Das verschwundene Lächeln - Peter Robinson - E-Book
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Das verschwundene Lächeln E-Book

Peter Robinson

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Beschreibung

Das Böse kommt nach Eastvale – der gefährlichste Fall für Inspector Alan Banks … Als die junge Mutter Brenda Scupham mitansehen muss, wie zwei angebliche Sozialarbeiter ihre kleine Tochter Gemma mitnehmen, weiß sie noch nicht, dass ein Serienmörder-Paar auf freiem Fuß ist. Selbst Tage späte findet die Polizei keine Spur und Detective Chief Inspector Banks verliert jede Hoffnung, das Mädchen jemals lebend wiederzufinden. Stattdessen führt seine Suche ihn zu der Leiche eines Mannes, der in einer alten Miene gefunden wurde – und zu der verstörenden Verbindung zwischen den beiden Fällen. Banks wird klar, dass er sich den grausamsten Tätern stellen muss, mit denen er es in den Yorkshire Dales je zu tun hatte … »Provokativ, faszinierend und unvergesslich« Booklist Eiskalte Psychospannung für Fans von Val McDermid – alle Bände der »Yorkshire-Morde«-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 497

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Als die junge Mutter Brenda Scupham mitansehen muss, wie zwei angebliche Sozialarbeiter ihre kleine Tochter Gemma mitnehmen, weiß sie noch nicht, dass ein Serienmörder-Paar auf freiem Fuß ist. Selbst Tage späte findet die Polizei keine Spur und Detective Chief Inspector Banks verliert jede Hoffnung, das Mädchen jemals lebend wiederzufinden. Stattdessen führt seine Suche ihn zu der Leiche eines Mannes, der in einer alten Miene gefunden wurde – und zu der verstörenden Verbindung zwischen den beiden Fällen. Banks wird klar, dass er sich den grausamsten Tätern stellen muss, mit denen er es in den Yorkshire Dales je zu tun hatte …

Über den Autor:

Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.

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eBook-Neuausgabe April 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1992 unter dem Originaltitel »Wednesday’s Child« bei Charles Scribner’s Sons, New York

Copyright © der englischen Originalausgabe 1992 by Peter Robinson

Published by arrangement with Peter Robinson

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2002 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-658-7

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Peter Robinson

Das verschwundene Lächeln

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Andree Hesse

dotbooks.

Widmung

Für Sheila

Motto

»Lost in the desert wild

Is your little child.

How can Lyca sleep

If her mother weep?«

***

Sleeping Lyca lay

While the beasts of prey,

Come from caverns deep,

View’d the maid asleep.

William Blake

The Little Girl Lost

TEIL EINS

Kapitel 1

Das Zimmer war ein Saustall, die Frau eine Schlampe. Vor der Küchentür lag eine nackte Kinderpuppe rücklings auf dem Boden, ein Auge fehlte, der rechte Arm war erhoben. Der Teppich darunter war derartig mit festgetretenem Dreck und Essensresten befleckt, dass man nur schwer sagen konnte, welchen Braunton er ursprünglich einmal gehabt hatte. Oben in einer Ecke, neben dem zur Straße gehenden Fenster, hatte sich die blass geblümte Tapete wegen einer feuchten Stelle gelöst. Die Fenster waren mit Ruß verschmiert und die dürftigen orangefarbenen Vorhänge hätten dringend gewaschen werden müssen.

Als sich Detective Chief Inspector Alan Banks auf die Kante des abgewetzten olivgrünen Sessels hockte, spürte er, wie sich eine Feder in seinen linken Oberschenkel bohrte. Er bemerkte, dass Detective Constable Susan Gay mit verächtlichem Blick ein grelles Ölgemälde von Elvis Presley über dem Kaminsims betrachtete. Der »King« trug einen mit Juwelen besetzten weißen Umhang mit hohem Kragen und hielt ein Mikrofon in seiner mit vielen Ringen besetzten Hand.

Im Kontrast zur schäbigen Einrichtung stand eine nagelneue Stereoanlage vor der einen Wand. Außerdem gab es noch einen grüngelben Wellensittich, der in seinem Käfig nervtötend vor sich hin trällerte, sowie einen gewaltigen mattschwarzen Farbfernseher, der aus einer Ecke plärrte. »Blockbusters« lief gerade und Banks hörte Bob Holness fragen: »Welches afrikanische Land, das mit einem ›B‹ beginnt, grenzt an Südafrika?«

»Könnten Sie den Fernseher bitte etwas leiser stellen, Mrs Scupham?«, bat Banks die Frau.

Sie sah ihn zuerst ausdruckslos an, als würde sie seine Bitte nicht verstehen, ging dann hinüber und schaltete den Fernseher ganz aus. »Sie können mich Brenda nennen«, sagte sie, nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte.

Banks musterte sie eingehender. Ende zwanzig, mit langem, schmutzig blondem Haar, das die dunklen Wurzeln nicht verbarg, besaß sie eine gewisse schmierige sexuelle Ausstrahlung, die auf ausschweifendes Vergnügen im Bett hindeutete. Dies zeigte sich in der Trägheit ihrer Bewegungen; sie ging, als würde sie sich in einem heißen und feuchten Klima befinden.

Sie hatte ein paar Pfund Übergewicht, ihr pinkfarbenes Poloshirt und ihr schwarzer Minirock wirkten eine Nummer zu klein. Die vollen Lippen ihres Schmollmundes waren großzügig mit scharlachrotem, auf ihre langen, lackierten Fingernägel abgestimmtem Lippenstift nachgezogen und ihre leeren blassblauen, mit passendem Lidschatten umrandeten Augen gaben Banks das Gefühl, er würde jede Frage wiederholen müssen.

Angesichts des Aschenbechers auf dem zerkratzten Couchtisch vor ihm holte Banks seine Zigaretten hervor und bot sie der Frau an. Sie nahm eine, und als er ihr Feuer gab, beugte sie sich vor und hielt ihr Haar mit einer Hand zurück. Wohl irgendeinem Filmstar nacheifernd, blies sie den Rauch durch die Nase aus. Hauptsächlich, um den eigenartigen Geruch nach Kohl und Nagellackentferner zu überlagern, der das Zimmer durchdrang, zündete er sich selbst eine Zigarette an.

»Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas nicht stimmte?«, fragte er sie.

Sie hielt inne und runzelte die Stirn, dann antwortete sie mit einer tiefen, von zu vielen Zigaretten rauchigen Stimme: »Erst heute Nachmittag. Ich rief dort an und sie sagten zu mir, sie hätten noch nie von Mr Brown und Miss Peterson gehört.«

»Und da haben Sie sich Sorgen gemacht?«

»Ja.«

»Warum haben Sie so lange gewartet, bevor Sie die Sache überprüft haben?«

Brenda hielt inne, um an ihrer Zigarette zu ziehen. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Ich dachte, es wird ihr schon gut gehen.«

»Aber Sie hätten bereits heute Morgen anrufen können. Da sollte sie doch zurückgebracht werden, oder?«

»Ja. Ich weiß nicht. Hätte ich wohl tun können. Nur ... ich hatte was zu erledigen.«

»Haben sich die beiden irgendwie ausgewiesen?«

»Sie hatten beide eine Art Ausweis, ganz offiziell.«

»Was stand darauf?«

Mrs Scupham drehte ihren Kopf zur Seite und zeigte nur noch ihr Profil. »Ich habe nicht genau hingeschaut. Alles ist so schnell gegangen.«

»Waren Fotos von den beiden auf den Ausweisen?«

»Nein, ich glaube nicht. Das hätte ich bestimmt bemerkt.«

»Was genau haben sie zu Ihnen gesagt?«, wollte Banks wissen.

»Sie stellten sich vor und sagten, sie kämen vom Sozialamt, und dann zeigten sie mir ihre Ausweise ...«

»Das passierte alles an der Tür, bevor Sie die beiden hereingelassen haben?«

»Ja. Und dann erklärten sie, sie würden mich wegen Gemma besuchen. Da musste ich sie ja reinlassen, oder? Sie kamen von der Behörde.«

Als sie den Namen ihrer Tochter erwähnte, wurde ihre Stimme etwas brüchig. Banks nickte. »Was geschah dann?«

»Nachdem ich sie reingelassen hatte, sagten sie, ihnen lägen Berichte vor, dass Gemma ... äh, dass sie misshandelt oder missbraucht wurde.«

»Haben die beiden gesagt, woher sie das wussten?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Haben Sie nicht nachgefragt?«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Sie waren so ... also, er trug einen guten Anzug und sein Haar war kurz geschnitten und ordentlich gekämmt, und sie war auch sehr gepflegt angezogen. Sie machten einfach einen sehr selbstsicheren Eindruck. Mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, irgendetwas zu fragen.«

»Hatten die beiden denn Recht mit ihrer Behauptung?«

Mrs Scupham wurde rot. »Natürlich nicht. Ich liebe meine Tochter. Ich würde ihr nie etwas antun.«

»Fahren Sie fort«, bat Banks. »Was haben sie dann gesagt?«

»Das war eigentlich alles. Sie sagten, sie müssten Gemma mitnehmen, nur für eine Nacht, um ein paar Tests und Untersuchungen mit ihr anzustellen, und wenn die in Ordnung wären, würden sie sie heute Morgen wieder zurückbringen, genau wie ich Ihnen am Telefon sagte. Als sie dann nicht kamen, habe ich mir solche Sorgen gemacht ... ich ... Wie kann man nur so etwas tun, einfach das Kind von jemand anderem stehlen?«

Banks konnte sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Er wusste, dass er ihr keinen Trost geben konnte. Tatsächlich war das Beste, was er tun konnte, ihr nicht vorzuwerfen, wie furchtbar dumm sie gewesen war, und sie nicht zu fragen, ob sie denn nicht von den Fällen vor ein paar Jahren gehört hatte, als falsche Sozialarbeiter mit eben solchen Geschichten, wie man ihr eine aufgetischt hatte, in ganz England von Wohnung zu Wohnung gezogen waren. Nein, am besten hielt er seinen Mund.

Sie hatte Angst vor Autoritäten, eine wahrscheinlich angeborene Angst, und das bedeutete, sie würde so gut wie alles glauben, was ihr jemand erzählte, der in einem Anzug steckte und mit einem Ausweis, einem ordentlichen Haarschnitt und einer gebildeten Ausdrucksweise daherkam. Damit stand sie nicht allein. Häufig hatten die unechten Sozialarbeiter einfach darum gebeten, die Kinder gleich vor Ort untersuchen zu dürfen, ohne sie mitzunehmen. Banks fragte sich, wie viele Mütter, neben all denen, die ihre Kinder freimütig fremden Leuten mitgegeben hatten, diese Untersuchung wohl erlaubt hatten und dann zu verängstigt oder beschämt gewesen waren, es zuzugeben.

»Wie alt ist Gemma?«, fragte Banks.

»Sieben. Erst sieben.«

»Wo ist Ihr Mann?«

Mrs Scupham schlug die Beine übereinander und faltete die Hände in ihrem Schoß. »Ich bin nicht verheiratet«, erklärte sie. »Das können Sie ruhig wissen. Das ist heutzutage keine Schande mehr, wo es so viele Scheidungen gibt.«

»Was ist mit Gemmas Vater?«

»Terry?« Angewidert verzog sie ihre Oberlippe. »Der ist schon lange weg.«

»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

Mrs Scupham schüttelte den Kopf. »Er verschwand, als Gemma drei war. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gesehen oder gehört. Zum Glück.«

»Wir müssen Kontakt zu ihm aufnehmen«, stellte Banks fest. »Können Sie uns irgendwelche Informationen geben, die uns weiterhelfen?«

»Wieso? Sie denken doch nicht ... Sie denken doch wohl nicht, dass Terry etwas damit zu tun haben könnte?«

»Noch denken wir gar nichts. Aber immerhin hat auch er ein Recht darauf zu wissen, was mit seiner Tochter passiert ist.«

»Ich verstehe nicht, wieso. Auch als er noch hier war, hat er sich nie für sie interessiert. Warum sollte er es dann jetzt tun?«

»Wo ist er, Brenda?«

»Wie gesagt, ich habe keine Ahnung.«

»Wie lautet sein voller Name?«

»Garswood. Terry Garswood. Terence, nehme ich an, aber jeder hat ihn Terry genannt.«

»Was war er von Beruf?«

»Er war bei der Army. War kaum hier.«

»Gibt es sonst jemanden? Einen Mann, meine ich?«

»Ja, Les. Wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen.«

»Wo ist er?«

Sie zuckte mit ihrem Kopf. »Da, wo er immer ist, im Barleycorn um die Ecke.«

»Weiß er, was passiert ist?«

»O ja, er weiß es. Wir haben uns deswegen gestritten.«

Banks sah, dass Susan Gay von ihrem Notizbuch aufschaute und ungläubig den Kopf schüttelte.

»Kann ich noch eine Zigarette haben?«, bat Brenda Scupham. »Ich wollte noch welche holen, hab es dann aber vergessen.«

»Selbstverständlich.« Banks gab ihr eine Silk Cut. »Wo arbeiten Sie, Brenda?«

»Ich arbeite nicht ... ich ... ich bin Hausfrau.« Er gab ihr Feuer und sie hustete nach dem ersten Zug. Sie klopfte sich auf die Brust. »Ich sollte aufhören«, sagte sie.

Banks nickte. »Ich auch. Hören Sie, Brenda, meinen Sie, Sie könnten uns eine Beschreibung von diesem Mr Brown und dieser Miss Peterson geben?«

Sie runzelte die Stirn. »Ich werde es versuchen. Aber ich kann mir Gesichter nicht gut merken. Wie gesagt, er hatte einen schönen Anzug an, dieser Mr Brown, marineblau, mit schmalen weißen Streifen. Und ein weißes Hemd und dazu eine schlichte Krawatte. Welche Farbe die hatte, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall dunkel.«

»Wie groß war er?«

»Durchschnittlich.«

»Wie groß ist das?« Banks stand auf. »Größer oder kleiner als ich?« Mit einem Meter siebenundsiebzig war Banks klein für einen Polizisten und erreichte knapp die vorgeschriebene Mindestgröße.

»Ungefähr genauso groß.«

»Und das Haar?«

»Schwarz, so ähnlich wie Ihres, aber länger und glatt nach hinten gekämmt. Und an den Seiten wurde es schon ein bisschen dünn.«

»Wie alt war er Ihrer Meinung nach?«

»Keine Ahnung. Er sah irgendwie jungenhaft aus, aber er war wahrscheinlich um die dreißig, würde ich sagen.«

»Können Sie uns sonst noch etwas über ihn sagen? Stimme, Eigenarten?«

»Eigentlich nicht.« Brenda schnippte etwas Asche in Richtung Aschenbecher, verfehlte aber das Ziel. »Wie gesagt, er drückte sich vornehm aus. Ach, da war noch eine Sache, aber ich glaube nicht, dass sie Ihnen weiterhilft.«

»Was denn?«

»Er hatte ein nettes Lächeln.«

Und in dieser Art ging es weiter. Als sie fertig waren, hatte Banks eine Beschreibung von Mr Brown, die auf ungefähr die Hälfte aller jungen Geschäftsmänner in Eastvale oder sogar des gesamten Landes zutreffen würde, sowie eine von Miss Peterson – brünett, hochgestecktes Haar, gepflegte Ausdrucksweise, hübsche Figur, teure Kleider –, die auf eine ganze Reihe junger, berufstätiger Frauen passte.

»Hatten Sie die beiden zuvor schon einmal gesehen?« Banks erwartete sich nicht viel von dieser Frage, denn Eastvale war immerhin eine mittelgroße Stadt, aber ein Versuch war es wert.

Sie schüttelte den Kopf.

»Haben die beiden etwas angefasst, als sie hier waren?«

»Ich glaube nicht.«

»Haben Sie ihnen Tee oder so angeboten?«

»Nein. Natürlich nicht.«

Banks dachte an Fingerabdrücke. Wenn sie Tee oder Kaffee getrunken hätten, bestände die geringfügige Möglichkeit, dass Mrs Scupham die Tassen noch nicht abgewaschen hätte. Denn auch wenn die Abdrücke auf den Türgriffen anfänglich deutlich gewesen wären, so waren sie mittlerweile bestimmt verwischt.

Auf seine Bitte hin erhielt Banks ein einigermaßen aktuelles Schulfoto von Gemma Scupham. Sie war ein hübsches Kind, hatte die gleichen langen Haare wie ihre Mutter – allerdings war ihr Blond echt – und einen traurigen, schwermütigen Gesichtsausdruck, der sie älter als sieben Jahre erscheinen ließ.

»Wo könnte sie sein?«, wollte Brenda Scupham wissen. »Was haben sie mit ihr gemacht?«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden sie finden.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, wurde Banks bewusst, wie leer sie klangen. »Können Sie uns sonst noch etwas sagen?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Was hat Gemma angehabt?«

»Angehabt? Gelbe Hosen, die bis oben hin reichen – wie heißen die noch?«

»Latzhosen?«

»Ja, genau. Gelbe Latzhosen über einem weißen T-Shirt. Vorne ist eine Comicfigur drauf. Donald Duck, glaube ich. Sie liebt Comics.«

»Haben die Besucher noch andere Namen außer Brown und Peterson genannt?«

»Nein.«

»Haben Sie ihren Wagen gesehen?«

»Nein, ich habe nicht danach geschaut. Das macht man doch auch nicht, oder? Ich habe sie einfach reingelassen, wir haben geredet, dann sind sie mit Gemma verschwunden. Sie waren so nett, ich ... ich kann es einfach nicht glauben.« Ihre Unterlippe zitterte, sie begann zu weinen, aber das Weinen ging in einen weiteren Hustenanfall über.

Banks stand auf und bedeutete Susan, ihm in den Flur zu folgen. »Sie bleiben besser bei ihr«, flüsterte er.

»Aber Sir ...«

Banks hob die Hand. »Das ist eine Anordnung, Susan. Vielleicht erinnert sie sich noch an irgendetwas Wichtiges. Außerdem möchte ich, dass Sie einen oder mehrere Gegenstände zusammensuchen, auf denen Gemmas Fingerabdrücke zu finden sind. Aber zuerst weisen Sie bitte Sergeant Rowe über Funk an, er soll Superintendent Gristhorpe anrufen und ihm von den Vorgängen hier erzählen. Dann sollten Sie jemanden darauf ansetzen, Kontakt mit allen Sozialämtern in Yorkshire aufzunehmen. Man kann nie wissen, es besteht immerhin die Möglichkeit, dass jemand bei dem Papierkram Mist gebaut hat, und wir stehen wie die Trottel da, wenn wir das nicht überprüft haben. Bitten Sie Phil, eine Haus-zu-Haus-Befragung in der Nachbarschaft zu organisieren.« Er reichte ihr das Foto. »Und lassen Sie davon ein paar Kopien machen.«

Susan eilte hinaus zu dem nicht gekennzeichneten Polizei-Rover und Banks ging zurück ins Wohnzimmer, wo sich Brenda Scupham anscheinend ganz in ihren Kummer vergraben hatte. Er berührte sie leicht an der Schulter. »Ich muss Sie jetzt verlassen«, sagte er. »Constable Gay wird gleich wieder da sein. Sie bleibt bei Ihnen. Und machen Sie sich keine Sorgen. Wir tun, was wir können.«

Er schritt den kurzen Weg zum Streifenwagen hinunter und klopfte ans Fenster. »Sie sagten doch, Sie hätten die Wohnung durchsucht, nicht wahr?«, fragte er den Constable am Steuer und deutete mit seinem Daumen den Weg zurück.

»Ja, Sir, gleich als Erstes.«

»Gut, durchsuchen Sie die Wohnung noch einmal, sicher ist sicher. Und schicken Sie außerdem jemanden los, um für Mrs Scupham eine Schachtel Zigaretten zu holen. Silk Cut, zum Beispiel. Mich finden Sie im Pub.« Er ging die Straße hinab und ließ einen verdutzten jungen Constable zurück.

Kapitel 2

Detective Superintendent Gristhorpe hockte vor seiner Natursteinmauer im Garten hinter seinem Haus hoch über Lyndgarth und dachte über seine Pensionierung nach. Im November würde er sechzig werden, und obwohl er nicht gezwungen war, in den Ruhestand zu gehen, wurde es nach über vierzig Jahren Dienst wohl allmählich Zeit für ihn, kürzer zu treten und sich seinen Büchern und seinem Garten zu widmen, so wie es der weise alte Römer Virgil empfohlen hatte.

Er setzte einen Stein ein und stand dann auf, wobei er deutlich das Knacken in seinen Knien und den Schmerz seiner Bandscheiben spürte. Er hatte zu lange an der Mauer gearbeitet. Warum er sich die Mühe überhaupt machte, wusste nur Gott allein. Schließlich führte sie nirgendwo hin und umzäunte nichts. Sein Großvater war ein meisterlicher Mauerbauer in den Dales gewesen, aber sein Talent hatte sich nicht an die nachfolgenden Generationen vererbt. Die Arbeit gefiel Gristhorpe wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem er das Angeln mochte: Es war eine Entspannung, bei der man abschalten konnte. In einem Zeitalter, in dem sich alles um den technischen Nutzen drehte, dachte er, brauchte der Mensch möglichst viel zwecklose Beschäftigung.

Vor wenigen Augenblicken war die Sonne untergegangen, im Norden hob sich die scharfe Linie von Aldington Edge vom Horizont ab und ließ den dunklen malvenfarbenen und violetten Himmel dadurch stärker hervortreten. Als Gristhorpe zur Hintertür ging, spürte er die Kälte in der leichten Brise, die seinen wilden grauen Haarschopf zerzauste. Es war Mitte September, der Herbst zog ins Tal.

Im Haus setzte er eine Kanne starken, schwarzen Tee auf, machte sich ein Sandwich mit Wensleydale-Käse und Gurke und ging dann in sein Wohnzimmer. Das Bauernhaus war ein massiver Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert; die Wände waren dick genug, um auch dem schlimmsten Wintereinbruch in Yorkshire zu trotzen. Seit dem Tod seiner Frau hatte Gristhorpe das Wohnzimmer in eine Bibliothek umgewandelt. Er hatte seinen Lieblingssessel nahe an den Steinkamin gestellt und so viele dienstfreie Stunden lesend dort verbracht, dass die Hitze des Feuers das Lederpolster auf der einen Seite schon rissig gemacht hatte.

Den Fernseher, der seiner Frau so viel Freude bereitet hatte, hatte Gristhorpe Mrs Hawkins, seiner Haushälterin, gegeben; das alte Vitrinenradio hatte er jedoch behalten, damit er die Nachrichten, Cricketübertragungen und die Hörspiele hören konnte, die an manchen Abenden gesendet wurden. Zwei Wände waren vom Boden bis an die Decke mit Bücherregalen bestückt und über dem Kamin hing eine Reihe gerahmter Drucke aus Hogarths Zyklus »The Rake’s Progress«.

Gristhorpe stellte seinen Tee und das Sandwich in Reichweite neben ein paar Büchern auf den kleinen, runden Tisch und machte es sich mit einem Seufzer in seinem Sessel bequem. Nur der Wind, der durch die Ulmen rauschte, und das Ticken der Uhr seines Großvaters in der Diele durchbrachen die Stille.

In den Ruhestand gehen oder nicht in den Ruhestand gehen, das war die Frage, die ihn davon abhielt, sofort Der Weg allen Fleisches zur Hand zu nehmen. Während der letzten Jahre hatte er den größten Teil der Ermittlungsarbeit an sein Team delegiert und selbst die meiste Zeit mit Verwaltung und Koordination zugebracht. Er besaß absolutes Vertrauen in Alan Banks, seinen Schützling, und sowohl Sergeant Richmond wie auch die erst jüngst zum Team dazugestoßene Constable Gay kamen gut zurecht. Sollte er seinen Platz zugunsten der Beförderung von Banks räumen? Alan zeigte auf jeden Fall solche Begeisterung und Interesse an der Arbeit, dass sich Gristhorpe oft daran erinnert fühlte, wie er selbst in seinen jungen Jahren gewesen war. Wie Gristhorpe hatte auch Banks nicht studiert, was ihm aber keinesfalls zum Nachteil gereichte. Banks war ein talentierter Ermittler, auch wenn er nicht gut mit Autoritäten klarkam, gelegentlich unbesonnen reagierte und eine Abscheu für innerpolizeiliche Angelegenheiten hatte, die immer mehr Raum einnahmen. Doch gerade dafür bewunderte ihn Gristhorpe. Er hasste diese Art Angelegenheiten ja selbst. Obwohl zwanzig Jahre jünger, war Banks ein Polizist alter Schule, ein Mann von der Straße. Außerdem besaß er Fantasie und Neugier, zwei Eigenschaften, die Gristhorpe für wesentlich hielt.

Und was sollte er mit seiner Zeit anfangen, wenn er in den Ruhestand trat? Da gab es natürlich die Natursteinmauer, aber die garantierte ihm kaum eine Vollzeitbeschäftigung. Das Lesen auch nicht, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass seine Sehkraft in letzter Zeit nachgelassen hatte. Er war in einem Alter, in dem jeder Schmerz und jedes kleine Wehwehchen mehr Angst in ihm weckte als früher und in dem Erkältungen sich in die Länge zogen und in der Brust festsetzten. Aber er war kein Hypochonder. Die Gristhorpes waren immer ein robuster Menschenschlag gewesen.

Reisen würde er gerne, ging ihm durch den Kopf, noch einmal Venedig besuchen, Florenz, Paris, Madrid, und irgendwo hinfahren, wo er noch nie gewesen war – in den Fernen Osten vielleicht oder nach Russland. Aber Reisen kosteten Geld und mit der Pension eines Polizisten würde er nicht weit kommen. Gristhorpe seufzte und nahm Samuel Butler zur Hand. Er musste sich ja nicht heute Abend entscheiden, am besten wartete er noch eine Weile.

Er hatte den ersten Absatz noch nicht zu Ende gelesen, als das Telefon klingelte. Er kennzeichnete die Seite mit einem Lederband und legte das Buch weg, stand dann auf und ging in die Diele. Es war Sergeant Rowe vom Revier. Er hatte von Susan Gay die Nachricht erhalten, dass ein Kind aus der Wohnsiedlung im Osten Eastvales vermisst wurde. Könnte der Superintendent so schnell wie möglich ins Revier kommen? Über das Telefon erhielt Gristhorpe kaum weitere Einzelheiten, nur so viel, dass das Kind von einem Mann und einer Frau mitgenommen worden war, die sich als Sozialarbeiter ausgegeben hatten, und dass es seit über einem Tag verschwunden war. Während er zuhörte, wie Sergeant Rowe die Nachricht mit seiner tiefen, emotionslosen Stimme übermittelte, lief Gristhorpe ein Schauer über den Rücken.

Grimmig zog er seine Tweedjacke an und ging nach draußen zu seinem Wagen. Mittlerweile war es stockdunkel, unten am Talhang funkelten die Lichter von Lyndgarth. Gristhorpe fuhr durch das Dorf, an der gedrungenen St.-Mary-Kirche vorbei und bog dann auf die Hauptstraße nach Eastvale ab. Es war eine Strecke, die er unzählige Male zurückgelegt hatte, er fuhr daher mechanisch und brauchte nicht mehr an die Schlaglöcher und Kurven zu denken. Normalerweise würde er selbst im Dunkeln einen kurzen Blick auf bestimmte Punkte der Route werfen, auf die Lichter des alten Lister-Hauses hoch oben auf den gegenüberliegenden Berghängen oder auf die sechs windschiefen Bäume auf der kleinen Lichtung im Westen; aber dieses Mal war er zu sehr in Gedanken, um auf die Landschaft zu achten.

Während er sich den Lichtern Eastvales näherte, kam ihm der lange Samstag im Oktober 1965 in den Sinn, als er und ein Dutzend anderer junger Polizisten im Nieselregen und im beißenden Wind fünfhundert Meter hoch in den Pennines gestanden und ihre Befehle erhalten hatten. In ihren Anoraks und Gummistiefeln hatten sie in der Kälte des Spätherbstes auf der Hochebene des Saddleworth-Moores gezittert und sich darüber beklagt, dass sie das samstägliche Fußballspiel verpassten. Allein dort oben zu sein, dem unheilvollen Wind, dem Regen und dem düsteren Licht ausgesetzt und mit diesen Felsnasen ringsum, die wie verfaulte Zähne in den Himmel ragten, war schon unheimlich genug. Den ganzen Tag hatten sie gesucht, hatten sich durch den Schlamm und den Torf gekämpft, von halb zehn Uhr morgens bis nach drei Uhr am Nachmittag. Dann hatte der Regen aufgehört, es war etwas wärmer geworden und das Moor lag in leichten Nebel gehüllt.

Plötzlich hatte Gristhorpe in der Entfernung den Ruf eines Mitglieds ihres Suchtrupps gehört, eines jungen Mannes, so erinnerte er sich, der gerade die Ausbildung absolviert hatte und eben stehen geblieben war, um auf seinen Fund hinzuweisen. Alle, die in seiner Nähe waren, wie Gristhorpe, eilten zu ihm und beobachteten mit zunehmendem Entsetzen, wie Sergeant Eckersley den festsitzenden Torf vom Knochen eines Kinderarmes kratzte. Nach und nach kam ein Kopf zum Vorschein. Eckersley hatte innegehalten und nach den Beamten der Spurensicherung geschickt und schon bald waren wie aus dem Nichts der stellvertretende Polizeipräsident sowie Gerichtsmediziner, Fotografen und Joe Mounsey – eben der ganze Haufen – aufgetaucht.

Sie hatten Segeltuchblenden aufgestellt und alle Anwesenden außer den hohen Tieren und den Leuten von der Spurensicherung hatten zurücktreten müssen. Als der Arzt den Dreck abgekratzt hatte und die Kameralichter aufblitzten, wurde die ganze grausige Entdeckung offenbar. Durch einen Riss im Segeltuch erhaschte Gristhorpe nur einen kurzen Blick auf die Leiche, aber der reichte völlig aus.

Sie hatten nach einem Jungen namens John Kilbride gesucht, aber was sie gefunden hatten, war die schon fast skelettierte Leiche eines Mädchens, das mit einem über den Kopf erhobenen Arm auf der Seite lag. Zu seinen Füßen befanden sich seine zusammengebündelten Kleider: ein blauer Mantel, eine rosafarbene Strickjacke, ein rotgrüner Schottenrock. Anstelle von John Kilbride hatten sie die Leiche der zehnjährigen Lesley Ann Downey gefunden, ein weiteres Opfer des Paares, das später als die »Moor-Mörder« in die Geschichte eingegangen war: Ian Brady und Myra Hindley.

Irgendwie hatte sich dieser Tag mehr als jeder andere in Gristhorpes Gedächtnis eingegraben. Manchmal vergingen Monate oder ganze Jahre, ohne dass er an dieses Erlebnis denken musste, aber sobald etwas Ähnliches passierte, war die Erinnerung an das Grauen wieder da. Es war, als würde er wieder oben im Moor stehen und den Arm aus dem Morast hervorragen sehen, diesen Arm, der zu winken oder auf etwas zu zeigen schien.

In den letzten Jahren hatte er nur einmal an jenen Tag gedacht, als nämlich ein sechzehnjähriges Mädchen aus einem der Dörfer in Swainsdale verschwunden war und vermisst wurde. Und nun waren zwei Menschen, ein Mann und eine Frau – genauso wie damals Brady und Hindley – dreist und unverschämt in ein Haus der Siedlung am östlichen Stadtrand marschiert und hatten eine Siebenjährige entführt.

Während Gristhorpe die enge North Market Street hinabfuhr, vorbei an der Stadthalle, den erleuchteten Schaufenstern der Touristenläden, vorbei am Gemeindezentrum, umklammerte er das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel sich weiß färbten. In seinem Kopf hörte er wieder die Stimme des kleinen Mädchens von dem Band, das Brady und Hindley aufgenommen hatten, bevor sie sie ermordeten: Lesley Ann, die weinte und flehend nach ihrer Mami und ihrem Papi rief; Brady, der ihr befahl, sie solle sich etwas in den Mund stecken, da er ein Foto von ihr machen wolle. Und dann die verfluchte Musik, dieses verfluchte Stück Musik, »Der kleine Trommler«. Seitdem konnte Gristhorpe nie wieder in Ruhe Musik hören, ohne in seinem Kopf das kleine Mädchen um Gnade schreien und winseln zu hören.

Um lästige Erklärungen zu vermeiden, ließ er seitdem jeden glauben, er habe keinen Sinn für Musik.

Er steuerte seinen Wagen auf den Parkplatz hinter dem Revier, einem alten Gebäude mit einer Tudorfassade am Marktplatz von Eastvale, und blieb ein paar Augenblicke sitzen, um sich zu beruhigen und die Erinnerung abzuschütteln. Und bevor er hineinging, sprach er, etwas verlegen, da er im Grunde kein religiöser Mensch war, ein stilles Gebet. Er betete darum, dass sich diese Angelegenheit in nichts, aber auch gar nichts mit dem Fall der Moor-Mörder vergleichen ließe. Für Gedanken an den Ruhestand war jetzt jedenfalls keine Zeit mehr.

Kapitel 3

Als Banks die Straße zum Barleycorn hinabging, schaute er sich die Reihe der schier ununterscheidbaren roten Backsteinhäuser an. Man konnte es nicht anders sagen: Diese Siedlung am Ostrand der Stadt war eine Katastrophe. Manche Mieter hatten die Häuser gekauft, als die Thatcher- Regierung sie veräußert hatte, und viele hatten ihr Haus mit einem weißen Zaun, ein wenig Farbe oder sogar einem Mansardenfenster verschönert. Aber alles in allem war es eine schäbige Gegend geblieben, mit von Müll übersäten Vorgärten, umgekippten Kinderdreirädern auf der Straße und streunenden Hunden voller Geschwüre, die die Bürgersteige verdreckten, kläfften und nach jedem Passanten schnappten.

Und das Barleycorn war der typische Pub für eine solche Wohngegend, angefangen bei seinem fantasielosen Namen und dem gedrungenen Flachdach bis hin zur Jukebox, den Videospielen und dem schlecht gelagerten Fassbier.

Banks stieß die Tür auf und schaute sich um. Aus der Jukebox plärrte viel zu laut Little Richards »Good Golly Miss Molly«. Die Registrierkasse rappelte. Die meisten Tische waren leer, nur an der Theke standen ein paar unermüdliche Trinker.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, bemerkte Banks, dass ihn alle Leute anstarrten. Und plötzlich machte sich ein Mann in Richtung Hinterausgang aus dem Staub. Sofort jagte Banks hinter ihm her, stieß mit seinem Knie gegen einen Stuhl und kippte ihn im Weiterlaufen um. Kurz bevor der Mann den Ausgang erreicht hatte, bekam Banks ihn an der Schulter zu fassen. Der Mann versuchte sich loszureißen, aber Banks hielt ihn fest, wirbelte ihn herum und schlug ihm einmal kräftig in die Magengrube. Der andere stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Banks packte ihn am Ellbogen und half ihm ungefähr so zu einem Tisch, wie man ältere Mitbürger über die Straße führt.

Kaum hatte er sich hingesetzt, kam der Barkeeper herangestürzt.

»Hören Sie, Mister, ich will hier keinen Ärger«, erklärte er.

»Schön«, entgegnete Banks. »Ich auch nicht. Aber ich nehme einen kleinen Brandy für meinen Freund, damit sich sein Magen wieder etwas beruhigt.«

»Sehe ich wie eine Kellnerin aus, oder was?«

Banks betrachtete den Mann. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß und ziemlich in die Breite gegangen. Seine Nase sah aus, als wäre sie schon einige Male gebrochen worden, altes Narbengewebe verdeckte sein linkes Auge.

»Bringen Sie einfach den Drink«, sagte Banks. »Ich nehme nichts, auf jeden Fall nicht, solange ich im Dienst bin.«

Der Mann starrte Banks an, dann klappte seine Kinnlade herunter. Er zuckte mit den Achseln und ging wieder hinter die Theke. Ein paar Sekunden später kam er mit dem Brandy zurück. »Geht aufs Haus«, brummte er.

Banks bedankte sich und reichte das Glas weiter an seinen Tischgenossen, der dasaß, sich den Bauch rieb und nach Luft schnappte. »Auf Ihre Gesundheit, Les.«

Der Mann starrte ihn mit tränenden Augen an, kippte den Brandy auf Ex runter und knallte das Glas auf den Tisch. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, klagte er. »Ich wollte nur pissen gehen.«

»Schwachsinn, Les«, antwortete Banks. »Der Einzige, den ich mal so schnell aufs Klo rennen sah, hatte Dünnschiss. Warum sind Sie weggelaufen?«

»Das habe ich Ihnen ja gesagt.«

»Ich weiß, aber ich will die Wahrheit hören.«

Les Poole war ein guter Bekannter der Polizei von Eastvale und bereits häufig Gast auf dem Revier gewesen. Er war ein chronischer Langfinger und konnte die Vorstellung einfach nicht akzeptieren, dass irgendein Gegenstand nicht ihm, sondern jemand anderem gehörte. Folglich war er, seit er die Besserungsanstalt verlassen hatte, immer wieder im Gefängnis gewesen, meistens wegen Einbruchs. Und wenn er die nötige Intelligenz besäße, dachte Banks, wäre er zweifellos schon auf Betrug und Erpressung umgestiegen. Les hatte nie lange einen Job behalten, obwohl das Gerücht umging, er habe tatsächlich einmal sechs Wochen als Müllfahrer gearbeitet, sei jedoch rausgeschmissen worden, weil er zu viel Zeit dabei verschwendete, den Müll anderer Leute nach Dingen zu durchforsten, die er behalten oder verkaufen könnte. Les Poole war in Banks’ Augen nicht mehr als ein kleiner Ganove am Rande der Gesellschaft.

Zudem sah er wirklich seltsam aus – wie jemand, der mit einer Zeitmaschine direkt aus den fünfziger Jahren gekommen zu sein schien. Er hatte ölig zurückgekämmtes Haar, mit Tolle, Koteletten, Entenschwanz und allem Drum und Dran, ein dreieckiges Gesicht mit einem Kirk-Douglas-Grübchen am Kinn, eine lange, dünne Nase und Augen, die so leer und grau waren wie Schiefer. Er hatte ungefähr Banks’ Größe, trug eine schwarze Lederjacke, ein rotes T-Shirt und Jeans. Über dem Gürtel wölbte sich sein Bierbauch. Er hätte der Bassist einer drittklassigen Rockabilly-Band sein können. Warum sich die Frauen von ihm angezogen fühlten, war Banks schleierhaft. Vielleicht lag es an seinen langen, dunklen Wimpern.

»Und?«, half ihm Banks auf die Sprünge.

»Und was?«

Banks seufzte. »Fangen wir noch einmal von vorne an, Les. Gehen wir noch einmal zurück und kommen dann hübsch langsam zur Frage. Vielleicht verstehen Sie es dann, okay?«

Les Poole glotzte ihn nur an.

Banks zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort. »Ich bin hierhergekommen, um Sie zu fragen, ob Sie etwas über das Verschwinden der kleinen Gemma wissen. Ist das so – wissen Sie etwas?«

»Sie wurde mitgenommen, mehr weiß ich nicht. Brenda hat es mir erzählt.«

»Wo waren Sie, als es passiert ist?«

»Wie?«

»Wo waren Sie gestern Nachmittag?«

»Hier und da.«

»Und was haben Sie gemacht?«

»Dies und das.«

»Okay. Während Sie also hier und da waren, um dies und das zu tun, sind ein Mann und eine Frau, beide gut gekleidet und wie Beamte aussehend, bei Ihnen zu Hause aufgetaucht, haben behauptet, sie wären Sozialarbeiter, und sich damit Zutritt verschafft und Brenda überredet, ihnen ihre Tochter für Tests und weitere Untersuchungen mitzugeben. Und jetzt interessiert mich, Les, ob Sie irgendetwas darüber wissen.«

Les zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht mein Kind, oder? Was kann ich dagegen machen, wenn sie so bescheuert ist, ihr Kind wegzugeben?«

Der Barkeeper tauchte neben Banks auf und fragte, ob sie noch etwas wünschten.

»Ich nehme ein Pint, Sid«, sagte Les.

»Ach, bringen Sie mir auch eins«, schloss Banks sich an. »Ich habe das Gefühl, ich könnte jetzt eines vertragen.«

Nachdem der Barkeeper das Bier gebracht hatte, das eher nach kaltem Spülwasser als nach anständigem Ale schmeckte, fuhr Banks fort.

»Gut«, meinte er, »wir haben also festgestellt, dass Ihnen das Kind vollkommen gleichgültig ist. Aber das beantwortet meine Frage noch nicht. Wo waren Sie und was ist Ihnen darüber bekannt?«

»Ach, kommen Sie, Mr Banks, es stimmt, dass ich ab und zu mal in der Patsche stecke, aber selbst Sie werden mich doch nicht verdächtigen, so etwas getan zu haben, oder? Was Sie da machen, nennt man Hetzjagd. Nur weil ich eine Vorstrafe habe, glauben Sie, alles auf mich schieben zu können.«

»Werden Sie nicht albern, Les. Noch schiebe ich gar nichts auf Sie. Es fängt schon mal damit an, dass ich mir Sie nicht im Anzug vorstellen kann, und selbst wenn Sie es fertiggebracht haben sollten, irgendwo einen zu klauen, nehme ich an, dass Brenda Sie trotzdem erkannt hätte, oder?«

»Sehr witzig!«

»Gut, machen wir es kurz. Haben Sie irgendeine Ahnung, was passiert ist?«

»Nein.«

»Okay. Nächste Frage: Was haben Sie gestern Nachmittag gemacht?«

»Was hat das denn damit zu tun? Das verstehe ich nicht. Ich meine, wenn Sie mich nicht verdächtigen, spielt es dann eine Rolle, was ich getan habe und wo ich war?«

»Haben Sie einen Job, Les?«

»Ich? Nee.«

»Ich denke, Sie würden es mir auch nicht sagen, wenn Sie einen hätten, oder? Ich könnte es dem Sozialamt erzählen und dann würde Ihre Stütze gekürzt, nicht wahr?«

»Ich habe keinen Job, Mr Banks. Sie wissen doch, wie es heutzutage aussieht bei der Arbeitslosigkeit und allem.«

»Wir befinden uns mittlerweile in den Neunzigern, Les. Maggie hat abgedankt. Die drei Millionen Arbeitslosen gehören der Vergangenheit an.«

»Aber ...«

»Schon gut. Sie haben also keinen Job. Was haben Sie dann getan?«

»Ich habe einem Kumpel geholfen, ein bisschen Trödel wegzuräumen, das ist alles.«

»Schon besser. Sein Name?«

»John.«

»Und wo wohnt er, dieser John?«

»Er hat einen Laden, Gebrauchtwaren, unten in der Rampart Street, beim Oak ...«

»Kenne ich. Sie haben also den Nachmittag mit diesem John verbracht und ihm im Laden geholfen?«

»Stimmt.«

»Ich nehme an, er kann das bestätigen?«

»Wie?«

»Würde er mir sagen, dass Sie bei ihm waren, wenn ich ihn frage?«

»Natürlich.«

»Wo haben Sie den schönen neuen Fernseher und die Stereoanlage her, Les?«

»Was? Die gehören Brenda. Die hat sie schon gehabt, bevor wir uns kennen gelernt haben. Erkundigen Sie sich bei ihr.«

»Ja, ich bin mir sicher, dass sie Sie deckt. Die Sache ist nur – die Geräte sehen nicht besonders alt aus. Und Freitagnacht ist in Fletchers Elektronikkaufhaus eingebrochen worden. Da hat sich jemand mit einem ganzen Lkw voller Stereoanlagen und Fernsehern aus dem Staub gemacht. Haben Sie davon gewusst?«

»Nee, hab ich nicht. Welchen Sinn hat es, wenn wir darüber reden? Ich denke, Sie sind hinter dem Kind her.«

»Ich werfe ein großes Netz aus, Les. Ein großes Netz. Warum hat Brenda so lange gewartet, ehe sie uns angerufen hat?«

»Woher soll ich das wissen? Weil sie eine dumme Kuh ist wahrscheinlich.«

»Sind Sie sicher, dass es nichts mit Ihnen zu tun hatte?«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie hat erzählt, Sie beide hätten Streit gehabt. Vielleicht wollten Sie nicht, dass die Polizei ins Haus kommt und diesen Fernseher sieht oder die neue Stereoanlage.«

»Hören Sie, ich habe Ihnen gesagt ...«

»Ich weiß, was Sie mir gesagt haben, Les. Warum beantworten Sie die Frage nicht? Haben Sie Brenda überredet, so lange mit ihrem Anruf bei uns zu warten?«

Poole schaute weg und sagte nichts.

»Ist Ihnen klar, dass Gemma tot sein könnte?«

Poole zuckte mit den Schultern.

»Ist Ihnen das völlig egal, um Himmels willen?«

»Wie gesagt, es ist nicht mein Kind. Eine verdammte Nervensäge ist die Göre, wenn Sie mich fragen.«

»Haben Sie sie mal geschlagen, Les?«

»Ich? Natürlich nicht. Das ist nicht meine Art.«

»Haben Sie mal erlebt, dass Brenda sie geschlagen hat?«

Poole schüttelte den Kopf. Banks stand auf, blinzelte in sein Glas und beschloss, es erst einmal dabei bewenden zu lassen.

»Ich gehe jetzt, Les«, verkündete er, »aber ich bleibe in Ihrer Nähe. In den nächsten Tagen werden Sie so viel Polizei sehen, dass Sie glauben, Sie wären gestorben und in der Hölle gelandet. Aber ich will, dass auch Sie sich nicht weit entfernen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt? Wir sprechen uns noch.«

Banks verließ das Barleycorn und trat hinaus in den dunklen Herbstabend. Er trug nur ein leichtes Jackett über seinem Hemd, und als er mit einem kläffenden Terrier im Schlepptau zurück zu Brenda Scuphams Haus ging, spürte er die Kälte in der Luft. Hinter den Vorhängen flackerten die Bildschirme der Fernseher, manche Gardinen der Nachbarn waren ein paar Zentimeter zurückgezogen, damit ihnen von der ganzen Aufregung in Nummer vierundzwanzig nur ja nichts entging.

Als er in den Pfad einbog, dachte er an Brenda und das Ungeheuerliche, das sie zugelassen hatte. Er könnte ihr von dem jüngst verabschiedeten Kindergesetz berichten, das Eltern vor übereifrigen Sozialarbeitern schützen sollte, aber ihm war klar, dass er nur einen leeren Blick ernten würde. Außerdem wäre das ungefähr genauso wirkungsvoll wie der Vorschlag, die Stalltür zu verriegeln, nachdem das Pferd ausgebrochen war.

Dann musste er wieder an Les Poole denken und fragte sich, was er wohl zu verbergen hatte. Vielleicht hatte er nur so nervös reagiert, wie jeder Kriminelle bei einer Begegnung mit der Polizei es tun würde. Aber dass er etwas verheimlicht hatte, war an seinen abgehackten, ausweichenden Antworten, seiner nervösen Körpersprache und vor allem an den schuldbewussten Gedanken deutlich geworden, die Banks wie winzige Insekten hinter seinen grauen Augen hatte herumhüpfen sehen.

Kapitel 4

Gristhorpe überlegte, ob er etwas vergessen hatte. Er hatte den stellvertretenden Polizeipräsidenten in Kenntnis gesetzt, er hatte dafür gesorgt, dass die Presse alle notwendigen Informationen erhielt, er hatte ein Observierungsfahrzeug auf einem Stück Brachland am Ende von Brenda Scuphams Straße stationiert, einen Suchplan entworfen, sich um zusätzliche Beamte gekümmert und jemanden damit beauftragt, eine Liste aller bekannten Kinderschänder der Gegend anzufertigen. Außerdem hatte er die knappen Einzelheiten des Tathergangs sowie eine Kopie von Gemmas Foto an das Pädophiliedezernat gefaxt, das vom Polizeirevier in der Vine Street in London aus operierte. Nicht mehr lange und jeder Polizist im Landkreis würde in Alarmbereitschaft sein. Am Morgen würden die Suchtrupps ihre Arbeit aufnehmen. Aber ehe er nicht die neuesten Entwicklungen mit Banks besprochen hatte, konnte er jetzt nichts weiter tun.

Sein Magen knurrte, ihm fiel das Käsesandwich ein, das er unangetastet zu Hause auf dem Tisch liegen gelassen hatte, und auch der Tee, der mittlerweile bestimmt kalt geworden war. Er hinterließ Banks eine Nachricht und ging über die Straße ins Queen’s Arms, wo er Cyril, den Wirt, bat, ihm ein Schinkensandwich zu machen, das er mit einem kleinen Bier herunterspülte.

Ungefähr zehn Minuten lang hatte er an einem der Kupfertische über sein Bier gebeugt dagesessen, ohne die Geräusche und Gespräche um ihn herum wahrzunehmen, als ihn eine Stimme aus seinen düsteren Gedanken riss.

»Störe ich?«

Gristhorpe schaute auf und sah Banks vor sich stehen. »Alles in Ordnung, Alan?«, fragte Gristhorpe. »Du siehst völlig erledigt aus.«

»Bin ich auch«, antwortete Banks, setzte sich und griff nach seinen Zigaretten. »Diese Sache mit Gemma Scupham ...«

»Ja«, sagte Gristhorpe. »Hol dir was zu trinken und dann gehen wir mal alles durch.«

Banks kaufte sich eine Tüte Käse-Zwiebel-Chips und ein Bier, dann erzählte er Gristhorpe von seinem Verdacht gegen Les Poole.

Gristhorpe rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn. »Dann behalten wir ihn besser im Auge«, meinte er. »Aber lass die Zügel locker. Wir haben nichts davon, wenn wir ihn für den Einbruch bei Fletcher verantwortlich machen. Außerdem können wir der armen Frau nicht auch noch den Fernseher aus dem Haus tragen, wenn gerade jemand ihr Kind entführt hat, oder?«

»Einverstanden«, sagte Banks. »Gut. Bisher sind sechs Leute mit der Befragung der Nachbarn beschäftigt, einschließlich Phil und Susan. Immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass jemand den Wagen gesehen hat.«

»Was ist mit der Mutter? Wer ist bei ihr?«

»Susan blieb eine Weile da, dann hat sie Mrs Scupham angeboten, eine Beamtin vorbeizuschicken, aber das wollte sie nicht. Ich glaube, weder sie noch Les fühlen sich in der Nähe der Polizei wohl. Egal, jetzt ist eine Freundin bei ihr.«

»Es ist wahrscheinlich am besten, wenn wir mit dem Naheliegenden anfangen, oder?«, meinte Gristhorpe. »Nimmst du der Mutter ihre Geschichte ab?«

Banks trank einen Schluck Bier. »Eigentlich schon. Sie schien wirklich geschockt zu sein. Außerdem halte ich sie nicht für so helle, sich eine solche Geschichte auszudenken.«

»Ach, ich bitte dich, Alan. Dazu braucht man nicht viel Fantasie. Sie könnte die Kleine geschlagen, die Kontrolle verloren und sie getötet haben. Oder Poole. In diesem Fall hätten sie die Leiche dann verschwinden lassen und diese Lügengeschichte erfunden.«

»Ja, könnte sein. Ich sage nur, dass mir diese Geschichte etwas zu kompliziert vorkommt. Es wäre doch wesentlich einfacher gewesen zu behaupten, Gemma sei verschleppt worden, während sie draußen gespielt hat, statt eine Beschreibung von zwei Leuten zu erfinden und dabei das Risiko einzugehen, dass es uns merkwürdig vorkommt, dass niemand die beiden auf der Straße gesehen hat, oder? In der Gegend sieht und hört jeder alles. Aber wie auch immer, ich habe die Beamten das Haus zweimal gründlich durchsuchen lassen und sie haben nichts gefunden. Jetzt ist die Spurensicherung an der Reihe. Wenn Gemma im Haus verletzt und dann irgendwohin gebracht worden ist, dann finden die es heraus.«

Gristhorpe seufzte. »Eine Entführung können wir wohl ausschließen, oder?«

»Brenda Scupham besitzt kein Geld. Möglicherweise trickst sie das Sozialamt aus und kriegt mehr, als ihr zusteht, aber damit ist sie noch lange keine Mrs Rothschild.«

»Was ist mit dem Vater? Käme ein Kampf um die Vormundschaft infrage? Vielleicht hat er jemanden angeheuert, um Gemma für ihn zu kidnappen.«

Banks schüttelte den Kopf. »Laut Brenda zeigt er keinerlei Interesse an dem Kind, und das schon seit Jahren. Aber wir suchen ihn.«

Gristhorpe wedelte eine Rauchwolke weg. »Mir gefallen die anderen Möglichkeiten nicht.«

»Mir auch nicht, aber wir müssen uns damit befassen. Erinnerst du dich an diese Geschichten, die vor einer geraumen Weile passiert sind? Ein paar Pädophile hatten sich als Sozialarbeiter ausgegeben und verlangt, die Kinder wegen des Verdachts auf Missbrauch zu untersuchen.«

Gristhorpe nickte.

»Glücklicherweise haben die meisten Eltern sie weggeschickt«, fuhr Banks fort. »Aber angenommen, sie hätten dieses Mal Erfolg gehabt?«

»Ich habe die Beschreibungen mit den Gruppen verglichen, die damals beteiligt waren«, berichtete Gristhorpe, »und sie passen nicht zusammen. Aber du hast Recht. Wir müssen das in Betracht ziehen. Vielleicht sind es Trittbrettfahrer, die davon in der Zeitung gelesen haben. Und außerdem dürfen wir diesen Ritualkram nicht vergessen.«

Vor nicht langer Zeit waren die Zeitungen voll gewesen von Geschichten über rituellen Kindesmissbrauch, der oft satanische Elemente beinhaltete. In Cleveland, Nottingham, Rochdale und auf den Orkneyinseln waren Kinder nach Hinweisen auf eben solchen Missbrauch – der Folter, Verhungern, Demütigungen und sexuelle Belästigung einschloss – in Obhut genommen worden. Niemand hatte wirklich handfeste Beweise auf den Tisch legen können; tatsächlich glaubten die meisten Leute, dass die Kinder eher vor den Sozialarbeitern geschützt werden müssten, aber die Gerüchte waren beunruhigend genug gewesen. Und Gristhorpe machte sich nicht vor, dass solche Dinge in Eastvale nicht passieren könnten. So etwas war überall möglich.

Dass mittlerweile auch draußen in den Dales Satanisten ihr Unwesen trieben, stand außer Frage. Erst vor kurzem hatte es Ärger mit ihnen gegeben, als einheimische Bauern sich beschwert hatten, weil sie in kleinen Wäldchen und Gräben rituell geschlachtete Schafe gefunden hatten. Zwischen Schafen und Kindern bestand natürlich ein großer Unterschied, genauso wie zwischen Satanismus und Hexenkult. Gristhorpe besaß seit Jahren Informationen über einheimische Hexenversammlungen. Sie setzten sich zum größten Teil aus unterdrückten Ehemännern und gelangweilten Hausfrauen zusammen, die auf der Suche nach einer abendlichen Frivolität nackt durch den Wald tanzten. Aber die Satanisten waren ein anderes Kaliber. Wenn sie nicht davor zurückschreckten, Schafe zu töten und ihr Blut zu trinken, was sollte ihnen dann noch Einhalt gebieten?

»Aber du weißt, woran ich vor allem denke, nicht wahr, Alan?« Banks war einer der wenigen, denen Gristhorpe von seiner Mitwirkung an dem nun schon lange zurückliegenden Fall der Moor-Mörder erzählt hatte und der deshalb auch wusste, dass ihn diese Geschichte immer noch verfolgte.

Banks nickte.

»Wir haben es hier natürlich mit einer anderen Vorgehensweise zu tun. Brady und Hindley haben ihre Opfer von der Straße weg entführt. Aber dafür könnte es Gründe geben. Der Paar-Aspekt beschäftigt mich. Ein Mann und eine Frau. Ich weiß, dass es damals eine Menge Diskussionen darum gegeben hat, inwieweit Myra Hindley letztlich beteiligt gewesen war, aber es gab keinen Zweifel daran, dass sie gemeinsam agierten. Nenn es, wie du willst – vielleicht eine Art psychotische Symbiose –, aber ich wette, dass einer ohne den anderen diese Verbrechen nicht begangen hätte. Für sich allein waren sie Niemande, die in einer Fantasiewelt lebten, aber gemeinsam vollzogen sie den Schritt von der Verehrung Hitlers über Pornografie bis zum Mord. Hindley fungierte als Katalysator, um Bradys Fantasien in die Realität umzusetzen, und er lebte diese Fantasien aus, um sie zu beeindrucken und Macht über sie auszuüben. Himmel, Alan, wenn Gemma Scupham in die Hände eines solchen Paares geraten ist – dann Gnade ihr Gott.« Erneut erinnerte sich Gristhorpe an das Band, daran, wie Lesley Ann gefleht hatte: »Bitte, nicht ausziehen!«, daran, wie Brady zu ihr sagte: »Wenn du die Hand nicht da unten lässt, schlitze ich dir den Hals auf.« Und an dieses andere grausige Detail, den Kinderchor, der die ganze Zeit im Hintergrund Lieder sang.

»Wir wissen es nicht«, sagte Banks. »Bisher wissen wir noch überhaupt nichts.«

Gristhorpe rieb sich die Stirn. »Ja, du hast Recht. Es hat keinen Sinn, voreilige Schlüsse zu ziehen. Es gibt auch noch die Möglichkeit, dass es ein armes, junges, kinderloses Paar war, das im Wunsch nach einem eigenen Kind einfach zu weit gegangen ist.« Er schüttelte den Kopf. »Auch nicht sehr überzeugend, oder? Wenn sie das Kind aus Liebe mitgenommen haben, wie können sie dann den Schmerz der Mutter in Kauf nehmen? Bei so viel Schuld können sie doch gar nicht glücklich werden. Und ich bezweifle, dass sie imstande wären, so ein Geheimnis lange für sich zu behalten.«

»Ich habe Phil gefragt, ob er uns bei diesem Fall mit HOLMES weiterhelfen kann«, berichtete Banks. »Erinnerst du dich an den Lehrgang, den er besucht hat?«

Gristhorpe nickte. HOLMES war ein Computersystem, das die Ermittlungsarbeit unterstützen und erleichtern sollte. Entwickelt im Laufe der Jagd nach dem Yorkshire-Ripper, erlaubte HOLMES im Wesentlichen einen Zugriff auf alle Berichte, die aus einer Ermittlung stammten, und somit die Erstellung einer vergleichenden Datenbank. Auf diese Weise konnten ein Schlüsselwort oder ein Schlüsselsatz genauer als früher in bisher nicht miteinander in Beziehung gebrachten Dateien ausfindig gemacht werden.

Aber weiter konnte Gristhorpe nicht folgen. Der Rest war wie die meisten Gespräche über Computer Chinesisch für ihn. Tatsächlich weckten die bloße Erwähnung von Megabytes und DOS starke Aversionen in ihm. Dennoch unterschätzte er den Wert der Computer nicht. Eine Ermittlung wie diese würde eine Menge Papierkram erzeugen und jede Aussage, jeder Bericht, egal wie minderwertig oder nutzlos er auch erschien, würde zur Verfügung stehen und mit anderen verglichen werden müssen. Er wollte keine Pannen wie bei der Ermittlung im Falle des Yorkshire-Rippers, wo die linke Hand anscheinend nicht gewusst hatte, was die rechte gerade tat.

»Phil meint, er hätte gerne Computer im Observierungsfahrzeug«, fügte Banks hinzu. »Dann könnten die Beamten gleich alles auf Diskette speichern und an ihn weitergeben, ohne dass es noch einmal abgetippt werden muss.«

»Ich schaue mal, was ich machen kann. Sonst noch Ideen?«

»Nur ein paar. Ich würde mich gerne mit der Lehrerin des Mädchens unterhalten, vielleicht kann ich so noch mehr über sie herausfinden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es irgendeine Art von Misshandlung gegeben hat. Poole und Brenda leugnen das zwar, aber nicht besonders überzeugend.«

Gristhorpe nickte. »Weiter.«

»Und ich denke, wir sollten Jenny Fuller hinzuziehen. Sie könnte uns zumindest ein paar Hinweise geben, nach was für Menschen wir eigentlich zu suchen haben.«

»Dem kann ich nur zustimmen«, antwortete Gristhorpe. Er mochte Jenny Fuller. Sie war nicht nur eine kompetente Psychologin, die ihnen schon früher bei ungewöhnlichen Fällen geholfen hatte, es war auch eine Freude, sie in der Nähe zu haben. Ein wirklich prächtiges Mädel, wie Gristhorpes Vater sich ausgedrückt hätte.

»Sollen wir Jim Hatchley von der Küste zurückbeordern?«, fragte Banks.

Gristhorpes Miene verfinsterte sich. »Möglich, dass noch eine Zeit kommt, wo wir ihn brauchen. Aber bisher geht es auch ohne ihn.« Detective Sergeant Hatchley war in einen Außenposten der Kriminalpolizei an die Küste von Yorkshire versetzt worden, und zwar größtenteils, um Platz zu machen, damit Philip Richmond befördert werden konnte. Gristhorpe hatte für Hatchley nie viel übrig gehabt, musste aber widerwillig zugeben, dass er seine Qualitäten hatte. Seiner Ansicht nach war er ein fauler, unflätiger, voreingenommener Kerl, aber sein Kopf arbeitete einigermaßen zufrieden stellend, wenn er sich einmal die Mühe machte, ihn zu benutzen. Außerdem hatte er eine ganze Reihe schmutziger Tricks auf Lager, die oft ohne große Umwege zu guten Ergebnissen führten.

Banks leerte sein Glas. »Sonst noch was?«

»Im Augenblick nicht. Morgen früh werden wir uns gleich als Erstes zusammensetzen und sehen, was sich ergeben hat. Geh lieber nach Hause und schlaf ein bisschen.«

Banks knurrte. »Ich kann vorher auch noch ein Pint trinken. In letzter Zeit ist sowieso nie jemand zu Hause.«

»Wo ist denn Sandra?«

»Im Gemeindezentrum, sie organisiert immer noch diese Ausstellung für einheimische Künstler. Ich wette, sie verbringt mehr Zeit dort als zu Hause. Und Tracy ist im Kino mit ihrem neuen Freund.«

Der besorgte Unterton in Banks’ Stimme war Gristhorpe nicht entgangen. »Mach dir keine Gedanken um sie, Alan«, erwiderte er. »Tracy ist ein vernünftiges Mädchen. Sie kann auf sich selbst aufpassen.«

Banks seufzte. »Das hoffe ich.« Er deutete auf Gristhorpes leeres Glas. »Trinkst du auch noch was?«

»Warum nicht? Dann kann ich besser schlafen.«

Während Banks an die Theke ging, dachte Gristhorpe an die Nacht, die vor ihm lag. Er würde nicht nach Hause fahren. Seit Jahren hatte er im Lagerraum des Reviers ein Feldbett für Notfälle wie diesen deponiert. Heute Nacht, und vielleicht auch die folgenden zwei oder drei Nächte, würde er in seinem Büro übernachten. Aber er glaubte nicht, dass er viel Schlaf bekäme. Nicht, bis er herausgefunden hatte, was mit Gemma Scupham passiert war.

TEIL ZWEI

Kapitel 5

Früh am nächsten Morgen stand Banks mit den Milchflaschen in der Hand auf der Türschwelle seines Hauses und atmete die frische Luft ein. Es war ein herrlicher Tag: nicht eine Wolke am hellblauen Himmel und kaum Wind. Er konnte den Torfrauch in der Luft riechen, der die kühle Herbstatmosphäre zu verstärken schien und ein erster Vorbote des nahenden Winters war. Ein idealer Tag, um eine Wanderung durch die Dales zu unternehmen; das Wetter würde Dutzende Touristen in die Umgebung von Eastvale locken.

Er ging hinein und stellte die Milch in den Kühlschrank. Er konnte hören, wie Tracy oben ihre Morgendusche nahm und Sandra im Schlafzimmer hantierte und sich anzog. Als er gestern aus dem Queen’s Arms zurückgekehrt war, hatten sie noch einen schönen Abend zusammen verbracht. Sandra war vor ihm nach Hause gekommen, und bevor sie ins Bett gegangen waren, hatten sie noch einen Schlummertrunk genommen und eine Ella-Fitzgerald-CD aufgelegt, die sie ihm zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Tracy kam pünktlich nach Hause, recht vergnügt, und Banks vermochte keine Veränderung zum Schlechten an ihr festzustellen, die er ihrem Freund, Keith Harrison, hätte zuschreiben können. Trotzdem, fand er, als er sich jetzt eine Tasse Kaffee einschenkte, hatte sich das häusliche Leben im Laufe des Sommers gehörig gewandelt.

Zum einen hatte Brian das Elternhaus verlassen, um am Polytechnikum in Portsmouth Architektur zu studieren. So sehr sie in den letzten Jahren auch aneinandergeraten waren, vor allem wegen ihres unterschiedlichen Musikgeschmacks und der Frage, wie lange Brian wegbleiben durfte – Banks vermisste ihn. Zurück blieb Tracy, die mittlerweile so erwachsen war, dass er sie kaum noch kannte: Sie trug ihr blondes Haar kurz geschnitten und fransig und war verrückt nach Jungen, Make-up, Klamotten und Popmusik.

Sie schienen kaum noch miteinander zu reden, ihm fehlten diese Gespräche über Geschichte, ihre frühere Leidenschaft, besonders die Momente, wenn er ihr in dem einen oder anderen Punkt etwas beibringen konnte. Sein Mangel an solider Allgemeinbildung hatte Banks immer ein Gefühl der Unsicherheit gegeben und deshalb war er sich durch Tracys Fragen oft nützlich vorgekommen. Aber er hatte weder von Popgruppen, die gerade »in« waren, noch von Mode und Kosmetik eine Ahnung.

Und Sandra hatte sich ganz von ihrer Arbeit vereinnahmen lassen. Als er seinen Toast butterte, ermahnte er sich im Stillen, nicht so egoistisch zu sein und mit diesem Selbstmitleid aufzuhören. Nach so vielen Jahren, die sie zum Wohle der Familie und für seine Karriere geopfert hatte, tat sie nun das, was sie wollte, und engagierte sich für die Kunst. Wenn er keine unabhängige, temperamentvolle und kreative Frau gewollt hätte, dann hätte er sie nicht heiraten dürfen. Trotzdem machte er sich Sorgen. Sehr oft kam sie nun spät heim und manch einer der hiesigen Künstler war ein gutaussehender, junger Teufel mit dem Ruf eines Casanovas. Außerdem waren diese Kerle vermutlich freizügiger, als er es war, und hatten zweifellos eine unkonventionelle Einstellung zum Sex.

Vielleicht fand ihn Sandra mittlerweile langweilig und suchte sich die erotische Spannung woanders. Mit ihren achtunddreißig Jahren war sie eine schöne Frau: Ihre langen blonden Haare bildeten einen interessanten Kontrast zu ihren dunklen Brauen über den intelligenten blauen Augen. Nach ihrer schlanken, wohlproportionierten Figur, die sie sich durch hartes Training erhalten hatte, drehte man sich um. Wieder ermahnte er sich, nicht solch ein Dummkopf zu sein. Es war sicherlich die Arbeit, die ihre Zeit in Anspruch nahm, nicht ein anderer Mann.

Als er seinen Kaffee getrunken und seinen Toast gegessen hatte, waren Sandra und Tracy immer noch nicht heruntergekommen. Er rief laut »Auf Wiedersehen« nach oben, zog sein dunkelgraues Sportjackett an, klopfte auf die Seitentasche, um sich zu vergewissern, dass er seine Zigaretten und das Feuerzeug bei sich hatte, und brach auf. Weil es ein so schöner Morgen war und er wusste, wie schnell das Wetter umschlagen konnte, beschloss er, die zwei Kilometer ins Polizeirevier zu Fuß zu gehen. Wenn er einen Wagen brauchen sollte, konnte er jederzeit einen Dienstwagen nehmen.

Er steckte den Walkman in die Tasche und schaltete ihn ein. Ivor Gurneys Vertonung von »In Flandern« begann: »Ich habe wieder Heimweh nach meinen Bergen – nach meinen Bergen!« Banks war durch eine Anthologie von Gedichten aus dem Ersten Weltkrieg auf Gurney aufmerksam geworden, hatte dann erfahren, dass er auch Komponist gewesen war, und nach seiner Musik gesucht. Viel war nicht erhältlich, nur ein paar Lieder – Vertonungen von Gedichten anderer Autoren –, außerdem ein wenig Klaviermusik; aber Banks fand ihre Kargheit und Einfachheit äußerst bewegend.

Als er die Market Street entlangging, grüßte er die Ladenbesitzer, die gerade ihre Markisen herunterließen, und kaufte im Zeitungsladen eine Ausgabe des Independent. Im Weitergehen warf er einen kurzen Blick auf die Titelseite und entdeckte Gemma Scuphams Foto sowie einen kurzen Aufruf an die Bevölkerung mit der Bitte um Mithilfe. Gut, sie hatten schnell reagiert.

Als er auf den Marktplatz kam, kletterte bereits die erste Touristenfamilie aus dem Wagen; der Vater hatte eine Kamera um den Hals und die Kinder steckten in orangen und gelben Windjacken. An einem solchen Tag war es schwer zu glauben, dass irgendwo in den Dales möglicherweise ein totes siebenjähriges Kind lag.

Banks ging geradewegs in das Konferenzzimmer im ersten Stock des Reviers. Es war der größte Raum, mit einem polierten, ovalen Tisch in der Mitte, um den zehn harte Stühle standen. Dass tatsächlich zehn Leute hier saßen, kam allerdings selten vor, und an diesem Morgen waren es außer Banks nur noch Superintendent Gristhorpe, Susan Gay und Phil Richmond. Banks schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne am Fenster ein und nahm Platz. Er war ein paar Minuten zu früh gekommen, die anderen unterhielten sich noch ungezwungen; Blöcke und Stifte lagen vor ihnen.

Zuerst ließ Gristhorpe einen Stapel Zeitschriften auf den Tisch fallen und bat alle Anwesenden, einen Blick hineinzuwerfen. Sämtliche nationale Tageszeitungen hatten Gemma Scuphams Verschwinden für würdig befunden, um darüber zu berichten, so auch die Yorkshire Post. In manchen Gazetten war ihr sogar die Schlagzeile gewidmet worden. Das Foto des ernst dreinschauenden kleinen Mädchens mit dem zerzausten blonden Haar erschien unter Überschriften wie: HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN? Die Artikel enthielten kaum Einzelheiten, was Banks kaum überraschte, denn es waren ja leider auch nur wenige bekannt. Ein paar Texte deuteten Kritik an Brenda Scupham an, aber verleumderisch war keiner. Die meisten zeigten Mitgefühl mit der Mutter.