. Natürlich werden er und seine Gefährten nichts unversucht lassen, sie zu befreien. Dabei ist Sperber bewusst, dass es ohnehin seine Bestimmung ist, Cyrgon allein gegenüberzutreten. Doch er ahnt nicht einmal, dass die wahre Bedrohung noch viel schrecklicher ist und dass weit mehr auf dem Spiel steht als das Leben seiner Gemahlin oder das Schicksal des Tamulischen Reiches. Es geht um die Rettung der ganzen Welt vor der Vernichtung!


Die Tamuli-Trilogie:
1. Die schimmernde Stadt
2. Das leuchtende Volk
3. Das verborgene Land

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Seitenzahl: 839

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Buch

Die Schergen des dunklen Gottes Cyrgon haben Ritter Sperbers Gemahlin entführt. Natürlich werden er und seine Gefährten nichts unversucht lassen, sie zu befreien. Dabei ist Sperber bewusst, dass es ohnehin seine Bestimmung ist, Cyrgon allein gegenüberzutreten. Doch er ahnt nicht einmal, dass die wahre Bedrohung noch viel schrecklicher ist und dass weit mehr auf dem Spiel steht als das Leben seiner Gemahlin oder das Schicksal des Tamulischen Reiches. Es geht um die Rettung der ganzen Welt vor der Vernichtung!

Autor

DAVIDEDDINGS wurde 1931 in Spokane im US-Bundesstaat Washington geboren. Während seines Dienstes für die US-Streitkräfte erwarb er einen Bachelor of Arts und einige Jahre darauf einen Master of Arts an der University of Washington. Bevor er 1982 seinen ersten großen Roman, »Belgariad – Die Gefährten«, veröffentlichte, arbeitete er für den Flugzeughersteller Boeing. Den Höhepunkt seiner Autorenkarriere erreichte er, als der Abschlussband seiner Malloreon-Saga Platz 1 der »New York Times«-Bestsellerliste erreichte. Im Jahr 2009 starb er in Caron City, Nevada.

Von David Eddings bei Blanvalet:

Die Belgariad-Saga:

Die Gefährten

Der Schütze

Der Blinde

Die Königin

Der Ewige

Die Malloreon-Saga

1. Die Herren des Westens

2. Der König der Murgos

3. Der Dämon von Karanda

4. Die Zauberin von Darshiva

5. Die Seherin von Kell

Die Elenium-Trilogie:

1. Der Thron im Diamant

2. Der Ritter vom Rubin

3. Die Rose aus Saphir

Die Tamuli-Trilogie:

1. Die schimmernde Stadt

2. Das leuchtende Volk

3. Das verborgene Land

www.blanvalet.de

David Eddings

Tamuli

Das verborgene Land

Roman

Deutsch von Lore Strassl

Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »The Tamuli III: The Hidden City« bei Del Rey, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 1994 by David Eddings

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Übersetzungsnutzung mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau / Literaturagentur

Redaktion: Gerhard Seidl / textinform

© Covergestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung der Motive von Shutterstock.com (Liu zishan; Ales Krivec)

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30940-4V002

www.blanvalet.de

Für Dr. Bruce Gray

Für seinen Enthusiasmus und seinen fachmännischen Rat –und dafür, dass er sich um die Gesundheit unseres Lieblingsautors (und seiner Frau) kümmert.

Und für Diplomkrankenschwester Nancy Gray, die stets für alle anderen da ist und darüber ganz vergisst, an sich selbst zu denken.

Pass auf dich auf, Nancy.

Inhalt

Prolog

Erster Teil BERIT

Zweiter Teil NATAYOS

Dritter Teil CYRGA

Epilog

Prolog

Professor Itagne von der außenpolitischen Fakultät der Universität zu Matherion saß auf dem Podium und las noch einmal seine Notizen durch. Es war am späten Nachmittag eines herrlichen Frühlingstages, und die Fenster des Auditoriums, in dem sich die Fakultät für Politikwissenschaft eingefunden hatte, standen offen, um den würzigen Duft von Blumen und Gras und das ein wenig störende Vogelgezwitscher einzulassen.

Professor Emeritus Gintana, der internationales Handelsrecht lehrte, stand am Rednerpult und leierte eine schier endlose Abhandlung über die Zollbestimmungen des siebenundzwanzigsten Jahrhunderts herunter. Gintana war ein schmächtiger weißhaariger, meist etwas zerstreuter Gelehrter, von dem man immer nur als »der nette alte Herr« sprach. Itagne hörte ihm gar nicht richtig zu. An der Universität hatte sich herumgesprochen, worüber er referieren würde; deshalb waren sogar die Angehörigen der Fakultäten für angewandte Mathematik und zeitgenössische Alchimie herbeigeströmt und warteten nun mit vor Erwartung glänzenden Augen in dem riesigen Hörsaal. Die Fakultät für Zeitgeschichte saß vollständig in den vordersten Reihen. Ihrer schwarzen Roben wegen sahen sie wie ein Schwarm Krähen aus. Sie waren geschlossen gekommen und hatten sich, um ihren Standpunkt entschlossen vertreten zu können, ein wahres Feuerwerk an Argumenten zurechtgelegt.

Itagne fragte sich müßig, ob er nicht eine plötzliche Unpässlichkeit vortäuschen sollte. Wie, im Namen Gottes – egal welchen Gottes –, konnte er die nächste Stunde überstehen, ohne sich bis auf die Knochen lächerlich zu machen? Natürlich besaß er alle Informationen, aber welcher vernünftig denkende Mensch würde diese Informationen schon für bare Münze nehmen? Ein wahrheitsgetreuer Bericht über die tatsächlichen Hintergründe des Aufstands, der vor Kurzem stattgefunden hatte, musste sich wie das Hirngespinst eines Verrückten anhören. Hielt er sich an die unverfälschte Wahrheit, brauchten die missgünstigen Kerle von der zeitgeschichtlichen Fakultät nicht einmal den Mund aufzutun. Itagne würde seinen guten Ruf ganz allein und ohne ihr Zutun ruinieren.

Er warf einen letzten, flüchtigen Blick auf seine so umsichtig zusammengestellten Notizen; dann faltete er sie zusammen und schob sie düster in den weiten Ärmel seiner Robe. Was sich heute Abend hier ereignen würde, kam einer wüsten Spelunkenkeilerei gewiss näher als einer sachlichen wissenschaftlichen Diskussion. Offensichtlich waren die Herren von der Zeitgeschichte deshalb so vollzählig hier angerückt, um ihn niederzubrüllen. Itagne straffte die Schultern. Also gut! Wenn die Kerle Streit suchten, sollten sie ihn bekommen!

Ein Lüftchen war aufgekommen. Die Vorhänge der hohen Fenster raschelten und blähten sich, und die goldenen Flammenzungen der Öllampen flackerten und tanzten. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend, draußen, drinnen, überall – nur nicht in diesem Auditorium.

Es wurde höflich geklatscht, und der alte Professor Gintana verbeugte sich ein wenig aufgeregt und geschmeichelt darüber, dass man seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm. Seine Notizen in beiden Händen, kehrte er an seinen Platz zurück. Sodann erhob sich der Dekan des Instituts für Politikwissenschaft, um den Hauptvortrag des Abends anzukünden. »Werte Kollegen«, begann er, »ehe Professor Itagne uns die Ehre erweist und mit seinen Ausführungen beginnt, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Euch einige Besucher von Rang und Namen vorzustellen. Ich bin überzeugt, Ihr alle werdet die im folgenden genannten Herren ebenso erfreut wie ich willkommen heißen: Patriarch Emban, Vertreter der Kirche von Chyrellos; Ritter Bevier vom Orden der Cyriniker in Arzium, und Ritter Ulath vom Orden der Genidianer aus Thalesien.«

Wieder ertönte ein höflicher Applaus, als ein bleicher, schlaksiger Student die elenischen Besucher auf die Empore führte und Itagne ihnen entgegeneilte, um sie zu begrüßen. »Dem Himmel sei Dank, dass Ihr hier seid!«, murmelte er sichtlich erleichtert. »Die gesamte Fakultät für Zeitgeschichte hat sich eingefunden – mit Ausnahme jener, die wahrscheinlich draußen das Pech zum Sieden anschüren und Säcke mit Federn herbeischaffen.«

»Habt Ihr ernsthaft gedacht, Euer Bruder würde Euch den Wölfen zum Fraß vorwerfen, Itagne?« Emban lächelte und ließ sich auf einer Bank unter dem Fenster nieder. »Er war der Meinung, Ihr würdet Euch hier vielleicht einsam fühlen; deshalb schickte er uns, dass wir Euch Gesellschaft leisten.« Als er an seinen Platz zurückkehrte, fühlte Itagne sich schon besser. Wenn Bevier und Ulath auch keinen geistigen Beistand boten, so konnten sie doch zumindest tätliche Angriffe abwehren.

»Und nun, Kollegen und hochverehrte Gäste«, fuhr der Dekan fort, »wird Professor Itagne von der außenpolitischen Fakultät auf ein kürzlich vom Institut für Zeitgeschichte verfasstes Schriftstück eingehen, das den Titel trägt: Die Cyrga-Affäre: Eine Untersuchung der kürzlichen Krise. – Professor Itagne.«

Itagne erhob sich, schritt entschlossen zum Rednerpult und setzte seine herablassendste Amtsmiene auf. »Dekan Altus, geehrte Kollegen, verehrte Damen, hochgeschätzte Gäste …« Er machte eine Pause. »Habe ich jemanden ausgelassen?«

Flüchtig ertönte nervöses Lachen. Die Spannung im Auditorium war beinahe mit Händen zu greifen.

»Es ist mir eine besondere Freude, heute Abend so viele unserer Kollegen von der Fakultät für Zeitgeschichte hier zu sehen«, holte Itagne zum ersten Seitenhieb aus. »Da ich über ein Thema reden werde, das diesen Herrn sehr am Herzen liegt, ist es auch besser, dass sie anwesend sind und mit eigenen Ohren hören, was ich sage, als dass sie später auf geklitterte Berichte aus zweiter Hand zurückgreifen müssen.« Er lächelte jovial auf die finster blickenden Männer in der vordersten Reihe hinunter. »Können Sie mir folgen, meine Herren, oder gehe ich zu schnell vor?«

»Unverschämtheit!«, entrüstete sich ein wohlbeleibter, schwitzender Professor lautstark.

»Es kommt noch dicker, Quinsal«, versicherte Itagne ihm. »Falls Euch die Wahrheit zu schaffen macht, solltet Ihr lieber jetzt sofort gehen.« Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Es heißt, dass die Suche nach Wahrheit die edelste Aufgabe des Menschen ist, dass in den dunklen Wäldern der Unwissenheit jedoch furchterregende Drachen lauern. Die Namen dieser Ungeheuer sind ›Unfähigkeit‹ und ›politische Schönfärberei‹, ›absichtliche Verdrehung von Tatsachen‹ und ›pure verbohrte Dummheit‹. Unsere edlen Freunde von der Zeitgeschichte zogen unerschrocken aus, um in ihrer kürzlich veröffentlichten Abhandlung ›Die Cyrga-Affäre‹ gegen diese Drachen zu kämpfen. Zu meinem tiefsten Bedauern muss ich darauf hinweisen, dass die Drachen Sieger blieben.«

Erneut war Gelächter zu hören, und die Mienen in der vordersten Sitzreihe verfinsterten sich noch mehr.

»An dieser Universität war es ein offenes Geheimnis, dass die Fakultät für Zeitgeschichte keine akademische, sondern eine politische Abteilung ist«, fuhr Itagne fort. »Seit ihrer Gründung durch den Premierminister schien ihre einzige Daseinsberechtigung darin zu bestehen, über seine absolute Unfähigkeit hinwegzusehen und seine unzähligen Fehler so gut wie möglich zu vertuschen. Gewiss, Premierminister Subat und sein Helfershelfer Innenminister Kolata waren nie an Ehrlichkeit interessiert, aber bitte, meine Herren, dies ist eine Universität. Sollten wir nicht zumindest vortäuschen, die Wahrheit zu lehren?«

»Unsinn!«, brüllte ein dicker Professor in der vordersten Reihe.

»Sehr richtig«, bestätigte Itagne und hielt ein gelb gebundenes Exemplar von Die Cyrga-Affäre in die Höhe. »Aber wenn Ihr gewusst habt, dass es Unsinn ist, Professor Pessalt, warum habt Ihr es dann veröffentlicht?«

Das Gelächter im Saal war diesmal noch lauter und übertönte Pessalts gestammelten Versuch einer Antwort.

»Befassen wir uns mit diesem epochalen Werk«, schlug Itagne vor. »Wir alle wissen, dass Pondia Subat ein Ränkeschmied und Dummkopf sondergleichen ist, aber was mich an Eurer ›Cyrga-Affäre‹ verblüfft, ist Eure hartnäckige Bemühung, den styrischen Renegaten Zalasta geradezu zum Heiligen zu erheben. Wie, in Gottes Namen, könnte irgendjemand – und mag er so beschränkt sein wie der Premierminister – diesen Halunken verehren?«

»Wie könnt Ihr es wagen, so von dem größten Mann dieses Jahrhunderts zu sprechen!«, brüllte ein Professor aus der vordersten Reihe ihn an.

»Wenn Zalasta der größte Mann ist, den dieses Jahrhundert hervorzubringen vermag, Herr Kollege, befürchte ich, dass wir uns in katastrophalen Schwierigkeiten befinden. Die Krise, welche die Fakultät für Zeitgeschichte ›Die Cyrga-Affäre‹ zu nennen beliebt, hatte sich bereits seit mehreren Jahren angekündigt.«

»Oh ja«, brüllte jemand sarkastisch, »das ist uns nicht entgangen!«

»Wie mich das für euch freut«, rief Itagne zurück und erntete damit weiteres Gelächter aus den Zuhörerreihen. »An wen wandte sich unser Trottel von Premierminister Hilfe suchend? An Zalasta, natürlich. Und welche Lösung schlug Zalasta vor? Er riet uns eindringlich, nach dem pandionischen Ritter zu schicken, Prinz Sperber von Elenien. Wieso aber fällt Zalasta ausgerechnet der Name eines Edelmannes als Lösung des Problems ein? Seltsamerweise, ehe dieses Problem überhaupt zur Sprache kam! Und vor allem, wenn man die alles andere als freundschaftlichen Gefühle der Elenier für die Styriker berücksichtigt! Gewiss, Prinz Sperbers Taten sind legendär, aber aus welchem Grund hat Zalasta sich so sehr nach ihm gesehnt? Und weshalb hat er uns nicht darauf aufmerksam gemacht, dass Sperber Anakha ist, das Werkzeug Bhellioms? Hat er diese Tatsache vorübergehend aus seinem Gedächtnis verdrängt? Hielt er die Macht, die ganze Universen erschafft, gar für unwichtig? Nirgendwo in diesem vor Kurzem veröffentlichten Unsinn habe ich auch nur den geringsten Hinweis auf Bhelliom gefunden. Habt Ihr die bedeutendste Begebenheit des vergangenen Zeitalters vorsätzlich übergangen? Wart Ihr so damit beschäftigt, Eurem geliebten Pondia Subat die Anerkennung für politische Entscheidungen zuzuschieben, mit denen er nicht das Geringste zu tun hatte, dass Ihr Euch entschieden habt, Bhelliom überhaupt nicht zu erwähnen?«

»Quatsch!«, donnerte eine tiefe Stimme.

»Freut mich, Euch kennenzulernen, Professor Quatsch. Mein Name ist Itagne.«

Diesmal schallte dröhnendes Gelächter durch den Saal.

»Er ist nicht auf den Mund gefallen, stimmt’s?«, murmelte Ulath Bevier laut genug zu, dass Itagne es hören konnte.

Itagne blickte auf. »Kollegen«, fuhr er fort, »ich behaupte, Zalasta war nicht so sehr auf Prinz Sperbers Anwesenheit erpicht, sondern auf die Bhellioms. Bhelliom ist der Born unendlicher Macht, und Zalasta hatte bereits seit drei Jahrhunderten versucht, ihn sich anzueignen – aus Gründen, die zu abscheulich sind, sie hier zu erörtern. Um sein Ziel zu erreichen, schreckte er vor nichts zurück. Er hat seinen Glauben verraten, sein Volk und seine persönliche Integrität – soweit er eine besaß –, um in seinen Besitz zu bringen, was die Trolle ›Blumenstein‹ nennen.«

Der dicke Quinsal plagte sich auf die Füße. »Das schlägt dem Fass den Boden aus! Der Mann hat den Verstand verloren! Jetzt fantasiert er auch noch von Trollen! Dies ist ein akademischer Disput und keine Kinderstunde! Ihr habt Euch das falsche Publikum für Eure Märchen und Gruselgeschichten ausgesucht!«

»Wie wär’s, wenn Ihr mir das überlasst, Itagne?« Ulath hatte sich erhoben und schritt zum Rednerpult. »Ich kann diese Sache in ein, zwei Augenblicken klären.«

»Mit Vergnügen«, versicherte Itagne ihm.

Ulath drückte je eine Prankenhand auf die beiden Seiten des Rednerpults. »Professor Itagne hat mich ersucht, Euch, meine Herren, über ein paar Dinge aufzuklären. Es sieht so aus, als hättet Ihr Schwierigkeiten, die Existenz von Trollen zur Kenntnis zu nehmen.«

»Ziemliche Schwierigkeiten, Herr Ritter!«, entgegnete Quinsal. »Trolle sind Gestalten aus den elenischen Mythen, nichts weiter. Von einer tatsächlichen Existenz dieser Wesen zu reden, erscheint mir mehr als lächerlich.«

»Wie erstaunlich! Ich beschäftige mich seit fünf Jahren damit, eine trollische Sprachlehre zusammenzustellen. Wollt Ihr sagen, dass ich meine Zeit vergeudet habe?«

»Ich glaube, Ihr seid so verrückt wie Itagne!«

»Dann solltet Ihr mich lieber nicht reizen, oder? Vor allem deshalb nicht, weil ich viel stärker bin als Ihr.« Ulath blickte blinzelnd zur Saaldecke. »Die Logik sagt uns, dass es unmöglich ist, etwas Nichtvorhandenes zu beweisen. Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch Eure Behauptung nicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen wollt?«

»Nein, Ritter Ulath. Ich stehe zu dem, was ich eben sagte. So etwas wie Trolle gibt es nicht!«

»Hast du das gehört, Bhlokw?«, fragte Ulath mit leicht erhobener Stimme. »Dieser Kerl behauptet, dich gibt es nicht.«

Draußen vor dem Auditorium erschallte ein gewaltiges Brüllen, und die hintere Flügeltür krachte zersplittert in den Saal.

»Ruhig Blut!«, ermahnte Bevier Itagne, als dieser zusammenzuckte. »Es ist nur ein Trugbild. Ulath erlaubt sich bloß einen Spaß.«

»Würdet Ihr Euch umdrehen und mir sagen, was Ihr da hinten im Saal seht, Quinsal?«, forderte Ulath ihn auf. »Als was würdet Ihr meinen Freund Bhlokw bezeichnen?«

Die Kreatur, die an der Tür kauerte, war von ungeheuerlicher Größe, und ihre Fratze war vor Wut verzerrt. Gierig streckte sie die Pratzen aus.

»Wer hat das behauptet, Ulath?«, grollte die Bestie mit furchterregender Stimme. »Ich werde ihn dafür bestrafen! Zerschmettern! Zerreißen! Zerfetzen! Fressen!«

»Beherrscht dieser Troll tatsächlich Tamulisch?«, wisperte Itagne.

»Natürlich nicht.« Bevier lächelte. »Ulath übertreibt.«

Die abscheuliche Erscheinung an der Tür erging sich brüllend in einer schaurigen Beschreibung seines Vorhabens mit der gesamten Fakultät für Zeitgeschichte. »Noch irgendwelche Zweifel an der Existenz von Trollen?«, erkundigte sich Ulath freundlich, doch bei all den Schreien und dem Krachen umkippender Stühle hörte ihn nicht einer der anwesenden Gelehrten.

Es dauerte eine gute Viertelstunde, wieder einigermaßen Ordnung herzustellen, nachdem Ulath sein Trugbild hatte verschwinden lassen. Als Itagne sich zurück ans Rednerpult stellte, hatten sich alle Zuhörer vorn im Auditorium dicht zusammengedrängt. »Dass Ihr so sehr darauf bedacht seid, Euch keines meiner Worte entgehen zu lassen, rührt mich zutiefst, meine Herren …«, Itagne lächelte, »… aber ich kann durchaus laut genug reden, dass ich auch ganz hinten im Saal deutlich zu hören bin. Ihr braucht Euch also nicht so sehr nach vorn zu drängen. – Ich nehme an, der Besuch von Ritter Ulaths liebem Freund hat das kleine Missverständnis über die Trolle aufgeklärt?« Er blickte Quinsal an, der noch auf dem Boden kauerte und keines vernünftigen Wortes fähig war. »Sehr gut«, fuhr Itagne fort. »Nun denn, in aller Kürze: Prinz Sperber kam nach Tamuli. Elenier sind manchmal recht listig, und so riet Königin Ehlana, Prinz Sperbers Gemahlin, einen Staatsbesuch bei Kaiser Sarabian vorzutäuschen. Sie verbarg ihren Gemahl und dessen Freunde in ihrem Gefolge. Schon kurz nach ihrer Ankunft deckten die Elenier einige Dinge auf, die wir offenbar übersehen hatten. Erstens, Kaiser Sarabian hat tatsächlich einen eigenen Verstand und Willen. Und zweitens, die von Pondia Subat geführte Regierung machte gemeinsame Sache mit unseren Feinden.«

»Hochverrat!«, schrillte ein dünner, erkahlender Professor und sprang auf.

»Ach wirklich, Dalash?«, fragte Itagne. »Gegen wen?«

»Nun – ich …«, stammelte Dalash.

»Ihr versteht immer noch nicht, meine Herren?«, wandte Itagne sich an die Fakultät für Zeitgeschichte. »Die vorherige Regierung wurde gestürzt – vom Kaiser selbst. Tamuli ist nun eine Monarchie nach elenischem Vorbild, und Kaiser Sarabian regiert durch einstweilige Verfügung. Die frühere Regierung – und ihr Premierminister – sind völlig unwesentlich.«

»Der Premierminister kann seines Amtes nicht enthoben werden!«, schrillte Dalash. »Er hat es auf Lebenszeit inne!«

»Selbst wenn dem so wäre, ließe sich dieses Problem auf sehr einfache Weise lösen, meint Ihr nicht?«

»Ihr würdet es nicht wagen!«

»Nicht ich, alter Junge. Es fällt unter die Zuständigkeit des Kaisers. Legt Euch nicht mit ihm an, sofern Ihr nicht erpicht darauf seid, dass er die Stadttore mit Euren Köpfen verziert. Aber halten wir uns damit nicht auf; ich möchte vor unserer üblichen Pause noch etwas weiterkommen. – Der fehlgeschlagene Staatsstreich brachte die Sache schließlich ans Licht. Pondia Subat wusste sehr wohl von der Verschwörung und beabsichtigte, untätig zuzuschauen und die Hände zu ringen, während der besoffene Mob alle seine politischen Gegner tötete, offenbar einschließlich des Kaisers. Wenn Professor Dalash von ›Hochverrat‹ reden will, sollte er sich das erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Der fehlgeschlagene Coup hatte zur Folge, dass wir auf vieles aufmerksam wurden, nicht nur auf den Hochverrat des Premierministers, sondern auch auf den des Innenministers. Am bedeutungsvollsten jedoch war die Entdeckung, dass Zalasta der Urheber dieses Komplotts war und dass er heimlich mit Ekatas verbündet ist, dem Hohenpriester Cyrgons, dem Gott der vermeintlich ausgestorbenen Cyrgai.

Prinz Sperber hatte keine Wahl, als Bhelliom aus seinem Versteck zurückzuholen und Verstärkung nach Chyrellos zu schicken. Zudem schloss er Bündnisse, unter anderem mit den Delphae – die es wahrhaftig gibt, in all ihrem leuchtenden Grauen.«

»Lächerlich!«, rief der selbstherrliche Wortführer der zeitgeschichtlichen Fakultät, der ungeschlachte und muskulöse Professor Pessalt höhnisch. »Ihr erwartet doch nicht ernsthaft, dass wir diesen Unsinn glauben?«

»Ihr habt heute Abend bereits einen Troll gesehen, Pessalt«, erinnerte Itagne ihn. »Hättet Ihr auch noch gern den persönlichen Besuch eines Leuchtenden? Das kann ich leicht ermöglichen, falls Ihr möchtet – aber bitte im Freien. Wir würden den Gestank nie wieder los, wenn Ihr hier im Saal zu einer Lache Schleim aufgelöst würdet.«

Dekan Altus räusperte sich mahnend.

»Ich brauche nur noch ein paar Minuten«, versicherte Itagne ihm. Er wandte sich wieder dem Publikum zu. »Nun denn«, fuhr er rasch fort, »da das Thema Trolle erneut zur Sprache kam, möchte ich es ein für alle Mal richtigstellen. Wie Ihr selbst festgestellt habt, gibt es die Trolle wirklich. Sie wurden von Cyrgon, der die Gestalt eines ihrer Götter annahm, aus ihrer Heimat in Nordthalesien nach Tamuli gelockt. Die echten Trollgötter waren sehr lange Zeit eingesperrt, und Prinz Sperber bot ihnen ein Tauschgeschäft an – ihre Freiheit für ihre Unterstützung. Dann führte er eine größere Streitmacht nach Nordatan, wo die fehlgeleiteten Trolle Aufstände angezettelt hatten, um die Ataner auf diese Weise zu veranlassen, zur Verteidigung ihrer Heimat zurückzukehren – was uns in einige Verlegenheit gebracht hätte, da die Ataner das Hauptkontingent unserer Streitkräfte bilden. Sperbers Plan bestand darin, unsere Gegner in Sicherheit zu wiegen, doch als Cyrgon und Zalasta die Trolle losschickten, rief Sperber ihre Götter, die sie wieder zurückholten. In seiner Verzweiflung holte Cyrgon eine gewaltige Armee seiner Cyrgai aus der Vergangenheit in unsere Zeit – und ihrem Wesen getreu fraßen die Trolle sie auf.«

»Ihr erwartet doch nicht wirklich, dass wir das schlucken, Itagne?«, bemerkte Professor Sarafawn, der Vorsitzende der zeitgeschichtlichen Fakultät und Schwager des Premierministers, abfällig.

»Soll das ein Wortspiel sein, Sarafawn?«, fragte Itagne. »Na ja, es spielt keine Rolle. Die kurze Antwort lautet: Schluckt es und haltet den Mund. Der Bruder Eurer Gemahlin bestimmt nicht mehr den offiziellen Wortlaut der Geschichte. Der Kaiser will, dass wir die Studenten von nun an die unverfälschte Wahrheit lehren. Ich werde voraussichtlich im kommenden Monat einen Tatsachenbericht herausgeben. Ihr solltet Euch ein Exemplar davon besorgen, Sarafawn, denn in Zukunft werdet Ihr Eure Studenten genau das lehren müssen, was in diesem Bericht steht – vorausgesetzt natürlich, Ihr habt an diesem Institut überhaupt noch eine Zukunft. Für das nächste Jahr wird der Haushaltsplan ziemlich gekürzt, was zur Folge hat, dass einige Abteilungen aufgelöst werden müssen.« Er machte eine Pause. »Seid Ihr handwerklich begabt, Sarafawn? Soviel ich weiß, gibt es in dem Städtchen Jura eine gemütliche kleine Berufsschule. Dakonien wird Euch gefallen.«

Der Dekan räusperte sich aufs Neue, diesmal etwas ungeduldiger.

»Verzeiht, Dekan Altus«, entschuldigte sich Itagne. »Die Zeit läuft mir wieder einmal davon. Ich möchte Euch nur noch kurz auf eine weitere Entwicklung aufmerksam machen. Trotz ihrer militärischen Niederlage waren Cyrgon und Zalasta keineswegs machtlos. Hinterlistig und voller Heimtücke schlich sich Scarpa, Zalastas unehelicher Sohn, in die kaiserliche Schlossanlage und entführte Königin Ehlana. Wie er in einem zurückgelassenen Schreiben verkündete, will er Sperber auf diese Weise zwingen, Bhelliom gegen die sichere Rückkehr seiner Gemahlin auszutauschen.

Nach der Pause, auf die Dekan Altus so geduldig gewartet hat, werde ich von Prinz Sperbers Reaktion auf diese Entwicklung berichten.«

Erster Teil BERIT

1

Aus der Wiese stieg kalter Nebel auf, und dünne Wolken trieben vom Westen her über den trostlosen Himmel. Keine Schatten fielen auf den unnachgiebigen, eisenhart gefrorenen Boden. Der Winter verstärkte unerbittlich seine Macht über das Nordkap.

Sperbers Armee, gerüstet in Stahl und Leder und viele tausend Mann stark, war im frostklirrenden Gras der Wiese nahe den Ruinen von Tzada in breiter Front angetreten. Ritter Berit saß inmitten der schwer gepanzerten Ordensritter auf seinem Pferd und musste das grauenvolle Mahl beobachten, das keine Viertelmeile vor ihnen stattfand. Berit war ein junger und idealistischer Ritter, und es fiel ihm schwer, sich mit den Sitten ihrer neuen Verbündeten anzufreunden.

Glücklicherweise waren die Schreie der Entfernung wegen nur gedämpft zu hören, lediglich als Hauch einer unbeschreiblichen Qual, und jene, die schrien, waren genau genommen auch gar keine richtigen Menschen. Sie waren zu einem Trugleben beschworene Tote, die Abbilder längst verstorbener und vergessener Krieger. Außerdem waren sie Feinde – Angehörige einer grausamen, wilden Rasse, die einen schrecklichen Gott verehrte.

Doch in der eisigen Luft stieg Dampf von ihnen auf, und diese entsetzliche Beobachtung vermochte Ritter Berit nicht abzuschütteln. Zwar sagte er sich immer wieder, dass diese Cyrgai tot waren, leblose Phantome, herbeigerufen durch Cyrgons Magie; aber dass Dampf von ihren ausgeweideten Leibern aufstieg, während die ausgehungerten Trolle sie verschlangen, ließ Berit bis tief in sein Inneres erschauern.

»Schlägt’s dir auf den Magen?«, fragte Sperber mitfühlend. Sein schwarzer Panzer war stellenweise mit Eis überzogen, und sein verwittertes Gesicht wirkte düster.

Berit schämte sich plötzlich. »Nein, Sperber«, log er rasch. »Es ist nur …« Er suchte nach den passenden Worten.

»Ich weiß. Es macht mir auch zu schaffen. Aber die Trolle sind nicht bewusst grausam, Berit. Für sie sind wir lediglich Futter. Es ist ihnen angeboren. Man kann nichts dagegen tun.«

»Das ist ein Teil des Problems, Sperber. Die Vorstellung, gefressen zu werden, lässt mir das Blut gefrieren.«

»Würde es dir helfen, wenn ich sagte: ›Lieber sie als wir?‹«

»Nicht besonders.« Berit lachte humorlos. »Vielleicht bin ich noch nicht abgebrüht genug. Den anderen scheint es nichts auszumachen.«

»Es gibt niemanden, dem es nichts ausmacht. In dieser Beziehung geht es uns allen genauso wie dir. Halte durch! Wir sind diesen Armeen aus der Vergangenheit schon früher begegnet. Sobald die Generale der Cyrgai von den Trollen vernichtet worden sind, müssten die übrigen Krieger verschwinden, und dann hat die Sache ein Ende.« Sperber runzelte die Stirn. »Suchen wir Ulath. Mir ist da eben etwas eingefallen. Ich würde ihm gern eine Frage stellen.«

»Gut«, erklärte Berit sich rasch einverstanden. Die beiden schwarz gepanzerten Pandioner wendeten ihre Pferde und ritten durch das mit Reif bedeckte Gras die Front der geschlossenen Formation ihrer Streitkräfte entlang.

Nach etwa dreihundert Metern stießen sie auf Ulath, Tynian und Bevier. »Ich muss dich etwas fragen, Ulath.« Sperber zügelte Faran vor den Freunden.

»Mich? Ach, wirklich, Sperber?« Ulath nahm seinen kegelförmigen Helm ab und polierte die glänzend schwarzen Ogerhörner am Ärmel seines grünen Wappenrocks. »Was gibt es für ein Problem?«

»Bisher ist jedes Mal dasselbe geschehen, wenn wir diesen Kriegern aus der Vergangenheit begegnet sind. Nachdem wir ihre Anführer getötet hatten, lösten sich die lebenden Toten in ihre Bestandteile auf. Wie werden die Trolle darauf reagieren?«

»Woher sollte ich das wissen?«

»Angeblich bist du doch Sachverständiger, wenn es um Trolle geht.«

»Überleg doch, Sperber! So etwas hat es bisher noch nie gegeben. Was in einer völlig neuen Situation geschehen wird, kann niemand vorhersagen.«

»Dann versuch, es zu erraten«, knurrte Sperber gereizt.

Die beiden funkelten einander an.

»Warum gehst du Ulath damit auf die Nerven, Sperber?«, fragte Bevier beinahe sanft. »Sag doch den Trollgöttern, was passieren wird, und überlass es ihnen, mit dem Problem fertig zu werden.«

Sperber fuhr sich nachdenklich übers Gesicht. Seine Hand verursachte ein schabendes Geräusch, als er sich über die bartstoppelige Wange strich. »Verzeih, Ulath«, entschuldigte er sich. »Dieser Lärm von dem Bankett da vorn raubt mir jeden klaren Gedanken.«

»Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Ulath verzog das Gesicht. »Aber ich bin froh, dass du diese Sache zur Sprache gebracht hast. Die Trolle werden sich nicht mit Dörrfleisch zufriedengeben, wenn ein paar hundert Meter entfernt frisches Fleisch zu haben ist!« Er setzte seinen Helm wieder auf. »Aber die Trollgötter werden das Versprechen einhalten, das sie Aphrael gegeben haben. Schon deshalb sollten wir sie von der Sachlage unterrichten. Es ist mir sehr wichtig, dass sie ihre Trolle fest im Griff haben, wenn denen das Abendessen schlecht wird. Ich lege nämlich keinen Wert darauf, als ihre Nachspeise zu enden.«

»Ehlana?«, rief Sephrenia entsetzt.

»Pst! Nicht so laut!«, mahnte Aphrael und schaute sich um. Sie ritten zwar ein Stück hinter der Nachhut, waren aber nicht allein. Aphrael streckte die Hand aus und legte sie flüchtig auf Ch’iels gesenkten weißen Hals, worauf Sephrenias Zelter sich sofort gehorsam ein kleines Stück von Kalten und Xanetia entfernte, scheinbar, um an einigen gefrorenen Grashalmen zu zupfen. »Ich kann keine Einzelheiten erfahren«, murmelte die Kindgöttin. »Melidere ist schwer verwundet, und Mirtai tobt vor Wut, sodass sie in Ketten gelegt werden musste.«

»Wer hat es getan?«

»Ich weiß es nicht, Sephrenia. Niemand spricht zu Danae. In Gedanken kann ich nur das Wort Geisel vernehmen. Es ist jemandem gelungen, in die Burg einzudringen, Ehlana und Alean zu überwältigen und sie aus der Schlossanlage zu schaffen. Sarabian ist außer sich. Er hat überall Wachen aufgestellt, und Danae kann ihr Gemach nicht verlassen, um herauszufinden, was wirklich passiert ist.«

»Wir müssen Sperber Bescheid geben!«

»Auf keinen Fall! Sperber gerät außer sich, wenn er Ehlana in Gefahr weiß. Erst muss er seine Streitkräfte sicher nach Matherion zurückbringen, ehe wir zulassen dürfen, dass er zum Berserker wird.«

»Aber …«

»Nein, Sephrenia. Er wird es schnell genug erfahren. Aber bevor es so weit ist, müssen alle in Sicherheit sein. Uns bleibt nur noch eine Woche, dann verschwindet die Sonne hier auf Monate, und alles und jeder hier oben erstarrt zu Eis.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, gestand Sephrenia ein. Sie überlegte und starrte auf den mit Reif überzogenen Wald hinter der Wiese. »Das Wort Geisel erklärt alles, glaube ich. Besteht eine Möglichkeit, festzustellen, wo genau sich deine Mutter befindet?«

Aphrael schüttelte den Kopf. »Nicht, ohne sie in Gefahr zu bringen. Wenn ich meine Gedanken auf die Suche nach ihr schicke, wird Cyrgon es bemerken und Mutter vielleicht etwas antun, ehe er sich der Situation bewusst wird. Nein, wir müssen uns zuerst einmal darum kümmern, dass Sperber nicht durchdreht, sobald er erfährt, was geschehen ist.« Abrupt sog sie den Atem ein, und ihre dunklen Augen weiteten sich.

»Was hast du?«, fragte Sephrenia bestürzt. »Was ist los?«

»Ich weiß es nicht!«, rief Aphrael. »Etwas Furchtbares!«

Für einen Moment blickte sie heftig um sich, wurde dann ruhiger, um in völliger Konzentration zu erstarren, ehe sie wieder von plötzlicher Wut übermannt wurde.

»Jemand bedient sich eines der verbotenen Zauber, Sephrenia!« Ihre Stimme war so hart wie der gefrorene Boden.

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Die Luft stinkt danach!«

Djarian, der Totenbeschwörer, war ein ausgemergelter Styriker mit tief liegenden Augen und hagerer, ja, knochiger Gestalt, die einen eigenartigen, beinahe modrigen Körpergeruch verströmte. Wie die anderen styrischen Gefangenen war auch Djarian gekettet und wurde von entschlossenen Ordensrittern bewacht, die Erfahrung darin hatten, sich erfolgreich gegen styrischen Zauber zur Wehr zu setzen.

Als Sperber und die anderen endlich dazu kamen, die Gefangenen zu befragen, senkte sich ein kaltes, bedrückendes Zwielicht auf das Lager herab, das sie bei den Ruinen von Tzada aufgeschlagen hatten. Die Trollgötter hatten ihre Kreaturen bereits fest im Griff gehabt, als die Fressorgie abrupt geendet hatte. Nun hatten die Trolle sich um ein riesiges Feuer auf der Wiese geschart, mehrere Meilen entfernt. Es sah aus, als hielten sie eine religiöse Andacht.

»Tu so als ob, Bevier«, riet Sperber dem cyrinischen Ritter leise, als Djarian vor sie gezerrt worden war.

»Stell ihm irgendwelche unwichtigen Fragen, bis Xanetia uns das Zeichen gibt, dass sie alles aus seinem Gedächtnis herausgeholt hat.«

Bevier nickte. »Ich kann es so sehr in die Länge ziehen, wie du möchtest, Sperber. Fangen wir an.«

Die flackernden Flammen verliehen Ritter Beviers strahlend weißem Wappenrock einen rötlichen Schimmer, sodass der Cyriniker wie ein Priester aussah, der eine rituelle Handlung vornahm. Ehe er mit dem Verhör begann, rezitierte er feierlich ein langes Gedicht; dann wurde er vollkommen sachlich. Djarian beantwortete die Fragen knapp und angespannt mit hohl klingender Stimme, die sich anhörte, als käme sie aus einem tiefen Gewölbe. Bevier achtete scheinbar nicht auf das mürrische Benehmen des Gefangenen. Er wirkte überkorrekt, ja pedantisch, und er steigerte diesen Eindruck, indem er fingerlose Handschuhe trug, wie Schreiber und Schriftgelehrte es bei kaltem Wetter tun. Wiederholt stellte er bereits beantwortete Fragen und wies dann auf Unstimmigkeiten in den Antworten des Gefangenen hin.

Nur einmal war Djarian nicht so kurz angebunden, als er in einem plötzlichen Wutanfall Zalasta – und Cyrgon – wortreich verwünschte, weil sie ihn hier, auf diesem verfluchten Schlachtfeld, im Stich gelassen hatten.

»Bevier hört sich genau wie ein Advokat an«, flüsterte Kalten Sperber zu. »Ich kann Advokaten nicht ausstehen!«

»Das tut er mit Absicht«, erklärte Sperber. »Advokaten stellen gern unerwartete Fragen, und das weiß Djarian. Bevier zwingt ihn, gezielt an jene Dinge zu denken, die er nicht verraten sollte; mehr braucht Xanetia nicht. Wir unterschätzen Bevier immer wieder.«

»Das liegt an seiner ewigen Beterei«, meinte Kalten abfällig. »Es ist nicht einfach, jemanden ernst zu nehmen, der ständig betet.«

»Wir sind die Ritter der Kirche, Kalten – Angehörige religiöser Orden!«

»Was hat das damit zu tun?«

»Er betrachtet sich mehr als tot denn als lebend«, berichtete Xanetia später, nachdem die Freunde sich um eines der großen Feuer geschart hatten, das die Ataner zum Schutz gegen die bittere Kälte schürten. Die Flammenglut spiegelte sich im Antlitz der Anarae ebenso wie auf ihrem Gewand aus ungebleichter Wolle.

»Hatten wir recht?«, fragte Tynian. »Verstärkt Cyrgon die Wirkung von Djarians Zauber, auf dass er ganze Armeen beschwören kann?«

»Ja«, antwortete sie.

»War seine plötzliche Wut auf Zalasta echt?«, erkundigte sich Vanion.

»Durchaus, Eminenz. Die Unzufriedenheit Djarians und seiner Kumpane über Zalastas Führung wächst ständig. Sie betrachten ihn nicht als wahren Kameraden. Es gibt keine gemeinsame Sache mehr für sie. Jeder ist nur noch bemüht, aus ihrem zweifelhaften Bündnis so viel wie möglich für sich selbst herauszuholen. Und jeder giert insgeheim nach dem alleinigen Besitz des Bhelliom.«

»Unfriede zwischen Gegnern ist stets zu begrüßen«, bemerkte Vanion. »Aber ich glaube, wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sie sich nach den heutigen Ereignissen wieder fest zusammenschließen. Konntet Ihr irgendetwas über ihre möglichen weiteren Absichten erfahren, Anarae?«

»Nein, Hochmeister Vanion. Sie waren überhaupt nicht auf das heutige Geschehen vorbereitet. Eines jedoch beherrschte die Gedankengänge dieses Djarian, und das könnte zur Gefahr werden. Alle Geächteten, die sich um Zalasta geschart haben, fürchten Cyzada von Esos, denn nur er beherrscht zemochische Magie, und nur er vermag die Hand durch jenes Tor zur Unterwelt zu strecken, das von Azash geöffnet wurde. Er kann unvorstellbares Grauen in die Welt bringen. Dieser Djarian hat sich vorgestellt, dass Cyrgon – nachdem alle ihre bisherigen Pläne scheiterten – in seiner Verzweiflung Cyzada befehlen wird, sich seines scheußlichen Könnens zu bedienen, um Kreaturen der Finsternis zu rufen und gegen uns in den Kampf zu schicken.«

Vanion nickte ernst.

»Wie hat sich Stragens Plan auf sie ausgewirkt?«, fragte Talen gespannt.

»Es hat sie ungemein aus der Fassung gebracht«, erwiderte Xanetia. »Sie hatten fest mit jenen gerechnet, die nun tot sind.«

»Stragen wird sich freuen, das zu hören. Was hatten sie eigentlich mit all diesen Spionen und Spitzeln vor?«

»Da Zalasta und seine Mitverschwörer über keine Streitkräfte verfügen, die sie gegen die Ataner einsetzen können, wollten sie die geheimen Mitarbeiter des Innenministeriums einsetzen, um nach einem genau durchdachten strategischen Plan tamulische Beamte in den Vasallenkönigreichen zu meucheln, was zu einem unübersehbaren Chaos in Regierungskreisen geführt hätte.«

»Das solltest du dir gut merken, Sperber!«, meinte Kalten.

»Ach, wirklich?«

»Kaiser Sarabian hatte starke Skrupel, als er Stragens Plan schließlich zustimmte. Gewiss wird er sich viel besser fühlen, wenn er erfährt, dass Stragen im Grunde genommen nichts anderes getan hat, als unseren Feinden zuvorzukommen und deren Leute zu morden, ehe sie dies mit den unseren tun konnten.«

»Das ist aber keine moralische Rechtfertigung für ungesetzliche Handlungen«, warf Bevier missbilligend ein.

»Ich weiß«, gestand Kalten. »Aber je schneller man so etwas hinter sich bringt, umso schneller kann man nach dem Ausnahmezustand wieder den Normalzustand herstellen.«

Am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt. Dicke dunkle Wolken zogen von Westen her über die Köpfe der Gefährten hinweg. Da es Spätherbst war und sie sich im hohen Norden befanden, konnte man den Eindruck gewinnen, die Sonne ginge im Süden auf. Sie tönte den Himmel über Bhellioms Steilwand feurig orange und langte mit schwachen rötlichen Strahlen unter die dahineilenden Wolken, um sie mit glühenden Pinseln zu bemalen.

Die Lagerfeuer wirkten kraftlos und winzig gegen die überwältigende Kälte hier auf dem Dach der Welt. Die Ritter und ihre Gefährten trugen Pelzumhänge und kauerten sich dicht an die Feuer.

Aus dem Süden erklang tiefes Grollen, und zuckendes fahles Licht war zu sehen.

»Gewitter?« Kalten blickte Ulath fragend an. »Zu dieser Jahreszeit?«

»So was kommt hin und wieder vor.« Ulath zuckte mit den Schultern. »Einmal geriet ich nördlich von Heid in ein Gewitter, das einen Schneesturm auslöste: Das war ein recht unerfreuliches Erlebnis.«

»Wer ist heute eigentlich mit dem Kochen dran?«, fragte Kalten beiläufig.

»Du!«, antwortete Ulath prompt.

Tynian lachte. »Du solltest besser aufpassen, was du sagst, Kalten. Schließlich kennst du die Antwort auf diese Frage genau.«

Brummelnd machte Kalten sich daran, das Feuer zu schüren.

»Ich finde, wir sollten heute zur Küste zurückkehren, Sperber«, meinte Vanion mit ernstem Gesicht. »Bis jetzt sind wir von Unwettern verschont geblieben, aber ich glaube nicht, dass wir uns noch allzu lange darauf verlassen können.«

Sperber nickte.

Das Donnern schwoll an, und die feuerroten Wolken über ihnen erblassten unter zuckenden Blitzen.

Plötzlich ertönte ein gewaltiges rhythmisches Pochen.

»Schon wieder ein Erdbeben?«, rief Kring erschrocken.

»Nein«, beruhigte Khalad ihn, »dann wäre das Geräusch unregelmäßiger. Es hört sich fast so an, als würde jemand eine riesige Trommel schlagen.« Er blickte zur Krone von Bhellioms Mauer hinauf. »Was ist denn das?«

Es sah aus, als rage eine Hügelkuppe aus dem Wald jenseits des scharfen Klippengrates. Das Gebilde ähnelte sogar sehr einer Hügelkuppe – nur dass es sich bewegte.

Da die Sonne sich dahinter befand, waren Einzelheiten nicht zu erkennen. Doch als das Gebilde sich immer weiter erhob, nahm es die Form einer abgeflachten Kuppel an, die zu beiden Seiten Auswüchse besaß, die riesigen Schwingen ähnelten. Und immer noch wuchs es dem Himmel entgegen. Bald war zu erkennen, dass es sich nicht um eine Kuppel handelte. Stattdessen erinnerte das Gebilde an ein ungeheures, auf den Kopf gestelltes Dreieck, bei dem die Basis nach oben zeigte; die schwingengleichen Auswüchse befanden sich an den Seitenschenkeln und unterhalb der Spitze, die in eine massive Säule eingesetzt zu sein schien. Durch das Licht dahinter wirkte es schwarz wie die Nacht; es hob sich und schwoll zur ungeheuren Finsternis an.

Dann hielt es inne.

Und öffnete die Augen.

Zuerst zu schmalen, feurigen Schlitzen, dann immer weiter. Sie waren schräg wie Katzenaugen und glühten heller als die Sonne. Die Vorstellungskraft schauderte vor der Ungeheuerlichkeit dieses … Etwas zurück. Was zuerst wie gewaltige Schwingen ausgesehen hatte, waren die Ohren dieser Kreatur.

Jetzt öffnete sie das Maul und brüllte. Die Gelehrten erkannten, dass es nicht Donner gewesen war, was sie zuvor gehört hatten.

Wieder brüllte das Wesen. Seine Fänge funkelten wie zuckende Blitze, und Flammen troffen herab wie Blut.

»Klæl«, schrie Aphrael schrill.

Wie zwei gewaltige Kuppelberge erhoben sich die Schultern der Bestie über den Klippengrat; schwarzen Segeln gleich ragten Flügel daraus hervor, ähnlich jenen von Fledermäusen.

»Was ist das?«, rief Talen entsetzt.

»Es ist Klæl!«, kreischte Aphrael.

»Was ist ein Klæl?«

»Nicht was, du Dummkopf! Wer! Azash und die anderen Älteren Götter haben ihn verbannt. Und nun hat irgendein Narr ihn zurückgeholt!«

Das Monstrum hinter der Klippe richtete sich immer weiter auf, und gigantische Arme mit vielfingrigen Pranken wurden sichtbar. Der Rumpf war ungeheuerlich; Blitze zuckten unter der Haut und beleuchteten mit ihrem Flackern scheußliche Einzelheiten.

Und dann erhob dieser monströse Koloss sich zur vollen Größe und ragte achtzig oder gar hundert Fuß über die Klippe.

Sperber schauderte. »Blaurose!«, rief er scharf. »Hilf! Tu etwas!«

»Das ist nicht nötig, Anakha.« Vanions Stimme klang ganz ruhig, als Bhelliom wieder durch seine Lippen sprach. »Klæl ist Cyrgons Griff nur flüchtig entkommen, und gewiss wird Cyrgon seine Kreatur nicht der Gefahr einer Auseinandersetzung mit mir preisgeben.«

»Dieses … Ungeheuer gehört Cyrgon?«

»Im Augenblick. Doch das wird sich ändern, und Cyrgon wird ihm gehören.«

»Was tut es?«, rief Betuana.

Das Monstrum über der Klippe hatte eine Riesenfaust erhoben und hämmerte mit Blitzen auf die Erde ein. Die steinerne Mauer erbebte; Sprünge durchzogen sie; Trümmer lösten sich, rollten krachend hinab und schmetterten in den Wald am Fuß der Klippe – bis endlich Teile der Wand mit ohrenbetäubendem Krachen zerbarsten und sich als ungeheure Lawine ins Tal wälzten.

»Klæl hatte nie Zweifel an der Kraft seiner Schwingen«, bemerkte Bhelliom ungerührt. »Er würde gern zum Kampf gegen mich antreten, doch er fürchtet die Höhe der Mauer. So schlägt er eine Treppe für sich.«

Mit einem donnernden Geräusch, ähnlich dem eines Erdbebens, polterten weitere gewaltige Teile der Wand in die Tiefe und schütteten einen immer höheren Damm aus Steinen auf.

Das Monstrum wütete in rasendem Zorn, bis mehr und mehr Trümmerstücke in die Tiefe rollten und allmählich einen steilen Weg hinauf zur Mauerkrone bildeten.

Und dann verschwand Klæl, und ein heulender Wind tobte über die Mauerwand und fegte die brodelnden Staubwolken der Lawine fort.

Ein weiteres Geräusch war zu vernehmen. Sperber drehte sich rasch um. Die Trolle hatten sich zu Boden geworfen und kreischten vor Angst und Entsetzen.

»Wir haben schon immer von ihm gewusst«, sagte Aphrael nachdenklich. »Wir haben uns gegenseitig Angst eingejagt, indem wir Geschichten über ihn erzählten. Es machte auf verderbte Weise Spaß, sich selbst eine Gänsehaut zu verschaffen. Ich glaube, ich habe mir nie eingestehen wollen, dass es Klæl tatsächlich gibt.«

»Was, genau, ist er denn?«, wollte Bevier wissen.

»Böse!« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir sind die Guten – jedenfalls reden wir uns das ein –, und Klæl ist das Gegenteil, das Abbild all dessen, was wir uns unter dem Bösen vorstellen. Gäbe es Klæl nicht, müssten wir zugeben, dass das Böse in uns selbst ist. Aber das lässt unsere Eigenliebe nicht zu.«

»Dann ist dieser Klæl der Fürst der Hölle?«, fragte Bevier.

»Na ja … gewissermaßen. Nur ist die Hölle kein Ort, sondern ein Geisteszustand. Der Sage nach gab es Klæl bereits, als die Älteren Götter erschienen – Azash und die anderen. Doch sie wollten die Welt für sich, und er war ihnen im Weg. Nachdem mehrere Götter im Alleingang versucht hatten, Klæl loszuwerden, stattdessen aber selbst zu Nichts wurden, haben die übrigen sich zusammengetan und ihn vertrieben.«

»Woher kam er? Ursprünglich, meine ich?«, erkundigte sich Bevier. Der Arzier war sehr am Wesen aller Dinge interessiert.

»Wie in aller Welt soll ich das wissen? Ich war nicht da. Frag doch Bhelliom.«

»Mich interessiert weniger, woher dieser Klæl stammt, als was er tun kann«, erklärte Sperber. Er holte Bhelliom aus dem Beutel an seinem Gürtel. »Blaurose«, sagte er, »ich glaube, wir sollten uns über diesen Klæl unterhalten.«

»Das wäre vielleicht angebracht, Anakha«, erwiderte der Edelstein aufs Neue durch Vanions Lippen.

»Woher kam er – oder es? Weißt du etwas über seinen Ursprung?«

»Klæl hat keinen Ursprung, Anakha. Es hat ihn immer gegeben – so wie mich!«

»Was ist es? Oder er?«

»Notwendig. Ich möchte dich nicht kränken, Anakha, aber die Notwendigkeit Klæls übersteigt dein Begriffsvermögen. Die Kindgöttin hat Klæl hinreichend erklärt – soweit sie seine Existenz versteht.«

»Das ist – das ist …«, stammelte Aphrael empört.

Ein schwaches Lächeln huschte über Vanions Lippen. »Versteh es nicht falsch, Aphrael. Ich liebe dich auch so – trotz deiner Beschränkungen. Du bist noch jung. Das Alter wird dir Weisheit und Verständnis bringen.«

»So geht das nicht, Blaurose!«, warnte Sephrenia.

»Also gut.« Bhelliom seufzte. »So wollen wir es denn angehen. Klæl wurde tatsächlich von den Älteren Göttern vertrieben, genau wie Aphrael es erzählt hat, doch sein Geist verweilt nach wie vor im Gestein dieser Welt – wie in allen anderen, die ich erschuf. Und was die Älteren Götter zu tun vermochten, können sie auch ungeschehen machen – und die Magie, die Klæl zurückholte, war ein Teil jenes Zaubers, der ihn vertrieben hatte. Offenbar hat ein Sterblicher, der mit dem wundersamen Wirken der Älteren Götter vertraut ist, den Vertreibungszauber umgekehrt, und Klæl ist wieder erschienen.«

»Kann er – oder es – vernichtet werden?«

»Wir sprechen weder von einem ›er‹, noch von einem ›es‹. Wir sprechen von Klæl. Nein, Anakha, Klæl kann nicht vernichtet werden – genauso wenig wie ich. Klæl ist ewig.« Sperber erschauerte unwillkürlich.

»Ich fürchte, wir befinden uns in Schwierigkeiten«, murmelte er seinen Freunden zu.

»Es ist in gewissem Maße meine Schuld. Ich war so sehr mit der Geburt dieses meines letzten Kindes beschäftigt, dass ich darüber notwendige Pflichten vergaß. Bei der Erschaffung einer neuen Welt pflege ich Klæl zu einem gewissen Zeitpunkt daraus zu vertreiben. Dieses Kind jedoch erfreute mich so sehr, dass ich mir mit der Vertreibung Zeit ließ. Da stieß ich auf den roten Staub, der mich zum Gefangenen machte, und die Pflicht, Klæl zu verstoßen, fiel den Älteren Göttern zu, die diese Aufgabe aber nur sehr unvollkommen erledigten, da sie selbst unvollkommen waren. Dies machte es möglich, Klæl zurückzuholen.«

»Durch Cyrgon?«, fragte Sperber dumpf.

»Der Zauber der Vertreibung – und Rückholung – ist styrisch. Cyrgon könnte ihn nicht sprechen.«

»Dann war es vermutlich Cyzada«, erklärte Sephrenia. »Er könnte den Zauber durchaus gekannt haben. Ich glaube aber nicht, dass er ihn freiwillig gesprochen hat.«

»Vermutlich hat Cyrgon ihn dazu gezwungen, kleine Mutter«, warf Kalten ein. »In letzter Zeit lief für Cyrgon und Zalasta nicht alles so, wie sie’s erwartet hatten.«

»Aber Klæl rufen …!« Aphrael schauderte.

Kalten zuckte die Achseln.

»Verzweifelte Menschen lassen sich zu Verzweiflungstaten hinreißen. Warum sollte es bei Göttern anders sein?«

»Was sollen wir tun, Blaurose?«, fragte Sperber. »Wegen Klæl, meine ich.«

»Du kannst nichts tun, Anakha. Als du Azash gegenüberstandest, hast du deine Sache gut gemacht. Zweifellos wird das bei Cyrgon nicht anders sein. Gegen Klæl aber wärst du hilflos.«

»Dann sind wir dem Untergang geweiht.« Sperber fühlte sich plötzlich völlig niedergeschlagen.

»Dem Untergang geweiht? Keineswegs! Weshalb lässt du dich auf einmal so leicht entmutigen, mein Freund? Ich habe dich nicht erschaffen, dass du dich gegen Klæl stellst. Das ist meine Sache. Natürlich wird Klæl uns in bestimmtem Maße zu schaffen machen, wie es eben seine Art ist. Und dann werden Klæl und ich einander gegenübertreten, wie üblich.«

»Und du wirst ihn wieder vertreiben?«

»Das steht zuvor nie fest, Anakha. Aber ich verspreche dir, dass ich mein Möglichstes tun werde, uns von Klæl zu befreien – so, wie er alles tun wird, mich loszuwerden. Unser Zweikampf liegt in der Zukunft, und wie ich dir schon oft sagte, ist uns die Zukunft verborgen. Aber ich sehe diesem Zweikampf voll Zuversicht entgegen. Zweifel schwächt die Entschlusskraft, und zaghafte Unsicherheit belastet den Geist. Man soll leichten Herzens und frohgemut in die Schlacht ziehen.«

»Du redest manchmal ganz schön salbungsvoll daher, Weltenmacher«, sagte Aphrael ein wenig boshaft.

»Sei brav«, rügte Bhelliom sanft.

»Anakha!« Es war Ghworg, der Gott des Tötens. Die riesige Gestalt pflügte einen dunklen Pfad durch die silberbereifte Wiese.

»Ich werde die Worte Ghworgs anhören«, erwiderte Sperber.

»Hast du Klæl gerufen? Glaubst du, er wird uns helfen, Cyrgon Schmerzen zuzufügen? Es ist nicht gut, wenn du das glaubst! Lass Klæl zurückkehren.«

»Ich habe ihn nicht geholt, Ghworg, ebenso wenig der Blumenstein. Wir vermuten, dass Cyrgon ihn gegen uns beschworen hat.«

»Hat der Blumenstein Macht über Klæl?«

»Das ist nicht sicher. Die Macht Klæls ist der des Blumensteins ebenbürtig.«

Der Gott des Tötens hockte sich auf das gefrorene Gras und kratzte mit einer Pranke das zottige Gesicht. »Cyrgon ist noch nicht so wichtig, Anakha«, brummte er in seiner einfältigen Art. »Wir können Cyrgon morgen etwas antun oder später. Aber gegen Klæl müssen wir jetzt vorgehen. Wir dürfen nicht bis später warten.«

Sperber stützte ein Knie auf der eisigen Wiese auf. »Deine Worte sind weise, Ghworg.«

Der Gott des Tötens verzog die Lippen zu einem grässlichen Grinsen. »Das Wort, das du da benutzt hast, ist bei uns nicht üblich, Anakha. Würde Khwaj sagen, ›Ghworg ist weise‹, würde ich ihm Schmerzen zufügen!«

»Ich habe es nicht gesagt, um dich zu erzürnen, Ghworg.«

»Du bist kein Troll, Anakha. Du kennst dich bei uns nicht aus. Wir müssen Klæl Schmerzen zufügen, damit er weggeht. Wie können wir das tun?«

»Wir können ihm nichts anhaben. Nur Blaurose kann ihn vertreiben!«

Ghworg knurrte grauenvoll und schmetterte die Faust auf den gefrorenen Boden.

Sperber hob eine Hand. »Cyrgon hat Klæl gerufen, damit er uns Schmerzen zufügt. Deshalb müssen wir Cyrgon jetzt wehtun, nicht erst irgendwann später. Wenn wir Cyrgon Schmerzen zufügen, wird er Angst haben, Klæl zu helfen, sobald der Blumenstein sich daranmacht, Klæl Schmerzen zuzufügen und ihn zu vertreiben.«

Ghworg bemühte sich, diese Worte zu verstehen, und grübelte darüber nach. »Was du sagst, ist gut, Anakha«, erklärte er schließlich. »Weißt du denn auch, wie wir Cyrgon am besten Schmerzen zufügen können?«

Sperber überlegte. »Cyrgons Verstand ist nicht wie deiner, Ghworg, noch ist er wie meiner. Wir denken direkt und geradeaus, Cyrgon dagegen gewunden. Er ist verschlagen und hinterlistig. Hier, in den Landen des Winters, hat er eure Kinder gegen unsere Freunde geschickt, auf dass wir hierherkommen und gegen sie kämpfen. Doch eure Kinder waren nicht seine, Cyrgons Hauptstreitmacht. Diese wird aus den Landen der Sonne kommen, um unsere Freunde in der schimmernden Stadt anzugreifen.«

»Ich habe diesen Ort gesehen. Dort hat die Kindgöttin zum ersten Mal mit uns gesprochen.«

Sperber zog die Stirn in Falten und versuchte, sich an die Einzelheiten auf Vanions Landkarte zu erinnern. »Es gibt hohes Gelände hier und in Richtung Süden«, sagte er.

Ghworg nickte.

»Noch weiter südlich wird dieses hohe Gelände niedriger, und dann wird es flach.«

»Ich sehe es«, sagte Ghworg. »Du beschreibst es gut, Anakha.« Sperber war erstaunt. Offenbar konnte Ghworg sich den gesamten Kontinent vorstellen.

»In der Mitte dieses flachen Geländes wiederum befindet sich eine hohe Stelle, welche die Menschenwesen die Tamulischen Berge nennen.«

Ghworg nickte bestätigend.

»Die Hauptstreitmacht von Cyrgons Kindern wird an dieser hohen Stelle vorbeikommen, um zu der schimmernden Stadt zu gelangen. An der hohen Stelle ist es kalt; also müssen eure Kinder nicht unter der Sonne leiden.«

»Ich verstehe, wohin deine Gedanken führen, Anakha«, sagte Ghworg. »Wir werden unsere Kinder zu jener hohen Stelle bringen und dort auf Cyrgons Kinder warten. Unsere Kinder werden Aphraels Kinder nicht fressen. Stattdessen werden sie Cyrgons Kinder fressen.«

»Das wird Cyrgon und seinen Dienern Schmerzen zufügen, Ghworg.«

»Dann machen wir es!« Ghworg drehte sich um und deutete zu dem Damm, der sich aus den Steinen der zerstörten Mauer gebildet hatte. »Unsere Kinder werden Klæls Treppe hinaufsteigen, noch ehe die Sonne sich heute schlafen legt.« Er erhob sich abrupt. »Gute Jagd«, brummte er, drehte sich um und kehrte zu seinen Mitgöttern und den immer noch verstörten Trollen zurück.

»Wir müssen vorgehen, als wäre alles völlig normal«, sagte Vanion, nachdem die Freunde sich am frühen Nachmittag wieder ums Feuer geschart hatten. Die Sonne ging bereits unter, wie Sperber bemerkte. »Wahrscheinlich kann Klæl jederzeit an jedem beliebigen Ort auftauchen. Wir können sein Erscheinen ebenso wenig planen oder vorausberechnen wie das eines Schneesturms oder Wirbelwinds. Und wenn man eine Gefahr nicht vorausberechnen kann, lassen sich lediglich einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Ansonsten muss man die Gefahr ignorieren.«

»Das ist die richtige Einstellung«, lobte Königin Betuana. Sie und Vanion kamen gut miteinander aus.

»Was sollen wir denn tun, Freund Vanion?«, erkundigte sich Tikume.

»Wir sind Soldaten, Freund Tikume«, antwortete Vanion. »Wir tun, was Soldaten tun. Wir machen uns bereit, gegen Armeen zu kämpfen, nicht gegen Götter. Scarpa zieht aus den Urwäldern von Arjuna herauf, und ich vermute, dass es zu einem weiteren Angriff aus Cynesga kommen wird. Wahrscheinlich werden die Trolle Scarpa im Weg sein. Doch sie können sich des Klimas wegen nur ein Stück aus den Bergen von Südtamuli entfernen. Nach dem ersten Schock, dort plötzlich Trollen gegenüberzustehen, wird Scarpa vermutlich versuchen, sie weitläufig zu umgehen.« Vanion studierte seine Karte. »Wir müssen an Ort und Stelle Streitkräfte bereit haben, um entweder gegen Scarpa oder eine aus Cynesga anrückende Armee vorzugehen. Ich würde sagen, Samar dürfte der geeignetste Ort dafür sein.«

»Sarna!«, widersprach Betuana.

»Sowohl als auch«, warf Ulath ein. »Wenn wir Truppen in Samar stationieren, können sie gegen jeden Feind ziehen, vom Südrand des Atanischen Gebirges bis zum Binnenmeer von Arjun. Zugleich können sie im Osten zuschlagen, südlich der Tamulischen Berge, falls Scarpa den Trollen aus dem Weg geht. Streitkräfte in Sarna wiederum können die Invasionsroute durchs Atanische Gebirge blockieren.«

»Er hat recht«, pflichtete Bevier bei. »Es spaltet zwar unsere Streitkräfte in zwei Teile, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.«

»Wir könnten die Ritter und die Peloi in Samar postieren, und die Ataner als Fußsoldaten in Sarna«, fügte Tynian hinzu. »Das untere Sarnatal ist ideal für den Einsatz Berittener, und die Berge um Sarna sind das natürliche Umfeld für Ataner.«

»Beide Positionen sind Verteidigungsstellungen!«, wandte Engessa ein. »Kriege lassen sich nicht aus Verteidigungsstellungen heraus gewinnen.«

Sperber und Vanion wechselten einen langen Blick. »In Cynesga einfallen?«, fragte Sperber zweifelnd.

»Noch nicht«, entschied Vanion. »Lasst uns damit warten, bis die Ordensritter aus Eosien hier sind. Erst wenn Komier und die anderen die Westgrenze von Cynesga überqueren, dringen wir von Osten her ein. Wir werden Cyrgon in die Zange nehmen. Wenn er von beiden Seiten von so gewaltigen Heeren angegriffen wird, kann er jeden Cyrgai beschwören, der je gelebt hat, und wird trotzdem unterliegen.«

»Bis zu dem Augenblick, da er Klæl von der Kette lässt«, fügte Aphrael düster hinzu.

»Nein, Göttin«, beruhigte Sperber sie. »Bhelliom will, dass Cyrgon Klæl gegen uns ins Feld schickt. Wenn wir es so machen, wie wir es gerade besprochen haben, zwingen wir Cyrgon geradezu, diesen Angriff zu einem Zeitpunkt und an einem Ort zu führen, die für uns günstig sind. Wir suchen uns den Ort aus, Cyrgon wird Klæl freilassen, und ich setze Bhelliom auf ihn an. Dann brauchen wir uns bloß noch zurückzulehnen und zuzuschauen.«

»Wir werden denselben Weg die Mauer hinauf nehmen wie die Trolle, Vanion-Hochmeister«, sagte Engessa am folgenden Morgen. »Wir können ebenso gut klettern wie sie.«

»Wir werden allerdings etwas länger dafür brauchen«, fügte Tikume hinzu. »Wir müssen Felsbrocken aus dem Weg schaffen, damit unsere Pferde den Hang hinaufkommen.«

»Wir helfen euch dabei, Tikume-Domi«, versprach Engessa.

»Das wär’s dann«, meinte Tynian. »Die Ataner und die Peloi begeben sich von hier aus gen Süden, um ihre Stellungen in Sarna und Samar zu beziehen. Wir kehren mit den Rittern zur Küste zurück, und Sorgi wird uns nach Matherion bringen. Von dort aus nehmen wir den Landweg.«

»Was mir Sorgen macht, ist die Schiffsreise«, warf Sperber ein. »Sorgi wird mindestens ein halbes Dutzend Mal fahren müssen.«

Khalad seufzte und rollte die Augen himmelwärts.

»Ich nehme an, du willst mich wieder einmal vor allen anderen blamieren«, sagte Sperber. »Was habe ich diesmal übersehen?«

»Die Flöße, Sperber! Sorgi sammelt sie ein, um sie zu den Holzmärkten im Süden zu schaffen. Er wird sie zu einem langen Ausleger zusammenbinden. Teilt die Ritter auf die Schiffe auf und bringt die Pferde auf den Ausleger, dann gelangen wir alle mit einer einzigen Fahrt nach Matherion.«

»Ich habe die Flöße ganz vergessen«, gestand Sperber verlegen.

»Mit dem Ausleger werden wir nicht sehr schnell vorankommen«, gab Ulath zu bedenken.

Xanetia hatte aufmerksam zugehört. Sie blickte Khalad an, dann fragte sie schüchtern: »Würde eine steife Brise hinter den Flößen helfen, junger Herr?«

»Und ob, Anarae!«, rief Khalad begeistert. »Aus Zweigen und Ruten können wir grobe Segel flechten.«

»Wird Cyrgon es denn nicht spüren, wenn Ihr den Wind beschwört, teure Schwester?«, fragte Sephrenia.

»Cyrgon vermag delphaeische Magie nicht zu spüren, Sephrenia«, entgegnete Xanetia. »Sperber kann Bhelliom fragen, ob Klæl es ebenfalls nicht vermag.«

»Wie habt Ihr das geschafft?«, erkundigte sich Aphrael neugierig.

Nun wirkte Xanetia ein wenig verlegen. »Es sollte uns vor Euch und Euresgleichen verbergen, Göttin Aphrael. Als Edaemus seinen Fluch wirksam machte, tat er es so, dass unsere Magie von unseren Feinden nicht erkannt werden konnte, denn zu jener Zeit betrachteten wir Euch als Feinde. Kränkt Euch das, Göttin?«

»Nicht unter diesen Umständen, Anarae.« Flöte warf sich in Xanetias Arme und küsste sie herzlich.

2

Der Ausleger, den Kapitän Sorgi aus den Flößen zusammengesetzt hatte, war eine Viertelmeile lang und hundert Fuß breit, und der größte Teil war für die Pferde eingezäunt. Er schaukelte und schlingerte unter dem düsteren Himmel auf seinem Weg gen Süden, und immer wieder fegten heftige Windstöße mit Graupelschauern darüber hinweg. Es war bitterkalt und die jungen Ritter, die das Auslegerfloß bemannten, waren bis über die Ohren in Pelze gehüllt und kauerten die meiste Zeit im zweifelhaften Schutz der flatternden Zelte.

»Auf die kleinen, aber wichtigen Feinheiten kommt es an, Berit«, erklärte Khalad, während er das Seil am Steuerbordende eines ihrer behelfsmäßigen Segel verknotete. »Jede Arbeit setzt sich im Grunde genommen aus Feinheiten zusammen.« Er blinzelte das vereiste Seil entlang auf das, was eher einem Schneefang glich als einem Segel. »Sperber befasst sich mit dem großen Plan und überlässt die Feinheiten anderen. Das ist auch gut so, denn er ist ein hoffnungsloser Stümper, wenn es um kleine Dinge und echte Arbeit geht.«

»Khalad!«, rief Berit schockiert.

»Hast du ihn je gesehen, wenn er mit Werkzeug umzugehen versucht? Schon unser Vater hat uns immer wieder davor gewarnt: ›Lasst Sperber nie nach einem Werkzeug greifen!‹ Kalten ist ziemlich gut als Handwerker; Sperber dagegen ist ein hoffnungsloser Fall. Überlässt man ihm irgendeinen Gegenstand, der mit der Hände Arbeit zu tun hat, verletzt er sich damit.« Khalad riss den Kopf hoch und fluchte.

»Was ist los?«

»Hast du es denn nicht gespürt? Die Backbordschlepptaue hängen plötzlich durch! Wecken wir die Seeleute. Wir wollen doch nicht, dass diese träge Schaukel sich wieder breitseits legt.« Die beiden jungen Männer in ihren dicken Pelzen machten sich auf den Weg über die zusammengebundenen vereisten Flöße und plagten sich um den riesigen Pferch herum, in dem sich die Pferde zum Schutz gegen den bitterkalten Rückenwind zusammendrängten.

Der Einfall, aus den Flößen einen Ausleger zu bauen, war in der Theorie sehr gut, doch es ergaben sich ziemliche Probleme mit der Nautik, die sich als weit schwieriger erwies, als sowohl Sorgi wie auch Khalad vermutet hatten. Khalads dicht geflochtene Matten aus Tannenzweigen funktionierten recht gut als Segel und bewegten die Ausleger mithilfe von Xanetias Brise stetig südwärts. Doch Sorgis Schiffe sollten die Ausleger auch steuern. Und da begann das Problem. Nicht einmal zwei Schiffe bewegen sich mit exakt der gleichen Geschwindigkeit, auch dann nicht, wenn derselbe Wind sie antreibt. Die fünfzig Schiffe vor ihnen und die fünfundzwanzig entlang jeder Seite des Auslegers mussten navigatorisch genau aufeinander abgestimmt werden, damit das riesige Floß sich in die gewünschte Richtung bewegte. Solange alle genau aufgepasst hatten, war das gut gegangen, doch nach zwei Tagesreisen lief nicht mehr alles nach Plan. Der Ausleger war seitwärts herumgeschwungen, und sosehr die Gefährten sich auch bemüht hatten, ihn wieder in die richtige nautische Position zu bringen – es war unmöglich gewesen. So hatten sie keine andere Wahl gehabt, als die Flöße in der schneidenden Kälte mühevoll auseinander- und wieder neu zusammenzubinden. Anschließend waren sie völlig erschöpft gewesen und hofften, so etwas nicht noch einmal durchmachen zu müssen.

Als sie die Backbordseite des Auslegers erreichten, zog Berit ein verbeultes Messinghorn unter seinem Pelzumhang hervor und zog mit dessen schrillem Klang die Aufmerksamkeit der Backbordschleppschiffe auf sich, während Khalad nach der gelben Fahne griff und sie heftig zu schwenken begann. Die abgesprochenen Signale waren einfach. Die gelbe Flagge bedeutete den Schiffsbesatzungen, mehr Segel zu setzen, um die Schlepptaue straff zu halten; die blaue Flagge wies sie an, Treibanker zu werfen, um den Tauen mehr Spielraum zu geben; und die rote, die Taue zu lösen und sich dann schnellstens in Sicherheit zu bringen.

Die Schlepptaue strafften sich wieder, als Khalads Signal an die Seeleute weitergegeben wurde, welche die eigentliche Arbeit an Bord der Schiffe machten.

»Wie schaffst du es eigentlich, das alles im Griff zu behalten?«, fragte Berit seinen Freund. »Und woher weißt du immer so schnell, wenn etwas schiefgeht?«

Khalad verzog das Gesicht. »Ich möchte auf keinen Fall mehrere Tage damit vergeuden, dieses Ungetüm auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, während die Gischtspritzer auf mir gefrieren; deshalb achte ich mit aller Aufmerksamkeit darauf, was mein Körper mir verrät. Man kann in den Beinen und den Fußsohlen Veränderungen spüren. Wenn ein Tau an Straffheit verliert, fühlt man, wie die Bewegung des Auslegers sich ändert.«

»Gibt es irgendetwas, von dem du nichts verstehst?«

»Ich kann nicht besonders gut tanzen.« Khalad blinzelte in die ersten schmerzenden Eistropfen eines neuerlich aufkommenden Graupelschauers. »Es ist Zeit, die Pferde zu füttern und zu tränken«, brummte er. »Machen wir den Novizen ein wenig Dampf unter dem Hintern. Die Kerle sitzen nur herum und protzen mit ihren Adelstiteln. Ein bisschen Arbeit kann ihnen nicht schaden!«

»Du kannst Aristokraten nicht ausstehen, stimmt’s?«, fragte Berit, während sie sich am Pferch entlang zu den windgepeitschten Zelten der Ritteranwärter kämpften.

»Nein, das ist es nicht. Ich habe nur keine Geduld mit ihnen. Und ich verstehe nicht, wie sie so blind gegenüber allem sein können, was um sie herum geschieht. Ein Titel muss etwas schrecklich Schweres sein, wenn man so sehr daran zu tragen hat, dass man sich um nichts anderes mehr kümmert.«

»Irgendwann wirst du selbst ein Ritter. Das ist dir doch klar, oder?«

»Das war nicht meine Idee! Sperber hat manchmal lächerliche Einfälle. Er bildet sich offenbar ein, meinem Vater Ehre zu erweisen, indem er meine Brüder und mich zu Rittern macht. Ich bin sicher, Vater hätte das als lächerlich empfunden.«

Sie erreichten die Zelte, und Khalad hob die Stimme. »Meine Herren!«, rief er. »Steht nicht untätig herum! Macht Euch daran, die Pferde zu füttern und zu tränken!« Dann begutachtete er kritisch den Pferch. Fünftausend Pferde hinterlassen eine Menge Beweise für ihre Anwesenheit. »Ich finde, es ist mal wieder an der Zeit, unseren Novizen eine Lektion in der Tugend der Demut zu erteilen«, sagte er leise zu Berit. Dann rief er: »Und wenn Ihr damit fertig seid, holt Ihr Schaufeln und Schubkarren herbei! Wir möchten doch nicht, dass uns die Arbeit über den Kopf wächst, nicht wahr, meine Herren?«

Berit war noch nicht sehr bewandert, was einige der subtileren Erscheinungen der Magie betraf. Dieser Teil der pandionischen Ausbildung erforderte ein lebenslanges Studium. Doch er war bereits so weit fortgeschritten, dass er eine »Einmischung« erkannte, wenn sie stattfand. Der Ausleger plagte sich scheinbar