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Eine Kleinstadt auf der verzweifelten Suche nach Gerechtigkeit … Der Nebel hängt schwer und kalt über dem Friedhof, auf dem die Leiche der 16-jährigen Deborah Harrison gefunden wird. Die Bevölkerung der beschaulichen Kleinstadt Eastvale sinnt auf Rache und schnell wird ein Verdächtiger aufgegriffen und vor Gericht gezerrt. Doch Inspector Alan Banks sieht die Lücken in der Beweisführung seiner Vorgesetzten – Lücken, die er selbst zu schließen sucht: Ein Priester, der wegen sexueller Belästigung bezichtigt wurde; – ein halbstarker Kleinkrimineller, der Deborah bedroht hat – und die Geheimnisse der vermögenden und einflussreichen Harrison-Familie … »Eine herausragende Leistung von einem der Meister des britischen Ermittlerkrimis …« Kirkus Reviews Abgründige Spannung für Fans von Nicci French – alle Bände der »Yorkshire-Morde«-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 620
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Der Nebel hängt schwer und kalt über dem Friedhof, auf dem die Leiche der 16-jährigen Deborah Harrison gefunden wird. Die Bevölkerung der beschaulichen Kleinstadt Eastvale sinnt auf Rache und schnell wird ein Verdächtiger aufgegriffen und vor Gericht gezerrt. Doch Inspector Alan Banks sieht die Lücken in der Beweisführung seiner Vorgesetzten – Lücken, die er selbst zu schließen sucht: Ein Priester, der wegen sexueller Belästigung bezichtigt wurde; ein halbstarker Kleinkrimineller, der Deborah bedroht hat – und die Geheimnisse der vermögenden und einflussreichen Harrison-Familie …
Über den Autor:
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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eBook-Neuausgabe Mai 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »Innocent Graves« bei Berkeley Prime Crime, New York.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1996 by Peter Robinson
Published by arrangement with Peter Robinson
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-749-2
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Peter Robinson
Der unschuldige Engel
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Andree Hesse
dotbooks.
WIDMUNG
DANKSAGUNG
TEIL EINS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
TEIL ZWEI
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
TEIL DREI
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
TEIL VIER
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
TEIL FÜNF
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
TEIL SECHS
Kapitel 21
Kapitel 22
TEIL SIEBEN
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
TEIL ACHT
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
TEIL NEUN
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
TEIL ZEHN
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
TEIL ELF
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
TEIL ZWÖLF
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
TEIL DREIZEHN
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
TEIL VIERZEHN
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
TEIL FÜNFZEHN
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
TEIL SECHZEHN
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
TEIL SIEBZEHN
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
TEIL ACHTZEHN
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
TEIL NEUNZEHN
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
TEIL ZWANZIG
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
LESETIPPS
Für Sheila
Vor allem möchte ich einigen Leuten dafür danken, das Manuskript in seinen verschiedenen Fassungen gelesen und kommentiert zu haben: meinem Agenten Dominick Abel, Cynthia Good von Penguin Books Canada, Natalee Rosenstein von Berkley sowie meiner Lektorin Mary Adachi.
Außerdem möchte ich meinen Dank für die fachliche Hilfe aussprechen, die ich von verschiedenen Seiten erhalten habe. Dank, wie immer, an Detective Sergeant Keith Wright von der Nottinghamer Kriminalpolizei, der meine mitunter dummen Fragen mit der ihm eigenen Mischung aus Geduld und Humor beantwortete. Dank gebührt ferner Pamela Newall vom Zentrum für Gerichtsmedizin, die mich davor bewahrte, in Sachen der DNA vollkommen blauäugig zu sein, Paul Bennett für die kritische Lektüre der Gerichtsszenen, John Halladay für weiterführende Informationen zu der juristischen Verfahrensweise sowie Dr. Marta Townsend für ihre Erklärungen zur »Affektübertragung«.
Darüber hinaus möchte ich mich besonders bei Elly Pacey und Nancy Galic für die kroatischen Schimpfwörter und bei Emily Langran für nützliche Tipps in Bezug auf die Umgangssprache der Yorkshirer Schulmädchen bedanken. Und schließlich bin ich John Irvine zu Dank verpflichtet, meinen Computer trotz gelegentlicher Pannen am Laufen gehalten zu haben.
Für alle Fehler bin wie üblich ausschließlich ich selbst verantwortlich, sie wurden einzig und allein zum Wohle der erzählten Geschichte begangen.
In der Nacht, in der alles begann, zog dichter Nebel talabwärts und hüllte die Stadt Eastvale in einen undurchdringlichen Schleier. Nebel kroch auf dem Marktplatz durch die Spalten zwischen dem Kopfsteinpflaster, Nebel dämpfte den Klang des Gelächters aus dem Queen’s Arms und das Licht durch die roten und bernsteinfarbenen Scheiben, Nebel benetzte das kalte Glas verhangener Fenster und suchte sich seinen Weg durch die schmalen Schlitze unter den Türen.
Am dichtesten aber schien der Nebel auf dem Friedhof der St.-Mary’s-Kirche zu sein, über den eine schöne Frau mit langem rotbraunem Haar wandelte, barfuß und betrunken, die unsicher ein Weinglas mit Pinot noir in der Hand balancierte.
Sie schlingerte zwischen den gedrungenen, knorrigen Eiben und den mit Moos bedeckten Grabsteinen hindurch. Manchmal glaubte sie Gespenster zu sehen, graue, durchsichtige Gestalten, die durch die Grabmale vor ihr huschten. Aber sie machten ihr keine Angst.
Dann kam sie zum Mausoleum der Inchcliffes.
Gigantisch und prachtvoll ragte es im Nebel vor ihr auf: klassische, in Marmor geformte Linien, mit Unkraut überwucherte Stufen, die hinab zu der schweren Eichentür führten.
Aber sie war gekommen, um den Engel zu besuchen. Sie mochte den Engel. Als wäre nichts Irdisches von Bedeutung, waren seine Augen gen Himmel gerichtet, seine Hände zum Gebet gefaltet. Obwohl er aus massivem Marmor bestand, dachte sie oftmals, er wäre so durchlässig, dass sie ihre Hand hindurchstecken könnte.
Sie schwankte leicht, prostete dem Engel zu und trank den Wein mit einem Schluck aus. Unter ihren Füßen konnte sie das kalte, feuchte Gras auf dem Boden fühlen.
»Hallo, Gabriel!«, sagte sie lallend. »Tut mir leid, aber ich habe schon wieder gesündigt.« Sie musste aufstoßen und legte eine Hand vor den Mund, »’tschuldigung, aber ich glaube, ich kann einfach nicht ...«
Dann sah sie etwas, ein schwarz-weißes Etwas, das hinter dem Mausoleum hervorragte. Neugierig kniff sie ihre Augen zusammen und stolperte darauf zu. Erst als sie nur noch gut einen Meter davon entfernt war, bemerkte sie, dass es sich um einen schwarzen Schuh und einen weißen Strumpf handelte. Und da drin steckte ein Fuß.
Mit einer Hand vor dem Mund taumelte sie zurück und ging dann im großen Bogen um das Grabmal herum. Alles, was sie erkennen konnte, waren die blassen Beine, das blonde Haar, der geöffnete Ranzen und die kastanienbraune Uniform der Mädchenschule von St. Mary’s.
Sie schrie auf und ließ ihr Glas fallen. Es zersprang auf einem Stein.
Dann fiel Rebecca Charters, die Frau des Pfarrers von St. Mary’s, mit ihren Knien auf die Glasscherben und musste sich übergeben.
Der Nebel schmeckte nach Asche, fand Detective Inspector Alan Banks, während er den Kragen seines Regenmantels hochschlug und den asphaltierten Weg zu dem schwachen, verschleierten Licht hinabeilte. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Obwohl er die Leiche noch nicht gesehen hatte, spürte er bereits, wie sich auf vertraute Weise sein Magen zusammenzog, was jedes Mal bei einem Mordfall passierte.
Als er den Tatort gleich neben dem schmalen Kiesweg hinter einem Gebüsch erreichte, sah er durch die aufgestellte Leinwand die schemenhafte Silhouette von Dr. Glendenning, die sich wie in einer Pantomime in einem jakobinischen Drama über eine auf dem Boden liegende, verschwommene Gestalt beugte.
Der Nebel hatte die übliche Reihenfolge, in der die verschiedenen Zuständigen am Tatort erscheinen, völlig durcheinandergebracht. Banks selbst war bei einem Treffen leitender Polizeibeamter in Northallerton gewesen, als ihn der Anruf erreichte, und folglich fast der Letzte, der eintraf. Peter Darby, der Polizeifotograf, war bereits vor Ort, ebenso Detective Inspector Barry Stott, der aus Gründen, die jedem sofort einleuchteten, der ihn sah, weithin als »Segelohr« bekannt war. Stott, der nach seiner Beförderung vom Detective Sergeant jüngst von Salford nach Eastvale versetzt worden war, ersetzte zeitweilig Detective Sergeant Philip Richmond, der zu Scotland Yard in eine spezielle Computereinheit gewechselt war.
Banks holte tief Luft und ging hinter die Leinwand. Dr. Glendenning schaute auf, eine Zigarette baumelte in seinem Mundwinkel, deren Rauch sich nicht von dem Nebel unterscheiden ließ, der die beiden umgab.
»Ah, Banks ...«, sagte er mit seinem singenden Edinburgher Tonfall und schüttelte dann langsam den Kopf.
Banks schaute hinab auf die Leiche. In all seinen Jahren in Eastvale hatte er es mit keinem vergleichbaren Verbrechen zu tun gehabt. In London hatte er natürlich schon Schlimmeres gesehen, was teilweise der Grund gewesen war, seinen Dienst bei der Polizei der Hauptstadt zu quittieren und sich in den Norden versetzen zu lassen. Aber mittlerweile konnte man sich nicht mehr davor verstecken. Nirgendwo. George Orwell hatte Recht, wenn er die Verkommenheit der englischen Gesellschaft anprangerte, und dieser Mordfall zeigte, zu was sie verkommen war.
Das Mädchen, dem Aussehen nach ungefähr fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, lag auf dem Rücken im hohen Gras hinter einer gewaltigen, viktorianischen Grabstätte, auf der die Marmorstatue eines Engels thronte. Der Engel hatte ihr den Rücken zugewandt, durch den Nebel konnte Banks die angeschlagenen Federn seiner Flügel erkennen.
Ihre Augen starrten in den Nebel, ihr langes blondes Haar lag um ihren Kopf aufgefächert wie ein Heiligenschein und ihr Gesicht hatte eine rosarote Farbe. Neben ihrem linken Auge war ein kleiner Schnitt, die Haut um ihren Hals war etwas verfärbt. Ein Tropfen Blut in Form einer großen Träne lief aus ihrem linken Nasenloch.
Ihr kastanienbrauner Schulblazer lag aufgebauscht auf dem Boden neben ihr, ihre weiße Bluse war vorne aufgerissen und der Büstenhalter dann entfernt worden – mit Gewalt, wie es den Anschein hatte.
Banks hatte das Bedürfnis, sie zudecken zu wollen. In seinem Beruf hatte er schon mehr gesehen, als einem Menschen guttat, und es waren solche Kleinigkeiten, die ihn manchmal mehr berührten als Blut und Gedärme. Das Mädchen sah so verwundbar aus, so gefühllos verletzt. Er konnte sich ihre Scham vorstellen, derartig entblößt worden zu sein, konnte sich vorstellen, wie sie erröten und sich schnellstens bedecken würde, wäre sie noch am Leben. Aber jetzt gab es für sie keine Schamgrenze mehr.
Unterhalb der Taille hatte jemand ihren Rock hochgeschoben, um ihre Oberschenkel und ihren Schambereich zu entblößen. Ihre langen Beine waren in einem Fünfundvierziggradwinkel geöffnet. Ihre weißen Strümpfe waren auf die Knöchel hinabgerutscht. Sie trug glänzende schwarze Schuhe, die mit Schnallen an der Seite verschlossen waren.
Neben ihr lag ein geöffneter Ranzen. Auf der einen Seite hatte sich der Riemen aus dem Metallring gelöst. Mit Hilfe eines Stiftes schob Banks die Klappe zurück und las die sorgfältig geschriebene Adresse:
Miss Deborah Catherine Harrison
28 Hawthorn Close
Eastvale
North Yorkshire
England
Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland Europäische Gemeinschaft
Erde
Sonnensystem
Milchstraße
Universum
Er musste traurig lächeln. Das war die typische Verspieltheit eines Teenagers, genau das Gleiche hatte er während seiner Schulzeit getan.
Was gemeinhin für St. Mary’s galt, traf auch auf Hawthorn Close zu: Hier wohnten keine armen Leute. Es war eine wohlhabende Gegend mit stattlichen Häusern, vor allem Einfamilienhäusern, jedes von einem vier- bis achttausend Quadratmeter großen Grundstück umgeben, mit einer langen Auffahrt und einem von Rotbuchen gesäumten Zierrasen. Um dort zu leben, musste man mindestens genug Geld verdienen, um einen Gärtner beschäftigen zu können. Auch die St.-Mary’s-Schule kostete Geld – ungefähr 1200 Pfund pro Halbjahr. Als Banks nach Eastvale gezogen war, hatte er sich erkundigt, jedoch schnell festgestellt, dass er es sich nicht leisten konnte, seine Tochter Tracy dort einzuschulen.
Banks ließ sich von einem Beamten der Spurensicherung ein paar Plastikbeutel für Beweismaterial geben, nahm den Ranzen vorsichtig an den Seiten hoch und kippte den Inhalt in einen der Beutel. Alles, was er fand, waren ein paar Schulbücher, auf deren Einband der Name »Deborah Catherine Harrison« geschrieben stand, ein kleines Schachspiel, einige Kosmetikartikel sowie drei lose, in Cellophan verpackte Tampons. Aber warum war der Ranzen offen gewesen?, fragte er sich. Die Schnallen machten einen stabilen Eindruck; er bezweifelte, dass sie sich bei einem Kampf geöffnet hatten. Hatte jemand nach etwas gesucht?
Glendenning beauftragte einen seiner Assistenten, orale, vaginale und anale Abstriche zu machen und Proben vom Schamhaar zu nehmen. Dann stand er mit einem Stöhnen auf. »Ich werde alt, Banks«, sagte er und massierte seine Knie. »Zu alt für solche Sachen.« Er deutete mit dem Kopf auf die Leiche. Groß und weißhaarig, mit einem vom Nikotin verfärbten Schnurrbart, war der Doktor wahrscheinlich Ende fünfzig, vermutete Banks.
Sie entfernten sich ein Stück, so dass die Leinwand ihnen den Blick auf die Leiche versperrte. Wiederholt blitzte Peter Darbys Blitzlicht auf und schuf im Nebel den Effekt eines Strobolichtes. Banks nahm eine von Glendennings Senior Service. Normalerweise rauchte er Silk Cut Filter, aber in den letzten Monaten hatte er seinen Nikotinkonsum drastisch gesenkt und jetzt nicht einmal eine Schachtel dabei. Tja, dachte er, während Glendenning ihm ein goldenes, mit seinen Initialen versehenes Feuerzeug reichte, in dem vergangenen lauen Sommer ohne Mordermittlungen war es ihm nicht schwergefallen, weniger zu rauchen. Jetzt aber war November und vor seinen Füßen lag eine Leiche. Er zündete die Zigarette an und hustete.
»Sie sollten sich wegen des Hustens mal untersuchen lassen, mein Junge«, sagte Glendenning. »Könnte ein erstes Anzeichen für Lungenkrebs sein.«
»Es ist nichts. Ich kriege nur eine Grippe, das ist alles.«
»Ach so ... Also, ich nehme an, Sie haben mich nicht nur raus in diese lausige Nacht geschleppt, um über Ihre Gesundheit zu reden, oder?«
»Nein«, sagte Banks. »Was halten Sie davon?«
»Viel kann ich noch nicht sagen, aber in Anbetracht der Hautverfärbung und der Spuren am Hals würde ich sagen: Asphyxie durch Erdrosseln mit einem Strangwerkzeug.«
»Gibt es einen Hinweis auf das Strangwerkzeug?«
»Nun, der Riemen vom Ranzen passt ziemlich gut.«
»Was ist mit der Todeszeit?«
»Noch nicht feststellbar.«
»Ungefähr?«
»Es ist nicht länger als zwei oder drei Stunden her. Aber das sollte vorläufig unter uns bleiben.«
Banks schaute auf seine Uhr. Acht Uhr am Abend. Das bedeutete, dass sie wahrscheinlich zwischen fünf und sechs getötet worden war. Also war sie nicht auf ihrem Heimweg von der Schule gewesen. Auf jeden Fall nicht auf direktem Wege.
»Wurde sie hier getötet?«
»Ja. Ziemlich sicher. Die Hypostase stimmt völlig mit der Position der Leiche überein.«
»Ist die restliche Unterwäsche gefunden worden?«
Glendenning schüttelte den Kopf. »Nur der Büstenhalter.«
»Wann können Sie mit der Obduktion beginnen?«
»Gleich morgen früh. Wollen Sie kommen?«
Banks schluckte, der Nebel kratzte in seiner Kehle. »Wie könnte ich mir das entgehen lassen?«
»Gut. Dann reserviere ich Ihnen einen Platz in der ersten Reihe. Ich fahre nach Hause. Sie können sie jetzt in die Leichenhalle bringen lassen.«
Und mit diesen Worten wandte sich Glendenning um und verschwand im Nebel.
Einen Augenblick lang stand Banks allein da und versuchte, das Mädchen, das er gerade so grausam der Länge nach vor sich ausgestreckt gesehen hatte, zu vergessen, versuchte mit aller Macht, nicht Tracy an ihrer Stelle zu sehen. Behutsam drückte er seine Zigarette an der Seite des Inchcliffe-Mausoleums aus und steckte die Kippe ein. Lieber keine falschen Spuren am Tatort zurücklassen.
Ein paar Meter entfernt bemerkte er einen hellen Fleck im Gras. Es sah aus und roch, als hätte sich jemand übergeben. Außerdem entdeckte er den Stiel und die Scherben eines Weinglases, das anscheinend am Rand einer Grabplatte zerbrochen war. Mit Daumen und Zeigefinger hob er vorsichtig einen der Splitter auf. Er war mit Blut oder Wein befleckt, genau konnte er es nicht sagen.
Er sah Inspector Stott in Hörweite und rief ihn herbei.
»Wissen Sie etwas darüber?«, fragte er.
Stott schaute auf das Glas und das Erbrochene. »Rebecca Charters. Die Frau, die die Leiche entdeckt hat«, sagte er. »Etwas eigenartige Person. Sie ist im Pfarrhaus. Constable Kemp ist bei ihr.«
»Gut. Ich werde später mit ihr reden.« Banks zeigte zum Mausoleum. »Hat schon jemand hineingeschaut?«
»Noch nicht. Ich habe Constable Aiken losgeschickt, um den Schlüssel vom Pfarrer zu holen.«
Banks nickte. »Hören Sie, Barry, jemand muss die Eltern des Mädchens benachrichtigen.«
»Verstehe. Und da ich neu hier bin ...«
»Das habe ich nicht gemeint. Wenn Ihnen die Sache allzu unangenehm ist, dann schicken Sie jemand anderen los. Aber kümmern Sie sich darum.«
»Tut mir leid«, sagte Stott, nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit einem weißen Taschentuch. »Ich bin ein bisschen ...« Er deutete in Richtung der Leiche. »Selbstverständlich werde ich selbst gehen.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Okay. Ich komme bald nach. Bevor Sie gehen, rufen Sie Constable Gay und Sergeant Hatchley an und sagen Sie ihnen, dass sie kommen sollen. Jim muss man vielleicht aus dem Oak holen.«
Stott hob die Augenbrauen. Bei der Erwähnung von Detective Sergeant Jim Hatchley bemerkte Banks einen leichten Anflug von Abneigung bei ihm. Tja, damit musste er zurechtkommen.
»Und schicken Sie so viele Beamte auf die Straße, wie Sie können. Ich möchte, dass so schnell wie möglich jedes Haus in der Gegend abgeklappert wird. Das wird eine lange, harte Nacht, aber wir müssen zügig arbeiten. Die Leute vergessen schnell. Außerdem werden morgen die Geier hier auftauchen.«
»Geier?«
»Presse, Fernsehleute, Schaulustige. Es wird ein regelrechter Zirkus werden, Barry. Stellen Sie sich darauf ein.«
Stott nickte. Constable Aiken kam mit dem Schlüssel zum Mausoleum. Banks lieh sich von einem Beamten der Spurensicherung eine Taschenlampe und stieg gemeinsam mit Stott vorsichtig die mit Unkraut bedeckten Stufen hinunter.
Nach einem kurzen Kampf mit dem Schloss öffnete sich die schwere Holztür, dann fanden sie sich mit den Toten in der Dunkelheit wieder. Sechs massive Särge ruhten auf Böcken. Ein paar Nebelschwaden schlüpften die Stufen hinab, strömten hinter ihnen durch die Tür und kringelten sich um ihre Füße.
Das kleine Grab roch nicht nach Tod, sondern nur nach Erde und Schimmel. Zum Glück waren hier in letzter Zeit keine Inchcliffes mehr beerdigt worden, die Familie hatte Eastvale vor fünfzig Jahren verlassen.
Auf den ersten Blick konnte Banks lediglich die Spinnengewebe sehen, die scheinbar in die bloße Luft gesponnen worden waren. Er musste sich schütteln und leuchtete mit der Taschenlampe über den Boden. In der dem Eingang entferntesten Ecke lagen zwei leere Wodkaflaschen und ein Haufen Zigarettenkippen. Man konnte nur schwer sagen, wie lange sie schon dort lagen, aber mit Sicherheit waren sie nicht fünfzig Jahre alt.
Ansonsten fanden sie dort unten nichts Weiteres von Interesse und mit großer Erleichterung kehrte Banks wieder unter den freien Himmel zurück. So neblig es auch war, nach dem Inneren des Grabes fühlte es sich wie eine klare Nacht an. Banks bat die Beamten der Spurensicherung, die leeren Flaschen und Zigarettenkippen einzutüten und das Grabmal gründlich zu durchsuchen.
»Wir werden auf dem Revier eine Schaltzentrale einrichten müssen«, sagte er, wieder an Stott gewandt, »und einen Bus in der Nähe des Tatortes parken, damit die Leute es leicht haben, sich an uns zu wenden. Kontaktbeamte, Telefonleitungen, Zivilbeamte – das Übliche. Susan Gay soll sich darum kümmern. Und informieren Sie lieber auch den Chief Constable«, fügte Banks mit einem flauen Gefühl im Magen hinzu.
Da sich Detective Superintendent Gristhorpe beim Bau seiner Natursteinmauer ein Bein gebrochen hatte, war zurzeit Banks Leiter der Eastvaler Kriminalpolizei. Formell war eigentlich Detective Chief Superintendent Jack Wormsley vom regionalen Präsidium North Yorkshires in Northallerton für eine Mordermittlung zuständig. Doch aus Erfahrung wusste Banks, dass er außer einem gelegentlichen Telefonanruf nicht viel von Chief Superintendent Wormsley erwarten konnte. Angeblich stand er viel zu kurz vor der Vollendung seines maßstabgetreuen Streichholzmodells des Taj Mahals, um sich von einem ordinären Mord stören zu lassen. Wenn es eine Behinderung geben würde, wusste Banks, dann würde sie von dem neuen Chief Constable kommen: Jeremiah »Jimmy« Riddle, ein penetranter, aufdringlicher Überflieger aus der Schule des Polizeimanagements.
»Außerdem muss der Boden des Friedhofs gründlich abgesucht werden«, fuhr Banks fort, »aber damit beginnen wir besser bei Tageslicht, vielleicht löst sich der Nebel ja über Nacht ein wenig auf. Sorgen Sie auf jeden Fall dafür, dass das gesamte Gelände abgesperrt wird.« Banks sah sich um. »Wie viele Eingänge gibt es?«
»Zwei. Einen an der North Market Street und einen an der Kendal Road, gleich bei der Brücke.«
»Dann ist der Friedhof ja leicht abzusperren. Die Mauern sehen hoch genug aus, um Eindringlinge abzuhalten, aber wir sollten lieber ein paar Männer patrouillieren lassen, nur um sicherzugehen. Das Letzte, was wir brauchen, ist irgendein sensationsgeiler Reporter, der die Morgenzeitungen mit Fotos vom Tatort versorgt. Kann man vom Fluss aus reinkommen?«
Stott schüttelte den Kopf. »Da ist die Mauer auch zu hoch, außerdem sind oben Glasscherben eingelassen.«
»Ein einladendes Örtchen, was?«
»Ich habe gehört, dass es hier Fälle von Vandalismus gegeben hat.«
Banks spähte durch den Nebel zu den Lichtern des Pfarramtes. Sie sahen aus wie Geisteraugen. »Sie sind doch ein Mann der Kirche, oder, Barry?«
Stott nickte. »Ja. Aber meine Gemeinde ist St. Cuthbert’s, nicht St. Mary’s.«
Banks deutete mit einer Kopfbewegung zum Pfarramt.
»Wissen Sie, wer hier Pfarrer ist?«
»Pfarrer Daniel Charters.«
Banks hob seine Augenbrauen. »Dachte ich mir doch. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber ist er nicht derjenige, der in letzter Zeit ab und zu in den Nachrichten auftauchte?«
»Das ist er«, bestätigte Stott mit zusammengebissenen Zähnen.
»Interessant«, sagte Banks, »sehr interessant.« Und dann schlenderte er in Richtung Pfarramt.
Die Frau, die auf Banks’ Klopfen hin die Hintertür öffnete, war seiner Schätzung nach Mitte dreißig, hatte glänzendes rotbraunes Haar, das ihr wallend auf die Schultern fiel, einen olivenfarbenen Teint, haselnussbraune Augen und die vollsten, sinnlichsten Lippen, die er jemals gesehen hatte.
Außerdem hatte sie einen benommenen, geistesabwesenden Gesichtsausdruck.
»Ich bin Rebecca Charters«, sagte sie und schüttelte seine Hand. »Bitte kommen Sie herein.«
Banks folgte ihr durch die Diele. Sie war eine große Frau, trug einen schweren schwarzen Schal über ihren Schultern und ein weites, langes blaues Kleid, das über ihre wogenden Hüften bis fast hinab auf die Steinplatten des Korridors reichte. Ihre Füße waren nackt und schmutzig, Grashalme klebten an Knöcheln und Spann. An der Achillessehne ihres rechten Fußes war außerdem ein frischer Schnitt. Während sie ging, wackelten ihre Hüften ein wenig mehr, als er es von der Frau eines Pfarrers erwartet hätte. Und bildete er sich das nur ein oder war sie etwas unsicher auf den Beinen?
Sie führte ihn in ein Wohnzimmer mit hohen Decken und tristen, gestreiften Tapeten. Constable Kemp stand neben der Tür, und Banks sagte ihr, dass sie jetzt gehen könne.
Flaschengrüne Samtvorhänge waren gegen den Nebel vor das Erkerfenster gezogen worden. Genau gegenüber der Tür befand sich ein leerer, gefliester Kamin; davor lag ein großes Bündel aus braun-weißem Fell, das Banks für einen Hund unbestimmter Rasse hielt. Was auch immer es war, er hoffte, dass er dort liegen blieb. Er hatte nichts gegen Hunde, aber er konnte es nicht ertragen, wenn sie sabbernd an ihm hochsprangen. Katzen waren schon eher nach Banks’ Geschmack. Er schätzte ihre arrogante Art, ihren Sinn für Unabhängigkeit und ihren Spieltrieb und hätte gerne eine Katze zu Hause gehalten, wenn nicht Sandra, seine Frau, furchtbar allergisch gegen die Tiere gewesen wäre.
Die einzige Wärmequelle im Zimmer war ein kleiner weißer Heizlüfter vor der gegenüberliegenden Wand. Banks war froh, seinen Mantel noch nicht ausgezogen zu haben; er war dankbar für die zusätzliche Wärmeschicht.
Um einen Couchtisch war eine dreiteilige, mit abgewetztem braunem Kordsamt bezogene Sitzgarnitur angeordnet und in einem der Sessel saß ein Mann mit dichten schwarzen und fast zusammengewachsenen Augenbrauen, einer zerfurchten Stirn, einem langen, blassen Gesicht und hervorstehenden Wangenknochen. Er hatte den gehetzten Blick eines besorgten, jungen Geistlichen, wie aus einem alten Film.
Als Banks hereinkam, stand der Mann auf, ein Manöver, bei dem er einem großen, langbeinigen Tier glich, das sich aus seiner Höhle wand, und streckte seine schmale Hand aus.
»Daniel Charters. – Möchten Sie einen Kaffee?«
Während er seine Hand schüttelte, bemerkte Banks die Kanne auf dem Tisch und nickte. »Sehr gerne«, sagte er. »Schwarz, ohne Zucker.«
Banks setzte sich auf das Sofa, Rebecca Charters nahm neben ihm Platz. Auf dem Couchtisch stand außerdem eine leere Flasche rumänischer Pinot noir von Sainsbury.
Während Daniel Charters Kaffee einschenkte, ging Rebecca zu einem Glasschrank, nahm eine Flasche und einen Schwenker heraus und schenkte sich einen großen Brandy ein. Banks bemerkte, dass ihr Mann sie mit einem bösen Blick bedachte, den sie jedoch ignorierte. Der Kaffee war gut. Schon in dem Moment, wo er den ersten Schluck trank, klang Banks’ Kratzen im Hals ein wenig ab.
»Mir ist klar, dass Sie einen furchtbaren Schock erlitten haben müssen«, sagte Banks, »aber meinen Sie, Sie können ein paar Fragen beantworten?«
Rebecca nickte.
»Gut. Haben Sie den Fund der Leiche sofort gemeldet?«
»Fast. Als ich die Gestalt gesehen habe, als mir bewusst wurde, was es ist, da ... Zuerst wurde mir übel. Dann bin ich hierher zurückgelaufen und habe die Polizei angerufen.«
»Was haben Sie auf dem Friedhof gemacht, in so einer fürchterlichen Nacht?«
»Ich wollte den Engel besuchen.«
Sie sprach so leise, dass Banks glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben. »Wie bitte?«, fragte er.
»Ich sagte, ich wollte den Engel besuchen.« Mit großen, feuchten Augen hielt sie trotzig seinem Blick stand. Sie waren vom Weinen rot unterlaufen. »Was ist falsch daran? Ich mag Friedhöfe. Jedenfalls bisher war es so.«
»Was ist mit dem Glas?«
»Ich hatte ein Glas Wein dabei. Es rutschte mir aus der Hand, dann fiel ich hin. Schauen Sie.« Sie lüftete ihr Kleid bis zu den Knien. Beide waren verbunden, aber das Blut begann bereits durch den Verband zu sickern.
»Vielleicht sollten Sie lieber zum Arzt gehen«, riet Banks.
Rebecca schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.«
»Haben Sie die Leiche in irgendeiner Weise berührt?«, fragte Banks.
»Nein. Ich habe nichts angefasst. Ich bin nicht nahe an sie herangegangen.«
»Haben Sie sie erkannt?«
»Nur, dass es ein Mädchen von St. Mary’s war.«
»Kannten Sie ein Mädchen namens Deborah Catherine Harrison?«
Rebecca legte eine Hand vor den Mund und nickte. Einen Moment lang glaubte Banks, dass ihr wieder übel werden würde. Ihr Ehemann rührte sich nicht, doch konnte Banks an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass der Name auch ihm etwas sagte.
»War sie es?«, wollte Rebecca wissen.
»Das glauben wir. Aber ich muss Sie bitten, niemandem davon zu erzählen, bis die Identität bestätigt worden ist.«
»Natürlich. Arme Deborah.«
»Also kannten Sie sie?«
»Sie hat im Chor gesungen«, sagte Daniel Charters. »Die Schule und die Kirche sind sehr eng miteinander verbunden. Die Schule hat keine eigene Kapelle, deshalb besuchen sie unsere Gottesdienste. Und eine Reihe der Schülerinnen singt bei uns im Chor.«
»Haben Sie eine Ahnung, was sie zwischen fünf und sechs Uhr auf dem Friedhof getan haben könnte?«
»Es ist eine Abkürzung«, erklärte Rebecca. »Von der Schule zu ihr nach Hause.«
»Aber die Schule ist um halb vier zu Ende.«
Rebecca zuckte mit den Achseln. »Es gibt dort Kurse, Klubs, Sportgruppen und so weiter. Da müssen Sie Dr. Green fragen, die Leiterin.« Sie nahm noch einen Schluck Brandy. Der Hund vor dem Kamin hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Einen Augenblick lang dachte Banks, dass er vielleicht gestorben war, doch dann bemerkte er, wie sich das Fell gemächlich bewegte, wenn er atmete. Wahrscheinlich war er lediglich alt. Genauso, wie Banks sich momentan fühlte.
»Hat einer von Ihnen am frühen Abend draußen etwas gesehen oder gehört?«, fragte er.
Daniel schüttelte den Kopf und Rebecca sagte: »Ich glaubte, etwas gehört zu haben. Als ich in der Küche war, um den Wein zu öffnen. Es hörte sich an wie ein erstickter Schrei.«
»Und was haben Sie getan?«
»Ich bin ans Fenster gegangen. Natürlich konnte ich bei dem Nebel nichts sehen, und nachdem ich für eine Weile nichts mehr hörte, dachte ich, es müsse ein Vogel oder ein kleines Tier gewesen sein.«
»Erinnern Sie sich, wie spät es war?«
»Ungefähr sechs Uhr, vielleicht fünf nach. Im Fernsehen hatten gerade die Lokalnachrichten begonnen.«
»Und obwohl Sie meinten, einen Schrei gehört zu haben, sind Sie dennoch vierzig Minuten später hinaus auf den dunklen, nebligen Friedhof gegangen?«
Rebecca warf einen Blick auf die leere Weinflasche. »Das hatte ich in dem Moment schon wieder vergessen«, sagte sie. »Außerdem habe ich Ihnen ja gesagt, dass ich es für ein Tier hielt.«
Banks wandte sich an Daniel Charters. »Haben Sie etwas gehört?«
»Er war in seinem Arbeitszimmer, bis ich schreiend zurückkam, als ich die Leiche entdeckt hatte«, antwortete Rebecca. »Das ist das andere Zimmer auf der Vorderseite des Hauses. Von dort konnte er nichts gehört haben.«
»Mr Charters?«
Daniel Charters nickte. »Das stimmt. Ich habe an einer Predigt gearbeitet. Meine Frau hat leider Recht. Ich habe nichts gehört.«
»Hat einer von Ihnen in jüngster Zeit Fremde gesehen, die sich hier in der Gegend herumgetrieben haben?«
Beide schüttelten den Kopf.
»War in letzter Zeit jemand im Mausoleum der Inchcliffes?«
Charters runzelte die Stirn. »Nein. Soweit ich weiß, war seit fünfzig Jahren niemand mehr dort unten. Ich habe den Schlüssel gerade einem Ihrer Männer gegeben.«
»Wo bewahren Sie den Schlüssel normalerweise auf?«
»In der Kirche. An einem Haken in der Sakristei.«
»Also ist er für jedermann zugänglich?«
»Ja. Aber ich verstehe nicht ...«
»Irgendjemand war kürzlich dort unten. Wir haben Wodkaflaschen und Zigarettenkippen gefunden. Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
»Ich kann mir nicht vorstellen ...« Dann hielt er inne und wurde bleich. »Es sei denn ...«
»Was, Mr Charters?« Banks trank einen Schluck Kaffee.
»Wie Sie wahrscheinlich wissen«, sagte Charters, »stehe ich seit zwei Monaten unter einem gewissen Verdacht. Kennen Sie die Einzelheiten?«
Banks zuckte mit den Achseln. »Nur vage.«
»Die ganze Angelegenheit ist vage. Wie auch immer, wir hatten hier einen kroatischen Flüchtling als Küster angestellt. Er erwies sich als völliger Fehlgriff. Er trank, er war beleidigend und hat den Menschen Angst eingejagt.«
»Inwiefern?«
»Er hat den Schulmädchen lüsterne Blicke zugeworfen und anzügliche Gesten gemacht. Ein Mädchen hat sogar gesehen, wie er auf ein Grab uriniert hat.« Charters schüttelte den Kopf. »Solche Dinge. Soweit wir wissen, hat er sich nie an jemandem vergriffen, aber einige Mädchen haben sich bei Dr. Green beschwert und ich führte deswegen ein langes Gespräch mit ihr. Das Ergebnis war, dass ich beschloss, ihn loszuwerden. Nachdem er verschwunden war, ging er zur Kirchenbehörde und behauptete, ich hätte ihn gefeuert, weil er sich weigerte, geschlechtlich mit mir zu verkehren.«
»Und die Kirchenbehörden haben ihm geglaubt?«
»Es spielt keine Rolle, was sie glauben«, erwiderte Charters mit einem bitteren Blick auf seine Frau. »Sobald eine Anklage im Raum steht, beginnen die Mühlen zu mahlen und Untersuchungen werden angestellt. Und der Angeklagte findet sich umgehend in der Defensive wieder. Sie wissen bestimmt, wie so etwas abläuft, Chief Inspector.«
»Man wird mit Suggestivfragen aufs Glatteis geführt.«
»Ganz genau.«
»Und Sie glauben, er könnte im Mausoleum gewesen sein?«
»Er ist der Einzige, den ich mir vorstellen kann. Und er wusste besser als jeder andere, wo der Schlüssel hängt. Wenn ich mich recht erinnere, war Wodka zudem sein bevorzugtes Getränk, weil er glaubte, er würde davon keine Fahne kriegen.«
»Was denken Sie darüber, Mrs Charters?«
Rebecca schüttelte den Kopf, schaute weg und trank noch mehr Brandy.
»Wie Sie sehen können«, sagte Charters sarkastisch, »ist meine Frau äußerst standhaft gewesen.«
Banks entschloss sich, nicht auf diese spitze Bemerkung einzugehen. »Wie heißt der Mann, den Sie entlassen haben?«
»Ive Jelačić.«
»Wie buchstabiert man das?«
Charters sagte es ihm und erklärte die diakritischen Zeichen. Banks schrieb den Namen auf.
»Wie sieht er aus?«
»Er ist groß, ungefähr so groß wie ich, kräftig gebaut. Er hat schwarzes Haar, das meistens geschnitten werden müsste, einen dunklen Teint und eine leicht gebogene Nase.« Er zuckte mit den Achseln. »Mehr fällt mir nicht ein.«
»Wo ist er jetzt?«
»In Leeds.«
»Hat er Sie jemals bedroht oder belästigt, seitdem Sie ihn gefeuert haben?«
»Ja. Er ist ein paar Mal zurückgekommen.«
»Warum?«
»Um mir einen Handel anzubieten. Er schlug vor, die Anklage fallen zu lassen, wenn ich ihm Geld gebe.«
»Wie viel?«
Charters schnaubte. »Leider mehr, als ich aufbringen kann.«
»Und wie wollte er es anstellen, die Anklage fallen zu lassen?«
»Er wollte aussagen, dass er meine Geste falsch verstanden hat. Kulturelle Unterschiede. Ich sagte ihm, er solle verschwinden. Der Mann ist ein Lügner und ein Trinker, Chief Inspector. Was spielt es für eine Rolle?«
»Es könnte eine große Rolle spielen«, entgegnete Banks langsam, »wenn er den Ruf hatte, die Mädchen von St. Mary’s zu belästigen, und zudem sauer auf Sie war. Haben Sie seine Adresse?«
Charters stand auf und öffnete die Schublade einer Kommode. »Müsste ich eigentlich«, murmelte er und blätterte durch einen Stapel Briefe. »In der Sache hat es eine Menge Schriftverkehr gegeben. – Ah, da ist sie ja.«
Banks schaute sich die Adresse an. Sie befand sich in Burmantofts in Leeds, aber die Straße kannte er nicht. »Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«, fragte er.
»Bitte«, sagte Charters. »In meinem Arbeitszimmer ist ein Nebenanschluss, wenn Sie ungestört sein wollen. Es ist das Zimmer gleich gegenüber auf dem Flur.«
Banks ging in das Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Er war beeindruckt, wie aufgeräumt er war. Anders als bei ihm selbst, wenn er an etwas arbeitete, lagen hier keine losen Papiere herum, keine angeknabberten Stifte, keine aufgeschlagenen Nachschlagewerke, keine Büroklammern oder Gummibänder. Selbst das Lineal war parallel zum Rand der Schreibtischunterlage platziert worden. Ein ordentlicher Mann, dieser Pfarrer Charters. So ordentlich, dass er sogar seinen Schreibtisch aufgeräumt hatte, nachdem seine Frau schreiend wegen eines auf dem Friedhof entdeckten Mordes hereingestürzt war?
Banks schaute in seinem Notizbuch nach und rief Detective Inspector Ken Blackstone zu Hause an. Blackstone, ein guter Freund, arbeitete für die West Yorkshirer Kriminalpolizei im Revier Millgarth in Leeds. Banks erklärte, was vorgefallen war, und fragte Blackstone, ob er es veranlassen könnte, dass ein paar Beamte die Adresse aufsuchten, die Charters ihm gegeben hatte. Erstens wollte er wissen, ob Jelačić zu Hause war, und zweitens, ob er für diesen Abend ein Alibi hatte. Blackstone sagte, das wäre kein Problem, und Banks legte auf.
Als er zurück ins Wohnzimmer ging, störte er Daniel und Rebecca Charters offensichtlich mitten in einem hitzigen Streit. Rebecca, so fiel ihm auf, hatte sich Brandy nachgeschenkt.
Da Banks keine weiteren Fragen hatte, kippte er den Rest des lauwarmen Kaffees hinunter und ging wieder hinaus auf den Friedhof.
Kaum war Banks verschwunden, schaute Daniel Charters angewidert auf die leere Weinflasche und die Reste des Brandys, dann sah er Rebecca an. »Ich habe dich gefragt, warum du das getan hast«, sagte er. »Warum um Himmels willen hast du ihn angelogen?«
»Das weißt du ganz genau.«
Daniel beugte sich in seinem Sessel vor und steckte seine Hände zwischen die Knie. »Nein, das weiß ich nicht. Du hast mir nicht einmal die Möglichkeit gegeben zu antworten. Du bist mir sofort mit einer dummen Lüge zuvorgekommen.«
Rebecca nippte an ihrem Brandy. »Mir ist nicht aufgefallen, dass du es eilig hattest, mich zu korrigieren.«
Daniel errötete. »Da war es bereits zu spät. Es hätte verdächtig ausgesehen.«
»Verdächtig? Das ist gut, Daniel. Glaubst du nicht, dass es schon verdächtig genug aussieht?«
Daniel machte ein schmerzverzerrtes Gesicht. »Glaubst du, dass ich es getan habe? Glaubst du wirklich, ich habe das Mädchen da draußen umgebracht?« Er deutete mit einem langen, knochigen Finger in Richtung Friedhof. »Glaubst du, mich beschützt zu haben? Mir ein Alibi gegeben zu haben?«
Rebecca wandte sich ab. »Quatsch!«
»Warum hast du dann gelogen?«
»Um die Angelegenheit einfacher zu machen.«
»Lügen machen nie etwas einfacher.«
Ach, wirklich?, dachte Rebecca spöttisch. Da sieht man mal, wie wenig du weißt. »Wir haben auch schon genug Probleme«, sagte sie seufzend, »ohne dass du in einer Mordermittlung als Verdächtiger giltst.«
»Willst du nicht wissen, wo ich war?«
»Nein. Es ist mir egal, wo du warst.«
»Aber du hast für mich gelogen.«
»Für uns. Ja.« Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Hör zu, Daniel, was ich da draußen auf dem Friedhof gesehen habe, war schrecklich. Ich bin müde. Ich bin durcheinander und es geht mir nicht gut. Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
Ein paar Sekunden lang sagte Daniel nichts. Rebecca konnte die Uhr auf dem Kaminsims ticken hören. Ezechiel rührte sich kurz, dann legte er sich wieder schlafen.
»Du glaubst, ich habe es getan, nicht wahr?«, beharrte Daniel.
»Bitte, Daniel, hör auf. Natürlich glaube ich nicht, dass du es getan hast.«
»Ich meine nicht den Mord. Die andere Sache.«
»Ich denke überhaupt nichts in der Art. Das habe ich dir doch schon gesagt. Habe ich nicht zu dir gehalten? Glaubst du, ich wäre immer noch hier, wenn ich denken würde, dass du es getan hast?«
»Hier? Du bist nicht hier. Du bist nicht mehr hier gewesen, seit es passiert ist. Sicher, körperlich magst du in diesem Zimmer anwesend sein. Ja, das muss ich zugeben. Aber du bist nicht wirklich hier, nicht für mich jedenfalls. Die meiste Zeit hängst du an der Flasche, die restliche Zeit bist du ... Gott weiß wo.«
»Ja, genau, wir wissen ja alle, dass du ein Heiliger bist und während des ganzen Ärgers keinen Tropfen angerührt hast. Tja, vielleicht bin ich nicht so stark wie du, Daniel. Der Rest der Menschheit ist vielleicht auch nicht so verflucht fromm. Ein paar von uns haben eben hin und wieder eine kleine menschliche Schwäche. Aber dir ist das völlig fremd, nicht wahr?«
Mit zitternder Hand schenkte sich Rebecca Brandy nach. Daniel holte aus und schlug ihr das Glas aus der Hand. Der Brandy ergoss sich über den Couchtisch und das Sofa, das Glas fiel auf den Teppich.
Rebecca wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Es war das erste Mal, seit sie ihn kannte, dass Daniel die Beherrschung verloren hatte.
Sein Gesicht war rot und durch die tiefen Falten auf der Stirn zogen sich seine dichten, dunklen Augenbrauen über der Nase zusammen. »Du hast deine Zweifel, stimmt’s?«, drängte er. »Na los! Gib es zu. Ich warte.«
Rebecca beugte sich hinab, hob das Glas auf und schenkte es mit zitternden Händen wieder voll. Dieses Mal rührte sich Daniel nicht.
»Antworte mir«, sagte er. »Sag mir die Wahrheit.«
Rebecca zog die Stille in die Länge, trank dann einen großen Schluck Brandy und flötete im gespielten Ton einer Prostituierten: »Tja, Süßer, du weißt ja, was man sagt, oder? Kein Rauch ohne Feuer.«
Banks ließ seinen in der North Market Street vor St. Mary’s geparkten Wagen stehen und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hawthorn Close. Auf der Hauptstraße wirkte der Nebel nicht ganz so bedrohlich wie auf dem unbeleuchteten Friedhof, auch wenn die hohen bernsteinfarbenen Straßenlaternen und die blinkenden Warnlichter am Zebrastreifen aussahen wie die martialischen Maschinen aus Krieg der Welten.
Warum hatte Rebecca Charters für ihren Mann gelogen? Sie hatte gelogen, da war sich Banks sicher, selbst ohne den Beweis des aufgeräumten Schreibtisches. Hatte sie ihm ein Alibi gegeben? Vielleicht würde er sie morgen erneut aufsuchen. Auf jeden Fall war sie eine eigenartige Person. Ich wollte den Engel besuchen. Sehr merkwürdig!
Banks schaute auf seine Uhr. Zum Glück war es erst kurz nach neun, so hatte er noch Zeit, schnell in den kleinen Laden an der Ecke der Hawthorn Road zu gehen und eine Schachtel Silk Cut zu kaufen.
Nachdem er ungefähr zweihundert Meter die Hawthorn Road entlanggegangen war, bog er nach rechts in die Hawthorn Close, eine gewundene Straße mit großen Steinhäusern, in denen die Oberschicht Eastvales wohnte.
Er fand das Haus Nummer 28, trat seine Zigarette aus und ging die Kiesauffahrt hinauf, wobei ihm ein vor der Eingangstür geparkter, funkelnagelneuer Jaguar auffiel. Instinktiv legte er seine Hand auf die Kühlerhaube. Noch etwas warm.
Mit einem grimmigen Blick öffnete Barry Stott die Tür. Banks dankte ihm dafür, die unangenehme Aufgabe erledigt zu haben, und sagte ihm, er könne ins Revier zurückkehren und beginnen, alles Nötige zu organisieren. Dann ging er allein durch den Flur in ein geräumiges Zimmer, in dem bis hin zum Flügel alles in Weiß eingerichtet war. Einen Kontrast dazu bildeten allein die türkischen Teppiche und ein Gemälde, das nach einem echten Chagall aussah und an der Wand über dem Kamin hing, in welchem ein dickes Holzscheit loderte und knisterte. In einem weißen Bücherregal standen die Klassiker in Ausgaben der Folio Society, Verandatüren mit weißen Verzierungen führten hinaus in den dunklen Garten.
Drei Menschen befanden sich in dem Zimmer, sie saßen da und waren dem Anschein nach in einem Zustand des Schocks. Die Frau trug einen grauen Rock und eine blaue Seidenbluse, beides in einer Qualität, die man nur sehr schwer in Eastvale finden konnte. Ihr leicht zerzaustes blondes Haar war auf eine teure Art zerzaust und umrahmte ein ovales Gesicht mit einer blassen, makellosen Haut, blassen blauen Augen, einer perfekt proportionierten Nase und einem ebensolchen Mund. Alles in allem eine elegante und attraktive Frau.
Sie stand auf und schwebte ihm wie in Trance entgegen. »Handelt es sich um einen Irrtum?«, fragte sie. »Bitte sagen Sie mir, dass es sich um einen Irrtum handelt.« In ihrer Stimme lag der Hauch eines französischen Akzents.
Bevor Banks etwas erwidern konnte, fasste einer der Männer sie am Ellbogen und sagte: »Komm, Sylvie. Setz dich.« Dann wandte er sich an Banks. »Ich bin Geoffrey Harrison«, sagte er. »Deborahs Vater. Ich nehme an, es besteht nicht viel Hoffnung, dass es sich um einen Irrtum handelt.«
Banks schüttelte den Kopf.
Geoffrey war ungefähr eins neunzig groß und hatte die langen Arme und breiten Schultern eines guten Werfers. Tatsächlich ähnelte er ein wenig einem berühmten Kricketspieler, dessen Namen Banks aber momentan nicht einfallen wollte. Er trug graue Hosen mit scharfen Bügelfalten und einen grünen Strickpullover mit V-Ausschnitt über einem weißen Hemd. Keine Krawatte. Er hatte gelocktes blondes Haar, das über den Ohren schon etwas ergraute, und ein markantes, gespaltenes Kinn. Alles an seinen Bewegungen und Zügen zeugte von Macht, von einem Menschen, der es gewohnt war, seinen eigenen Weg zu gehen. Banks schätzte ihn auf ungefähr fünfundvierzig Jahre, wahrscheinlich gut zehn Jahre älter als seine Frau.
Plötzlich, wie eine kalte Dusche, überkam Banks die Erkenntnis. Himmel, er hätte es wissen müssen! Diese verfluchte Erkältung legte anscheinend sein Gedächtnis lahm. Der Mann vor ihm war Sir Geoffrey Harrison. Sir. Vor ungefähr drei Jahren war er für seine Verdienste um die Industrie geadelt worden; er hatte etwas mit führender Computertechnologie, Elektronik, Microchips und dergleichen zu tun. Und Deborah Harrison war seine Tochter.
»Haben Sie ein aktuelles Foto von Ihrer Tochter, Sir?«, fragte er.
»Dort drüben auf dem Kaminsims. Es wurde im letzten Sommer aufgenommen.«
Banks ging hinüber und betrachtete das Foto eines jungen Mädchens, das auf dem Deck einer Jacht posierte. Wahrscheinlich war es ihr erstes Jahr in einem Bikini, vermutete Banks, und obwohl sie noch kaum die Figur hatte, um ihn auszufüllen, stand er ihr gut. Aber andererseits hätte wohl alles gut ausgesehen an einem solchen Wesen voller Jugend und Energie.
Deborah lächelte und hielt sich mit einer Hand am Mast fest, während sie mit der anderen Hand eine lange Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht strich. Es fiel einem schwer, zu akzeptieren, dass das Mädchen auf dem Bild, das vor Gesundheit und Leben nur so strotzte, dasselbe war, das nun in der Leichenhalle von Eastvale lag.
»Leider besteht kein Irrtum«, sagte er und warf einen Blick auf das danebenstehende Foto. Es zeigte zwei lächelnde junge Männer in weißen Krickettrikots, die in einem Innenhof standen und von denen einer unverkennbar Sir Geoffrey war. In dem zweiten, der seinen Arm lässig auf Sir Geoffreys Schulter gelegt hatte, erkannte man unschwer den anderen Mann im Zimmer, obwohl die Aufnahme schon ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein musste. Noch jetzt war er schlank und gut aussehend, auch wenn sein rotblondes Haar über seiner hohen Stirn deutlich zurückging und oben dünner wurde. Seine Kleidung sah aus wie eine sehr teure Freizeitgarderobe: schwarze Kordhosen und ein rostfarbenes Baumwollhemd. An einer Halskette hing eine Brille mit Goldfassung. »Michael Clayton«, stellte er sich vor, stand auf und schüttelte Banks’ Hand.
»Michael ist mein Geschäftspartner«, erklärte Sir Geoffrey. »Und mein ältester Freund. Außerdem ist er Deborahs Patenonkel.«
»Ich wohne gleich um die Ecke«, sagte Clayton. »Als Geoff die Nachricht bekam ... Nun, sie riefen mich an und ich kam herüber. Haben Sie schon irgendwelche Hinweise?«
»Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen«, meinte Banks. Dann wandte er sich an Sir Geoffrey und Lady Harrison. »Wussten Sie, ob Deborah vorhatte, nach der Schule noch irgendwo hinzugehen?«
Sir Geoffrey brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln. »Nur zum Schachklub«, antwortete er dann.
»Zum Schachklub?«
»Ja. In der Schule. Sie treffen sich jeden Montag.«
»Um wie viel Uhr ist sie dann normalerweise zu Hause?«
Sir Geoffrey schaute seine Frau an. »Normalerweise machen sie um sechs Schluss«, sagte Lady Harrison tonlos. »So um Viertel nach kommt sie nach Hause. Manchmal auch erst zwanzig nach, wenn sie mit ihren Freundinnen herumtrödelt.«
Banks runzelte die Stirn. »Es muss nach acht Uhr gewesen sein, als Inspector Stott Ihnen die schlimme Nachricht überbrachte«, sagte er. »Aber Sie hatten Deborah nicht als vermisst gemeldet. Waren Sie nicht besorgt? Wo vermuteten Sie sie denn?«
Lady Harrison begann zu weinen. Sir Geoffrey nahm ihre Hand. »Wir waren selbst gerade erst nach Hause gekommen«, erklärte er. »Ich war auf einem Geschäftsempfang im Royal Hotel in York und durch den verfluchten Nebel habe ich mich verspätet. Sylvie war in ihrem Fitnesscenter. Deborah hatte einen eigenen Schlüssel. Sie war schließlich sechzehn.«
»Um wieviel Uhr sind Sie zurückgekommen?«
»So um acht Uhr. Wir kamen beide fast gleichzeitig. Wir dachten, Deborah sei vielleicht schon zu Hause gewesen und noch einmal weggegangen, obwohl ihr das gar nicht ähnlich sah, uns nichts wissen zu lassen, noch dazu an einem solchen Abend. Wir haben keine Nachricht gefunden und auch kein Anzeichen dafür, dass sie hier gewesen war. Deborah ... Also, normalerweise hängte sie ihren Schulblazer einfach über eine Stuhllehne, verstehen Sie?«
»Ja.« Banks Tochter Tracy war genauso unordentlich.
»Auf jeden Fall haben wir uns Sorgen gemacht, dass man sie entführt haben könnte. Wir wollten gerade die Polizei anrufen, als Inspector Stott eintraf.«
»Haben Sie jemals Entführungsdrohungen erhalten?«
»Nein, aber man hört ja immer wieder von solchen Dingen.«
»Könnte Ihre Tochter etwas Wertvolles bei sich gehabt haben? Bargeld, Kreditkarten oder dergleichen?«
»Nein. Warum fragen Sie das?«
»Ihr Schulranzen war geöffnet und ich wüsste gerne, warum.«
Sir Geoffrey schüttelte den Kopf.
Banks wandte sich an Michael Clayton. »Haben Sie Deborah an diesem Abend gesehen?«
»Nein. Ich war zu Hause, bis ich Geoffs Anruf erhielt.«
Sir Geoffrey und Lady Harrison setzten sich mit hängenden Schultern auf die weiße Couch und hielten sich an den Händen wie Teenager. Banks ließ sich auf der Lehne eines Sessels nieder, beugte sich vor und legte die Hände auf seine Knie.
»Inspector Stott teilte uns mit, man hätte Deborah auf dem Friedhof von St. Mary’s gefunden«, sagte Sir Geoffrey. »Stimmt das?«
Banks nickte.
Wut überzog Sir Geoffreys Gesicht. »Haben Sie schon mit diesem verfluchten Pfarrer gesprochen? Dem Perversen?«
»Daniel Charters?«
»Genau der. Sie wissen, was man ihm zur Last legt, oder?«
»Er soll einen homosexuellen Annäherungsversuch gemacht haben.«
Sir Geoffrey nickte. »Ganz genau. Wenn ich Sie wäre, würde ich ...«
»Bitte, Geoffrey«, sagte Sylvie und zog an seinem Ärmel. »Beruhige dich. Lass den Chief Inspector reden.«
Sir Geoffrey fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ja, natürlich. Verzeihung.«
Warum diese Animosität gegen Charters?, fragte sich Banks. Aber das Thema hob er sich lieber für später auf. Sir Geoffrey war verzweifelt; im Augenblick wäre es keine gute Idee, ihm weiter zuzusetzen.
»Dürfte ich einen Blick in Deborahs Zimmer werfen?«, fragte er.
Sylvie nickte und stand auf. »Ich zeige es Ihnen.«
Banks folgte ihr eine breite, mit weißem Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Das muss ja eine fürchterliche Schufterei sein, dieses Haus sauber zu halten, ging ihm durch den Kopf. Sandra würde sich mit weißen Teppichen oder Polstern nie einverstanden erklären. Allerdings nahm er auch nicht an, dass die Harrisons selbst putzten.
Sylvie öffnete die Tür zu Deborahs Zimmer, entschuldigte sich dann und ging wieder hinunter. Banks schaltete das Licht an. Das Zimmer war größer als Tracys, aber ungefähr im gleichen unordentlichen Zustand. Über den ganzen Boden lagen Kleidungsstücke verstreut, das Bett war nicht gemacht und mit einem Haufen zerknitterter Laken bedeckt und hinter der offenen Schranktür hingen auf einer langen Stange Blusen, Jacken und Hosen. Teilweise teure Sachen, stellte Banks fest, als er sich ein paar Designeretiketten ansah.
Deborahs Computer mit integriertem CD-Rom-Laufwerk stand auf dem Schreibtisch unter dem Fenster. In dem Bücherregal daneben befanden sich hauptsächlich Schul- und Computerhandbücher sowie ein paar Unterhaltungsromane. Banks durchsuchte jede Schublade, fand aber nichts Interessantes. Natürlich wäre es hilfreich gewesen, wenn er überhaupt gewusst hätte, wonach er suchte.
Auf den Regalen vor dem Bett waren eine Ministereoanlage, ein kleiner Farbfernseher und ein Videorecorder angeordnet – alle mit Fernbedienungen ausgestattet. Banks warf einen kurzen Blick auf die CDs. Im Gegensatz zu Tracy schien Deborah den raueren Stil der Popmusik, Grunge, vorgezogen zu haben: Hole, Pearl Jam, Nirvana. Neben einem kleineren Poster von River Phoenix war ein großes von Kurt Cobain an die Wand geheftet.
Banks schloss die Tür hinter sich und ging die Stufen wieder hinab. In dem weißen Zimmer konnte er Sylvie weinen und Sir Geoffrey und Michael Clayton gedämpft sprechen hören. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen, und als er näherkam, sahen sie ihn durch die geöffnete Tür und baten ihn herein.
»Sir Geoffrey, ich habe nur noch eine Frage, wenn Sie erlauben«, sagte er.
»Bitte.«
»Hat Ihre Tochter ein Tagebuch geführt? Ich weiß, dass meine Tochter es tut. Das scheint unter jungen Mädchen ziemlich beliebt zu sein.«
Sir Geoffrey dachte einen Moment nach. »Ja«, sagte er dann. »Ich glaube. Michael hat ihr letztes Jahr zu Weihnachten eines geschenkt.«
Clayton nickte. »Stimmt. Ein in Leder gebundenes, mit einer Seite für jeden Tag.«
Banks wandte sich wieder an Sir Geoffrey. »Wissen Sie, wo sie es aufbewahrt hat?«
Er runzelte die Stirn. »Leider nein. – Sylvie?«
Sylvie schüttelte den Kopf. »Sie hat mir erzählt, dass sie es verloren hat.«
»Wann war das?«
»Ungefähr zu Beginn des Schuljahres. Ich hatte es eine Weile nicht gesehen, deshalb habe ich sie gefragt, ob sie aufgehört hätte, es zu führen. Warum? Ist das wichtig?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Banks. »Nur ist es manchmal so, dass das, was wir nicht finden, ebenso wichtig ist wie das, was wir finden. Das Problem ist, dass wir das immer erst im Nachhinein wissen. Nun, wie auch immer, ich möchte Sie heute Abend nicht länger belästigen.«
»Inspector Stott sagte, dass ich die Leiche identifizieren muss«, sagte Sir Geoffrey. »Arrangieren Sie das?«
»Selbstverständlich. Noch einmal mein Beileid, Sir.«
Sir Geoffrey nickte und wandte sich dann wieder seiner Frau zu. Und Banks war wie ein Butler entlassen.
Es war bereits nach zwei Uhr morgens, als Banks den dunkelblauen Cavalier, den er schließlich gekauft hatte, um seinen klapperigen Cortina zu ersetzen, vor seinem Haus parkte. Nach Hawthorn Close tat es ihm gut, wieder in der normalen Welt der Reihenhäuser mit den winzigen Gärten und den auf der Straße geparkten Fiestas und Astras zu sein.
Als Erstes ging er auf Zehenspitzen nach oben, um nachzuschauen, ob Tracy da war. Er wusste, dass es dumm war, aber nachdem er vor Deborah Harrisons Leiche gestanden hatte, fühlte er das Bedürfnis, seine eigene Tochter lebendig vor sich zu sehen.
Der bernsteinfarbene Schimmer der Straßenlaterne vor ihrem Fenster erleuchtete den schwachen Umriss der schlafenden Tracy. Hin und wieder drehte sie sich um und seufzte leise auf, als würde sie träumen. Sachte schloss Banks ihre Tür und ging zurück nach unten ins Wohnzimmer, sorgsam darauf bedacht, die knarrende dritte Stufe von oben zu umgehen. Trotz der späten Stunde war er überhaupt nicht müde.
Er schaltete die abgedunkelte Tischlampe an und schenkte sich einen ordentlichen Laphroaig ein in der Hoffnung, damit das Bild der auf dem Friedhof liegenden Deborah Harrison zu verdrängen.
Fünf Minuten später war es Banks noch immer nicht gelungen, sie aus seinem Kopf zu bekommen. Musik würde helfen. »Music alone with sudden charms can bind/The wand’ring sense, and calm the troubled mind«, wie Congreve gesagt hatte. Er würde doch wohl Sandra oder Tracy nicht aufwecken, wenn er eine Platte auflegte, oder?
Er sah seine schnell anwachsende Sammlung durch – vermutlich vermehrten sich seine CDs über Nacht – und entschied sich schließlich für Vier letzte Lieder von Richard Strauss.
In der Mitte des zweiten Liedes, »September«, als Gundula Janowitz’ kristallklarer Sopran sich in die Höhen der Melodie aufschwang, schenkte er sich noch einen Laphroaig ein und steckte sich eine Zigarette an.
Kaum hatte er drei, vier Züge geraucht, ging die Tür auf und Tracy schaute herein.
»Warum bist du wach?«, flüsterte Banks.
Tracy rieb sich die Augen und trat ins Zimmer. Sie trug ein langes, weites Nachthemd mit dem Bild eines riesigen Pandas auf der Vorderseite. Obwohl sie schon siebzehn war, sah sie darin wie ein kleines Mädchen aus.
»Ich dachte, ich hätte jemanden in meinem Zimmer gehört«, murmelte Tracy. »Ich konnte nicht mehr einschlafen und wollte ein Glas Milch trinken. Ach Dad! Du rauchst ja wieder.«
Banks legte einen Finger an die Lippen. »Psst! Deine Mutter.« Schuldbewusst schaute er auf die Zigarette. »Na und?«
»Du hast versprochen, es aufzugeben.«
»Ich habe nichts versprochen.« Banks senkte beschämt seinen Kopf. Nur seine jugendliche Tochter konnte ihm solche Gewissensbisse wegen seiner schlechten Angewohnheiten machen, besonders wo sie heutzutage in der Schule ständig mit diesen Nichtraucherkampagnen indoktriniert wurden.
»Doch, hast du.« Tracy kam näher. »Stimmt was nicht? Bist du deshalb noch so spät auf und trinkst und rauchst?«
Sie setzte sich auf die Lehne des Sofas und schaute ihn mit ihren verschlafenen Augen besorgt an, das lange blonde Haar hing ihr zottelig über die schmalen Schultern. Banks’ Sohn, Brian, der in Portsmouth Architektur studierte, geriet nach seinem Vater, aber Tracy ähnelte ihrer Mutter.
Seit den erbitterten Streitereien wegen ihres ersten Freundes, dem sie längst den Laufpass gegeben hatte, und den vielen Sommernächten, in denen sie zu spät nach Hause gekommen war, war ein Menge Zeit ins Land gegangen. Mittlerweile hatte Tracy sich entschieden, in diesem Jahr keinen Freund zu haben, sondern alle ihre Anstrengungen darauf zu konzentrieren, ein gutes Abitur zu machen, damit sie auf die Universität gehen konnte, wo sie Geschichte studieren wollte. Banks konnte das nur gutheißen. Als er sie so zart und verletzlich auf der Kante des Sofas hocken sah, schwoll sein Herz vor lauter Vaterstolz auf sie an. Und vor Angst um sie.
»Nein«, sagte er, stand auf und tätschelte ihren Kopf. »Alles in Ordnung. Ich bin nur ein alter Narr, der nicht von seinen schlechten Angewohnheiten loskommt, das ist alles. Soll ich uns beiden einen Kakao machen?«
Tracy nickte, gähnte dann und streckte ihre Arme in die Luft.
Banks lächelte. Gundula Janowitz sang Hermann Hesses Text Beim Schlafengehen. Banks hatte diese Lieder schon so oft gehört, dass er sie auswendig kannte:
Nun der Tag mich müd’ gemacht,
soll mein sehnliches Verlangen
freundlich die gestirnte Nacht
wie ein müdes Kind empfangen.
Das kann man laut sagen, dachte Banks. Auf dem Weg in die Küche drehte er sich noch einmal nach Tracy um. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie den klein gedruckten Begleittext auf der CD-Hülle und versuchte die Worte zu entziffern.
Sie würde noch früh genug erfahren, was mit Deborah Harrison geschehen war, dachte Banks. Morgen würde es die ganze Stadt wissen. Aber heute Nacht noch nicht. Heute Nacht würden Vater und Tochter eine gute Tasse warmen Kakao genießen in ihrem sicheren, warmen Heim, das wie eine Insel im Nebel trieb.
Chief Constable Jeremiah Riddle marschierte bereits wie ein Tiger auf dem Linoleum auf und ab, als Banks am nächsten Morgen sein Büro betrat. Sein Kahlkopf glänzte wie ein neuer Kricketball, der gerade an der Hose des Werfers poliert worden war, seine schwarzen Augen leuchteten wie Gagat aus Whitby, das frisch rasierte Kinn stand hervor wie der Bug eines Schiffes, die Uniform war akkurat gebügelt und ohne einen einzigen sichtbaren Fussel und an seinem Revers heftete demonstrativ ein Trauerflor. Kurz, er sah konzentriert, hellwach und zu allem bereit aus.
Was man von Banks nicht gerade sagen konnte. Alles in allem hatte er nicht mehr als ungefähr drei Stunden – unruhig – geschlafen, vor allem deshalb, weil ihn ein früher Anruf von Ken Blackstone geweckt hatte. Obwohl der Nebel an diesem Morgen schnell in Nieselregen übergegangen war, war er mit der Absicht, einen freien Kopf zu kriegen, die fast zwei Kilometer zum Revier zu Fuß gegangen. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelungen war. Und dass seine Erkältung schlimmer wurde und seinen Kopf zusätzlich vernebelte, half auch nicht gerade.
»Ah, Banks, wird auch Zeit, verdammt nochmal!«, sagte Riddle.
Banks nahm seine Kopfhörer ab und schaltete die Kassette von Jimi Hendrix aus, die er gerade gehört hatte. Die halsbrecherischen Arpeggios von »Pali Gap« klingelten noch in seinen verstopften Ohren.
»Und müssen Sie unbedingt mit diesen verdammten Dingern auf den Ohren durch die Gegend laufen?«, fuhr Riddle fort. »Wissen Sie denn nicht, wie dämlich das aussieht?«
Banks erkannte eine rhetorische Frage stets sofort und schwieg.
»Ich nehme an, Sie sind sich bewusst, wer der Vater des Opfers ist, oder?«
»Sir Geoffrey Harrison. Ich habe gestern Abend mit ihm gesprochen.«
»Dann werden Sie sich ja darüber im Klaren sein, wie wichtig diese Sache ist – diese ... diese ... furchtbare Tragödie.« Nie um eine hohle Phrase verlegen, dieser Jimmy Riddle, dachte Banks. Riddle strich sich mit einer Hand über seinen Kopf und fuhr fort: »Ich will hundertprozentige Aufmerksamkeit bei dieser Ermittlung, Banks. Nein. Zweihundertprozentige. Haben Sie mich verstanden? Dass sich keiner drückt oder die Sache schleifen lässt!«
Banks nickte. »Ja, Sir.«
»Und was ist mit diesem Bosnier? Jurassic, oder?«
»Jelačić, Sir. Und er ist Kroate.«
»Wie auch immer. Ist er unser Mann?«
»Wir werden auf jeden Fall mit ihm sprechen. Ken Blackstone hat mir gerade berichtet, dass Jelačić der Polizei in Leeds bekannt ist. Trunkenheit und Unruhestiftung, eine Anklage wegen Körperverletzung in einem Pub. Und er ist nicht vor zwei Uhr heute Morgen nach Hause gekommen. Die Polizei in Leeds hat seine Fingerabdrücke, wir müssten sie also vergleichen können, sobald Vic Manson Abdrücke von der Wodkaflasche erhält.«
»Gut.« Riddle grinste. »Das höre ich gerne. Ich will eine schnelle Verhaftung, Banks. Sir Geoffrey ist ein persönlicher Freund von mir. Haben Sie verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Gut. Und halten Sie sich bei der Familie zurück. Ich möchte nicht, dass Sie sie während der Trauerzeit belästigen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, Sir.«
Riddle glättete seine Uniform, was sie nicht nötig hatte, und wischte imaginäre Schuppen von seinen Schultern. »Ich gehe jetzt, um eine Pressekonferenz zu geben«, sagte er. »Irgendetwas, das ich wissen sollte, um nicht wie ein Vollidiot auszusehen?«
Nichts kann dich davor bewahren, wie ein Vollidiot auszusehen, dachte Banks. »Nein, Sir«, sagte er. »Aber vielleicht möchten Sie kurz in der Schaltzentrale vorbeischauen. Vielleicht hat sich etwas Neues ergeben.«
»Das habe ich bereits getan. Für was halten Sie mich, für einen Dummkopf?«
Banks ließ die Frage im Raum stehen.
Riddle tigerte weiter auf und ab, auch wenn ihm für den Moment die Worte ausgegangen zu sein schienen. Schließlich ging er zur Tür. »In Ordnung. Denken Sie daran, was ich gesagt habe, Banks«, sagte er und deutete mit dem Finger auf ihn. »Ergebnisse. Und zwar schnell.«
Kaum war Riddle verschwunden, spürte Banks, wie er sich entspannte und, ähnlich einer viktorianischen Lady, die sich ihres Korsetts entledigt hatte, wieder besser Luft bekam. In einer Zeitschrift hatte er einmal einen Artikel über so genannte »Alpha-Persönlichkeiten« gelesen: durchsetzungsfähig, ehrgeizig und aufgeblasen. Und verdammt anstrengend, wenn man in einem Raum mit ihnen war.